Der Hund von Baskerville
Arthur I. Conan Doyle ∗
1902
∗Übersetzung von Heinrich Darnoc, 1903
Inhaltsverzeichnis
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Sherlock Holmes, der für gewöhnlich morgens sehr spät aufstand, wenn er nicht — was allerdings nicht selten vorkam — die ganze Nacht aufgewesen war …Sherlock Holmes saß am Frühstückstisch. Ich stand auf dem Kaminteppich und nahm den Stock zur Hand, den unser Besucher gestern abend zurückgelassen hatte. Es war ein schönes, dickes Stück Holz mit rundem Knauf – ein sogenannter Polizistenknüppel. Unmittelbar unter dem Knopf befand sich ein fast zollbreiter silberner Reif mit einer Inschrift:
James Mortimer, M. R. C. S.
von seinen Freunden vom C. C H.
1884.
Es war so recht ein altmodischer Hausdoktorstock — würdig, derb, vertrauenerweckend.
»Nun, Watson, was machst du daraus?«
Holmes saß mit dem Rücken gegen mich, ich hatte nichts gethan, woraus er auf meine Beschäftigung hätte schließen können.
»Woher wußtest du, was ich machte? Ich glaube wahrhaftig, du hast ein paar Augen im Hinterkopf.«
»Wenn auch das nicht, so habe ich doch eine blitzblanke, silberplattierte Kaffeekanne vor mir,« antwortete er. »Aber sage mir, Watson, was machst du aus unseres Besuchers Stock? Da er uns unglücklicherweise nicht angetroffen hat und wir keine Ahnung haben, was er von uns will, so erhält dieses zufällig hier gebliebene Andenken eine gewisse Bedeutung. Laß mal hören, wie du dir nach dem Spazierstock den Mann vorstellst.«
»Ich denke,« sagte ich, nach besten Kräften mich der Methode bedienend, die mein Freund bei seinen Forschungen anzuwenden pflegte, »Dr. Mortimer ist ein älterer Arzt mit guter Praxis. Er ist ein angesehener Mann, da seine Bekannten ihm ein solches Zeichen ihrer Wertschätzung geben.«
»Gut!« sagte Holmes. »Ausgezeichnet!«
»Ferner dürfte die Wahrscheinlichkeit dafür sprechen, daß er ein Landarzt ist, der einen guten Teil seiner Krankenbesuche zu Fuß macht.«
»Warum?«
»Weil sein Stock, obwohl er ursprünglich sehr schön war, so mitgenommen ist, daß ich mir kaum vorstellen kann, ein städtischer Arzt habe ihn gebraucht. Die starke eiserne Zwinge ist sehr abgenutzt, es ist also klar, daß der Stock tüchtige Märsche mitgemacht hat.«
»Vollkommen vernünftig gedacht!« bemerkte Holmes.
»Und weiter — da sind ‘die Freunde vom C. C. H.’ Ich möchte annehmen, es handelt sich da um irgend einen ‘Hetzjagdverein’, dessen Mitgliedern er vielleicht ärztlichen Beistand geleistet hat, wofür sie ihm dann ein kleines Andenken bescherten.«
»Wirklich, Watson, du übertriffst dich selbst,« sagte Holmes, seinen Stuhl zurückschiebend und sich eine Zigarette anzündend. »Ich fühle mich verpflichtet, zu sagen, daß du bei den Berichten, in denen du meine bescheidenen Leistungen so freundlich geschildert hast, deine eigenen Fähigkeiten weit unterschätzt hast. Du bist vielleicht nicht selber ein großes Licht, aber du bringst anderen Erleuchtung. Es giebt Leute, die, ohne selbst Genies zu sein, eine bemerkenswerte Gabe besitzen, das Genie anderer anzuregen. Ich gestehe, mein lieber Junge, ich bin sehr tief in deiner Schuld.«
So großes Lob hatte er noch nie vorher ausgesprochen, und ich muß gestehen, seine Worte machten mir ein inniges Vergnügen, denn ich hatte mich oftmals ein bißchen darüber geärgert, daß er gegen meine Bewunderung und meine Versuche, die öffentliche Aufmerksamkeit auf seine Leistungen zu lenken, sich so gleichgültig zeigte. Auch machte es mich nicht wenig stolz, sein System in einer Weise mir zu eigen gemacht zu haben, daß er mir zu der Anwendung desselben seinen Beifall aussprach. Holmes nahm mir nun den Stock aus der Hand und prüfte ihn ein paar Minuten lang mit bloßen Augen. Dann legte er mit einem Ausdruck großen Interesses die Zigarette weg, trat mit dem Stock ans Fenster und untersuchte ihn noch einmal mittels einer Lupe.
»Interessant, wenngleich sehr einfach,« sagt er, als er sich wieder in seine Lieblingssofaecke setzte. »Sicherlich giebt der Stock ein oder zwei Andeutungen. Er liefert uns den Ausgangspunkt für mehrere Schlußfolgerungen.«
»Ist mir irgend etwas entgangen?« fragte ich, ein wenig mich in die Brust werfend. »Ich denke doch, ich habe nichts von Bedeutung übersehen?«
»Ich fürchte, mein lieber Watson, deine Folgerungen waren größtenteils falsch. Wenn ich sagte, du regst mich an, so meinte ich damit — um offen zu sein —, daß ich durch deine Trugschlüsse gelegentlich auf die Wahrheit gebracht wurde. Indessen bist du in diesem Fall doch nicht gänzlich aus dem Holzwege Der Mann ist ganz gewiß ein Landarzt Und er geht viel zu Fuß.«
»Also hatte ich recht!«
»Insoweit, ja.«
»Aber das war doch alles!«
»Nein, nein, mein lieber Watson, nicht alles — durchaus nicht alles. Ich möchte zum Beispiel annehmen, daß ein Doktor ein Geschenk wohl eher von einem Hospital als von einem Hetzjagdverein erhält, und daß, wenn vor dem H. des ‘Hospital’ die Anfangsbuchstaben ‘C. C.’ stehen, sich ganz ungezwungen die Auslegung ‘Charing-Croß’ darbietet.«
»Du könntest recht haben.«
»Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür. Und wenn wir davon ausgehen wollen, so haben wir eine frische Grundlage, worauf wir eine Vorstellung von unserem unbekannten Besucher uns aufbauen können.«
»Nun, also angenommen, ‘C. C. H.’ bedeute ‘Charing-Croß-Hospital’, was können wir für weitere Schlüsse aus diesem Umstande ziehen?«
»Kannst du nicht selber darauf kommen? Du kennst meine Methoden. Wende sie an!«
»Mir fällt bloß die sehr einfache Schlußfolgerung ein, daß der Mann in der Stadt praktiziert hat, bevor er aufs Land zog.«
»Ich denke, wir dürfen uns in unseren Schlüssen ruhig ein bißchen weiter wagen. Betrachte mal den Fall vom folgenden Standpunkt aus: Bei was für einer Gelegenheit wird ein solches Geschenk höchstwahrscheinlich gemacht worden sein? Wann werden seine Freunde zusammengetreten sein, um ihm diese Gabe zu stiften? Offenbar in dem Augenblick, als Dr. Mortimer das Hospital verließ, um sich eine eigene Praxis zu gründen. Wir wissen, ein Geschenk ist gemacht worden. Wir glauben, der Mann ist vom Hospital aufs Land gezogen. Gehen wir denn also in unseren Mutmaßungen zu weit, wenn wir sagen, das Geschenk wurde ihm gelegentlich seines Fortganges dargebracht?«
»Das klingt allerdings wahrscheinlich.«
»Nun wird es dir klar sein, daß er nicht dem ärztlichen ‘Stabe’ des Krankenhauses angehört haben kann, denn eine derartige Stellung bekommt nur ein Arzt, der bereits eine gute Londoner Praxis hat, und ein solcher würde nicht aufs Land ziehen. Wer war er also? Wenn er zum Hospital und doch nicht zum Stabe desselben gehörte, so kann er nur Assistent gewesen sein — wenig mehr als ein älterer Kandidat der Medizin. Sein Fortgang fand vor fünf Jahren statt — das Datum steht aus dem Stock. So geht also dein ernster Familiendoktor reiferen Alters in Luft auf, mein lieber Watson, und heraus kommt ein junger Bursch unter dreißig Jahren, liebenswürdig, ohne Ehrgeiz, zerstreut — und Besitzer eines von ihm sehr geliebten Hundes, von welchem ich so ganz im allgemeinen nur sagen möchte, daß er größer als ein Teckel und kleiner als eine Dogge ist.«
Ich lachte ungläubig, während Sherlock Holmes sich auf seinem Sofa zurücklehnte und kleine Rauchringe in die Luft blies.
»Gegen deine letzte Versicherung vermag ich nichts einzuwenden,« sagte ich, »aber zum mindesten ist es nicht schwierig, ein paar Angaben über des Mannes Alter und bisherige Berufsthätigkeit zu erlangen.« Ich nahm von dem Bücherbrettchen, woraus meine medizinischen Werke standen, den Medizinalkalender herunter und schlug den Namen auf. Es waren mehrere Mortimers aufgeführt, aber was wir von unserem Besucher bereits wußten, paßte nur auf einen einzigen von diesen. Ich las die betreffende Stelle vor:
»Mortimer, James, M. R. C. S., 1882, Grimpen, Dartmoor, Devonshire. Von 1882 bis 1884 Assistent am Charing-Croß-Hospital. Erhielt den ‘Jackson-Preis für vergleichende Pathologie’ für seine Abhandlung: ‘Ist Krankheit ein Atavismus?’ Korrespondierendes Mitglied der Schwedischen pathologischen Gesellschaft. Verfaßte: ‘Einfälle über Atavismus’ (Lancet, 1882), ‘Machen wir Fortschritte?’ Journal of Psychology, März 1883). Gemeindearzt für Grimpen, Thorsley und High Barrow.«
»Von dem Hetzjagdverein steht nichts darin, Watson,« sagte Holmes mit einem boshaften Lächeln, »aber ein Landarzt ist er, wie du sehr scharfsinnig geschlossen hast. Mir scheint, meine Annahmen finden sich völlig bestätigt. Nun zum Charakter unseres Mannes! Ich sagte, wenn ich mich nicht irre, er sei liebenswürdig, ohne Ehrgeiz, und zerstreut. Meine Erfahrung lehrt mich, daß auf dieser Welt nur ein liebenswürdiger Mensch solche Freundschaftsgaben empfängt, daß nur einer ohne Ehrgeiz London verläßt, um aufs Land zu gehen, und daß nur ein Zerstreuter statt einer Visitenkarte seinen Spazierstock zurückläßt, nachdem er eine Viertelstunde im Wartezimmer gesessen hat.«
»Und der Hund?«
»Hat die Gewohnheit gehabt, seinem Herrn den Stock nachzutragen. Da der Stock schwer ist, so hat der Hund ihn fest an der Mitte gepackt, und die Eindrücke seiner Zähne sind sehr deutlich sichtbar. Die Kinnlade des Hundes ist, nach dem Abstand der Zahnspuren zu schließen, zu breit sür einen Teckel und nicht breit genug für eine Dogge. Vielleicht war es — ja, beim Zeus! — es ist ein brauner Jagdhund!«
Holmes war während des Sprechens aufgestanden und im Zimmer aus und ab gegangen. Dann war er in der Fensternische stehen geblieben. In dem Klang seiner Stimme lag eine solche Ueberzeugung, daß ich überrascht ausblickte.
»Aber, lieber Junge, wie kannst du bloß so etwas mit solcher Bestimmtheit behaupten?«
»Aus dem sehr einfachen Grunde, weil ich den Hund selber aus der Straßentreppe sehe, und da klingelt auch schon sein Herr. Bitte, bleibe hier, Watson. Er ist ein Kollege von dir, und deine Gegenwart kann mir vielleicht von Nutzen sein. Nun, Watson, kommt der dramatische Schicksalsaugenblick, — du hörst einen Schritt aus der Treppe — er tritt in dein Leben hinein, und du weißt nicht, bringt er dir Gutes oder Böses. Was will Dr. James Mortimer, der Mann der Wissenschaft, von Sherlock Holmes, dem Spezialisten des Verbrechens?…Herein!«
Die äußere Erscheinung unseres Besuchers war eine Ueberraschung für mich, denn ich hatte den Typus eines Landarztes erwartet. Es war ein sehr großer, dünner Mann mit einer großen schnabelförmigen Nase, die zwischen zwei scharfen, dicht zusammenstehenden grauen Augen hervorsprang. Diese Augen sah man durch die Gläser einer goldenen Brille funkeln. Die Kleidung war im Schnitt seinem Stande entsprechend,
jedoch ziemlich abgetragen; der Gebrock hatte blanke Nähte und die Hosen waren unten ausgefranzt. Trotz seiner Jugend hielt er den langen Rücken bereits gekrümmt; beim Gehen streckte er mit einem wohlwollenden Ausdruck den Kopf vor. Beim Eintreten fiel sein Blick auf den Stock, den Holmes noch in der Hand hielt, und er lief mit einem freudigen Ausruf aus ihn zu.
»Ich bin wirklich so froh!« sagte er. »Ich wußte nicht genau, ob ich ihn hier oder aus der Schiffsagentur vergessen hatte. Nicht um alles in der Welt möchte ich diesen Stock verlieren!«
»Ein Geschenk, wie ich, sehe!« bemerkte Holmes.
»Ja.«
»Vom Charing-Croß-Hospital?«
»Von ein paar Freunden dort bei Gelegenheit meiner Heirat.«
»Ach herrje, das ist schade!« rief Holmes kopfschüttelnd.
Dr. Mortimer blinzelte in gelindem Erstaunen Holmes durch die Brillengläser hindurch an.
»Warum ist das schade?«
»Ach, Sie haben nur unsere kleinen Mutmaßungen ein bißchen in Unordnung gebracht. Bei Ihrer Heirat, sagten Sie?«
»Jawohl. Ich heiratete und ging deshalb vom Hospital weg und gab damit alle Hoffnungen auf eine bequeme Praxis auf. Ich mußte mir aber meinen eigenen Haushalt einrichten.«
»Ei sieh, da sind wir im großen und ganzen ja doch nicht so sehr aus dem Holzwege!« sagte Holmes. »Und nun, Herr Doktor James Mortimer …«
»Kein Doktor, mein lieber Herr — ein bescheidener praktischer Arzt nur!«
»Und augenscheinlich ein Mann von scharfem Geiste.«
»Ein Lehrling aus dem Gebiet der Wissenschaft, Herr Holmes, ein Anfänger, der am Strande des großen unbekannten Weltmeeres Muscheln ausliest! Ich vermute, daß ich mit Herrn Sherlock Holmes spreche und nicht mit …«
»Nein — der Herr hier ist mein Freund Dr. Watson.«
»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Herr Doktor. Ich habe Ihren Namen in Verbindung mit dem Ihres Freundes erwähnen hören. Sie interessieren mich außerordentlich, Herr Holmes. Ich hatte an Ihnen kaum einen solchen dolichocephalen Schädel und eine derartig ausgeprägte supraorbitale Stirnentwickelung erwartet. Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich mal mit dem Finger über Ihre Scheitelnaht fahre? Ein Gipsmodell Ihres Schädels, werter Herr, würde, so lange das Original nicht zu haben ist, eine Zierde jedes anthropologischen Museums bilden. Ich beabsichtige nichts Unziemliches zu sagen, aber ich gestehe: mich gelüstet’s nach Ihrem Schädel.«
Sherlock Holmes lud mit einer Handbewegung unseren sonderbaren Besucher ein, sich’s in einem Stuhl bequem zu machen. Dann sagte er:
»Sie sind, wie ich bemerke, ein Enthusiast in Ihren Gedankengängen wie ich in den meinigen. Ich sehe an Ihren Fingerspitzen, daß Sie sich Ihre Zigaretten selber drehen. Zünden Sie sich ohne Bedenken eine an.«
Der Mann holte Tabak und Papier aus der Tasche und rollte mit überraschender Geschicklichkeit eine Zigarette. Seine langen zuckenden Finger waren so beweglich und unruhig wie die Fühler eines Insekts.
Holmes saß schweigend da, aber ich sah an den kurzen, scharfen Blicken, womit er ab und zu unserm eigentümlichen Gesellschafter beobachtete, daß er sich für denselben sehr interessierte.
»Ich nehme an, Herr Mortimer,« sagte er endlich, »daß Sie nicht lediglich in der Absicht, meinen Schädel zu befühlen, mir die Ehre erwiesen haben, gestern abend und wieder heute früh hier vorzusprechen?«
»Nein, Herr Holmes, nein — ich bin jedoch glücklich, daß ich gleichzeitig auch dazu Gelegenheit gehabt habe. Ich kam zu Ihnen, Herr Holmes, weil ich mir eingestehe, daß ich selbst ein unpraktischer Mann bin, und weil ich mich plötzlich einem sehr ernsthaften und außerordentlichen Problem gegenüber befinde. Und in Anbetracht, daß Sie, wie ich anerkenne, die zweithöchste europäische Autorität in…«
»Wirklich, Herr Doktor? Darf ich mich erkundigen, wer die Ehre hat, die erste zu sein?« fragte Holmes in etwas kurzem Ton.
»Auf einen streng wissenschaftlich denkenden Gelehrten muß Monsieur Bertillons Methode einen außerordentlich starken Reiz ausüben.«
»Thäten Sie dann vielleicht nicht besser, diesen um Rat zu fragen?«
»Ich sagte, werter Herr: für den streng wissenschaftlich Denkenden. Aber in der praktischen Bethätigung Ihrer Kunst stehen Sie allein da, das ist allgemein anerkannt. Ich denke doch, ich habe nicht etwa unabsichtlich …«
»Kaum der Rede wert!« antwortete Holmes »Ich denke, Herr Doktor Mortimer, Sie thäten gut, wenn Sie ohne weitere Umschweife mir klar und deutlich vortrügen, welcher Art das Problem ist, zu dessen Lösung Sie meinen Beistand zu erhalten wünschen.«
2
»Ich habe in meiner Tasche ein Manuskript!« sagte Doktor James Mortimer.
»Ich bemerkte es, als Sie das Zimmer betraten,« antwortete Holmes.
»Es ist eine alte Handschrift.«
»Aus dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts — falls nicht etwa eine Fälschung vorliegt.«
»Wie können Sie das so bestimmt sagen?«
»Sie haben mich die ganze Zeit über ein paar Zollbreit davon sehen lassen, so daß ich es prüfen konnte. Das wäre ein armseliger Sachverständiger, der nicht aus ein Jahrzehnt oder so das Datum eines Dokuments bestimmen könnte. Vielleicht haben Sie meine Abhandlung über diesen Gegenstand gelesen. Ich schätze, daß das Manuskript um das Jahr 1730 geschrieben ist.«
»Die genaue Jahreszahl ist 1742.«
Dr. Mortimer zog das Manuskript aus der Brusttasche hervor und fuhr fort:
»Dieses Familienpapier wurde mir von Sir Charles Baskerville anvertraut, dessen plötzlicher, tragischer Tod vor etwa drei Monaten in der Grafschaft Devon so großes Aussehen machte. Ich darf wohl sagen, daß ich nicht nur sein ärztlicher Berater, sondern auch sein persönlicher Freund war. Er war ein starkgeistiger Mann, schlau, weltklug und so wenig zu Einbildungen geneigt, wie ich selber. Trotzdem nahm er es mit diesem Schriftstück sehr ernst, und er war innerlich auf genau so einen Tod vorbereitet, wie er ihn schließlich erlitt.«
Holmes streckte die Hand nach dem Manuskript aus und breitete es auf seinem Knie aus.
»Du wirst bemerken, Watson, daß der Buchstabe stabe s abwechselnd lang oder kurz geschrieben ist. Das ist eines von mehreren Anzeichen, die es mir ermöglichen, die Entstehungszeit zu bestimmen.«
Ich betrachtete über seine Schulter hinweg das vergilbte Papier und die verblaßte Schrift. Am Kopfende stand geschrieben: »Baskerville Hall« und unten in großen kritzeligen Zahlen: »1742«.
»Es scheint so eine Art von Erzählung zu sein.«
»Ja, es ist die Erzählung einer Sage, die in der Familie Baskerville im Schwunge ist.«
»Aber ich verstehe Sie doch recht — Sie wünschen mich doch in einer etwas moderneren Angelegenheit des wirklichen Lebens um Rat zu fragen?«
»In einer höchst modernen! Und in einer sehr dringlichen Angelegenheit, die binnen vierundzwanzig Stunden zur Entscheidung gebracht werden muß. Aber das Manuskript ist nur kurz und steht in innigem Zusammenhang mit der Geschichte. Mit Ihrer Erlaubnis will ich’s Ihnen vorlesen.«
Holmes lehnte sich in seinen Stuhl zurück, faltete die Hände und schloß die Augen mit der Miene eines Mannes, der sich in sein Schicksal ergiebt. Dr. Mortimer hielt das Manuskript so, daß er gutes Licht hatte, und las mit lauter piepsiger Stimme die nachstehende Geschichte aus alter Zeit:
»Von dem Ursprung des Hetzrüden der Baskervilles
hat man gar vielerlei erzählt, aber da ich in gerader Linie von Hugo Baskerville abstamme, und da ich die Geschichte von meinem Vater habe, der sie von dem seinigen überliefert erhielt, so habe ich sie hier niedergeschrieben und bin des festen Glaubens, sie hat sich so zugetragen, wie ich nunmehr berichten will. Und ich bitte Euch, meine Söhne, Ihr wollet glauben, daß eben dieselbige Gerechtigkeit, so die Sünde bestrafet, wohl auch in überreicher Gnade sie vergeben möge, und daß kein Fluch so schwer sei, er könne nicht durch Gebet und Reue gesühnet werden. Entnehmet also aus dieser Geschichte die Lehre, daß ihr Euch nicht fürchtet, die Verbrechen der Vergangenheit möchten für Euch schlimme Früchte zeitigen, sondern daß Ihr vielmehr inskünftig wollet recht bedachtsam sam sein, aus daß die verruchten Leidenschaften, die unserer Familie so schweren Harm zugefüget, nicht abermals zu unserem Schaden mögen entsesselt werden.
Wisset also, daß zu den Zeiten der großen Revolution — deren Geschichte, wie der gelehrte Lord Clarendon sie beschrieben, ich Euch recht angelegentlich zum Lesen empfehle — dieses Herrenhaus Baskerville bewohnt wurde von Herrn Hugo desselbigen Namens; und es kann nicht verschwiegen werden, daß er ein sehr wilder, verruchter und gottloser Mann war. Dieses hätten nun wohl seine Nachbarn ihm verzeihen mögen, sintemalen in hiesiger Gegend Heilige niemals haben gedeihen wollen; aber es war an seiner Wildheit ein gewisser mutwilliger und grausamer Humor, und dadurch wurde sein Name im ganzen Westen bekannt. Nun begab es sich, daß dieser Hugo zu der Tochter eines Landmanns, der an der Grenze der Baskervilleschen Güter seinen Bauernhof hatte, in Liebe entbrannte — wenn man eine so finstere Leidenschaft wie die seinige mit einem so leuchtenden Worte bezeichnen darf. Aber die junge Maid, die züchtig und von gutem Rufe war, wich ihm stets aus, denn sie fürchtete seinen bösen Namen.
Es begab sich aber, daß am Michaelistag dieser Hugo nebst fünf oder sechs von den verruchten Genossen seiner Schwelgereien sich in das Bauernhaus schlich und das Mädchen entführte; ihr Vater aber und ihre Brüder waren nicht zu Hause, wie er sehr wohl wußte.
Und sie brachten sie ins Schloß, und die Jungfrau wurde in ein Zimmer im obersten Stockwerk eingeschlossen; Hugo aber und seine Freunde saßen nieder zu einem langen Zechgelage, wie sie allnächtlich zu thun pflegten. Da mochten wohl der armen Dirne da oben die Sinne schwinden, als sie das Singen und Toben und fürchterliche Fluchen hörte, das von unten herausscholl — denn man sagt, solche Worte, wie Hugo Baskerville sie im Weinrausch äußerte, die brächten den Mann, der sie spräche, sicherlich in die Hölle.
Und zuletzt that sie in der Verzweiflung ihrer Angst etwas, wovor wohl der tapferste und gewandteste Mann möchte zurückgeschaudert sein; denn mit Hilfe des Epheugerankes, das die Mauer bedeckte — und noch bedeckt — klomm sie von der Höhe dicht unter dem Dache hinunter zum festen Boden, und dann rannte sie nach Hause quer über das Moor. Der Weg aber von dem Schloß bis zu ihres Vaters Hof war drei Stunden weit.
Und es begab sich, daß kurze Zeit darauf Hugo seine Gäste verließ, um seiner Gefangenen Speise und Trank zu bringen — und vielleicht wollte er noch Schlimmeres —, und daß er den Käfig leer und den Vogel entflohen fand. Da war es gleich, als käme der Teufel über ihn, denn er lief die Treppen hinunter in den Speisesaal und sprang auf den großen Tisch, daß Flaschen und Teller herunterfielen, und schrie laut vor der ganzen Gesellschaft, er wolle noch in selbiger Nacht Leib und Seele den bösen Mächten zu eigen geben, wenn er nur die Dirne wieder einholte. Entsetzt starrten die Zechbrüder auf den rasenden Mann, einer aber, der noch verruchter oder vielleicht auch nur trunkener war als die anderen, rief, sie sollten die Hunde auf sie hetzen. Und Hugo lief aus dem Hause und rief seinen Stallknechten zu, sie sollten seine Stute satteln und die Hunde aus dem Zwinger lassen; er zeigte diesen ein Halstuch des Mädchens, und mit lautem Gekläff ging es im Mondschein über das Moor.
Eine Zeit lang waren die Zechkumpane ganz starr vor Verblüffung; sie vermochten die Vorgänge, die sich mit solcher Schnelligkeit abgespielt hatten, nicht zu begreifen. Aber allmählich dämmerte ihnen in ihren umnebelten Schädeln eine Ahnung auf, was wohl auf dem Moor sich begeben würde. Und es erhob sich ein gewaltiger Lärm, die einen riefen nach ihren Pistolen, andere nach ihren Pferden, noch wieder andere schrien, es sollten neue Weinflaschen gebracht werden. Endlich jedoch wurden sie etwas vernünftiger, und die ganze Gesellschaft, dreizehn an der Zahl, stieg zu Pferde und ritt Herrn Hugo nach. Der Mond schien klar über ihren Häuptern, und sie sprengten in schnellem Lauf den Weg entlang, den das Mädchen genommen haben mußte, um ihr Haus zu erreichen.
Sie waren eine oder zwei Meilen geritten, als sie einem jener Hirten begegneten, die nachts ihre Schafe über das Moor treiben; und sie riefen ihm zu, ob er den Reiter mit den Hunden gesehen hätte. Und der Mann, so berichtet die Ueberlieferung, war so von Furcht gelähmt, daß er kaum sprechen konnte; schließlich aber sagte er, er habe wirklich die unglückliche Jungfrau gesehen, und die Hunde seien ihr auf der Spur gewesen. ›Aber ich habe noch mehr gesehen als das!‹ sagte er. ›Denn Hugo Baskerville ritt an mir vorüber auf seiner schwarzen Stute, und hinter ihm rannte stumm solch ein Höllenhund, wie Gott ihn niemals mir auf die Fersen hegen wolle!‹ Die trunkenen Herren aber fluchten auf den Schäfer und ritten weiter. Bald jedoch ging es ihnen kalt über die Haut, denn es galoppierte etwas über das Moor herüber, und die schwarze Stute raste, mit weißem Schaum bedeckt, mit schleifendem Zügel und leerem Sattel an ihnen vorüber. Da drängten die Zechbrüder sich eng aneinander, denn eine große Angst kam über sie; trotzdem ritten sie noch weiter, obwohl jeder von ihnen, wäre er allein gewesen, herzlich gern sein Pferd würde herumgeworfen haben. Langsam weiter reitend, trafen sie schließlich die Hunde. Diese lagen, obwohl berühmt wegen ihres edlen Geblüts und ihrer Tapferkeit, winselnd zu einem Klumpen zusammengedrängt am Eingang einer tiefen Schlucht; einige von ihnen schlichen sich gar zur Seite, die anderen starrten mit gesträubten Haaren und stieren Augen in das schmale Thal hinein, das vor ihnen lag.
Die Gesellschaft hatte Halt gemacht; die Herren waren, wie Ihr Euch denken
könnt, jetzt nüchterner als beim Fortreiten. Die Meisten wollten durchaus nicht
weiter, aber drei von ihnen, die Kühnsten — oder auch die Betrunkensten — ritten in
die Schlucht hinein. Diese öffnete sich allmählich zu einem breiten Raum, wo zwei
große Steine standen; sie stehen auch jetzo noch dorten und sind von Menschen
gesetzt worden, deren Gedenken seit langen Zeiten verschollen ist. Der Mond schien
hell auf den freien Platz, und in der Mitte lag das Mädchen auf der Stelle, wo sie
vor Angst und Ermattung tot hingesunken war. Doch nicht der Anblick ihres
Leichnams, auch nicht der Anblick des Leichnams von Hugo Baskerville war es, was
diesen drei gottlosen Wüstlingen das Haar emporsträubte. Aber über Hugo, dessen
Kehle zerfleischend, stand ein grausiges Wesen, eine große schwarze Bestie
von der Gestalt eines Hundes, nur viel größer als ein Hund, den je eines
Sterblichen Auge erschaut hat. Und vor ihren entsetzten Augen riß das Tier
dem Hugo Baskerville die Kehle aus, dann sah es mit triefenden Lefzen und
glühenden Augen auf die Reiter; diese aber stießen ein gellendes Geschrei
aus und sprengten, als gälte es das Leben, fortwährend schreiend über das
Moor zurück. Einer, so erzählt man, starb noch in selbiger Nacht von dem
Anblick, die anderen zwo aber waren gebrochene Männer für den Rest ihrer
Tage.
Dieses ist, meine Söhne, die Geschichte von der Herkunft des Hundes, der, wie man sagt, seitdem unsere Familie so grimmig verfolgt hat. Ich habe sie aber niedergeschrieben, weil etwas Bekanntes offenbarlich weniger Grauen einflößt als etwas, was nur mit Winken und Andeutungen einem zugetragen wird. Es läßt sich freilich nicht leugnen, daß mancher von unserer Familie eines unseligen Todes gestorben ist, daß viele plötzlich geheimnisvoll und auf eine blutige Art verschieden sind. Und doch mögen wir uns der unendlichen Güte der Vorsehung ruhig anheimgeben; sie wird niemals die Unschuldigen bestrafen über das dritte oder vierte Glied hinaus, wie die Drohung in der Heiligen Schrift lautet.
Dieser Vorsehung, meine Söhne, empfehle ich Euch hiermit, und ich rate Euch, vorsichtig zu sein und dem Moor fern zu bleiben in jenen finsteren Stunden, da die bösen Mächte ihr Spiel treiben.
Dies schrieb Hugo Baskerville für seine Söhne Rodger und John. Und sie sollen ihrer Schwester Elisabeth nichts davon sagen.«
Dr. Mortimer war mit dem Vorlesen der seltsamen Geschichte fertig; er schob seine Brille auf die Stirn hinauf und warf einen erwartungsvollen Blick auf Sherlock Holmes Dieser gähnte, warf das Stümpfchen seiner Zigarette ins Feuer und sagte:
»Nun?«
»Finden Sie die Geschichte nicht interessant?«
»O ja, für einen Sammler von Märchen.«
Dr. Mortimer zog ein zusammengelegtes Zeitungsblatt aus der Tasche und sagte:
»Nun, Herr Holmes, so wollen wir Ihnen jetzt etwas Moderneres vorlegen. Dies hier ist die ‘Devon Country Chronicle’ vom 14. Mai dieses Jahres. Sie enthält einen kurzen Bericht über den etliche Tage vorher eingetretenen Tod Sir Charles Baskervilles.«
Mein Freund beugte sich ein wenig vor, und seine Züge nahmen einen Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit an. Unser Besucher schob seine Brille zurecht und begann:
»Der soeben erfolgte plötzliche Tod Sir Charles Baskervilles, von dem als vermutlichen Kandidaten der liberalen Partei für Mitteldevon bei der nächsten Wahl die Rede war, ist ein trauriges Ereignis für die ganze Grafschaft. Wenngleich Sir Charles erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit Baskerville Hall bewohnte, so hatten ihm doch sein liebenswürdiger Charakter und seine außerordentliche Freigebigkeit die Zuneigung und Achtung aller gewonnen, die mit ihm in Berührung kamen. In unseren Tagen reicher Emporkömmlinge freut man sich, wenn es einmal dem Sprößling einer altansässigen Familie gelungen ist, aus eigener Kraft ein Vermögen zu erwerben und damit den verblichenen Glanz seines durch böse Zeitläufte gegangenen Geschlechtes wieder aufzufrischen. Wie wohl allgemein bekannt ist, gewann Sir Charles große Summen durch Spekulationen in Südafrika. Er war weise genug, nicht so lange zu warten, bis das Glück sich gegen ihn kehrte, sondern machte seinen Gewinn zu Gelde und kehrte damit nach England zurück. Es sind erst zwei Jahre vergangen, seit er wieder Baskerville Hall bezog, und die von ihm geplanten großen Neubauten und Verbesserungen bildeten bekanntlich das allgemeine Gespräch in der ganzen Gegend; nun sind sie durch seinen Tod unterbrochen worden! Da er selbst keine Kinder hatte, so war es sein offen ausgesprochener Wunsch, die ganze Gegend solle von dem ihm beschieden gewesenen Glück Vorteil haben. Gar mancher wird daher ganz persönliche Veranlassung haben, den vorzeitigen Tod des Wohlthäters zu beweinen. Von seinen hochherzigen Schenkungen zu milden Zwecken ist in unseren Spalten oft die Rede gewesen.
Die Umstände, unter denen der Tod erfolgt ist, sind freilich durch die Untersuchung nicht gänzlich aufgeklärt worden, doch ist immerhin genug festgestellt, um gewissen Gerüchten entgegenzutreten, die durch den Aberglauben der Bevölkerung in Umlauf gesetzt sind. Nicht der geringste Grund spricht für ein Verbrechen oder läßt darauf schließen, daß übernatürliche Mächte im Spiel sein könnten. Sir Charles war Witwer und galt für einen Mann von etwas sonderbarer Geistesanlage. Trotz seinem beträchtlichen Reichtum war er einfach in seinen Lebensgewohnheiten, und die im Hause selbst wohnende Dienerschaft von Baskerville Hall bestand nur aus dem Ehepaar Barrymore. Ihre Aussage, die durch das Zeugnis mehrerer Freunde des Verstorbenen bestätigt wird, lautet dahin, daß Sir Charles schon seit einiger Zeit bei schwacher Gesundheit gewesen sei und besonders an einer Herzkrankheit gelitten habe, die sich in plötzlichen Veränderungen der Gesichtsfarbe, in Atemnot und in Anfällen von Gemütsverstimmung kundgegeben. Dr. Mortimer, der Freund und ärztliche Berater des Verschiedene, hat sein Zeugnis in demselben Sinne abgelegt.
Die Thatsachen des Falles sind einfach. Sir Charles Baskerville hatte die Gewohnheit, jede Nacht vor dem Zubettgehen noch einen Gang in der berühmten Taxusallee von Baskerville Hall zu machen. Dies geht aus dem Zeugnis der Barrymores hervor. Am 4. Mai hatte Sir Charles die Absicht ausgesprochen, am nächsten Tage nach London zu fahren und hatte Barrymore beauftragt, sein Gepäck zurecht zu machen. Am Abend ging er wie immer aus, um seiner Gewohnheit gemäß auf seinem nächtlichen Spaziergang eine Zigarre zu rauchen. Er kam nicht wieder zurück. Um 12 Uhr fand Barrymore die Hausthür noch offen, wurde unruhig und ging mit einer brennenden Laterne auf die Suche nach seinem Herrn. Es hatte tagsüber geregnet, und Sir Charles’ Fußspuren waren leicht die Taxusallee hinunter zu verfolgen. Auf halbem Wege befindet sich eine Pforte, die nach dem Moor hinausführt Aus gewissen Anzeichen läßt sich schließen, daß Sir Charles dort eine Zeit lang gestanden hatte. Dann hatte er seinen Weg den Gang hinunter fortgesetzt, und an dem äußersten Ende dieses Ganges wurde seine Leiche aufgefunden. Noch unaufgeklärt ist der von Barrymore bezeugte Umstand, daß die Fußspuren von der Heckenpforte an sich änderten, und daß er augenscheinlich von dieser Stelle an auf den Fußspitzen weitergegangen war. Ein Zigeunerpferdehändler, Namens Murphy, war um jene Stunde nicht weit davon auf dem Moor, jedoch in etwas angetrunkenem Zustande, wie er selber angiebt. Er erklärt, er habe mehrere Schreie gehört, könne aber nicht sagen, aus welcher Richtung diese gekommen seien. Zeichen von Gewalt waren an Sir Charles’ Leiche nicht zu entdecken; allerdings waren nach Aussage des Arztes seine Gesichtszüge auf fast unglaubliche Weise verzerrt — Doktor Mortimer wollte anfangs gar nicht glauben, daß es sein Freund und Klient war, der da als Leiche vor ihm lag — indessen ist dies ein Symptom, das man an Toten, die an Herzschlag gestorben sind, nicht selten beobachtet. Diese Erklärung wurde bestätigt durch den Sektionsbefund, der eine weit vorgeschrittene, langjährige Entartung des Herzens ergab. Der Wahrspruch der zur Leichenschau berufenen Geschworenen lautete daher in Uebereinstimmung mit der Meinung des Arztes. Dies ist gut so; denn selbstverständlich ist es von allergrößter Wichtigkeit, daß auch Sir Charles’ Erbe sich auf Baskerville Hall niederläßt und die so traurig unterbrochene nutzbringende Arbeit wieder aufnimmt. Hätte der prosaische Besund der Leichenschau nicht die von Ohr zu Ohr geflüsterten romantischen Geschichten endgültig zum Schweigen gebracht, so möchte es wohl schwer gehalten haben, einen neuen Bewohner nach Baskerville Hall zu bringen. Wie wir vernehmen, ist der nächste Verwandte Herr Henry Baskerville, — falls er noch am Leben ist — der Sohn von Sir Charles’ jüngerem Bruder. Der junge Herr befand sich nach den letzten Nachrichten, die von ihm eingingen, in Amerika; es sind bereits Nachforschungen nach ihm angestellt, um ihn von der ihm zugefallenen Erbschaft in Kenntnis zu setzen.«
Doktor Mortimer faltete seine Zeitung zusammen und steckte sie wieder in die Tasche.
»Dies, Herr Holmes, sind die öffentlich feststehenden Thatsachen mit Bezug auf den Tod Sir Charles Baskervilles.«
»Ich muß Ihnen meinen Dank aussprechen,« sagte Sherlock Holmes, »daß Sie meine Aufmerksamkeit auf einen Fall gelenkt haben, der sicherlich manche interessante Züge darbietet. Mir waren seinerzeit bereits einige darauf bezügliche Zeitungsartikel aufgefallen, aber gerade damals beschäftigte mich ganz außerordentlich der kleine Fall mit den vatikanischen Kameen, und in meinem Eifer, dem Papst gefällig zu sein, verlor ich die Fühlung mit verschiedenen interessanten englischen Fällen. Sie sagten doch, dieser Artikel enthalte alle öffentlich feststehenden Thatsachen?«
»Ja.«
»Dann lassen Sie mich wissen, welches die geheimen Thatsachen sind.«
Damit lehnte Holmes sich zurück, faltete wieder seine Hände und nahm die unbeweglichen Gesichtszüge an, die bei ihm ein Zeichen waren, daß er seine ganze Urteilskraft anspannte. Dr. Mortimer war augenscheinlich von einer starken Erregung ergriffen; endlich sagte er:
»Ich will es thun; aber ich sage Ihnen damit etwas, was ich bisher keinem Menschen anvertraut habe. Ich habe es vor den Geschworenen der Leichenschau verschwiegen, — das that ich, weil ein Mann der Wissenschaft davor zurückscheut, den Anschein zu erwecken, als ob er einen Volksaberglauben unterstützen wolle. Ferner hatte ich den Grund, daß, wie auch die Zeitung bemerkt, Baskerville Hall ganz gewiß keine neuen Bewohner erhalten würde, wenn der ohnehin schon grausige Ruf, worin das Haus steht, noch verschlimmert würde. Aus diesen beiden Gründen glaubte ich ein Recht zu haben, nicht alles zu sagen, was ich wußte; denn irgend ein Nutzen war dabei nicht zu erreichen. Aber Ihnen gegenüber habe ich keine Ursache, nicht vollständig offen zu sein.
Das Moor ist sehr dünn bevölkert; die Nachbarn sind daher sehr aufeinander angewiesen. So verkehrte ich denn auch sehr viel mit Sir Charles Baskerville. Mit Ausnahme von Herrn Frankland auf Laster Hall und einem Naturforscher Herrn Stapleton giebt es auf Meilen im Umkreis keine wissenschaftlich gebildeten Männer. Sir Charles suchte die Zurückgezogenheit; aber seine Krankheit brachte uns zusammen, und da wir gemeinsame wissenschaftliche Interessen hatten, so wurde unser Verkehr ein dauernder. Er hatte viele wissenschaftliche Kenntnisse aus Südafrika mitgebracht, und manchen köstlichen Abend verlebten wir zusammen in Gesprächen über die anatomischen Eigentümlichkeiten der Buschmänner und der Hottentotten.
In den letzten Monaten bestärkte sich immer mehr meine Ueberzeugung, daß Sir Charles’ Nerven bis zum Zerreißen angespannt waren. Er nahm es mit der Sage, die ich Ihnen vorlas, außerordentlich ernst; dies ging so weit, daß er unter keinen Umständen nachts das Moor betrat, obwohl es zu seinem eigenen Grund und Boden gehörte. Es mag Ihnen unglaublich erscheinen, Herr Holmes, aber er war allen Ernstes überzeugt, daß ein grausiges Verhängnis über seinem Geschlecht schwebte, und allerdings klang, was er von seinen Vorfahren zu erzählen wußte, nicht gerade ermutigend. Der Gedanke, von irgendwelchen bösen Geistern umgeben zu sein, verfolgte ihn beständig, und mehr als einmal fragte er mich, ob ich nicht auf den nächtlichen Fahrten, die mein Beruf nötig machte, eine seltsame Erscheinung gesehen oder Hundegebell gehört hätte. Diese letztere Frage richtete er mehrmals an mich, und stets zitterte dabei seine Stimme vor Erregung.
Eines Abends — ich erinnere mich des Vorfalls noch sehr gut; es war ungefähr drei Wochen vor dem traurigen Ereignis — fuhr ich bei seinem Hause vor. Er stand zufällig vor seiner Thür. Ich war von meinem Wägelchen abgestiegen und stand vor ihm; plötzlich sah ich, wie seine Augen in furchtbarstem Entsetzen über meine Schulter hinwegstarrten. Ich drehte mich um und konnte gerade noch am Ende des Weges eine Gestalt bemerken, die ich für ein großes schwarzes Kalb hielt. Er war so entsetzlich aufgeregt, daß ich nach der Stelle, wo das Tier gewesen war, hingehen und Umschau halten mußte. Es war jedoch verschwunden. Die Erscheinung hatte augenscheinlich einen sehr schlimmen Eindruck auf ihn gemacht. Ich blieb den ganzen Abend bei ihm, und bei dieser Gelegenheit gab er mir, um mir seine Aufregung zu erklären, die geschriebene Erzählung, die ich Ihnen vorhin vorlas. Ich erwähne diesen kleinen Vorfall, weil er durch die darauffolgende Tragödie eine gewisse Bedeutung gewonnen hat; aber damals war ich überzeugt, die Erscheinung werde eine sehr hausbackene Ursache haben, und seine Aufregung sei völlig unbegründet.
Zu der Reise nach London entschloß Sir Charles sich auf mein Anraten. Ich kannte seinen gefährlichen Herzfehler; die beständige Aufregung, worin er lebte, griff offenbar in ernstlicher Weise seine Gesundheit an, mochten es auch reine Hirngespinste sein. Ich dachte, ein paar Monate unter den Zerstreuungen der Großstadt würden einen neuen Menschen aus ihm machen. Unser gemeinsamer Freund Stapleton, der sich ebenfalls große Sorge um Sir Charles’ Gesundheit machte, teilte meine Ansicht. Im letzten Augenblick vor der Reise trat das traurige Ereignis ein.
In der Todesnacht schickte Barrymore, der den Leichnam auffand, den Stallknecht Perkins als reitenden Boten zu mir, und da ich trotz der späten Stunde noch auf war, so war es mir möglich, binnen einer Stunde nach Barrymores Entdeckung auf Baskerville Hall einzutreffen. Ich stellte alle bei der Untersuchung vorgebrachten Einzelheiten fest. Ich verfolgte die Fußspuren im Taxusgang, ich sah die Stelle an der Moorpforte, wo er gewartet zu haben schien, ich bemerkte die Veränderung der Fußspuren von jener Stelle an, ich stellte fest, daß auf dem weichen Boden keine anderen Spuren vorhanden waren als die von Barrrymore hinterlassenen. Endlich untersuchte ich sorgfältig den Leichnam, der bis zu meiner Ankunft unberührt liegen geblieben war. Sir Charles lag mit dem Gesicht nach unten, die Finger in das Erdreich eingekrallt, und seine Züge waren von irgend einer ungeheuren Erregung so furchtbar verzerrt, daß ich kaum darauf hätte schwören können, es sei wirklich mein Freund. Ganz bestimmt war keine körperliche
Verletzung irgend welcher Art vorhanden. Aber eine falsche Angabe hat Barrymore vor der Jury gemacht. Er behauptete, es seien auf dem Boden in der Nähe
der Leiche keine Spuren vorhanden gewesen. Er bemerkte allerdings keine. Aber ich sah welche — ein kleines Stück entfernt, aber frisch und deutlich.«
»Fußspuren?«
»Fußspuren.«
»Von einem Mann oder von einer Frau?«
Dr. Mortimer sah uns einen Augenblick lang mit sonderbarem Ausdruck an; dann sagte er leise, fast flüsternd:
»Herr Holmes, es waren die Spuren eines riesengroßen Hundes.«
3
Ich gestehe, daß bei diesen Worten ein Schauder mich überrieselte; es lag ein eigenartiger Klang in des Doktors Stimme; offenbar war er selber tief ergriffen von seinen Worten. Holmes hatte sich erregt vorgebeugt; seine Augen hatten jenen trockenen Glanz, der stets aus ihnen sprühte, wenn ein Fall ihm besonders nahe ging.
»Sie sahen es?«
»So deutlich, wie ich Sie vor mir habe.«
»Und Sie sagten nichts?«
»Was für einen Zweck hätte das haben sollen«?
»Wie kam es, daß sonst niemand die Spuren sah?«
»Sie waren einige zwanzig Schritte vom Leichnam entfernt, und kein Mensch dachte an eine solche Möglichkeit. Ich glaube nicht, daß ich selber sie beobachtet hätte, wenn ich nicht die Sage gekannt hätte.«
»Es giebt viele Schäferhunde auf dem Moor?«
»Ganz gewiß, aber die Spuren waren nicht von einem Schäferhunde.«
»Sie sagten, sie wären groß gewesen?«
»Ungeheuer.«
»Aber das Tier war nicht an den Leichnam herangekommen?«
»Nein.«
»Wie war die Nacht?«
»Feucht und rauh.«
»Aber es regnete nicht?«
»Nein.«
»Wie sieht die Allee aus?«
»Sie besteht aus zwei undurchdringlichen, zwölf Fuß hohen Taxushecken. Der Weg, der die Mitte des Ganges einnimmt, ist etwa acht Fuß breit.«
»Ist etwas zwischen den Hecken und dem Wege?«
»Ja, an jeder Seite ein ungefähr sechs Fuß breiter Grasstreifen.«
»Wenn ich Sie recht verstand, ist die Taxushecke an einer Stelle von einer Pforte durchbrochen?«
»Ja, von der Lattenpforte, die aus das Moor hinausführt.«
»Ist noch eine andere Oeffnung vorhanden?«
»Keine.«
»Man muß also, um in die Taxusallee zu gelangen, entweder vom Hause herkommen, oder durch die Moorpforte eintreten?«
»Es giebt noch einen Zugang: durch ein Gartenhaus, das am äußersten Ende des Ganges steht.«
»War Sir Charles so weit gekommen?«
»Nein, er lag ungefähr fünfzig Schritt weit davon ab.«
»Nun sagen Sie mir, Herr Doktor — und dies ist wichtig! — waren die Spuren, die Sie sahen, auf dem Wege und nicht auf dem Grase?«
»Auf dem Grase wären Spuren überhaupt nicht zu sehen gewesen.«
»Waren sie auf der Seite des Weges, wo sich die Moorpforte befindet?«
»Ja; sie waren am Rande des Weges, auf derselben Seite wie die Lattenpforte.«
»Sie interessieren mich über alle Maßen. Noch eins: war die Lattenpforte geschlossen?«
»Geschlossen und verriegelt.«
»Wie hoch ist sie?«
»Ungefähr vier Fuß.«
»Dann konnte also, wer wollte, hinübersteigen?«
»Ja.«
»Und was für Spuren bemerkten Sie an der Pforte?«
»Keine besonderen.«
»Grundgütiger Himmel! Haben Sie denn die Stelle nicht untersucht?«
»Ja, ich untersuchte sie selbst.«
»Und Sie fanden nichts?«
»Der Boden war sehr zertreten. Sir Charles hatte offenbar fünf oder zehn Minuten lang da gestanden.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil er zweimal die Asche von seiner Cigarre abgestrichen hatte.«
»Ausgezeichnet! Das ist ein Kollege nach unserem Herzen, Watson. Aber die Spuren?«
»Seine eigenen Fußspuren befanden sich überall auf dem kleinen Fleck Erde; andere konnte ich nicht entdecken.«
Sherlock Holmes schlug sich in einer Auswallung von Ungeduld mit der Hand aufs Knie und rief:
»Wäre ich doch nur dort gewesen! Augenscheinlich liegt ein ganz besonders interessanter Fall vor, aus dem ein wissenschaftlich geschulter Sachverständiger ungeheuer viel hätte machen können. Das Stückchen Erdreich, worauf ich wie auf einem Blatt Papier soviel hätte lesen können, es ist jetzt seit langer Zeit vom Regen durchweicht und von den Holzschuhen neugieriger Bauern bis zur Unkenntlichkeit zertrampelt. O, Dr. Mortimer, Dr. Mortimer! Daß Sie mich nicht hinzugezogen haben! Sie haben vielleicht eine große Verantwortlichkeit auf sich geladen!«
»Ich konnte Sie nicht hinzuziehen, Herr Holmes, ohne meine Entdeckung vor den Augen aller Welt zu enthüllen, und ich habe Ihnen bereits die Gründe angegeben, warum ich das nicht wünsche. Außerdem …außerdem …«
»Warum stocken Sie?«
»Es giebt ein Gebiet, auf welchem auch der scharfsichtigste und erfahrenste Detektiv machtlos ist.«
»Sie meinen, es handle sich um etwas Uebernatürliches?«
»Das habe ich nicht so bestimmt ausgesprochen.«
»Nein, aber offenbar ist das Ihr Gedanke.«
»Seit jener tragischen Nacht, Herr Holmes, sind mehrere Vorfälle zu meiner Kenntnis gekommen, die sich schwer mit dem ordnungsmäßigen Gang der Natur zusammenreimen lassen.«
»Zum Beispiel?«
»Ehe noch das schreckliche Ereignis eintrat, hatten verschiedene Leute auf dem Moor eine Kreatur gesehen, die der Beschreibung nach dem Baskervilleschen Höllengeist entspricht; es ist ausgeschlossen, daß es sich um ein der menschlichen Wissenschaft bekanntes Tier handelt. Alle stimmen darin überein, es wäre ein riesiges Geschöpf gewesen, eine grausig gespensterhafte Erscheinung. Ich habe die Leute scharf ins Verhör genommen; einer von ihnen war ein hartköpfiger Landmann, der zweite ein Hufschmied, der dritte ein Moorbauer. Alle drei erzählten sie die gleiche Geschichte von der fürchterlichen Erscheinung, die genau so ausgesehen hätte, wie der sagenhafte Höllenhund. Ich kann Sie versichern, es herrscht eine wahre Todesangst in der Gegend, und es muß einer schon ein sehr beherzter Mann sein, um nachts über das Moor zu gehen.«
»Und Sie, ein wissenschaftlich gebildeter Mann, glauben, die Erscheinung gehöre dem Gebiet des Uebernatürlichen an?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
Holmes zuckte die Achseln und sagte:
»Ich habe bis jetzt meine Nachspürungen auf diese Welt beschränkt. Nach meinen bescheidenen Kräften habe ich das Böse bekämpft; aber mich an den Vater alles Bösen selber heranzuwagen, das wäre vielleicht ein zu ehrgeiziges Unterfangen …. So viel aber müssen Sie doch zugeben, daß die Fußspur etwas Wirkliches ist.«
»Der Höllenhund war auch wirklich, denn er riß einem Menschen die Kehle auf; und doch war er zugleich ein Teufelsgeschöpf.«
»Ich sehe, Sie sind ganz und gar zu den Supernaturalisten übergegangen. Nun sagen Sie mir aber mal eins, Herr Dr. Mortimer: Wenn Sie sich zu solchen Ansichten bekennen, warum sind Sie dann überhaupt zu mir gekommen, um mich um Rat zu fragen? Sie sagen mir, es sei zwecklos, nach der Ursache von Sir Charles’ Tod zu forschen, und bitten mich in demselben Atemzuge, es doch zu thun.«
»Ich sagte nicht, daß ich das von Ihnen wünschte.«
»Wie kann ich Ihnen denn sonst helfen?«
»Indem Sie mir Ihren Rat geben, was ich mit Sir Henry Baskerville machen soll; er kommt« — hier sah Dr. Mortimer auf seine Uhr — »genau in ein und ein viertel Stunden aus dem Waterloo-Bahnhof an.«
»Er ist der Erbe?«
»Ja. Nach Sir Charles’ Tode sahen wir uns nach dem jungen Herrn um und erfuhren, daß er sich in Kanada als Landmann niedergelassen hätte. Nach den uns zugegangenen Auskünften ist er in jeder Beziehung ein ausgezeichneter junger Mann. Ich spreche jetzt nicht als Arzt, sondern als Sir Charles’ Testamentsvollstrecker.«
»Sonst ist wohl niemand da, der aus die Erbschaft Anspruch macht?«
»Niemand. Der einzige Verwandte, den wir außer ihm noch ausfindig machen konnten, war Rodger Baskerville, der jüngste der drei Brüder, von denen der arme Sir Charles der älteste war. Der zweite Bruder, der schon in frühem Alter starb, war der Vater unseres jungen Henry. Der dritte, Rodger, war das räudige Schaf der Familie. Er war ein echter Baskerville von der tollen Sorte und zwar, so erzählte man mir, das leibhaftige Konterfei von dem Ahnenbild des alten Hugo. Als der englische Boden ihm zu heiß unter den Füßen wurde, floh er nach Mittelamerika; dort starb er im Jahre 1876 am gelben Fieber. Henry ist der Letzte der Baskervilles. In einer Stunde und fünf Minuten treffe ich ihn auf dem Waterloo-Bahnhof. Er hat mir gedrahtet, daß er heute früh in Southampton eintreffe. Nun, Herr Holmes, was soll ich Ihrer Meinung nach mit ihm anfangen?«
»Warum soll er nicht in das Haus seiner Väter ziehen?«
»Das scheint das Natürliche zu sein, nicht wahr? Und doch, bedenken Sie, daß jedem Baskerville, der dorthin geht, ein furchtbares Schicksal beschieden ist. Ich bin überzeugt, wenn Sir Charles mit mir vor seinem Tode hätte sprechen können, er hätte mich davor gewarnt, den Letzten des alten Geschlechtes, den Erben so großen Reichtums, in dieses Haus des Todes zu bringen. Andererseits läßt sich nicht leugnen, daß die Wohlfahrt jenes ganzen armseligen, dürren Landstriches von feiner Anwesenheit abhängt. Alles Gute, das Sir Charles gethan, wird verlorene Mühe sein, wenn Baskerville Hall keinen Bewohner hat. Ich fürchte, das natürliche Interesse, das ich selber an der Sache habe, könnte mich beeinflussen, und deshalb trage ich Ihnen den Fall vor und bitte um Ihren Rat.«
Holmes dachte eine kleine Weile nach; dann sagte er:
»In klare Worte gefaßt, liegt also die Sache so: Nach Ihrer Meinung ist eine höllische Macht am Werke und macht Dartmoor zu einem unsicheren Aufenthaltsort für einen Baskerville. So denken Sie doch?«
»Jedenfalls möchte ich so weit gehen, zu sagen, daß einige Anzeichen vorhanden sind, es könnte so sein.«
»Ganz recht. Aber so viel ist doch sicher: Wenn Ihre Annahme, daß übernatürliche Kräfte im Spiel seien, richtig ist, so könnten diese dem jungen Mann in London ebenso leicht Böses anthun wie in Devonshire. Einen Teufel mit örtlich beschränkter Macht, die etwa nur in einem bestimmten Kirchspiel gilt, den kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Sie nehmen die Sache etwas scherzhaft, Herr Holmes; Sie würden das wohl nicht thun, wenn Sie mit diesen Dingen in persönliche Berührung kämen. Wenn ich Sie recht verstand, so sprachen Sie also Ihre Meinung dahin aus, der junge Mann werde in Devonshire ebenso sicher sein wie in London. In fünfzig Minuten kommt er. Was würden Sie mir empfehlen?«
»Ich empfehle Ihnen, werter Herr, eine Droschke zu nehmen, Ihren Hund abzurufen, der an meiner Hausthür kratzt, und nach dem Waterloo-Bahnhof zu fahren, um Sir Henry Baskerville abzuholen.«
»Und dann?«
»Und dann werden Sie ihm durchaus nichts sagen, bis ich mir über die Sache klar geworden bin.«
»Wie lange brauchen Sie, um sich darüber klar zu werden?«
»Vierundzwanzig Stunden. Morgen früh um zehn, Herr Doktor Mortimer, werde ich Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie mich hier aufsuchen wollen, und es wird mir in meinen Plänen eine wesentliche Hilfe sein, wenn Sie Sir Henry Baskerville mitbringen.«
»So werde ich’s machen, Herr Holmes.« Er kritzelte die Verabredung auf seine Handstulpe und rannte in seiner sonderbaren, zerstreuten Art aus der Thür. Oben an der Treppe rief Holmes ihn aber zurück.
»Nur noch eine Frage, Herr Doktor. Sie sagen, vor Sir Charles Baskerville’s Tode hätten mehrere Leute das Gespenst auf dem Moor gesehen?«
»Ja, drei.«
»Sah jemand es nachher?«
»Ich habe durchaus nichts davon gehört.«
»Danke. Guten Morgen.«
Holmes setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Sein ruhiger Blick voll innerer Befriedigung zeigte an, daß er eine seiner würdige Aufgabe vor sich sah.
»Gehst du aus, Watson?«
»Ja, das heißt, wenn ich dir helfen kann…«
»Nein, mein lieber Junge; erst wenn es zu handeln gilt, wende ich mich an dich um Hilfe. Na, dieser Fall ist prachtvoll, in mancher Hinsicht geradezu einzig. Wenn du bei Bradleys Laden vorbeikommst, willst du ihm, bitte, sagen, er möchte mir ein Pfund von seinem stärksten Schnitttabak zuschicken? Danke. Es wäre recht gut, wenn du’s so einrichten könntest, daß du nicht vor Abend zurückkommst. Dann würde es mir viel Vergnügen machen, unsere Ansichten über das höchst interessante Problem von heute früh zu vergleichen.«
Ich wußte, Abgeschlossenheit und Einsamkeit waren meinem Freund sehr notwendig in jenen Stunden schärfster Denkarbeit, in denen er jedes Beweisteilchen nach seinem Werte maß, verschiedene Theorien gegen einander abwog und sich schlüssig darüber machte, welche wesentlich und welche unbedeutend waren. Ich verbrachte daher den Tag in meinem Klub und kam erst abends nach der Bakerstraße zurück. Es war fast neun Uhr, als ich wieder unser Wohnzimmer betrat.
Als ich die Thür öffnete, war mein erster Gedanke, es sei Feuer ausgebrochen, denn das Zimmer war so voll Qualm, daß kaum das Licht der aus dem Tisch stehenden Lampe hindurchschien. Als ich jedoch im Zimmer war, erkannte ich, daß ich mich geirrt hatte; es war nur der beizende Rauch starken Tabaks, der mir die Kehle zuschnürte, so daß ich husten mußte. Durch den Dunst hindurch sah ich in undeutlichen Umrissen die Gestalt von Sherlock Holmes, der mit seiner schwarzen Thonpfeife zwischen den Lippen, mit seinem Schlafrock bekleidet, sich’s in einem Lehnstuhl bequem gemacht hatte. Mehrere Papierrollen lagen um ihn herum.
»Hast du dich erkältet, Watson?« fragte er.
»Nein, ’s ist nur diese vergiftete Luft.«
»Hm, nun da du davon sprichst, so glaube ich selber, sie ist wirklich ziemlich dick.«
»Dick?! …Sie ist unerträglich!«
»Dann mach doch das Fenster auf! Du bist, wie ich bemerke, den ganzen Tag in deinem Klub gewesen?«
»Bester Holmes!«
»Habe ich recht?«
»Gewiß, aber wie …?«
Er lachte über mein verblüfftes Gesicht.
»Du hast so eine entzückende Unschuld an dir, Watson. Es ist ein wahres Vergnügen für mich, meine schwachen Fähigkeiten ein bißchen an dir zu üben. Ein Herr geht an einem trüben, regnerischen Tage aus. Am Abend, als er zurückkommt, sieht er aus wie aus dem Ei gepellt; Hut und Stiefel sind noch tadellos glänzend. Also ist er den ganzen Tag an einem Ort gewesen. Intime Freunde hat er nicht. Wo kann er also gewesen sein? Ist es nicht selbstverständlich?«
»Allerdings, ziemlich selbstverständlich.«
»Die Welt ist voll von selbstverständlichen Dingen, aus die kein Mensch je achtet. Wo, glaubst du, bin ich gewesen?«
»Ebenfalls den ganzen Tag zu Hause.«
»Im Gegenteil, ich war in Devonshire.«
»Im Geiste?«
»Ganz recht. Mein Leib ist in diesem Lehnstuhl geblieben und hat, wie ich mit Bedauern bemerke, in meiner Abwesenheit zwei große Kannen Kaffee und eine unglaubliche Menge Tabak vertilgt. Als du weg warst, ließ ich mir von Stamford die Generalstabskarte von diesem Teil des Moores besorgen, und mein Geist hat den ganzen Tag über jenem Erdenfleck geschwebt. Ich schmeichle mir, ich könnte dort jetzt meinen Weg allein finden.«
»Die Karte ist wohl in großem Maßstabe gehalten?«
»In sehr großem!« Er rollte eins von den Blättern auf und breitete es auf seinem Knie aus. »Hier hast du die Gegend, um die es sich für uns handelt. Da in der Mitte ist Baskerville Hall.«
»Das mit dem Walde rund herum?«
»Ganz recht. Ich nehme an, daß der Taxusgang, obwohl er nicht unter diesem Namen aus der Karte eingetragen ist, sich in dieser Richtung entlang erstreckt; wie du siehst, ist rechts davon das Moor. Dieser kleine Häuserklumpen ist das Dörfchen Grimpen, wo unser Freund Dr. Mortimer sein Hauptquartier hat. In einem Kreise mit einem Radius von fünf Meilen sind, wie du siehst, nur ein paar ganz weit verstreute Gebäude vorhanden. Hier ist Laster Hall, wovon in der Geschichte die Rede war. Da ist ein Haus eingezeichnet, das vielleicht der Wohnsitz des Natursorschers ist — Stapleton ist sein Name, wenn ich mich recht erinnere. Dann hier zwei Moorbauernhäuser, High Tor und Foulmir. Dann in einer Entfernung von vierzehn Meilen das große Zuchthaus von Princetown. Zwischen diesen weit verstreuten Punkten und rund um sie herum erstreckt sich das trostlose, unbelebte Moor. Dies also ist der Schauplatz, auf welchem die Tragödie sich abgespielt hat und vielleicht mit unserer Hilfe sich weiter entwickeln wird.«
»Es muß eine schaurige Gegend sein.«
»Ja, sie paßt zu einem großen Verbrechen. Wenn je der Teufel den Wunsch hätte, sich in menschliche Angelegenheiten einzumischen …«
»Du neigst also selber zu einer übernatürlichen Erklärung?«
»Des Teufels Werkzeuge können wohl von Fleisch und Blut sein, nicht wahr? Wir müssen von zwei Fragen ausgehen: Erstens, ob überhaupt ein Verbrechen begangen ist; zweitens, worin bestand das Verbrechen, und wie wurde es vollbracht? Natürlich, wenn Dr. Mortimers Vermutung richtig ist, wenn wir es mit Mächten zu thun haben, die außerhalb der gewöhnlichen Naturgesetze stehen, so hat unser Suchen ein Ende. Aber wir haben die Pflicht, alle anderen Hypothesen bis zu Ende zu verfolgen, ehe wir diese eine gelten lassen. Wenn’s dir recht ist, so können wir wohl das Fenster wieder schließen. Es ist sonderbar genug, aber ich finde, eine konzentrierte Atmosphäre hilft mit zum Konzentrieren der Gedanken. Ich bin noch nicht so weit, daß ich zum Zweck des Nachdenkens in eine Kiste krieche, aber das wäre allerdings die logische Verwirklichung meiner Ueberzeugungen …
Hast du dir mal den Fall durch den Kopf gehen lassen?«
»Ja, ich habe den Tag über viel daran gedacht. Der Fall ist sehr dazu angethan, einem die Gedanken zu verwirren.«
»Ja, er ist von ganz eigener Art. Er bietet etliche außerordentliche Punkte: die Veränderung der Fußspuren zum Beispiel. Wie erklärst du dir diesen Umstand?«
»Mortimer sagte, der Mann sei in jenem Teile der Allee auf den Fußspitzen gegangen.«
»Er sprach nur nach, was ein Dummkopf bei der Untersuchung gesagt hatte. Warum sollte ein Mann auf den Fußspitzen die Allee hinuntergehen?«
»Was war’s also?«
»Er rannte, Watson — rannte voll Verzweiflung, rannte in Todesangst, rannte, bis ihn der Herzschlag traf, und er tot auf sein Antlitz fiel.«
»Er rannte — vor was denn?«
»Da liegt unser Problem. Gewisse Anzeichen sprechen dafür, daß er vor Angst die Besinnung verloren hatte, schon ehe er zu laufen anfing.«
»Wie kannst du das sagen?«
»Ich setze voraus, daß die Ursache seines Schreckens über das Moor auf ihn zukam. Wenn dies der Fall war — und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür — so konnte nur ein Mann, der die Besinnung verloren hatte, vom Hause weglaufen, anstatt darauf zu. Wenn man die Aussage des Zigeuners als wahr annehmen darf, so rannte er, nach Hilfe schreiend, gerade in diejenige Richtung, wo Hilfe am allerwenigsten zu erwarten war. Und weiter, auf wen wartete er in jener Nacht, und warum wartete er auf ihn in der Taxusallee anstatt in seinem Hause?«
»Du glaubst, er wartete auf jemand?«
»Der Mann war ältlich und kränklich. Es läßt sich wohl begreifen, daß er abends einen Spaziergang zu machen pflegte, aber der Boden war naß und die Nacht rauh. Ist es natürlich, daß er fünf oder zehn Minuten lang auf derselben Stelle stand, wie Doktor Mortimer mit mehr Beobachtungsgabe, als ich ihm zugetraut hätte, aus der Cigarrenasche folgerte?«
»Aber er ging doch jeden Abend aus.«
»Ich halte es für unwahrscheinlich, daß er jeden Abend an der Moorpforte gewartet haben sollte. Im Gegenteil, die Zeugen haben bekundet, daß er das Moor vermied. An jenem Abend wartete er. Es war der Abend vor seiner Abreise nach London. Das Ding nimmt Gestalt an, Watson. Es kommt Zusammenhang hinein. Darf ich dich bitten, mir meine Geige herüberzureichen? Wir wollen alles weitere Nachdenken über die Angelegenheit bis morgen früh verschieben; dann werden ja Doktor Mortimer und Sir Henry Baskerville uns mit ihrem Besuch zu Hilfe kommen.«
4
Unser Frühstückstisch war schon zeitig abgeräumt, und Holmes wartete in seinem Schlafrock auf den angekündigten Besuch. Seine Klienten waren pünktlich, denn die Uhr hatte gerade zwölf geschlagen, als Doktor Mortimer mit dem jungen Baronet eintrat. Dieser war ein kleiner, lebhafter, dunkelhaariger Mann von ungefähr dreißig Jahren, sehr stämmig gewachsen, mit buschigen schwarzen Augenbrauen und einem scharfgeschnittenen Gesicht, aus dem Kampflust sprach. Er trug einen graurötlichen Sommeranzug und hatte die wetterbraune Gesichtsfarbe eines Mannes, der sich fast immer im Freien aufgehalten hat; trotzdem lag in seinem festen Blick und in der ruhigen Sicherheit seines Auftretens ein gewisses Etwas, was den Gentleman verriet.
»Dies ist Sir Henry Baskerville,« sagte Dr. Mortimer.
»Ja, da bin ich, Herr Holmes, und das Seltsame dabei ist, daß ich aus eigenem Antriebe Sie ausgesucht haben würde, wenn mein Freund hier mir nicht den Vorschlag gemacht hätte. Ich höre, Sie sind ein berühmter Rätselrater, und mir ist heute morgen eins aufgegeben worden, zu dessen Lösung ich nicht die Gabe besitze.«
»Bitte, nehmen Sie Platz, Sir Henry. Wenn ich Sie recht verstehe, so sagen Sie, Sie haben seit Ihrer Ankunft in London ein seltsames Erlebnis gehabt?«
»Nichts von großer Bedeutung, Herr Holmes. Höchstwahrscheinlich nur ein schlechter Spaß. Es handelt sich um diesen Brief — wenn Sie es überhaupt einen Brief nennen wollen; ich bekam ihn heute früh.«
Er legte einen Briefumschlag auf den Tisch, und wir traten alle heran, um ihn uns näher anzusehen. Es war ein Umschlag von geringer Güte und von grauweißer Farbe. Die Adresse ‘Sir Henry Baskerville. Northumberland-Hotel’ war von einer ungelenken Hand geschrieben; der Poststempel lautete ‘Charing Croß’, und die Marke war am Abend vorher abgestempelt
»Wer wußte, daß Sie ins Northumberland-Hotel gehen wollten?« fragte Holmes mit einem scharfen Blick aus unseren Besucher.
»Kein Mensch kann das gewußt haben. Wir entschieden uns für dies Hotel erst, nachdem ich Doktor Mortimer getroffen hatte.«
»Aber Doktor Mortimer wohnte ohne Zweifel bereits dort?«
»Nein, ich hatte bei einem Bekannten logiert,« sagte der Doktor. »Nichts konnte einen Menschen auf die Vermutung bringen, daß wir in dieses Hotel zu gehen beabsichtigten.«
»Hm, irgend jemand scheint ein sehr tiefes Interesse an Ihren Handlungen zu nehmen.«
Aus dem Umschlag zog Holmes einen doppelt zusammengelegten halben Bogen Konzeptpapier hervor. Er faltete ihn auseinander und legte ihn flach auf den Tisch. In der Mitte des Blattes stand ein einziger Satz, der durch aufgeklebte gedruckte Wörter gebildet war. Er lautete: »Wenn Sie Wert auf Ihr Leben oder Ihren Verstand legen, so bleiben Sie dem Moor fern.«
Nur das Wort ‘Moor’ war mit Tinte geschrieben.
»Nun,« sagte Sir Henry Baskerville, »vielleicht können Sie mir sagen, was zum Kuckuck das bedeutet, und wer der Mensch ist, der sich so eifrig um meine Angelegenheiten bekümmert?«
»Was halten Sie davon, Dr. Mortimer? Sie müssen zugeben, daß es bei diesem Brief sich jedenfalls nicht um etwas Uebernatürliches handelt.«
»Nein, das nicht, aber er könnte sehr wohl von jemand herrühren, der davon überzeugt ist, daß die Geschichte übernatürlich ist.«
»Was für ’ne Geschichte?« fragte Sir Henry in scharfem Ton. »Mir scheint, meine Herren, Sie alle wissen viel mehr von meinen Angelegenheiten als ich selber.«
»Sie sollen in unser Wissen eingeweiht sein, bevor Sie aus diesem Zimmer gehen, Sir Henry,« sagte Holmes »Das verspreche ich Ihnen. Für den Augenblick wollen wir, mit Ihrer Erlaubnis, unsere Aufmerksamkeit auf dieses sehr interessante Dokument begrenzen. Es muß gestern abend verfaßt und auf die Post gegeben sein. Hast du die ‘Times’ von gestern, Watson?«
»Sie liegt da in der Ecke!«
»Darf ich dich darum bitten — das innere Blatt, wenn du so gut sein willst, mit den Leitartikeln!« Er überflog mit schnellem Blick die Spalten. »Ein famoser Artikel über Freihandel! Erlauben Sie mir, Ihnen einiges daraus vorzulesen:
›Wenn manche Leute sich auch mit der Einbildung schmeicheln, der Wert unseres Handels und unserer Industrie werde durch einen Schutzzoll erhöht, so bleiben doch derartige Maßregeln dem Gemeinwesen stets gefährlich. Es handelt sich geradezu um unser wirtschaftliches Leben oder Sterben, und wir hoffen, unseres Volkes gesunder Verstand sieht es ein, daß eine solche Wirtschaftspolitik auf die Dauer sogar in den englischen Wohlstand Bresche legen müßte.‹«
»Was meinst du dazu, Watson?« rief Holmes, in hellem Entzücken sich die Hände reibend. »Hältst du die darin ausgesprochene Ansicht nicht für bewunderungswürdig?«
Dr. Mortimer sah Holmes mit einem ärztlich prüfenden Blick an, und Sir Henry Baskerville richtete ganz verblüfft seine dunklen Augen auf mich und sagte:
»Ich verstehe nicht viel vom Zolltarif und solchem Zeug; aber mir scheint, wir sind in Bezug auf meinen Brief ein bißchen von der Spur abgekommen.«
»Im Gegenteil, ich bin der Meinung, wir sind ganz besonders scharf auf der Spur. Watson hier weiß besser mit meinen Methoden Bescheid als Sie; aber ich fürchte, auch er hat die Bedeutung des Zeitungsartikels nicht ganz begriffen.«
»Nein, ich gestehe, daß ich keinen Zusammenhang entdecken kann.«
»Und doch, mein lieber Watson, ist eine sehr nahe Beziehung vorhanden, denn der Brief ist aus dem Zeitungsartikel herausgeschnitten: ‘wenn — Wert — so bleiben — dem — Leben oder — Verstand — aus – legen.’ Sehen Sie jetzt nicht, woher diese Worte stammen?«
»Donnerwetter, Sie haben recht! Na, das nenne ich aber Fixigkeit!« rief Sir Henry.
»Wenn überhaupt noch ein Zweifel bestände, so würde er durch die Thatsache behoben, daß ‘so bleiben’ und ‘Leben oder’ in einem Stück ausgeschnitten sind.«
»Wahrhaftig, ja, so ist es.«
»Wirklich, Herr Holmes, das geht weit über mein Begriffsvermögen hinaus,« sagte Dr. Mortimer mit einem erstaunten Blick aus meinen Freund. »Ich könnte verstehen, wenn mir jemand sagte, die Wörter seien aus einer Zeitung; aber daß Sie den Namen dieser Zeitung nannten und hinzufügten, die Stelle befände sich im Leitartikel, das ist sicherlich eins der merkwürdigsten Dinge, die mir je begegnet sind. Wie haben Sie das angefangen?«
»Ich vermute, Herr Doktor, Sie könnten auf den ersten Blick den Schädel eines Negers von dem eines Eskimos unterscheiden?«
»Natürlich!«
»Aber wie kommt das?«
»Weil das mein besonderes Steckenpferd ist! Die Unterschiede sind augenfällig. Die Erhöhung über den Augenhöhlungen, der Gesichtswinkel, die Krümmung der Kinnbacken, der …«
»Nun, dies hier ist mein besonderes Steckenpferd, und die Unterschiede sind ebenfalls augenfällig. Für meine Augen ist zwischen der durchschossenen Borgis eines Leitartikels der ‘Times’ und der unsauberen Schrift eines Halfpenny-Abendblattes ebensoviel Unterschied wie für Sie zwischen einem Neger- und einem Eskimoschädel Die Unterscheidung der verschiedenen Drucktypen gehört zu den Anfangsgründen für einen wissenschaftlich denkenden Sachverständigen; ich muß jedoch zugeben, daß ich in meiner ganz frühen Jugend einmal den ‘Leeds Mercury’ mit den ‘Western Morning News’ verwechselt habe. Aber ein ‘Times’-Leitartikel ist gar nicht zu verkennen; diese Wörter konnten keiner anderen Zeitung entnommen sein. Da der Brief gestern angefertigt war, so sprach eine starke Wahrscheinlichkeit dafür, daß wir die Wörter in der gestrigen Nummer finden würden.«
»So weit ich Ihnen folgen kann, Herr Holmes,« bemerkte Sir Henry Baskerville, »hat jemand diese Wörter mit einer Schere …«
»Mit einer Nagelschere ausgeschnitten, ja. Wie Sie sehen können, war es eine Schere mit sehr kurzer Klinge, denn es war für die Wörter: ‘so bleiben’ ein zweimaliges Zuschneiden nötig.«
»Richtig. Es schnitt also jemand den Text des Briefes mit einer kurzklingigen Schere aus, klebte ihn mit Kleister …«
»Mit Gummi!« sagte Holmes.
»Mit Gummi auf das Papier. Aber ich möchte wissen, warum dann das Wort ‘Moor’ geschrieben ist?«
»Weil er das Wort nicht gedruckt finden konnte. Die anderen Wörter sind alle einfach und würden sich in jeder Zeitungsnummer finden lassen, aber das Wort ‘Moor’ ist weniger gewöhnlich.«
»Das ist allerdings eine gute Erklärung. Haben Sie sonst etwas aus dem Brief herausgelesen, Herr Holmes?«
»Es sind ein paar Andeutungen darin, obgleich der Absender sich die allergrößte Mühe gegeben hat, alle verräterischen Spuren zu verwischen. Die Adresse ist, wie Sie sehen, mit unbeholfen geformten Buchstaben geschrieben. Aber die ‘Times’ ist ein Blatt, das man kaum je in anderen Händen als in denen sehr gebildeter Leute findet. Wir können daher annehmen, daß der Brief von einem gebildeten Manne verfertigt wurde, der den Anschein erwecken wollte, als gehöre der Absender den ungebildeten Klassen an, und dieses Bemühen, die Handschrift zu verstellen, legt den Schluß nahe, der Schreiber sei Ihnen bekannt oder könnte von Ihnen erkannt werden. Ferner werden Sie bemerken, daß die Wörter nicht in einer geraden Linie aneinander geklebt sind, sondern daß einige von ihnen viel höher stehen als andere. ‘Leben oder’ zum Beispiel steht ganz außerhalb der Reihe. Das kann entweder auf Unachtsamkeit des Ausschneidenden hindeuten, oder es mag davon gekommen sein, daß dieser aufgeregt und in Eile war. Im großen und ganzen neige ich mich der letzteren Annahme zu, denn die Anfertigung eines solchen Briefes war offenbar eine wichtige Sache, und es ist unwahrscheinlich, daß der Verfertiger dabei unachtsam gewesen sein soll. War er aber in Eile, so leitet dieser Umstand zu der interessanten Frage, warum er in Eile war; denn jeder Brief, der bis zu den frühen Morgenstunden auf die Post gegeben wurde, mußte in Sir Henrys Hände kommen, bevor er das Hotel verließ. Fürchtete der Verfertiger eine Unterbrechung — und von wem?«
»Wir kommen jetzt ziemlich weit in das Gebiet der Mutmaßungen hinein!« sagte Dr. Mortimer.
»Sagen Sie lieber: in das Gebiet, wo wir die verschiedenen Möglichkeiten gegen einander abwägen und uns für die wahrscheinlichste entscheiden. Wir machen eine wissenschaftliche Anwendung von unserer Einbildungskraft; indessen haben wir in diesem Fall immerhin eine thatsächliche Grundlage für unsere Spekulationen. Sie werden freilich ohne Zweifel denken, ich verlege mich aufs Raten, aber ich bin fast ganz sicher, daß diese Adresse in einem Hotel geschrieben worden ist.«
»Wie in aller Welt können Sie das sagen?«
»Wenn Sie den Umschlag sorgfältig prüfen, so werden Sie bemerken, daß dem Schreiber die Tinte sowohl wie die Feder Schwierigkeiten gemacht haben. Die Feder hat zweimal in einem einzigen Wort gespritzt, und die Tinte ist beim Schreiben der kurzen Adresse nicht weniger als dreimal ausgegangen, ein Beweis, daß sehr wenig im Tintenfasse gewesen sein muß. In einem Privathause läßt man es selten dahin kommen, daß Feder oder Tintengeschirr sich in solchem Zustande befindet, und daß gar beide zusammen so vorgefunden werden, kommt gewiß kaum jemals vor. Dagegen kennen Sie wohl die Tinte und Federn, die man in Gasthöfen findet; diese sind fast immer abscheulich. Ja, ich sage ohne jedes Bedenken: könnten wir die Papierkörbe der Gasthöfe in der Nähe von Charing Croß durchsuchen, bis wir die Ueberreste des zerschnittenen ‘Times’-Artikels fänden, so könnten wir die Hand aus die Person legen, die diesen eigenartigen Brief abgeschickt hat …Hallo, hallo, was ist das?«
Er prüfte den Bogen mit den aufgeklebten Wörtern noch einmal sorgfältig, indem er ihn ganz nahe vor die Augen hielt.
»Nun?«
»Nichts!« sagte er, das Blatt hinlegend. »Es ist ein gewöhnlicher unbeschriebener halber Bogen; nicht einmal ein Wasserzeichen ist darin. Ich denke, wir haben aus dem sonderbaren Brief so viele Anhaltspunkte gewonnen, wie überhaupt möglich ist…. Und nun, Sir Henry, noch eine Frage: Ist Ihnen sonst irgend etwas Erwähnenswertes begegnet, seitdem Sie in London sind?«
»Nein, wirklich nicht, Herr Holmes. Ich glaube nicht.«
»Sie haben niemand bemerkt, der Sie beobachtet hätte oder Ihnen nachgegangen wäre?«
»Ich scheine ja richtig mitten in einen Hintertreppenroman hineingeraten zu sein,« bemerkte unser Besuchen »Warum, zum Kuckuck, sollte irgend jemand mir nachgehen oder mich beobachten?«
»Auf diesen Punkt kommen wir noch. Sie haben also nichts anderes zu berichten, bevor wir uns mit der Sache selbst beschäftigen?«
»Hm, es kommt daran an, was nach Ihrer Meinung des Berichtens wert ist.«
»Alles was von dem gewöhnlichen Gang des Alltagslebens abweicht, sollte nach meiner Ansicht erwähnt werden.«
Sir Henry lächelte und sagte:
»Ich kenne bis jetzt noch nicht viel von dem Leben in England, denn ich bin seit meiner frühesten Jugend in den Vereinigten Staaten und in Kanada gewesen. Aber hoffentlich wird es hier nicht als alltäglich angesehen, wenn man einen von seinen Stiefeln verliert.«
»Sie haben einen von Ihren Stiefeln verloren?«
»Mein lieber Herr!« rief Dr. Mortimer. »Er ist bloß verlegt! Sie werden ihn vorfinden, wenn Sie wieder ins Hotel kommen. Was hat es für einen Zweck, Herrn Holmes mit solchen Lappalien zu behelligen?«
»Er wollte ja alles erfahren, was von dem gewöhnlichen Gang des Alltagslebens abwiche!«
»Ganz recht!« sagte Holmes, »mag der Vorfall auch noch so albern erscheinen. Also Sie sagen, Sie haben einen von Ihren Stiefeln verloren?«
»Oder ihn verlegt, meinetwegen. Ich stellte sie gestern abend beide vor meine Thür, und heute morgen war bloß noch einer da. Aus dem Jungen, der sie zu putzen hatte, war kein gescheites Wort herauszubringen Am meisten ärgert mich dabei, daß ich die Stiefel erst gestern abend am Strand gekauft und noch gar nicht mal getragen hatte.«
»Wenn Sie dieselben noch gar nicht angehabt hatten, warum stellten Sie sie dann zum Reinigen vor die Thür?«
»Es waren braune Schuhe, und sie waren noch nicht gefirnißt. Darum stellte ich sie hinaus.«
»Sie gingen also gestern sofort nach Ihrem Eintreffen in London aus und kauften ein Paar Schuhe?«
»Ich machte überhaupt eine ziemliche Menge Einkäufe. Dr. Mortimer begleitete mich dabei. Wissen Sie, da ich mal da hinten in Dingsda den Großgrundbesitzer spielen soll, so muß ich mich wohl ein bißchen fein machen, und ich bin vielleicht da im fernen Westen etwas nachlässig in meinem Anzug geworden. Außer anderen Sachen kaufte ich die braunen Schuhe — gab sechs Dollars dafür — und einer davon wird mir gestohlen, ehe ich sie überhaupt nur an den Füßen gehabt habe.«
»Ein einzelner Schuh ist doch ein recht ungeeigneter Gegenstand für einen Dieb,« sagte Sherlock Holmes »Ich gestehe, ich teile Dr. Mortimers Ansicht und glaube, daß binnen kurzem der verlorene Schuh sich wieder einfinden wird.«
»Und nun, meine Herren,« sagte der Baronet in bestimmtem Ton, »habe ich, wie mir scheint, von dem bißchen, was ich weiß, genug gesprochen. Es ist Zeit, daß Sie Ihr Versprechen erfüllen und mir eine ausführliche Auskunft über all diese rätselhaften Vorgänge geben.«
»Ihr Wunsch ist sehr berechtigt,« antwortete Holmes. »Herr Doktor, ich glaube, Sie könnten nichts Besseres thun, als Ihrem Freunde die Geschichte in derselben Weise zu erzählen, wie Sie sie uns vortrugen.«
Auf diese Aufforderung hin zog der gelehrte Herr seine Papiere aus der Tasche und erläuterte auf Grund derselben den ganzen Fall in gleicher Art wie am Morgen vorher. Sir Henry Baskerville hörte mit gespanntester Aufmerksamkeit zu und ließ von Zeit zu Zeit einen Ausruf der Ueberraschung hören.
»Nun, da scheine ich ja mit dem übrigen Besitz zugleich auch eine Geisterrache geerbt zu haben,« sagte er, als der Doktor mit seiner langen Erzählung fertig war. »Natürlich habe ich von dem Höllenhund schon in der Kinderstube fortwährend erzählen hören. Es ist das Lieblingsmärchen unserer Familie; indessen hab’ ich es früher niemals ernst genommen. Aber die Geschichte von meines Onkels Tode — wissen Sie, mir wirbelt in meinem Kopf alles durcheinander; ich kann mir noch keine klare Meinung darüber bilden. Sie scheinen sich selber auch noch nicht ganz klar darüber zu sein, ob es ein Fall für die Polizei oder für die Geistlichkeit ist.«
»Ganz recht.«
»Nun kommt dazu noch die Geschichte mit dem Brief, den ich im Hotel erhielt. Ich vermute, er hängt damit zusammen.«
»Es scheint daraus hervorzugehen, daß irgend jemand besser als wir um die Vorgänge auf dem Moor Bescheid weiß,« sagte Dr. Mortimer.
»Und ferner,« bemerkte Holmes, »daß dieser Jemand Ihnen nicht feindlich gesonnen ist, da man Sie vor Gefahr warnt.«
»Vielleicht ist es aber auch möglich, daß sie mich zu ihrem eigenen Vorteil von der Gegend fernzuhalten suchen.«
»Das kann natürlich auch sein. Ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet, Herr Doktor, daß Sie mich vor ein Problem stellen, welches verschiedene interessante Lösungen zuläßt. Aber nun haben wir uns zunächst über einen wichtigen Punkt schlüssig zu machen, Sir Henry: Ist es für Sie ratsam oder nicht, daß Sie nach Baskerville Hall gehen?«
»Warum sollte ich nicht gehen?«
»Es scheint Gefahr damit verbunden zu sein.«
»Meinen Sie Gefahr von unserem Familiendämon, oder Gefahr von seiten menschlicher Wesen?«
»Das müssen wir eben herausbekommen.«
»Nun, mag dem sein, wie ihm wolle, meine Antwort steht fest. Herr Holmes, kein Teufel in der Hölle und kein Mensch auf Erden kann mich verhindern, in das Haus meiner Väter zu gehen. Bei dieser Antwort werde ich bleiben.«
Seine dunklen Augenbrauen zogen sich bei diesen Worten zusammen und ein tiefes Rot flog über sein Gesicht. Augenscheinlich war das feurige Temperament der Baskervilles in dem Letzten ihres Stammes noch nicht erloschen.
»Indessen,« fuhr er fort, »habe ich noch nicht recht Zeit gehabt, über alles mir von Ihnen Gesagte gehörig nachzudenken. Es ist ein bißchen viel verlangt, daß ich sofort meine Entscheidung in einer Sache treffen soll, die ich noch kaum richtig begriffen habe. Ich möchte mir in einer ruhigen Stunde alles ordentlich zurechtlegen, um zu einem Entschluß zu kommen. Jetzt ist es halb zwölf, Herr Holmes, und ich gehe geraden Weges nach meinem Hotel. Wie wär’s, wenn Sie und Ihr Freund, Herr Doktor Watson, mit uns frühstückten? Dann werde ich Ihnen genau sagen können, was für einen Eindruck die ganze Geschichte auf mich macht.«
»Paßt dir das, Watson?«
»Vollkommen!«
»Nun, so können Sie uns erwarten. Soll ich Ihnen eine Droschke holen lassen?«
»Ich möchte lieber gehen, denn diese Geschichte hat mich ein bißchen warm gemacht.«
»Ich werde mich Ihnen mit Vergnügen zu diesem Spaziergang anschließen,« bemerkte sein Begleiter.
»Also treffen wir uns um zwei Uhr. Auf Wiedersehen und Guten Morgen.«
Wir hörten die Schritte unserer Besucher, die die Treppe hinabstiegenz dann wurde die Hausthür geschlossen. Augenblicklich war Holmes aus dem träumerischen Denker der Mann der That geworden.
»Deinen Hut und deine Stiefel, Watson, schnellt Wir haben keinen Augenblick zu verlieren.« Er eilte in sein Schlafzimmer, warf seinen Hausrock ab und erschien ein paar Sekunden darauf in einem Gehrock. Wir eilten die Treppe hinunter und betraten die Straße Doktor Mortimer und Baskerville waren ein paar Hundert Schritt vor uns in der Nähe der Oxford Street noch sichtbar.
»Soll ich voranlaufen und ihnen sagen, daß sie auf uns warten?«
»Um Gottes willen nicht, mein lieber Watson. Deine Gesellschaft genügt mir vollkommen, wenn du die meinige erdulden willst. Unsere neuen Bekannten thun sehr recht, daß sie zu Fuß gehen; denn es ist wirklich ein sehr schöner Morgen für einen Spaziergang.«
Er beschleunigte seinen Schritt, bis wir die uns von den beiden Herren trennende Entfernung ungefähr auf die Hälfte verkürzt hatten. Wir folgten ihnen Oxford Street entlang und dann Regent Street hinunter. Einmal blieben sie stehen und besahen sich ein Schaufenster, worauf Holmes es ebenso machte. Einen Augenblick darauf ließ er einen Ausruf der Befriedigung hören; ich folgte seinem schnellen Blick und sah, daß eine Droschke, worin ein Mann saß, von der Stelle aus der anderen Straßenseite, wo sie gehalten hatte, jetzt langsam weiter fuhr.
»Das ist unser Mann, Watson! Vorwärts! Wir wollen ihn uns wenigstens genau
ansehen, wenn wir nicht mehr thun können!«
Im selben Augenblick bemerkte ich einen buschigen schwarzen Bart und ein Paar stechender Augen, die durch das Seitenfenster der Droschke sich auf uns richteten. Unmittelbar darauf fuhr die Klappe im Verdeck des Wagens in die Höhe, dem Kutscher wurde etwas zugerufen, und die Droschke raste die Regent Street hinunter. Holmes sah sich schnell nach einer anderen um, aber es war keine leere in Sicht. Dann lief er in wilder Verfolgung durch das Straßengetriebe dem Wagen nach, aber der Vorsprung war zu groß, und die Droschke war bald nicht mehr zu sehen.
»Da haben wir’s!« sagte Holmes bitter, als er keuchend und ganz blaß vor Aerger wieder aus dem Wagengewoge hervorkam. »War solches Pech je erhört und solche Tölpelei dazu? Watson, Watson, wenn du ein gewissenhafter Mann bist, so mußt du diese Dummheit ebenfalls berichten und meinen Erfolgen gegenüberstellen.«
»Wer war der Mann?«
»Ich habe keine Ahnung!«
»Ein Spion?«
»Hm, nach allem, was wir gehört haben, ist Baskerville seit seiner Ankunft in der Stadt ganz offenbar von irgend jemand sehr scharf überwacht worden. Wie hätte sonst der Betreffende so schnell wissen können, daß der junge Mann das Northumberland-Hotel als Absteigequartier gewählt hatte? Wenn man ihm am ersten Tag nachging, so würde man — das war meine Schlußfolgerung — ihm auch am zweiten nachgehen. Du hast vielleicht bemerkt, daß ich, während Dr. Mortimer seine Geschichte vorlas, zweimal ans Fenster ging?«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Ich sah nach, ob vielleicht jemand auf der Straße herumlungerte, konnte aber niemand entdecken. Wir haben es mit einem gescheiten Mann zu thun, Watson. Die ganze Geschichte ist sehr ernster Art; ich bin mir zwar noch nicht ganz schlüssig geworden, ob wir es mit einem feindlichen oder mit einem freundlichen Element zu thun haben, aber ich behalte stets das ‘Wie’ und ‘Warum’ im Auge. Als unsere Besucher fortgingen, folgte ich ihnen sofort in der Hoffnung, ihren unsichtbaren Verfolger ausfindig machen zu können. Das muß ein Schlaukopf sein, denn er hat sich nicht auf seine Beine verlassen, sondern sich eine Droschke genommen, so daß er bald hinter ihnen her- oder bei ihnen vorbeifahren konnte, ohne bemerkt zu werden. Dieses Verfahren hat außerdem noch den Vorteil, daß er imstande war ihnen sofort zu folgen, wenn sie etwa selber eine Droschke nehmen sollten. Indessen hat es auch einen offenbaren Nachteil.«
»Es macht ihn vom Droschkenkutscher abhängig.«
»Ganz recht.«
»Wie schade, daß wir uns nicht die Nummer gemerkt haben!«
»Mein lieber Watson, so tölpelhaft ich mich auch benommen habe, so bildest du dir doch wohl nicht allen Ernstes ein, daß ich vergessen hätte, nach der Nummer zu sehen? Unser Mann hat Nummer 2704. Aber das kann uns für den Augenblick nichts nützen.«
»Ich kann nicht einsehen, was du mehr hättest thun können.«
»Ich hätte, als ich die Droschke bemerkte, augenblicklich umkehren und in der entgegengesetzten Richtung weiter gehen sollen. Ich hätte in aller Gemütlichkeit eine Droschke nehmen und dann dem Mann in angemessener Entfernung folgen können, oder noch besser, ich wäre nach dem Northumberland-Hotel gefahren und hätte dort gewartet. Wenn dann unser Unbekannter dem jungen Baskerville nachgefahren wäre, so hätten wir ihn mit seinen eigenen Trumpfkarten schlagen und selber sehen können, wohin er sich weiter begab. Wir haben also einer unüberlegten Voreiligkeit, die von unserem Gegenspieler mit außerordentlicher Schnelligkeit und Entschlossenheit ausgenutzt wurde, es zu verdanken, daß wir den Mann aus den Augen verloren haben. Wir sind selber schuld.«
Während dieses Gesprächs waren wir langsam die Regent Street entlang geschleudert, und Dr. Mortimer und sein Begleiter waren längst unseren Blicken entschwunden.
»Es hat keinen Zweck, daß wir ihnen noch weiter nachgehen,« sagte Holmes. »Der Spürhund ist verschwunden und wird nicht wiederkommen. Wir müssen uns überlegen, was für Trümpfe wir jetzt noch in der Hand haben, und müssen sie fest und entschlossen ausspielen. Könntest du vor Gericht Zeugnis ablegen, was für ein Gesicht der Mann in der Droschke hatte?«
»Mit Bestimmtheit könnte ich nur den Bart beschreiben.«
»Ich auch — und daraus folgere ich, daß der Bart aller Wahrscheinlichkeit nach ein falscher war. Ein kluger Mann, der auf ein so heikles Unternehmen aus ist, braucht einen Bart nur, um seine Züge zu verbergen. Komm mit hier herein, Watson.«
Er betrat eins von den Bureaus der ‘Expreßbotengesellschaft’ und wurde von dem Geschäftsführer mit großer Herzlichkeit begrüßt.
»Ach, ich sehe, Wilson, Sie haben den kleinen Fall nicht vergessen, wobei ich in der angenehmen Lage war, Ihnen beistehen zu können.«
»Ganz gewiß werde ich’s nicht vergessen! Sie retteten mir meinen guten Namen und vielleicht mein Leben.«
»Sie übertreiben, mein Bester! …Es schwebt mir so vor, Wilson, Sie hatten unter Ihren Burschen einen gewissen Cartwright, der während unserer Bemühungen sich als recht gewandt erwies?«
»Ja, Herr Holmes, der ist noch bei uns.«
»Könnten Sie ihn mal hereinkommen lassen? Danke. Dann hätte ich gerne Kleingeld für diesen Fünfpfundschein.«
Ein vierzehnjähriger Knabe mit aufgewecktem, scharfgeschnittenem Gesicht war auf das Klingelzeichen des Geschäftsführers erschienen und stand jetzt in einer Haltung voller Ehrfurcht vor dem berühmten Detektiv.
»Geben Sie mir, bitte, mal das Hoteladreßbuch,« sagte Holmes. »Danke …Hier, Cartwright, sind die Namen von dreiundzwanzig Hotels, die sämtlich in unmittelbarer Nachbarschaft von Charing Croß liegen. Hier, siehst du sie?«
»Jawohl.«
»Du wirst sie sämtlich, eins nach dem anderen, aufsuchen.«
»Jawohl.«
»Ueberall giebst du zuerst dem Portier an der Außenthür einen Schilling. Hier sind dreiundzwanzig Schillinge.«
»Jawohl.«
»Du wirst ihm sagen, du wünschtest die fortgeworfenen Papiere von gestern zu sehen. Du sagst, du suchtest ein wichtiges Telegramm, das verkehrt bestellt worden wäre. Verstanden?«
»Jawohl.«
»In Wirklichkeit suchst du aber nach dem Mittelbogen einer gestrigen Timesnummer, woraus mit einer Schere einige Stellen herausgeschnitten sind. Hier ist die betreffende Nummer der Times. Dies ist die Stelle, um die es sich handelt. Du könntest sie leicht wiedererkennen, nicht wahr?«
»Jawohl.«
»Der Portier von der Außenthür wird überall den Portier vom Flurraum heranrufen; diesem wirst du ebenfalls einen Schilling geben. Hier sind noch dreiundzwanzig Schillinge. In zwanzig Fällen von den dreiundzwanzig wirst du hören, daß der Inhalt der Papierkörbe verbrannt oder sonstwie fortgeschafft sei. In den drei anderen Fällen wird man dir einen Haufen Papier zeigen, und du wirst darin nach dem Timesblatt suchen. Die Wahrscheinlichkeit, daß du es findest, ist ungeheuer gering. Hier sind zehn Schillinge extra für unvorhergesehene Ausgaben. Schicke mir vor heute abend einen telegraphischen Bericht nach der Bakerstraße …Und nun, Watson, haben wir uns bloß noch telegraphisch nach dem Droschkenkutscher Nr. 2704 zu erkundigen, und dann wollen wir in irgend einen von den Kunstsalons in der Bond Street gehen, um uns die Zeit zu vertreiben, bis wir im Hotel sein müssen.«
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Sherlock Holmes besaß in sehr bemerkenswertem Maße die Gabe, nach freiem Willen seinen Geist ablenken zu können. In den nächsten zwei Stunden hatte er den rätselhaften Fall, in dessen Geheimnisse wir verwickelt worden waren, anscheinend völlig vergessen über der Betrachtung von Gemälden der modernen belgischen Schule. Selbst nachdem wir die Galerie verlassen hatten, sprach er, bis wir vor dem Hotel angelangt waren, ausschließlich über Kunst, wovon er, nebenbei bemerkt, höchst barbarische Begriffe hatte.
»Sir Henry Baskerville ist oben und erwartet Sie!« sagte der Hotelsekretän »Er bat mich, Sie sofort nach Ihrer Ankunft zu ihm führen zu lassen.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich vorher mal einen Blick in Ihr Fremdenbuch werfe?« fragte Holmes.
»Nicht das geringste.«
Aus dem Buch ergab sich, daß hinter dem Namen Baskerville nur zwei Eintragungen gemacht waren, die eine betraf ‘Theophilus Johnson nebst Familie aus Newcastle’, die andere ‘Frau Oldmore und Kammerjungfer von High Lodge, Alton.’
»Dieser Herr Johnson muß unbedingt ein alter Bekannter von mir sein,« sagte Holmes »Ein Rechtsanwalt, nicht wahr? Mit grauen Haaren und etwas lahm?«
»O nein, dieser Herr Johnson ist Kohlenbergwerksbesitzer, ein sehr rüstiger Herr und nicht älter als Sie.«
»Täuschen Sie sich auch wirklich nicht in Bezug auf seinen Beruf?«
»Nein, gewiß nicht; er steigt schon seit vielen Jahren stets bei uns ab und ist uns sehr gut bekannt.«
»Ach so; dagegen ist nichts mehr zu sagen. Nun noch Frau Oldmore — mir ist, als erinnerte ich mich ihres Namens. Entschuldigen Sie meine Neugier, aber wenn man sich nach einem Bekannten erkundigt, findet man bei der Gelegenheit oft einen anderen wieder.«
»Frau Oldmore ist eine kränkliche, alte Dame. Ihr Gemahl war früher Bürgermeister von Glourester; sie kommt stets zu uns, wenn sie in London ist.«
»Danke. Wie es scheint, kann ich leider keinen Anspruch auf ihre Bekanntschaft machen. Wir haben durch meine Fragen eine sehr wichtige Thatsache festgestellt, Watson,« fuhr Holmes leise fort, als wir die Treppe hinausgingen »Wir wissen jetzt, daß die Leute, die sich so außerordentlich aufmerksam um Sir Henry bekümmern, nicht in seinem Hotel Wohnung genommen haben. Daraus geht hervor, daß ihnen nicht nur, wie wir gesehen haben, sehr viel daran liegt, ihn zu beobachten, sondern daß ihnen ebensoviel darauf ankommt, nicht von ihm gesehen zu werden. Aus diesem Umstande aber läßt sich sehr viel entnehmen.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Es folgt daraus — hallo, mein lieber Herr, was ist denn nur los?!«
Wir waren oben an der Treppe gegen Sir Henry Baskerville selbst angerannt. Sein Gesicht war dunkelrot vor Zorn, und in der Hand hielt er einen bestaubten alten Schuh. Er war so wütend, daß er kaum sprechen konnte, und die Worte, die er schließlich hervorbrachte, trugen die Merkmale der breiten Mundart der westlichen Grafschaften in einer Weise, wie wir es am Morgen nicht an ihm bemerkt hatten.
»Die halten mich, scheint’s, für einen Säugling in dem Hotel hier!« rief er. »Aber sie sollen sehen, daß sie mit ihren dummen Späßen an den Unrechten geraten sind. Sie sollen sich nur in acht nehmen! Zum Donnerwetter, wenn der Kerl meinen fehlenden Schuh nicht finden kann, dann giebt es Krach! Ich kann einen Spaß vertragen, Herr Holmes, aber diesmal haben sie denn doch ein bißchen zu sehr über die Schnur gehauen.«
»Sie suchen immer noch Ihren Schuh?«
»Jawohl, und ich will ihn wiederhaben!«
»Aber Sie sagten ja doch, es sei ein neuer brauner!«
»War es auch. Und nun ist’s ein alter schwarzer!«
»Was! Sie wollen doch nicht sagen …?«
»Jawohl, das will ich sagen. Ich hatte überhaupt bloß drei Paar Schuhe: die neuen braunen, die alten
schwarzen und die Lackschuhe, die ich anhabe. Gestern abend nahmen sie einen von den braunen weg, und heute vormittag mopsen sie mir einen von den schwarzen…. Na, haben Sie ihn endlich? Heraus mit der Sprache, Mann, und glotzen Sie mich nicht so an!«
Ein aufgeregter deutscher Kellner war aus dem Schauplatz der Handlung erschienen.
»Nein, Herr!« sagte er, »ich habe überall im ganzen Hotel danach herumgefragt, aber kein Mensch wußte ein Wort davon.«
»Hören Sie: entweder ist bis heute abend der Schuh wieder da, oder ich sage dem Wirt, daß ich sofort sein Hotel verlasse!«
»Der Schuh wird sich finden, Herr — ich verspreche Ihnen, wenn Sie ein bißchen Geduld haben wollen, so wird er gefunden werden!«
»Nehmen Sie sich in acht; es ist das letztemal, daß etwas von meinen Sachen in dieser Räuberhöhle mir abhanden kommt…. Herr Holmes, Sie werden entschuldigen, daß ich Sie mit solchen Lappalien behellige….«
»O, mich dünkt, die Sache ist gar keine Lappalie.«
»Sie machen ja ein ganz ernstes Gesicht dazu!«
»Wie erklären Sie sich die Sache?«
»Ich versuche gar nicht, sie mir zu erklären. Es ist das verrückteste und sonderbarste Ding, was mir je vorgekommen ist, wie mir scheint.«
»Das sonderbarste — ja, das mag sein,« sagte Holmes nachdenklich.
»Was halten Sie selber davon?«
»Hm, ich kann nicht sagen, daß ich bis jetzt etwas davon verstehe. Ihr Fall ist sehr verwickelt, Sir Henry. Bringe ich ihn in Verbindung mit Ihres Onkels Tod, so weiß ich wirklich nicht, ob mir unter den fünfhundert Fällen allerersten Ranges, die ich unter den Händen hatte, jemals ein so tief einschneidender vorkam. Aber wir haben verschiedene Fäden in der Hand, und es ist Aussicht, daß der eine oder der andere von denselben uns zur Wahrheit führt. Wir werden vielleicht Zeit verlieren, indem wir einem falschen Faden folgen, aber früher oder später müssen wir doch an den rechten kommen.«
Das Frühstück war recht heiter; von der Angelegenheit, die uns zusammengeführt hatte, wurde nicht viel gesprochen. Erst als wir nach dem Essen im anstoßenden Salon saßen, fragte Holmes Sir Henry Baskerville, was er zu thun gedächte.
»Ich gehe nach Baskerville Hall.«
»Und wann?«
»Ende dieser Woche.«
»Im großen und ganzen,« sagte Holmes, »halte ich Ihren Entschluß für verständig. Ich habe die vollkommene Gewißheit, daß hier in London Ihre Schritte überwacht werden, und hier in der Millionenstadt ist es schwer herauszufinden, was für Leute hinter Ihnen her sind, und was sie wollen. Wenn sie böse Absichten haben, so könnten sie Ihnen etwas zuleide thun, was wir nicht imstande wären zu verhindern. Sie wissen wohl nicht, Herr Doktor Mortimer, daß Ihnen heute vormittag jemand folgte, als Sie von meinem Hause fortgingen?«
Dr. Mortimer fuhr von seinem Stuhl aus und rief: »Uns folgte jemand? Wer?«
»Das kann ich Ihnen unglücklicherweise nicht sagen. Haben Sie unter Ihren Nachbarn oder Bekannten von Dartmoor irgend einen Mann mit schwarzem Vollbart?«
»Nein — oder warten Sie mal — doch. Ja. Barrymore, Sir Charles’ Kammerdiener, trägt einen schwarzen Vollbart.«
»Ha! Wo ist Barrymore?«
»Er ist Hausverwalter auf Baskerville Hall.«
»Wir wollen uns lieber vergewissern, ob er wirklich dort ist, oder ob er vielleicht in London sein kann.«
»Wie können Sie das?«
»Geben Sie mir ein Telegrammformular. ‘Ist alles bereit für Sir Henry?’ So, das genügt. Adresse: Herrn Barrymore, Baskerville Hall. Welches ist das nächste Telegraphenamt? Grimpen. Sehr gut; wir schicken eine zweite Depesche an den Postmeister von Grimpen: ‘Telegramm an Herrn Barrymore ist zu eigenen Händen zu bestellen. Wenn dieser abwesend, gefälligst Drahtantwort an Sir Henry Baskerville, Northumberland-Hotel.’ Dadurch können wir vor heute abend wissen, ob Barrymore auf seinem Posten in Devonshire ist oder nicht.«
»Sie haben recht!« sagte Baskerville. »Uebrigens, sagen Sie doch mal, Herr Doktor, was ist eigentlich dieser Barrymore für ein Mann?«
»Er ist der Sohn von dem früheren, jetzt verstorbenen Schloßverwalter. Die Familie ist jetzt schon seit vier Generationen im Amt. So viel ich weiß, sind er und seine Frau ein so respektables Ehepaar wie nur eines in der ganzen Gegend.«
»Zugleich ist es sehr klar,« fiel Baskerville ein, »daß, so lange niemand von der Familie im Schloß wohnt, die Leutchen ein großartig schönes Haus und nichts zu thun haben.«
»Das stimmt.«
»Hätte Barrymore irgend einen Vorteil von Sir Charles’ Testament?« fragte Holmes.
»Er und seine Frau bekamen je fünfhundert Pfund Sterling.«
»Oho! Wußten sie, daß sie das kriegen würden?«
»Ja. Sir Charles sprach mit Vorliebe von seinen letztwilligen Verfügungen.«
»Das ist sehr interessant.«
»Ich will hoffen,« sagte Doktor Mortimer, »Sie sehen nicht mit mißtrauischen Augen auf einen jeden, der von Sir Charles mit einem Vermächtnis bedacht worden ist; denn mir hat er auch tausend Pfund hinterlassen.«
»Was Sie nicht sagen! Und hat er auch sonst noch anderm Leuten etwas ausgesetzt?«
’»Viele unbedeutende Beträge für einzelne Persönlichkeiten und viele größere für öffentliche Wohlthätigkeitseinrichtungen. Der ganze Rest fiel an Sir Henry.«
»Und wieviel betrug dieser Rest?«
»Siehenhundertundvierzigtausend Pfund.«
Holmes zog überrascht die Augenbrauen empor und sagte:
»Ich hatte keine Ahnung, daß es sich um eine solche Riesensumme handelte.«
»Sir Charles galt für reich, aber wir wußten selbst nicht, wie ungeheuer reich er war, bevor wir an die Aufstellung seiner Kapitalien kamen. Der Gesamtwert des Vermögens belief sich auf beinahe eine Million.«
»Alle Wetter! Das ist ein Einsatz, um welchen wohl jemand ein verzweifeltes Spiel wagen kann. Noch eine Frage, Herr Doktor! Angenommen, unserem jungen Freunde hier stieße etwas zu — verzeihen Sie, bitte, diese unangenehme Hypothese, Sir Henry! — wer würde dann das Vermögen erben?«
»Da Sir Charles’ jüngerer Bruder, Rodger Baskerville, unverheiratet gestorben ist, so würde der Besitz an die Desmonds kommen. Sie sind entfernte Verwandte. James Desmond ist ein älterer Geistlicher in Westmoreland.«
»Danke. Alle diese Einzelheiten sind von großer Bedeutung. Haben Sie Herrn James Desmond persönlich je gesehen?«
»Ja. Er kam einmal herüber, um Sir Charles zu besuchen. Er ist ein Mann von ehrwürdiger Erscheinung und gottseligem Lebenswandel. Ich erinnere mich, daßer sich weigerte, von Sir Charles eine Rente anzunehmen, obwohl dieser sie ihm geradezu aufdrang.«
»Und dieser Mann von einfachen Lebensgewohnheiten würde also Sir Charles’ Hunderttausende erben.«
»Er würde der Erbe des Landbesitzes sein, weil dieser Familiengut ist. Er würde ebenfalls das Geld erben, wenn nicht etwa der derzeitige Eigentümer anderweitig darüber verfügte, was er natürlich ganz nach seinem Belieben thun kann.«
»Und haben Sie Ihr Testament gemacht, Sir Henry?«
»Nein, Herr Holmes, das habe ich nicht gethan. Ich habe keine Zeit dazu gehabt, denn ich erfuhr überhaupt erst gestern, wie die Verhältnisse liegen. Aber nach meinem Gefühl sollte das Geld an den kommen, der Titel und Landbesitz erhält. Wie soll denn der Besitzer den alten Glanz der Baskerville wieder herstellen, wenn er nicht Geld genug hat, um den Besitz in gutem Stand zu halten? Haus, Land und Geld müssen bei einander bleiben.«
»Ganz recht! Nun, Sir Henry, ich bin ebenfalls Ihrer Meinung, daß es sich empfiehlt, wenn Sie unverzüglich nach Devonshire gehen. Nur muß ich einen Vorbehalt machen: Sie dürfen aus keinen Fall allein reisen.«
»Dr. Mortimer fährt mit mir zurück.«
»Aber Dr. Mortimer hat seine Praxis und wohnt ein paar Meilen weit von Ihnen ab. Mit dem allerbesten Willen würde er vielleicht nicht imstande sein, Ihnen zu helfen. Nein, Sir Henry, Sie müssen irgend jemand mitnehmen, einen zuverlässigen Mann, der Ihnen nicht von der Seite geht.«
»Wäre es vielleicht möglich, daß Sie selber mitkämen, Herr Holmes?«
»Wenn es zu einer Krisis kommt, so werde ich mich nach Kräften bemühen, persönlich anwesend sein zu können. Aber Sie werden begreifen, daß ich bei meiner ausgebreiteten Praxis und in Anbetracht der fortwährenden Hilfegesuche, die mir von allen Seiten zugehen, unmöglich mich für unbestimmte Zeit von London entfernen kann. Gerade in diesem Augenblick ist einer der ehrwürdigsten Namen Englands bedroht, von einem Erpresser besudelt zu werden, und nur ich kann einen unheilvollen Skandal verhindern. Sie sehen gewiß selber ein, daß ich unmöglich mit nach Dartmoor gehen kann.«
»Wen würden Sie mir also dann empfehlen?«
Holmes legte seine Hand aus meinen Arm und sagte:
»Wenn mein Freund bereit wäre, so könnten Sie in einem Augenblick der Bedrängnis keinen besseren Mann an Ihrer Seite haben. Das kann niemand zuversichtlicher behaupten als gerade ich.«
Der Vorschlag kam mir völlig unerwartet, aber bevor ich Zeit hatte etwas zu erwidern, ergriff Baskerville meine Hand und schüttelte sie herzlich, indem er ausrief:
»Das ist wirklich recht freundlich von Ihnen, Herr Doktor! Sie sehen, wie es mit mir steht, und Sie wissen von der ganzen Geschichte ebensoviel wie ich selber. Wenn Sie mit nach Baskerville Hall kommen und mir beistehen wollen, so werde ich Ihnen das nie vergessen.«
Die Aussicht auf Abenteuer hatte stets einen berückenden Zauber für mich, auch schmeichelten mir Holmes’ anerkennende Worte und die Freudigkeit, womit der Baronet mich als Begleiter begrüßte. Ich sagte daher:
»Ich will mit Ihnen gehen, mit Vergnügen. Ich wüßte nicht, wie ich meine Zeit besser anwenden könnte.«
»Sie werden mir sehr getreulich Bericht erstatten,« sagte Holmes. »Wenn eine Krisis kommt — und es kommt eine, das ist ganz sicher — so werde ich Ihnen Weisung geben, was Sie zu thun haben. Bis Samstag können Sie wohl mit allen Geschäften hier in London fertig sein?«
»Wäre das Herrn Doktor Watson recht?«
»Vollkommen.«
»Also treffen wir uns, wenn Sie keinen Gegenbescheid bekommen, am Samstag zum Halbelf-Zuge auf Bahnhof Paddington.«
Wir waren aufgestanden, um uns zu verabschieden, als plötzlich Baskerville einen Triumphruf ausstieß, nach einer der Zimmerecken stürzte und einen braunen Schuh unter einem Schranke hervorzog.
»Mein verloren gegangener Schuh!« rief er.
»Mögen alle Ihre Schwierigkeiten sich so leicht lösen!« sagte Sherlock Holmes.
»Aber das ist doch eine sehr sonderbare Sache,« bemerkte Doktor Mortimer. »Ich hatte vor dem Frühstück dies Zimmer ganz sorgfältig durchsucht.«
»Und ich auch,« sagte Baskerville »Jeden Zoll breit!«
»Es war ganz bestimmt kein Schuh im Zimmer.«
»Dann muß der Kellner ihn hingestellt haben, während wir beim Frühstück saßen.«
Der Deutsche wurde gerufen, beteuerte aber, er wüßte von nichts, alles Fragen führte zu keinem Ergebnis.
Eine neue Zuthat zu der fortwährend sich vergrößernden Reihenfolge von kleinen Geheimnissen, die uns in dem kurzen Zeitraum von zwei Tagen entgegengetreten waren: der Empfang des Briefes mit den Druckbuchstaben, der schwarzbärtige Spion in der Droschke, das Abhandenkommen des alten schwarzen, und jetzt das Wiederauffinden des neuen braunen Schuhes. Holmes saß schweigend in der Droschke, worin wir nach der Bakerstraße zurückfuhren, und ich sah an seinen gerunzelten Brauen und den scharf zusammengezogenen Gesichtszügen, daß sein Geist ebenso wie der meinige eifrig an der Arbeit war, eine Theorie auszudenken, in deren Rahmen alle diese seltsamen und anscheinend zusammenhanglosen Ereignisse sich einfügen ließen. Als wir zu Hause waren, saß er den ganzen Nachmittag und noch einen guten Teil des Abends in dicken Tabaksqualm eingehüllt und tief in Gedanken versunken.
Unmittelbar bevor wir zu Tisch gingen, wurden zwei Telegramme bestellt. Das erste lautete:
»Soeben erfahren, daß Barrymore in Baskerville Hall ist. Baskerville.«
Das zweite meldete uns:
»Weisungsgemäß dreiundzwanzig Hotels aufgesucht, ausgeschnittenes Timesblatt leider nicht auffindbar. — Cartwright.«
»Da reißen zwei von meinen Fäden, Watson! Nichts macht aber den Geist schärfer als ein Fall, wo alles schief geht. Wir müssen uns nach einer anderen Spur umsehen.«
»Wir haben noch den Droschkenkutscher, der den Spion fuhr.«
»Allerdings. Ich habe an die Centralstelle für das Fuhrwesen telegraphiert, sie möchten mir Namen und Wohnung des Mannes mitteilen…. Ich sollte mich nicht wundern, wenn wir hier die Antwort auf meine Frage bekämen.«
Es hatte in diesem Augenblick geschellt, und dieses Zeichen bedeutete sogar noch Besseres als eine bloße Antwort, denn die Thür ging auf und herein kam ein vierschrötiger Mann, offenbar der Kutscher selber.
»Ich kriegte Bescheid vom Amt,« sagte er, »ein Herr, der hier in der Bakerstraße wohnte, hätte nach mir gefragt. Ich habe meine Droschke nun schon sieben Jahre lang gefahren und nie ’ne Klage gehabt. Darum komme ich vom Stall und frage Sie gerade ins Gesicht, was Sie gegen mich haben.«
»Ich habe ganz und gar nichts gegen Sie, mein guter Mann,« sagte Holmes »Im Gegenteil, ich habe einen halben Sovereign für Sie, wenn Sie mir klare und deutliche Antworten auf meine Fragen geben wollen.«
»Nu, ich hab’ ’n guten Tag gehabt und ’s war alles sauber!« sagte der Kutscher grinsend. »Was möchten Sie wissen, Herr?«
»Zu allererst Ihren Namen und Ihre Wohnung, für den Fall, daß ich Sie später noch ’mal brauchen sollte.«
»John Clayton, Turpay Street Nummer 3, im Borough. Meine Droschke gehört zu Shipleys Fuhrgeschäft, dicht beim Waterloo-Bahnhof.«
Sherlock Holmes schrieb sich die Adresse auf und fuhr fort.:
»Nun, Clayton, sagen Sie mir alles, was Sie von dem Mann wissen, der heute morgen um zehn in Ihrer Droschke hier dicht bei meinem Hause wartete und Sie nachher die Regent Street hinunter hinter den beiden Herren herfahren ließ.«
Der Mann war verdutzt und wurde ein bißchen verlegen.
»Na,« sagte er nach einigem Besinnen, »da hat’s wohl nicht viel Zweck, daß ich Ihnen Geschichten erzähle. Denn Sie wissen ja wohl schon so viel davon wie ich selber. Die Sache ist die: Der Herr sagte mir, er wäre Detektiv, und ich dürfte keinem Menschen was über ihn sagen.«
»Mein lieber Mann, es handelt sich um eine sehr ernste Sache, und Sie könnten in eine recht häßliche Klemme kommen, wenn Sie versuchen sollten, mir irgend was zu verheimlichen. Sie sagen, Ihr Fahrgast erzählte Ihnen, er wäre Detektiv?«
»Jawohl, das that er.«
»Wann sagte er das?«
»Als er fortging.«
»Sagte er sonst noch was?«
»Ja, er nannte seinen Namen.«
Holmes warf einen schnellen Blick voller Triumph aus mich und sagte:
»O, er nannte seinen Namen — wirklich? Das war unvorsichtig. Was war das denn für ein Name?«
»Sein Name,« antwortete der Droschkenkutscher, »war Sherlock Holmes.«
Niemals sah ich meinen Freund ein so verblüfftes Gesicht machen wie bei diesen Worten des Droschkenkutschers. Einen Augenblick lang saß er sprachlos da. Dann brach er in ein herzliches Lachen aus und rief:
»Eine Abfuhr, Watson — eine unleugbare Abfuhr! Ich bin da an eine Klinge geraten, die ebenso schnell und gewandt ist wie die meinige. Der Mann hat mir diesmal wirklich recht niedlich heimgeleuchtet. Also sein Name war Sherlock Holmes, sagten Sie?«
»Jawohl, Herr, so hieß der Herr!«
»Ausgezeichnet! Sagen Sie mir, wie Sie mit ihm zusammenkamen, und alles, was sich sonst noch zutrug.«
»Um halb zehn Uhr rief er mich auf dem Trafalgar Square an. Er sagte, er wäre Detektiv, und bot mir zwei Guineen, wenn ich den ganzen Tag genau thäte, was er verlangte, und keine Fragen stellen wollte. Natürlich griff ich mit beiden Händen zu. Zuerst fuhren wir nach dem Northumberland-Hotel und warteten da, bis zwei Herren herauskamen und in eine von den Droschken am Halteplatz stiegen. Wir fuhren ihrem Wagen nach, bis er irgendwo hier in der Nähe anhielt.«
»Hier vor meiner Thür,« fiel Holmes ein.
»Nu, das kann ich nicht so genau sagen, aber mein Fahrgast wußte jedenfalls von allem Bescheid. Ein Stück weiter die Straße hinunter hielten wir ebenfalls, und da warteten wir anderthalb Stunden. Dann kamen die beiden Herren bei uns vorbei; sie gingen zu Fuß, und wir fuhren hinter ihnen her die Bakerstraße hindurch, und dann …«
»Weiß schon,« sagte Holmes.
»…bis wir schließlich ungefähr drei viertel von der Regent Street entlang gefahren waren. Da stieß plötzlich der Herr in meiner Droschke die Klappe auf und rief mir zu, ich sollte so schnell wie möglich direkt nach dem Waterloo-Bahnhof fahren. Ich schlug aus meinen Gaul los, und in weniger als zehn Minuten waren wir da. Er bezahlte mir meine zwei Guineen in blankem Gold in die Hand und ging in den Bahnhof hinein. Im Augenblick, als er wegging, drehte er sich um und sagte: ,Vielleicht interessiert es Sie, zu hören, daß Sie Sherlock Holmes gefahren haben.’ — Auf die Art erfuhr ich seinen Namen.«
»Ich verstehe. Und weiter sahen und hörten Sie nichts von ihm?«
»Nachdem er in das Bahnhofsgebäude hineingegangen war, nicht mehr.«
»Und könnten Sie mir wohl Herrn Sherlock Holmes ein bißchen beschreiben?«
Der Kutscher kratzte sich hinterm Ohr.
»Hm, ja, es war eigentlich nicht so ’n Herr, den man so ganz leicht beschreiben kann. Ich möchte ihn auf etwa vierzig Jahre schätzen; er war mittelgroß, so zwei bis drei Zoll kleiner als Sie. Angezogen war er mächtig fein, und er hat einen schwarzen Bart, der unten breit abgeschnitten war, und ein blasses Gesicht. Weiter wüßte ich nichts über ihn zu sagen.«
»Die Farbe seiner Augen?«
»Nein, davon kann ich nichts sagen.«
»Und sonst können Sie sich wirklich aus nichts mehr besinnen?«
»Nein, Herr, das ist alles.«
»Na, hier ist Ihr halber Sovereign, und ein anderer halber wartet aus Sie, wenn Sie mir eine neue Auskunft bringen können. Guten Abend!«
»Guten Abend, Herr, und schönen Dank.«
John Clayton ging, von innerlicher Heiterkeit erfüllt, aus der Thür, und Holmes wandte sich mit einem Achselzucken und mit einem etwas kümmerlichen Lächeln zu mir und sagte:
»Schnapp! Da geht der dritte Faden entzwei, und wir stehen wieder am Anfang. Der schlaue Schuft! Er kannte unsere Hausnummer, wußte, daß Sir Henry Baskerville mich um Rat gefragt hatte, und erriet in der Regent Street, wer ich war. Dann dachte er sich, daß ich mir wahrscheinlich die Nummer seiner Droschke gemerkt haben würde und daher leicht an den Kutscher herankommen könnte, deshalb schickte er mir diese freche Bestellung. Ich sage dir, Watson, diesmal haben wir’s mit einem Gegner zu thun, der unserer Klinge würdig ist. Ich bin in London matt gesetzt. Ich kann nur hoffen, daß du in Devonshire besseres Glück hast. Aber es macht mir schwere Gedanken.«
»Was denn?«
»Daß ich dich hinschicke. Es ist eine eklige Geschichte, Watson, eine eklige, gefährliche Geschichte, und je mehr ich davon zu sehen bekomme, desto weniger gefällt fie mir. Ja, mein lieber Junge, du magst darüber lachen, aber auf mein Wort, ich werde froh sein, wenn ich dich wieder heil und gesund hier in der Bakerstraße habe.«
6
Sir Henry Baskerville und Dr. Mortimer waren am verabredeten Tage reisefertig und zur bestimmten Stunde fuhren wir vom Bahnhof Paddington ab. Sherlock Holmes fuhr mit mir nach dem Bahnhof und gab mir zum Abschied noch seine letzten Weisungen und Ratschläge.
»Ich will dich nicht mit Mutmaßungen und Verdachtsgründen beeinflussen, Watson; ich wünsche von dir nichts weiter, als daß du mir so ausführlich wie möglich alle Thatsachen berichtest; die Theorienbildung kannst du mir überlassen.«
»Was für Thatsachen soll ich berichten?« fragte ich.
»Alles, was dir in irgend einem, wenn auch noch so losen Zusammenhang mit dem Fall zu stehen scheint, im besonderen die Beziehungen zwischen dem jungen Baskerville und seinen Nachbarn, oder alle neuen Umstände, die in Bezug auf Sir Charles’ Tod bekannt werden. Ich habe in den letzten Tagen auf eigene Hand einige Erkundigungen eingezogen, aber die Ergebnisse sind, fürchte ich, negativer Art gewesen. Ganz sicher scheint nur eines festzustehen, nämlich daß James Desmond, der nächstberechtigte Erbe, ein älterer Herr von sehr liebenswürdigem Wesen ist, und daß daher diese Verfolgung nicht von ihm ausgeht. Ich glaube wirklich, wir können ihn gänzlich aus unseren Berechnungen ausscheiden Dann bleiben noch die Leute, die Sir Henry Baskervilles Umgebung auf dem Moor bilden werden.«
»Wäre es nicht gut, zu allererst dieses Ehepaar Barrymore wegzujagen?«
»Um Gottes Willen nicht! Du könntest gar keinen schlimmeren Fehler machen. Wenn sie unschuldig sind, so wäre es eine grausame Ungerechtigkeit; sind sie aber schuldig, so würden wir uns damit jeder Aussicht benehmen, sie zu überführen. Nein, nein, wir wollen sie nur auf unserer Liste von Verdächtigen belassen und weiter nichts. Außer ihnen ist, wenn ich mich recht erinnere, im Schloß noch ein Stallknecht. Ferner wohnen in der Nähe zwei Moorbauern. Dann haben wir unseren Freund Dr. Mortimer, der, wie ich glaube, vollkommen ehrenhaft ist, und dessen Frau, von der wir nichts wissen. Dann kommt der Naturforscher, Stapleton, und dessen Schwester, die eine recht anziehende junge Dame sein soll. Ferner Herr Frankland von Laster Hall, ebenfalls ein unbekannter Faktor für uns, und noch ein oder zwei andere Nachbarn. Das sind die Leute, die du zum Gegenstand deiner ganz besonderen Beobachtung machen mußt.«
»Ich will mein Bestes thun.«
»Du hast doch Waffen bei dir?«
»Ja, ich dachte, es wäre gut, sie mitzunehmen.«
»Ganz gewiß! Halte Tag und Nacht deinen Revolver zur Hand und werde niemals schlaff in deiner Vorsicht!«
Unsere Bekannten hatten bereits einen Abteil erster Klasse belegt und warteten auf dem Bahnsteig auf uns.
»Nein, wir haben durchaus nichts Neues zu berichten,« sagte Dr. Mortimer in Beantwortung der von meinem Freund an ihn gerichteten Frage. »Aber auf eins kann ich einen Eid ablegen, nämlich, daß Âů wir während der beiden letzten Tage nicht beobachtet worden sind. Wir sind niemals ausgegangen, ohne auf das Schärfste aufzupassen, und es würde niemand unserer Aufmerksamkeit entgangen sein.«
»Sie sind, wie ich annehme, stets zusammen ausgegangen?«
»Ja, mit Ausnahme von gestern nachmittag. Wenn ich in London bin, so widme ich für gewöhnlich einen Tag reinen Vergnügungszweckem ich ging daher in das Museum der Chirurgischen Gesellschaft.«
»Und ich sah mir ein bißchen das Getriebe im Park an,« sagte Baskerville. »Aber wir hatten keine Unannehmlichkeiten irgend welcher Art.«
»Es war aber trotzdem unvorsichtig,« sagte Holmes kopfschüttelnd und mit sehr ernstem Gesicht. »Ich bitte Sie, Sir Henry, nicht allein auszugehen. Wenn Sie es thun, so wird Ihnen irgend ein großes Unglück zustoßen. Haben Sie Ihren anderen Schuh wiederbekommen?«
»Nein, er ist verschwunden geblieben.«
»Wirklich! Das ist sehr interessant. Nun, gute Reise,« sagte er noch, da der Zug den Bahnsteig entlang zu gleiten begann. »Beherzigen Sie, Sir Henry, einen von den Sätzen in der seltsamen alten Geschichte, die Dr. Mortimer uns vorgelesen hat, und meiden Sie das Moor in jenen Stunden der Finsternis, da die bösen Mächte ihr Spiel treiben!«
Ich blickte noch einmal nach dem Bahnsteig zurück, als wir schon weit weg waren, und sah Sherlock Holmes’ große, ernste Gestalt regungslos dastehen und uns nachstarren.
* * *
Die Reise verlief schnell und angenehm; ich benutzte sie, um mit meinen beiden Gefährten näher bekannt zu werden. Nach ein paar Stunden folgte dem braunen Boden rötliche Erde, statt der Ziegelhäuser sah man Granitbauten, und rote Kühe grasten auf wohlumzäumten Wiesen, deren saftiger und üppiger Graswuchs auf ein milderes, wenngleich auch feuchteres Klima hindeutete. Der junge Baskerville sah eifrig aus dem Fenster und stieß einen lauten Ruf des Entzückens aus, als er die altvertrauten Züge der Devonlandschaft wiedererkannte.
»Ich habe ein gutes Stück von der Welt gesehen, seitdem ich von hier fortging, Dr. Watson, aber niemals sah ich eine Gegend, die sich mit dieser vergleichen läßt!«
»Ich sah noch niemals einen Devonshirer, der nicht auf seine Heimat geschworen hätte,« bemerkte ich lachend.
»Das liegt ebenso sehr an der Menschenrasse wie an der Gegend,« sagte Dr. Mortimer. »Ein flüchtiger Blick aus unseren Freund hier zeigt uns den runden Keltenschädel, worin sich keltische Begeisterungssähigkeit und Anhänglichkeit birgt. Des armen Sir Charles’ Schädel bot einen sehr seltenen Typus; die Hauptkennzeichen waren teils gälisch, teils irisch. Aber Sie waren wohl noch sehr jung, als Sie das letztemal Baskerville Hall sahen, nicht wahr?«
»Ich war ein halbwüchsiger Bursche, als mein Vater starb, und hatte unseren Stammsitz niemals gesehen, denn wir wohnten in einem kleinen Landhause an der Südküste. Von dort ging ich geraden Weges zu einem Freunde nach Amerika. Ich muß sagen, die Gegend von Baskerville Hall ist für mich so neu wie für Herrn Dr. Watson, und ich bin über die Maßen begierig, das Moor zu sehen.«
»Wirklich? Nun, Ihr Wunsch ist schnell erfüllt, denn hier haben Sie den ersten Blick aufs Moor,« sagte Dr. Mortimer.
Ueber den grünen Wiesenvierecken und einem niedrigen Walde erhob sich in der Ferne ein grauer, melancholischer Hügel, mit seltsam zerklüftetem Gipfel, trübe und unbestimmt wie eine phantastische Traumlandschaft. Baskerville saß lange da, die Augen auf dieses Bild geheftet, und ich las aus seinem ausdrucksvollen Gesicht, wie tief ihn der erste Anblick der Gegend rührte, wo seine Vorväter so lange geherrscht und so tiefe Spuren hinterlassen hatten. Da saß der Mann mit seinem amerikanischen Accent, in seinen eleganten Sommeranzug gekleidet, in der Ecke eines höchst alltäglichen Eisenbahnabteils; und doch, als ich ihm in das ausdrucksvolle Gesicht sah, da fühlte ich mehr denn je, daß er ein echter Sproß jenes alten Geschlechtes von reinblütigen feurigen Herrenmenschen war. Stolz, Tapferkeit, Kraft sprachen aus seinen buschigen Brauen, den beweglichen Nasenflügeln, den großen nußbraunen Augen. Wenn vielleicht auf jenem abschreckenden Moor ein schwer zu lösendes und gesährliches Rätsel unserer harrte, so war er jedenfalls, das fühlte ich, ein Kamerad, für den man sich wohl in Gefahr begeben konnte, da man gewiß war, daß er sie mit mutigem Herzen teilen würde.
Der Zug hielt an einer Zwischenstation, und wir stiegen aus. Draußen, jenseits des niedrigen weiß angestrichenen Holzzaunes, wartete ein zweispänniger Jagdwagen. Unsere Ankunft war augenscheinlich ein großes Ereignis, denn Bahnhofsvorsteher und Kofferträger drängten sich an uns heran, um uns das Gepäck zu besorgen. Es war ein hübscher ländlicher Ort, aber ich bemerkte mit Ueberraschung, daß an der Ausgangspforte zwei soldatisch aussehende Männer in dunklen Uniformen standen; sie lehnten sich auf ihre kurzen Büchsen und sahen uns, als wir an ihnen vorübergingen, mit scharf musternden Blicken an. Der Kutscher, ein knorriger kleiner Mann mit harten Gesichtszügen, begrüßte Sir Henry Baskerville, und ein paar Minuten später flogen wir schnell die breite weiße Straße entlang. Wiesen mit wogendem Gras zogen sich an beiden Seiten des Weges hin, alte Giebelhäuser schauten hinter dichtem Laubwerk hervor, aber drüben über der friedlichen, sonnenbeglänzten Landschaft erhob sich, schwarz vom Abendhimmel sich abzeichnend, die lange, öde Linie des Moors, nur ab und zu von häßlichen Felsenspitzen unterbrochen.
Der Jagdwagen bog in einen Seitenweg ein, und wir fuhren bergan auf Straßen, die seit Jahrhunderten von Tausenden von Rädern tief ausgefahren waren, zwischen hohen mit dickem Moos bedeckten Wällen, auf denen üppige Farnkräuter und Brombeersträucher wuchsen. Immer sachte bergauf fahrend, kamen wir über eine schmale Steinbrücke, unter welcher brausend und schäumend ein schnelles Bergwasser zwischen grauen Felsblöcken dahinschoß. Das Thal, durch welches der Weg sich allmählich aufwärts wand, war dicht mit Eichen- und Föhrengestrüpp bestanden. Bei jeder Wegbiegung jubelte Baskerville laut auf, sah sich entzückt um und richtete unzählige Fragen an den Doktor. In seinen Augen war alles schön, für mich aber lag etwas Melancholisches aus der Landschaft, der bereits der Herbst deutlich seinen Stempel ausgedrückt hatte. Gelbe Blätter bedeckten die Wege und rieselten von den Bäumen aus uns herab. Das Rollen unserer Räder erstarb aus dem dichten Teppich toter Blätter — mir war’s als wäre das ein trauriger Empfang, den Mutter Natur dem heimkehrenden Sohne der Baskervilles bereitete.
»Hallo!« rief plötzlich Dr. Mortimer. »Was ist denn das?«
Eine steile, mit Haidekraut bewachsene Kuppe, ein Ausläufer des Moors, lag gerade vor uns. Auf der Höhe hielt scharf und klar wie ein Reiterstandbild aus seinem Piedestal sich abhebend, ein berittener Soldat, finster und ernst, die Büchse schußfertig im Arm. Er bewachte den Weg, welchen wir entlang fuhren.
»Was bedeutet das, Perkins?« fragte Dr. Mortimer.
Unser Kutscher drehte sich halb aus seinem Bock um und antwortete:
»Von Princetown ist ein Sträfling entflohen, Herr. Er ist nun seit drei Tagen draußen, und die Zuchthauswächter bewachen jeden Weg und jeden Bahnhof, aber bis jetzt haben sie ihn noch nicht zu Gesicht gekriegt. Den Bauern hier in der Gegend ist es nicht gerade angenehm, Herr, so viel steht fest.«
Âů»Na, ich denke doch, sie bekommen fünf Pfund, wenn sie den Mann anzeigen können.«
»Das schon Herr, aber was ist denn die Aussicht, fünf Pfund zu kriegen, gegen die andere Aussicht, daß einem die Kehle durchgeschnitten wird? Sie müssen wissen, der Mann ist kein gewöhnlicher Sträfling. Das ist einer, der vor nichts zurückschrecken würde.«
»Wer ist es denn?«
»Selden, der Mörder von Notting Hill.«
Ich erinnerte mich des Falles sehr gut, denn Holmes hatte sich dafür interessiert, wegen der ganz außergewöhnlichen Grausamkeit, womit das Verbrechen vollbracht worden war, und wegen des blutdürstigen Hohnes, den der Mörder gezeigt hatte. Die Umwandlung des Todesurteils in lebenslängliche Zuchthausstrafe war erfolgt, weil man einige Zweifel an seiner völligen Zurechnungsfähigkeit hegte, so unmenschlich war sein Gebaren.
Unser Jagdwagen war auf dem Gipfel einer Erhöhung angelangt, und vor uns erhob sich die weite Fläche des Moors mit seinen Steinhaufen und schroffen Felsenklippen. Ein kalter Wind wehte von ihm herunter und durchschauerte uns Mark und Bein. Irgendwo aus dieser trostlos öden Ebene hauste dieser teuflische Gesell, wie ein wildes Tier in einer Höhle sich bergend, das Herz voll bitterer Wut gegen das ganze Menschengeschlecht, das ihn ausgestoßen hatte. Dieser Gedanke fehlte noch gerade, um das schaurige Gefühl zu vervollständigen, das der Anblick des wüsten Moors, der eisige Wind, der dunkelnde Abendhimmel in uns erweckte. Sogar Baskerville wurde still und hüllte sich dichter in seinen Ueberzieher.
Das fruchtbare Land lag jetzt hinter und unter uns. Wie wir darauf zurückblickten, verwandelten die schrägen Strahlen der sinkenden Sonne die Bäche in goldene Fäden und beglänzten die frischgepflügten braunroten Aecker und die breiten Waldstreifen. Der Weg vor uns führte durch immer ödere und wildere, rötliche und grünlichbraune Abhänge, die mit riesigen Steinblöcken übersäet waren. Ab und zu kamen wir bei einem Moorbauernhaus vorbei: steinerne Mauern und steinerne Dächer, die harten Linien von keinem Rankengrün gemildert. Aus einmal sahen wir unter uns eine muldenförmige Vertiefung, die mit verkümmerten, vom Sturm zerzausten und verbogenen Eichen und Kiefern verwachsen war. Zwei hohe, schlanke Türme hoben sich über die Bäume empor. Der Kutscher streckte seine Peitsche aus und sagte:
»Baskerville Hall!«
Sein Herr war ausgestanden und sah mit geröteten Wangen und blitzenden Augen auf die Türme. Ein paar Minuten später fuhren wir durch das Parkthor, phantastische Gitterthüren aus Schmiedeeisen zwischen zwei verwitterten, bemoosten Steinpfeilern, auf denen sich die Eberköpfe des Baskervilleschen Wappens erhoben. Das Thorwärterhaus war eine Ruine von schwarzem Granit und nackten Dachsparren, aber dieser gegenüber erhob sich ein halb vollendetes neues Gebäude — die Erstlingsfrucht von Sir Charles’ südafrikanischem Golde. Durch das Parkthor gelangten wir in die Schloßallee. Wieder rollten die Räder über gefallenes Laub, und über unseren Häuptern schlossen die alten Bäume ihre Zweige zu einem düsteren Gewölbe. Baskerville schauerte zusammen, als er am Ende der langen dunklen Allee das Haus erblickte, das geisterhaft durch die Bäume schimmerte.
»War es hier?« fragte er leise.
»Nein, nein; der Taxusgang ist aus der anderen Seite.«
Der junge Mann sahÂů sich mitvoerdüstertem Gesicht um und sagte:
»Es ist kein Wunder, wenn mein Onkel das Vorgefühl hatte, es werde ihm an diesem Ort ein Unglück zustoßen. Hier kann wohl jeden Mann ein unbehagliches Gefühl überschleichen. Ehe sechs Monate um sind, will ich eine Reihe von elektrischen Bogenlampen hier anbringen lassen, und Sie werden die Allee nicht wiedererkennen, und gerade hier dem Schloßthor gegenüber soll mir eine tausendkerzige Svan- und -Edison brennen.«
Die Allee führte aus eine weite Rasenfläche, und vor uns lag das Haus. Im Dämmerlicht konnte ich sehen, daß das Mittelgebäude ein gewaltiger Steinblock war, aus welchem ein Portal vorsprang. Die ganze Vorderwand war mit Epheu überkleidet, in welchem hier und da ein Ausschnitt eine Stelle bezeichnete, wo sich ein Fenster oder ein Wappenschild befand. Ueber diesem Mittelbau erhoben sich die beiden alten zinnengekrönten, von Schießscharten durchbrochnen Türme. Rechts und links von den Türmen erstreckten sich modernere Flügel aus schwarzem Granit. Ein trübes Licht fiel aus einigen von den altertümlichen Fenstern nach außen und aus einem der hohen Kamine, die sich über dem steilen Giebeldach erhoben, stieg eine dunkle Rauchwolke gen Himmel.
»Willkommen, Sir Henry! Willkommen auf Baskerville Hall!«
Ein großer Mann war aus dem Dunkel des Portals hervorgetreten, um den Schlag des Jagdwagens zu öffnen. Die Gestalt einer Frau hob sich von dem gelben Licht der Halle ab. Sie trat heraus und half dem Mann, unsere Reisetaschen vom Wagen zu nehmen.
»Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich gleich nach meinem Hause weiterfahre, Sir Henry?« fragte Dr. Mortimer. »Meine Frau erwartet mich.«
»Aber Sie bleiben doch, um ein paar Bissen mit uns zu essen?«
»Nein, ich muß gehen. Wahrscheinlich werde ich allerlei Arbeit vorfinden. Ich würde sonst bleiben, um Ihnen das Haus zu zeigen, aber Barrymore wird ein besserer Führer sein als ich. Leben Sie wohl, und schicken Sie unbedenklich bei Tag oder bei Nacht zu mir, wenn ich irgendwie Ihnen zu Diensten sein kann.«
Das Rasseln der Räder verhallte auf der Straße, während Sir Henry und ich die Halle betraten. Mit dumpfem Schlag fiel die Thür hinter uns zu. Wir befanden uns in einem schönen, weiten, hohen Raum mit einer schweren Decke aus altergeschwärzten Eichenbalken. In dem großen altertümlichen Kamin prasselte und knisterte auf hohen eisernen Feuerböcken ein Holzfeuer. Sir Henry und ich streckten unsere Hände darüber aus, denn die lange Fahrt hatte uns völlig durchkältet. Dann sahen wir uns rund um: ein hohes schmales Fenster mit altem bunten Glase, eichenes Wandgetäfel, an den Wänden Hirschgeweihe und Wappenschilder, und dies alles trübe und dämmerig im gedämpften Licht der in der Mitte des Raumes herabhängenden Lampe.
»Gerade so ist’s, wie ich’s mir vorgestellt hatte!« rief Sir Henry. »Ist es nicht wie ein altes Gemälde von einem alten Geschlechterhause? Wenn ich denke, daß dies die Halle ist, worin fünf Jahrhunderte lang meine Vorfahren gelebt haben! Mich stimmt’s ganz feierlich.«
Ich sah, wie jugendliche Begeisterung sein dunkles Gesicht erhellte, als er sich so umsah. Er stand im vollen Schein des Lichtes, aber lange Schatten bedeckten die Wände und hingen wie ein schwarzes Gewölbe über ihm.
Barrymore war wieder eingetreten, nachdem er das Gepäck auf unsere Zimmer befördert hatte. Er stand jetzt in der unterwürfigen Haltung eines gut erzogenen Dieners vor uns. Ein auffallend hübscher Mann, groß, stattlich, mit einem breit abgeschnittenen Kinnbart und blassen, edel geformten Zügen.
»Wünschen Sie, daß das Essen sofort aufgetragen wird, Herr?«
»Ist es fertig?«
»In ein paar Minuten, Herr! Warmes Wasser finden Sie in Ihren Zimmern. Meine Frau und ich werden glücklich sein, Sir Henry, bei Ihnen zu bleiben, bis Sie Ihre Einrichtungen getroffen haben, aber Sie werden begreifen, daß unter den neuen Verhältnissen der Haushalt eine beträchtliche Dienerschaft erfordern wird.«
»Was für neue Verhältnisse meinen Sie?«
»Ich wollte nur sagen, Herr, daß Sir Charles sehr zurückgezogen lebte und daß wir ausreichten, um seine Ansprüche zu befriedigen Sie werden natürlich größere Gesellschaft um sich haben, und deshalb werden Sie auch Veränderungen im Haushalt treffen müssen.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie und Ihre Frau Ihren Abschied wünschen?«
»Nur, wenn es Ihnen völlig genehm ist, Herr!«
»Aber Ihre Familie ist ja doch mehrere Generationen hindurch bei uns gewesen, nicht wahr? Es sollte mir leid thun, wenn ich meine Niederlassung an diesem Ort damit beginnen müßte, eine solche alte Verbindung zu lösen.«
Es kam mir vor, als nähme ich auf dem blassen Gesicht des Kammerdieners einige Anzeichen von Rührung wahr.
»Ich habe dasselbe Gefühl, Herr, und meine Frau auch,« antwortete dieser. »Aber um die Wahrheit zu sagen, Herr, wir hatten beide eine große Anhänglichkeit an Sir Charles; sein Tod ging uns sehr nahe, und seitdem weckt diese Umgebung nur noch peinliche Erinnerungen in uns. Ich fürchte, wir werden, so lange wir auf Baskerville Hall sind, niemals unser frohes Gemüt wiederfinden.«
»Aber was haben Sie denn vor?«
»Ich zweifle nicht, Herr, daß es uns gelingen wird, irgend ein Geschäft zu eröffnen. Sir Charles’ Freigiebigkeit hat uns die Mittel verschafft. Und nun, meine Herren, ist es wohl am besten, wenn ich Ihnen Ihre Zimmer zeige?«
Eine breite, von Balustraden eingefaßte Galerie lief dicht unter der Decke um die Halle herum; eine Doppeltreppe führte zu ihr hinaus. Von diesem Mittelpunkt aus erstreckten sich zwei lange Korridore, die die Thüren zu allen Schlafzimmern enthielten, über die ganze Länge des Gebäudes hin. Mein Zimmer lag im selben Flügel wie das Sir Henrys, beinahe Thür an Thür. Diese Zimmer waren augenscheinlich viel moderner als der Mittelbau des Schlosses, und ihre hellen Tapeten sowie zahlreiche brennende Kerzen thaten das ihre, um den düsteren Eindruck zu verscheuchen, der sich bei unserer Ankunft meines Geistes bemächtigt hatte.
Aber der Speisesaal, in den man von der Halle aus gelangte, war wieder trübselig und düster. Ein langes Zimmer mit einem erhöhten Ende, wo die Familie gespeist hatte; eine Stufe führte zu dem für die Dienstleute bestimmten niedrigeren Teile des Raumes. An einem Ende befand sich in halber Höhe eine Galerie, von wo aus die Barden ihre Vorträge gehalten hatten. Altersgeschwärzte Balken zogen sich über unseren Häuptern unter der rauchdunklen Decke hin. Von brennenden Fackeln erhellt, von den bunten Farben und der derben Heiterkeit eines mittelalterlichen Gelages erfüllt, mochte der Saal nicht so übel ausgesehen haben. Nun aber saßen in dem riesigen Raum nur zwei schwarzbefrackte Herren in dem kleinen Lichtkreis, der vom Schirm der Tischlampe begrenzt wurde, und da sank die Stimme zum Flüstern herab, und die Stimmung wurde melancholisch. Eine Reihe von Ahnenbildern in allen möglichen Trachten, vom Ritter der Elisabethischen Heldenzeit bis zum Dandy aus den Kreisen des Prinzregenten, starrten in der Halbdämmerung aus uns hernieder und bedrückten uns durch ihre schweigende Gesellschaft. Wir sprachen wenig, und ich für mein Teil war herzlich froh, als das Essen vorüber war und wir uns in das modern eingerichtete Billardzimmer zurückziehen konnten, um eine Zigarette zu rauchen.
»’s ist wahrhaftig kein sehr lustiges Haus!« begann Sir Henry. »Ich glaube wohl, daßÂů man sich allmählich eingewöhnen kann, aber augenblicklich komme ich mir noch ein bißchen verwirrt vor. Ich wundere mich nicht, daß mein Onkel ein wenig absonderlich wurde, wenn er ganz allein in solch einem Hause wohnte …Doch wenn es Ihnen recht ist, wollen wir heute früh zu Bett gehen; vielleicht sieht das Ganze im Morgenlicht doch heiterer aus.«
Ich zog, bevor ich mich zu Bett legte, die Vorhänge zurück und sah aus dem Fenster. Es ging aus den Raseuplatz vor der Haupteingangsthür. Im Hintergrunde rauschten zwei Baumgruppen und wiegten sich im Nachtwinde. Der Halbmond trat durch die Lücken der eilig ziehenden Wolken. In seinem kalten Lichte sah ich hinter den Bäumen zackige Felsklippen und den langen niedrigen Bogen des melancholischen Meeres. Ich zog die Vorhänge wieder zu; dieser letzte Eindruck stimmte zu meinen bereits vorhandenen Gefühlen.
Und doch war es noch nicht der allerletzte Eindruck. Ich war ermüdet und konnte trotzdem nicht einschlafen; unruhig warf ich mich von einer Seite aus die andere und suchte den Schlaf, der nicht kommen wollte. In der Ferne schlug jede Viertelstunde eine Glocke, sonst lag Totenstille über dem Hause. Dann plötzlich, in dem tiefen Grabesschweigen der Nacht, klang ein Laut an mein Ohr — ein heller, deutlicher, unverkennbarer Ton. Es war das Weinen einer Frau, das unterdrückte, halberstickte Schluchzen einer Frau, die von Schmerz und Kummer gequält wird. Ich setzte mich im Bette aufrecht und horchte mit gespannter Aufmerksamkeit Das Geräusch konnte nicht weit ab gewesen sein; ganz gewiß kam es aus dem Hause selbst. Eine halbe Stunde lang wartete ich mit Anspannung aller meiner Nerven, aber kein anderer Ton ließ sich hören als das Schlagen der Glocke und das Rascheln des Nachtwindes im Epheu draußen an der Wand.
7
Der schöne frische Morgen des nächsten Tages trug sein Teil dazu bei, den trübseligen ersten Eindruck von Baskerville Hall etwas zu verwischen. Als Sir Henry und ich am Frühstückstisch saßen, flutete das Sonnenlicht durch die hohen Bogenfenster herein und warf bunte Farbenflecke von den Wappen, womit die Scheiben bemalt waren, aus Diele und Wände. Das dunkle Holzgetäfel glühte in den goldenen Strahlen wie Bronze, und wir konnten uns kaum vorstellen, daß wir in demselben Zimmer saßen, welches am Abend vorher unsere Seelen so trübe gestimmt hatte.
»Mich dünkt, wir selber haben die Schuld daran gehabt und nicht das Haus!« rief der Baronet. »Wir waren ermüdet von der Reise und kalt von der langen Wagenfahrt, deshalb kam uns das Haus so grau vor. Jetzt sind wir frisch und munter, und auch das Haus sieht wieder ganz heiter aus!«
»Und doch kam nicht bloß unsere Einbildungskraft ins Spiel,« antwortete ich. »Haben Sie nicht zum Beispiel jemanden — ich glaube, es war eine Frau — während der Nacht schluchzen gehört?«
»Das ist sonderbar, was Sie da sagen! Es kam mir nämlich, als ich halb eingeschlafen war, vor, als hörte ich so etwas. Ich wartete ziemlich lange, aber es ließ sich nichts mehr hören, und ich nahm daher an, es wäre nur ein Traum gewesen.«
»Ich hörte es ganz genau und bin sicher, daß es in der That das Schluchzen eines Weibes war.«
»Wir müssen uns sofort danach erkundigen!« Er klingelte und fragte Barrymore, ob er uns über unsere Wahrnehmung Aufschluß geben könnte. Es kam mir so vor, als ob die bleichen Züge des Kammerdieners noch um eine Schattierung blasser würden, als er die Frage seines Herrn vernahm.
»Es sind nur zwei weibliche Personen im Hause, Sir Henry,« antwortete er. »Die eine ist die Hausmagd, die im vorderen Flügel schläft; die andere ist meine Frau, und ich weiß bestimmt, daß die Töne unmöglich von ihr herrühren.«
Seine Worte waren indessen eine Lüge. Denn zufällig begegnete ich nach dem Frühstück der Frau Barrymore in dem langen Korridor, wo ihr das Sonnenlicht voll ins Gesicht fiel. Sie war eine großgewachsene Frau mit einem Ausdruck von Gleichgültigkeit aus ihren grobgeschnittenen Zügen und einem festgeschlossenen, ernsten Mund. Aber ihre Augen waren verräterisch, sie waren rot und sahen mich aus geschwollenen Lidern an. Also war sie es gewesen, die in der Nacht geweint hatte; und wenn dies der Fall war, so mußte ihr Mann es wissen. Trotzdem hatte er es gewagt, eine so leicht zu entdeckende Lüge zu sagen. Warum? Und warum hatte sie so bitterlich geweint? Schon umschwebte diesen hübschen, blassen, schwarzbärtigen Mann eine geheimnisvolle Atmosphäre. Er hatte zuerst Sir Charles’ Leichnam entdeckt; nur auf seiner Aussage beruhte unsere Kenntnis von den Umständen, die mit dem Tode des alten Herrn in Verbindung standen. War es schließlich doch vielleicht Barrymore, den wir in Regent Street in der Droschke gesehen hatten? Der Bart konnte wohl derselbe sein. Nach der Beschreibung des Droschkenkutschers war jener Mann bedeutend kleiner, aber bei solchen Angaben ist leicht ein Irrtum möglich. Wie konnte ich in dieser Beziehung völlige Klarheit erlangen? Offenbar war es vor allem anderen notwendig, den Postmeister von Grimpen zu besuchen und mich zu vergewissern, ob das Telegramm wirklich an Barrymore zu eigenen Händen abgeliefert war. Mochte die Antwort ausfallen, wie sie wollte, jedenfalls hatte ich bereits etwas an Sherlock Holmes zu berichten.
Sir Henry hatte nach dem Frühstück zahlreiche Papiere durchzusehen, so daß die Zeit für meinen Ausgang günstig war. Es war ein angenehmer Spaziergang von vier Meilen; ich wanderte am Rande des Moors entlang und kam schließlich nach einem altersgrauen Dörfchen, worin sich zwei größere Gebäude – das Wirtshaus und Dr. Mortimers Haus — hoch über die niedrigen Hütten erhoben. Der Postmeister, der zugleich den Kramladen des Oertchens hielt, erinnerte sich des Telegramms noch vollkommen deutlich und sagte:
»Gewiß, Herr; das Telegramm habe ich genau nach Vorschrift an Herrn Barrymore bestellen lassen.«
»Wer bestellte es?«
»Mein Junge hier. James, du bestelltest doch letzte Woche das Telegramm an Herrn Barrymore in der Hall, nicht wahr?«
»Ja, Vater, ich bestellte es.«
»Zu eigenen Händen?« fragte ich.
»Je nun, er war gerade in dem Augenblick oben auf dem Boden; ich konnte es deshalb nicht an ihn eigenhändig bestellen, aber ich gab es an Frau Barrymore selber ab, und sie versprach, ihm das Telegramm sofort zu bringen.«
»Bekamen Sie Herrn Barrymore zu sehen?«
»Nein, Herr; wie ich Ihnen sagte, war er auf dem Boden.«
»Na, seine eigene Frau mußte doch wohl wissen, wo er war,« sagte der Postmeister mürrisch. »Hat er denn das Telegramm nicht bekommen? Wenn irgend ein Versehen vorgefallen ist, so ist es Herrn Barrymores Sache, sich selber zu beschweren.«
Es schien mir aussichtslos zu sein, noch weitere Fragen zu stellen. So viel war aber jedenfalls klar, daß wir trotz Sherlock Holmes’ List keinen Beweis dafür hatten, daß Barrymore nicht doch in London gewesen war. Angenommen, es war so — angenommen, derselbe Mann, der zuletzt Sir Charles am Leben gesehen, hatte zuerst hinter dem neuen Herrn hergespürt, als dieser nach England zurückgekehrt war — was folgte daraus? Handelte er im Auftrage anderer, oder trug er sich mit eigenen bösen Absichten?
Was für ein Interesse konnte er daran haben, die Baskervillesche Familie zu verfolgen? Mir fiel die seltsame Warnung ein, die aus dem Leitartikel der Times ausgeschnitten war. War das sein Werk, oder ging es möglicherweise von einem anderen aus, der seine Pläne durchkreuzen wollte? Der einzige Beweggrund, der sich denken ließ, war der von Sir Henry angedeutete: daß die Barrymores für Lebzeiten ein angenehmes Heim haben würden, wenn es ihnen gelänge, die Familie fortzugraulen. Aber eine solche Annahme reichte bei weitem nicht aus, um die augenscheinlich tief durchdachten und sein angelegten Pläne zu erklären, womit der junge Baronet wie mit einem unsichtbaren Netz umwoben worden war. Holmes selber hatte gesagt, ein verwickelterer Fall sei ihm während seiner ganzen ereignisvollen Thätigkeit nicht vorgekommen. Und als ich die einsame graue Straße entlang zurückwanderte, da betete ich zu Gott; mein Freund möchte sich bald von seinen Geschäften freimachen und herkommen können, um die schwere Last der Verantwortlichkeit von meinen Schultern zu nehmen.
Plötzlich wurde ich in meinem Nachdenken gestört, indem ich hinter mir schnelle Fußtritte und eine Stimme hörte, die meinen Namen rief. Ich drehte mich um, in der Erwartung, Dr. Mortimer zu sehen, zu meiner Ueberraschung aber war es ein Unbekannter, der mir nachlief. Es war ein kleiner hagerer Herr mit einem zarten, glattrasierten Gesicht, flachsblond und hohlwangig, dreißig bis vierzig Jahre alt, mit einem grauen Anzug und Strohhut bekleidet. Eine Botanisierbüchse hing über seiner Schulter, und in der einen Hand trug er einen grünen Schmetterlingsfänger.
»Gewiß werden Sie die Freiheit entschuldigen, die ich mir herausnehme, Herr Dr. Watson,« sagteÂů er, als er keuchend die Stelle, wo ich ihn erwartete, erreicht hatte. »Hier aus dem Moor sind wir Leute ohne viele Umstände und warten’s nicht erst ab, daß wir in aller Form vorgestellt werden. Vielleicht haben Sie meinen Namen bereits von unserem beiderseitigen Bekannten Dr. Mortimer gehört. Ich bin Stapleton von Merripit House.«
»Das hätten mir schon Ihr Netz und die Botanisierbüchse sagen können,« antwortete ich, »denn ich wußte bereits, daß Herr Stapleton Naturforscher ist. Aber wie kommt es, daß Sie mich kannten?«
»Ich hatte bei Mortimer vorgesprochen, und er zeigte Sie mir vom Fenster aus, als Sie vorbeigingen. Da wir denselben Weg haben, so dachte ich, ich könnte Sie einholen und mich Ihnen selbst vorstellen. Ich nehme an, daß Sir Henry seine Reise gut bekommen ist?«
»Er ist ganz gesund, danke.«
»Wir befürchteten eigentlich alle, daß nach Sir Charles’ traurigem Ende der neue Baronet vielleicht nicht hier würde wohnen wollen. Es ist von einem reichen Manne viel verlangt, in eine solche Gegend zu ziehen und sich lebendig zu begraben. Aber ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß für die Gegend sehr viel darauf ankommt. Sir Henry hegt doch wohl keine abergläubischen Befürchtungen?«
»Das halte ich nicht für wahrscheinlich.«
»Natürlich kennen Sie die Sage von dem Höllenhund, der das Geschlecht verfolgt?«
»Ich habe davon gehört.«
»Es geht über alle Begriffe, was für ein leichtgläubiges Volk die Bauern hier herum sind! Vom Ersten bis zum Letzten sind sie bereit, zu schwören, sie hätten solch ein Geschöpf auf dem Moor gesehen.« Er sagte dies mit einem Lächeln, ich glaubte indessen seinen Augen anzusehen, daß er die Sache ernster auffaßte. »Die Geschichte beschäftigte Sir Charles’ Gedanken in hohem Maße und ich zweifle nicht, daß sie die Ursache seines tragischen Endes wurde.«
»Aber wieso denn?«
»Seine Nerven waren so zerrüttet, daß der Anblick irgend eines Hundes wohl eine tödliche Wirkung haben konnte. Meiner Meinung nach hat der herzkranke Baronet in jener letzten Nacht wirklich etwas Derartiges in der Taxusallee gesehen. Ich fürchtete schon längst, ihm möchte irgend ein Unglücksfall zustoßen, denn ich hatte den alten HerrnÂů sehr gern und ich wußte, das sein Herz schwach war.«
»Woher wußten Sie das?«
»Mein Freund Mortimer erzählte es mir.«
»Sie glauben also, irgend ein Hund verfolgte Sir Charles und er starb aus Angst vor dem Tier?«
»Wissen Sie eine bessere Erklärung?«
»Ich habe mir noch keine bestimmte Meinung gebildet.«
»Aber Herr Sherlock Holmes?«
Mir stand bei diesen Worten einen Augenblick der Atem still, aber ein schneller Blick auf das unbefangene Gesicht und die ruhigen Augen meines Begleiters zeigte mir, daß er es nicht auf eine Ueberrumpelung abgesehen hatte.
»Wir können nicht leugnen, daß Sie uns bekannt sind, Herr Doktor,« sagte er. »Die Berichte von den Leistungen Ihres Detektivs sind auch zu uns gedrungen, und Sie konnten ihn nicht berühmt machen, ohne zugleich selber bekannt zu werden. Als Mortimer mir Ihren Namen nannte, konnte er es nicht ableugnen, daß Sie der wohlbekannte Gefährte des Herrn Holmes seien. Wenn Sie nun hier sind, so folgt daraus, daß Herr Sherlock Holmes sich für die Sache interessiert, und natürlich bin ich neugierig und möchte gerne hören, welche Ansicht er darüber hat.«
»Diese Frage werde ich Ihnen wohl leider nicht beantworten können.«
»Darf ich fragen, ob er uns mit seinem persönlichen Besuch zu beehren gedenkt?«
»Zur Zeit kann er nicht aus London fort. Seine Aufmerksamkeit ist von anderen Fällen in Anspruch genommen.«
»Wie schade! Er hätte vielleicht etwas Licht in diese Dunkelheit hineingebracht, die uns umgiebt. Wenn ich Ihnen aber bei Ihren eigenen Nachforschungen in irgend einer Weise von Nutzen sein kann, so bitte ich Sie, über mich zu verfügen. Wenn ich irgend einen Anhalt hätte, nach welcher Richtung sich Ihr Verdacht lenkt, oder wie Sie Ihre Untersuchungen zu betreiben gedenken, so könnte ich Ihnen vielleicht sogar schon jetzt nützlichen Rat geben.«
»Ich versichere Sie, ich bin ganz einfach hier auf Besuch bei meinem Freund Sir Henry und brauche keine Hilfe irgend welcher Art.«
»Ausgezeichnet!« sagte Stapleton. »Sie haben vollkommen recht, daß Sie vorsichtig und verschwiegen sind. Sie haben mir für meine, wie ich fühle, unentschuldbare Zudringlichkeit eine wohlverdiente Zurechtweisung erteilt, und ich verspreche Ihnen, die Sache nicht wieder zu erwähnen.«
Wir waren inzwischen an eine Stelle gekommen, wo ein schmaler, grasbewachsener Pfad sich von der Straße abzweigte, um sich in Schlangenlinien über das Moor zu winden. Zur Rechten lag ein steiler, mit Felsblöcken übersäeter Hügel, der vor Alters, wie ein tiefer Einschnitt bekundete, als Steinbruch benutzt worden war. Die uns zugewandte Seite bildete eine dunkle Felswand, aus deren Spalten und Höhlungen Farnkräuter nickten und Brombeerbüsche hervorlugten. In einiger Entfernung schwankte am Himmel wie eine Riesenfeder eine graue Rauchwolke hin und her.
»Ein mäßiger Spaziergang diesen Moorpfad entlang bringt uns nach Merripit House,« sagte Stapleton. »Wenn Sie vielleicht eine Stunde übrig haben, so könnte ich mir das Vergnügen machen, Sie meiner Schwester vorzustellen.«
Mein erster Gedanke war, daß ich eigentlich an Sir Henrys Seite gehörte. Aber dann erinnerte ich mich des Stoßes von Papieren und Rechnungen, mit denen sein Schreibtisch überdeckt war. Ich wußte, daß ich ihm beim Ordnen derselben nicht helfen konnte. Und Holmes hatte mir ausdrücklich gesagt, ich möchte die Nachbarn auf dem Moor genau studieren. Ich nahm also Stapletons Einladung an und wir gingen miteinander den schmalen Weg entlang.
»’s ist eine wunderbare Gegend, das Moor!« sagte er und dabei ließ er seinen Blick über die langen grünen Hügelwellen mit ihren phantastischen Zackenkronen von Granit hinschweisen »Des Moors wird man niemals überdrüssig. Sie glauben gar nicht, was für wunderbare Geheimnisse es umschließt. Es ist so weit und so wüst und so geheimnisoll.«
»Sie kennen es wohl genau?«
»Ich bin erst seit zwei Jahren hier. In den Augen der Einheimischen bin ich noch immer ein Neuling. Wir kamen kurz nachdem Sir Charles sich niedergelassen hatte. Aber meine Neigungen trieben mich an, jeden Fleck hier in der Gegend genau zu erforschen, und ich glaube, daß es wenig Leute hier herum giebt, die sie besser kennen als ich.«
»Ist es so schwer, sich hier zurechtzufnden?«
»Sehr schwer. Sehen Sie zum Beispiel die große Ebene da nach Norden hin, woraus die eigentümlich geformten Erhöhungen hervorbrechen. Bemerken Sie irgend etwas Auffälliges daran?«
»Es wäre ein ausgezeichneter Platz für einen Galopp.«
»Es ist ganz natürlich, daß Sie so denken, und dieser Gedanke hat schon manchem bis jetzt das Leben gekostet. Sie bemerken die hellgrünen Flecken, womit die Fläche dicht übersäet ist?«
»Ja, sie scheinen fruchtbarer zu sein als das übrige Land.«
Stapleton lachte und rief:
»Das ist das große Grimpener Moor. Ein Fehltritt bringt Menschen wie Tieren den Tod. Erst gestern sah ich eins von den Moorponies hineingeraten. Es kam nie wieder empor. Eine ziemlich lange Zeit sah ich den Kopf des Tieres aus dem Morastloch hervorragen, aber schließlich saugte der Sumpf ihn doch hinunter. Sogar in den trockenen Jahreszeiten ist es gefährlich, über das Moor zu gehen, aber jetzt nach den Herbstregen ist es geradezu ein fürchterlicher Ort. Trotzdem finde ich meinen Weg zu den verborgensten Stellen und kehre lebend und gesund wieder zurück. Beim Himmel, da ist wieder eines von den unglücklichen Ponies im Sumpf!«
Etwas Braunes rollte und wälzte sich in den grünen Binsen. Dann schoß ein langer Hals, in Todesangst sich reckend, in die Höhe, und ein furchtbarer Schrei hallte über das Moor. Mich überlief es kalt vor Entsetzen, aber mein Begleiter schien stärkere Nerven zu besitzen als ich.
»Weg ist es!« sagte er. »Der Sumpf hat’s. Zwei in zwei Tagen und vielleicht noch viele mehr, denn sie streifen bei trockenem Wetter überall auf dem Moore herum und wissen nie den Morast vom festen Boden zu unterscheiden, bis der Sumpf sie gepackt hat. Ein gefährlicher Ort, das große Grimpener Moor!«
»Und Sie sagen, Sie können sich hinaufwagen?«
»Ja, es sind ein oder zwei Fußpfade vorhanden, die ein sehr gewandter Mann benutzen kann. Ich habe sie aufgefunden.«
»Aber warum begeben Sie sich denn aus einen so fürchterlich gefährlichen Boden?«
»Je nun; sehen Sie die Hügel dahinten? Das sind richtige Inseln, seit Jahren auf allen Seiten von dem ungangbaren Sumpf umschlossen. Da findet man die seltensten Pflanzen und Schmetterlinge, wenn man hinzugelangen weiß.«
»Da werde ich auch nächstens mal mein Glück versuchen.«
Er sah mich mit ganz verdutztem Gesicht an und rief:
»Schlagen Sie sich um Gottes willen einen solchen Gedanken aus dem Sinn! Ihr Blut würde über mein Haupt kommen! Ich versichere Ihnen, Sie hätten nicht die geringste Aussicht, lebendig wieder zurückzukommen. Auch ich vermag das nur, indem ich mir mehrere sehr schwer zu beschreibende Kennzeichen gemerkt habe.«
»Hallo!« rief ich. »Was ist denn das?«
Ein langes tiefes Stöhnen von unbeschreiblich traurigem Ausdruck schwebte gleichsam über das Moor zu uns heran. Es erfüllte die ganze Luft, und doch war es unmöglich, genau zu sagen, woher es kam. Erst war es wie ein eintöniges Geflüster, dann schwoll es an zu einem tiefen Brüllen und verhallte wieder zu einem melancholischen, zitterigen Flüstern. Stapleton sah mich mit einem eigentümlichen Gesichtsausdrucke an und sagte:
»Sonderbarer Ort, dieses Moor!«
»Aber was ist es denn?«
»Das Landvolk sagt, es sei der Hund von Baskerville, der nach seiner Beute brüllt. Ich habe es bisher ein- oder zweimal gehört, aber niemals so laut.«
Ein Angstgefühl machte mir das Herz kalt, ich blickte rings um mich auf die gewaltige, von grünen Stellen übersprenkelte Ebene. Nichts regte sich aus der weiten Fläche als ein paar Raben, die mit lautem Gekrächz auf einer Felsspitze hinter uns saßen.
»Sie sind ein wissenschaftlich gebildeter Mann,« sagte ich. »Sie glauben doch nicht an einen solchen Unsinn? Was ist nach Ihrer Meinung die Ursache des seltsamen Tones?«
»Morastlöcher bringen manchmal sonderbare Geräusche hervor. Es kommt von herabsinkendem Schlamm oder vom aufsteigenden Wasser oder etwas anderem ähnlichen.«
»Nein, nein, das war die Stimme eines lebendigen Wesens!«
»Nun, vielleicht war es das. Haben Sie schon mal eine Rohrdommel brüllen gehört?«
»Nein, niemals!«
»Der Vogel ist in England jetzt sehr selten, man kann sagen, ausgestorben; aber auf dem Moor ist alles möglich. Ja, ich sollte mich nicht wundern, wenn sich feststellen ließe, daß der eben vernommene Ton der Schrei der letzten Rohrdommel war.«
»Ich habe nie in meinem Leben so etwas Sonderbares, Geisterhaftes gehört!«
»Ja, es ist eine recht unheimliche Gegend! Sehen Sie mal nach der Hügelreihe drüben. Was sehen Sie da?«
Der ganze steile Abhang war mit mindestens zwanzig ringförmigen grauen Steinbauten bedeckt.
»Was sind es denn für Dinger? Schafhürden?«
»Nein, es sind Heimstätten unserer würdigen Vorväter. In der vorgeschichtlichen Zeit war das Moor dicht von Menschen bevölkert, und da später niemand mehr da gewohnt hat, so finden wir ihre ganze häusliche Einrichtung so, wie sie sie verlassen haben. Das sind ihre Wigwams ohne Dächer. Sie können sogar noch ihre Kochherde und ihre Lagerstätten sehen, wenn die Neugierde Sie hineinführt.«
»Aber das ist ja eine richtige Stadt! Wann war sie bewohnt?«
»In der neueren Steinzeit — Datum unbekannt.«
»Was thaten die Menschen hier?«
»Sie weideten ihr Vieh auf diesen Abhängen; dann lernten sie nach Zinn graben, als das Bronzeschwert das Steinbeil zu verdrängen begann. Sehen Sie da die tiefe Grube am gegenüberliegenden Hügel? Das sind ihre Spuren. Ja, Sie werden allerlei absonderliche Sachen aus unserem Moor finden, Herr Doktor! O, entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ganz gewiß ist das ein Cyklopides!«
Ein kleiner Käfer oder Falter war vor uns über den Weg geflattert, und in einem Augenblick rannte Stapleton mit außerordentlicher Schnelligkeit und Gewandtheit hinter demselben her. Zu meinem Bedauern flog das kleine Ding auf den Morast zu, aber mein neuer Bekannter sprang, ohne sich zu besinnen, von einem Grasbüschel zum anderen, daß sein grünes Schmetterlingsnetz in der Lust flatterte. Ich sah ihm nach mit einem gemischten Gefühl von Bewunderung für seine außergewöhnliche Gewandtheit und von Furcht, er möchte den festen Grund unter den Füßen verlieren und in den trügerischen Morast hineingeraten. Plötzlich hörte ich Schritte und sah, als ich mich umdrehte, dicht vor mir auf dem Fußsteig eine weibliche Gestalt. Sie war aus der Richtung gekommen, in welcher, nach der Rauchsäule zu urteilen, Merripit House lag, aber die Bodenerhebung des Moores hatte sie meinen Blicken verborgen, bis sie ganz dicht bei mir war.
Ich konnte nicht daran zweifeln, daß ich Fräulein Stapleton, von der ich schon gehört hatte, vor mir sah; denn Damen mußten überhaupt sehr selten aus dem Moor sein, und ich erinnerte mich, daß von ihr als einer Schönheit gesprochen worden war. Eine Schönheit war die auf mich zukommende Frau ganz sicherlich, und zwar eine Schönheit ganz eigener Art. Man konnte sich keine größere Unähnlichkeit denken als zwischen diesem Geschwisterpaar; Stapleton hatte helles Haar und graue Augen, wie man’s jeden Tag sieht, sie dagegen war die dunkelste Brünette, die ich bis dahin in England gesehen hatte — schlank, groß, elegant. Ihr stolzes, feingeschnittenes Antlitz war so regelmäßig, daß man es hätte für ausdruckslos halten können, wären nicht die schönen Lippen und die lebhaften dunkeln Augen gewesen. Mit ihrer tadellosen Figur und eleganten Toilette war sie in der That eine eigenartige Erscheinung auf einem einsamen Moorfußpfad. Ihre Augen folgten ihrem Bruder, als ich mich umdrehte; dann beschleunigte sie ihren Schritt und kam auf mich zu. Ich hatte meinen Hut gelüftet und wollte einige erklärende Worte sagen, aber ihre Anrede lenkte alle meine Gedanken in eine neue Bahn.
»Reisen Sie ab!« sagte sie. »Reisen Sie augenblicklich wieder nach London!«
Ich starrte sie völlig verblüfft und sprachlos an. Ihre Augen blitzteu mich an, und sie stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf.
»Erklärungen kann ich nicht geben.«
Sie sprach schnell, mit tiefer Stimme, an der ein eigentümliches Lispeln mir auffiel.
»Um’sÂů Himmels willen, thun Sie doch,worum ich Sie bitte! Reisen Sie ab und setzen Sie niemals wieder Ihren Fuß auf das Moor!«
»Aber ich bin ja gerade erst angekommen!«
»Mann, Mann!« rief sie. »Können Sie nicht auf eine Warnung hören, die zu Ihrem eigenen Besten ist? Gehen Sie wieder nach London! Reisen Sie heute abend noch ab! Entfernen Sie sich unter allen Umständen von diesem Ort …Schscht! Da kommt mein Bruder. Lassen Sie von meiner Warnung kein Wort gegen ihn verlauten. Wollen Sie so freundlich sein, mir die Orchidee dort hinten zwischen den Schachtelhalmen zu pflücken? Wir sind hier auf dem Moor sehr reich an Orchideen; freilich sind Sie ein bißchen spät im Jahr gekommen, um noch alle Schönheiten unserer Gegend sehen zu können.«
Stapleton hatte die Jagd aufgegeben und kam mit heißen Wangen und schwerem Atem zu uns zurück.
»SiehÂů da, Beryl!« sagte er, und es kam mir vor, als klänge der Ton seiner Begrüßung nicht gerade sehr herzlich.
»Nun, Jack, du bist ja recht erhitzt!«
»Ja, ich war auf der Jagd hinter einem Cyclopides. Er ist sehr selten, besonders im Spätherbst. Schade, daß ich ihn nicht fangen konnte!«
Er sprach in gleichgültigem Ton, aber seine kleinen, hellen Augen wanderten dabei fortwährend zwischen dem Mädchen und mir hin und her.
Âů »Du hast dich selbst bekannt gemacht, wie ich sehe,« fuhr er fort.
»Ja. Ich sagte gerade zu Sir Henry, er sei ein bißchen spät gekommen, um die eigenartige Schönheit des Moors zu sehen.«
»Sir Henry? Für wen hältst du denn den Herrn hier?«
»Ich denke, er muß Sir Henry Baskerville sein.«
»Nein, nein!« rief ich. »Ich bin ein schlichter Bürgerlicher; aber ich bin sein Freund. Mein Name ist Dr. Watson.«
Eine Blutwelle des Aergers schoß über ihr ausdrucksvolles Gesicht, und sie sagte: »Unser Gespräch war also ein Mißverständnis.«
»Na, zu einem Gespräch hattest du nicht viel Zeit,« bemerkte ihr Bruder, wieder mit einem forschenden Blick.
»Ich sprach, als wäre Dr. Watson ein Bewohner unserer Gegend statt eines Besuchers,« sagte sie. »Ihm muß es ziemlich gleichgültig sein, ob die Jahreszeit früh oder spät für Orchideen ist…. Aber Sie kommen doch gewiß mit nach Merripit House?«
Es war nur noch ein kurzer Weg bis zu dem nüchtern aussehenden echten Moorlandhause, das früher der Gutshof eines wohlhabenden Viehzüchters gewesen, jetzt aber im Innern zu einem modernen Wohnhause umgebaut war. Ein Obstgarten umgab es, aber die Bäume waren verkümmert und verkrüppelt, und das Ganze machte einen ungemütlichen und melancholischen Eindruck. Der alte verschrumpfte Diener in schlechtsitzender Livree, der uns empfing, paßte zu seiner Umgebung.
Das Haus enthielt indessen geräumige Zimmer, die mit einer Eleganz eingerichtet waren, worin ich den Geschmack einer Dame zu erkennen glaubte. Ich warf durch das Fenster einen Blick auf das unendliche, mit Granitblöcken übersäete Moor, das sich ohne Unterbrechung bis zum fernen Horizont erstreckte, und ich mußte unwillkürlich bei mir denken: was kann denn nur einen feingebildeten Mann und ein schönes Mädchen veranlaßt haben, sich eine solche Gegend als Wohnort aufzusuchen?
»Nicht wahr, ein sonderbarer Wohnsitz?« fragte er, als habe er meine Gedanken gelesen. »Und trotzdem fühlen wir uns hier ganz hübsch glücklich — was, Beryl?«
»Sehr glücklich,« erwiderte sie; aber ihre Worte klangen nicht eben überzeugend.
»Ich hatte eine Schule,« fuhr Stapleton fort; »da oben im Norden. Die mechanische Arbeit war für einen Mann von meiner Geistesanlage nicht gerade interessant, aber ich empfand es doch als ein großes Glück, täglich mit dem jungen Volk zu verkehren, die Knabenseelen zu formen und sie mit meinen eigenen Idealen zu erfüllen. Leider war das Schicksal uns feindlich gesinnt. Eine gefährliche Epidemie brach in der Schule aus, und drei von den Knaben starben uns. Von diesem Schlage vermochte die Anstalt sich nicht wieder zu erholen, und der größte Teil meines Kapitals war unwiederbringlich verloren. Der Verlust des prächtigen Verkehrs mit meinen Jungen war mir sehr schmerzlich; aber davon abgesehen möchte ich mich über mein Mißgeschick beinahe freuen, denn ich finde hier ein unbegrenztes Arbeitsfeld für mein großes Interesse an Botanik und Zoologie, und meine Schwester liebt die Natur ebenso wie ich. Diese lange Rede, Herr Doktor Watson, hat sich nun über Ihrem Haupt entladen, weil sie mit so nachdenklicher Miene auf das Moor hinaussahen.«
»Es ging mir allerdings durch den Sinn, es möchte hier wohl ein bißchen langweilig sein — weniger vielleicht für Sie, als für Ihre Schwester.«
»O nein, ich langweile mich niemals!« rief sie schnell.
»Wir haben unsere Bücher, unsere Studien, und wir haben interessante Nachbarn. Dr. Mortimer ist in seinem Fach ein sehr gelehrter Herr. Der arme Sir Charles war ebenfalls ein prächtiger Gesellschafter. Wir kannten ihn gut und vermissen ihn mehr, als ich Ihnen sagen kann. Glauben Sie, daß ich ungelegen käme, wenn ich schon heute nachmittag nach Baskerville Hall ginge und Sir Henrys Bekanntschaft machte?«
»Gewiß nicht; er wird im Gegenteil sich sehr freuen.«
»Dann sind Sie vielleicht so gut, ihm zu sagen, daß ich die Absicht habe. Wir können vielleicht unser Teilchen dazu beitragen, ihm die Eingewöhnung in der neuen Umgebung zu erleichtern. Wollen Sie mit nach oben kommen, Herr Doktor, und sich meine Schmetterlingssammlung ansehen? Ich glaube, sie ist die vollständigste im südwestlichen England. Bis Sie damit fertig sind, wird das Essen wohl bereit sein.«
Aber es trieb mich, wieder zu Sir Henry zu kommen. Die Melancholie der Moorlandschaft, der Tod des armen Pferdes, der geisterhafte Ton, der am hellen Mittag die grausige Sage von dem Höllenhund wieder heraufbeschworen hatte — dies alles gab meinen Gedanken einen traurigen Anstrich. Dann war zu allen diesen mehr oder weniger unbestimmten Eindrücken Fräulein Stapletons deutliche und gar nicht mißzuverstehende Warnung gekommen; sie hatte mit so eindringlichem Ernst gesprochen, daß ohne Zweifel gewichtige Gründe dazu vorhanden waren. Ich lehnte deshalb trotz allem Drängen die Einladung zum Frühstück ab und machte mich sofort aus den Rückweg.
Ich ging den grasbewachsenen Fußsteig, auf welchem wir gekommen waren; es mußte aber doch wohl noch einen kürzeren Richtweg geben, der den Eingeweihten bekannt war; denn bevor ich die Landstraße wieder erreicht hatte, sah ich zu meinem Erstaunen Fräulein Stapleton aus einem großen Stein neben dem Fußweg sitzen. Ihr Gesicht war von eiligem Laufe gerötet, wodurch sie übrigens noch schöner erschien, und sie hielt ihre Hand aus das Herz gepreßt.
»Ich bin den ganzen Weg gelaufen, um Sie zu überholen, Herr Doktor,« sagte sie. »Ich hatte nicht mal so viel Zeit, um mir meinen Hut auszusetzen. Lange darf ich mich nicht aushalten, sonst würde mein Bruder meine Abwesenheit bemerken. Ich wollte Ihnen sagen, wie leid mir mein dummes Versehen thut, daß ich Sie für Sir Henry hielt. Bitte, vergessen Sie meine Worte, die sür Sie durchaus keine Bedeutung haben.«
»Aber ich kann sie nicht vergessen, Fräulein Stapleton!« antwortete ich. »Ich bin Sir Henrys Freund, und sein Wohlergehen liegt mir sehr am Herzen. Sagen Sie mir, warum Sie so dringend aus Sir Henrys Rückkehr nach London bestanden?«
»Eine ÂůWeiberlaune, Herr Doktor! Wenn Sie mich näher kennen, so werden Sie sehen, daß ich nicht immer imstande bin, für meine Worte oder Handlungen Gründe anzugeben.«
»Nein, nein! Der Ton Ihrer Stimme klingt mir noch in den Ohren! Ihr Blick steht mir noch vor Augen! Bitte, bitte, seien Sie offen gegen mich, Fräulein Stapleton; denn seit meiner Ankunft hier fühle ich mich von seltsamen Schatten umgeben. Das Leben kommt mir vor wie das große Grimpener Moor mit seinen unzähligen grünen Morastfleckchen, in die man versinken kann. Und nirgends ein Führer, um uns den Pfad zu weisen! Bitte, sagen Sie mir, was Ihre Worte bedeuteten und ich verspreche Ihnen, Ihre Warnung an Sir Henry zu bestellen.«
Ein Ausdruck von Unentschlossenheit glitt einen Augenblick über ihr Gesicht; aber ihre Augen hatten bereits wieder ihren harten kalten Glanz gewonnen, als sie mir antwortete:
»Sie legen meinen Worten eine zu große Bedeutung bei, Herr Doktor. Meinem Bruder und mir ging Sir Charles’ Tod sehr nahe. Wir hatten sehr vertrauten Umgang mit ihm, denn sein Lieblingsweg führte ihn über das Moor nach unserem Hause. Er fühlte sehr tief den Fluch, der über seinem Geschlechte hing; als dann sein tragisches Ende kam, da hatte ich den ganz natürlichen Eindruck, seine oftmals geäußerten Befürchtungen könnten nicht ganz unbegründet gewesen sein. Es machte mir daher Angst, daß wiederum ein Angehöriger seines Geschlechtes hier wohnen wollte, und ich hatte das Gefühl, ich müßte ihn vor der ihm drohenden Gefahr warnen. Weiter beabsichtigten meine Worte nichts.«
»Aber worin besteht die Gefahr?«
»Sie kennen die Geschichte von dem Hund?«
»An solchen Unsinn glaube ich nicht!«
»Aber ich! Wenn Sie irgendwelchen Einfluß aus Sir Henry haben, so bringen Sie ihn weg von einem Ort, der seinem Geschlecht stets verhängnisvoll gewesen ist. Die Welt ist groß. Warum soll er denn gerade an einem so gefährlichen Orte leben wollen?«
»Eben weil der Ort gefährlich ist. Das ist Sir Henrys Natur. Ich befürchte, wenn Sie mir keine bebestimmtere Auskunft geben, so werde ich ihn keinesfalls zum Fortgehen bewegen können.«
»Irgend etwas Bestimmtes kann ich nicht sagen, denn ich weiß nichts.«
»Ich möchte an Sie noch eine Frage richten, Fräulein Stapleton. Wenn Sie mit Ihren ersten Worten, die Sie zu mir sagten, nur eine so unbestimmte Warnung beabsichtigten, warum waren Sie denn so ängstlich besorgt, Ihrem Bruder nichts davon hören zu lassen? Es liegt in ihnen nichts, wogegen er oder sonst ein Mensch etwas einwenden könnte.«
»Meinem Bruder liegt viel daran, daß Baskerville Hall bewohnt ist; er glaubt, das sei zum Vorteil unserer armen Moorleute. Er würde sehr ärgerlich sein, wenn er wüßte, daß ich irgend etwas sagte, was Sir Henry zum Fortgehen veranlassen könnte…. Aber ich habe jetzt meine Pflicht gethan und will nichts mehr sagen. Ich muß jetzt nach Hause; sonst merkt er, daß ich fort war und wird mich im Verdacht haben, daß ich mit Ihnen gesprochen habe. Leben Sie wohl!«
Sie drehte sich um und war in wenigen Minuten hinter den Granitblöcken verschwunden. Ich dagegen setzte meinen Weg nach Baskerville Hall fort, das Herz von unbestimmten Befürchtungen erfüllt.
8
Von jetzt an will ich dem Gang der Ereignisse an der Hand meiner an Sherlock Holmes gerichteten Briefe folgen. Sie liegen vor mir auf meinem Schreibtisch. Ein Blatt fehlt; sonst aber teile ich sie genau so mit, wie sie geschrieben wurden, denn sie geben meine wechselnden Gefühle und Verdachtsgründe getreuer wieder, als es meinem Gedächtnis möglich wäre, obwohl auch dieses die tragischen Ereignisse klar und deutlich aufbewahrt hat:
Baskerville Hall, den 13. Oktober.
Mein lieber Holmes,
meine bisherigen Briefe und Depeschen haben Dich so ziemlich auf dem Laufenden erhalten, und Du weißt wohl alles, was in diesem höchst gottverlassenen Erdenwinkel vorgeht. Je länger man hier bleibt, desto tiefer drückt sich der Geist des Moors der Seele ein, seine Oede und auch sein schauriger Reiz. Hat man sich ihm einmal zu eigen gegeben, so ist man vom modernen England völlig abgeschnitten; dafür lernt man aber die Wohnstätten und den Tageslauf des vorgeschichtlichen Menschen um so genauer kennen. Wohin man geht, überall stößt man auf die Häuser dieses längstverschollenen Volkes, auf ihre Gräber und die großen Steinblöcke, die man für die Markstätten ihrer Tempel hält. Sieht man ihre grauen Steinhütten an den Hügelabhängen, so vergißt man die Zeit, worin man selber lebt; und käme aus der niederen Thür ein fellbehangener, behaarter Mann herausgekrochen, der seinen Pfeil mit Flintsteinspitze auf die Bogensehne legte — seine Anwesenheit würde einem ganz natürlich vorkommen. Das Sonderbarste ist die Frage, wie sie so dichtgedrängt auf einem Boden haben leben können, der zu allen Zeiten höchst unfruchtbar gewesen sein muß. Ich bin kein Altertumsforscher, aber ich möchte glauben, sie waren ein unkriegerisches, von vielen Feinden geplagtes Volk, das wohl oder übel mit dem zufrieden sein mußte, was kein anderer begehrte.
Doch dies alles hat mit der mir von Dir übertragenen Sendung nichts zu thun und wird wahrscheinlich Deinem streng aufs Praktische gerichteten Geiste sehr wenig interessant vorkommen. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie völlig gleichgültig es Dir war, ob die Sonne sich um die Erde, oder ob die Erde sich um die Sonne bewegt. Ich will mich also wieder den mit Sir Henry Baskerville in Verbindung stehenden Thatsachen zuwenden. Daß Du in den letzten Tagen keinen Bericht erhieltest, erklärt sich daraus, daß nichts von Bedeutung zu melden war. Dann aber trat ein ganz überraschender Umstand ein, mit welchem ich Dich im Verlauf meiner Darstellung bekannt machen werde. Vor allen Dingen aber muß ich Dich mit einigen anderen Momenten in Fühlung bringen. Eines von diesen ist die von mir bisher nur flüchtig erwähnte Entweichung des Zuchthäuslers von Princetown. Er hatte das Moor erreicht; jetzt ist aber mit gutem Grunde anzunehmen, daß er die Gegend gänzlich verlassen hat, was für die einsam wohnenden Landleute dieser Gegend eine froh empfundene Erleichterung von schwerer Sorge ist. Seit seiner Flucht sind zwei Wochen vergangen, und während dieser ganzen Zeit hat man von ihm weder etwas gesehen noch gehört. Daß er diese vierzehn Tage über sich auf dem Moor habe halten können, erscheint ausgeschlossen. Verbergen hätte er sich natürlich mit der größten Leichtigkeit können. Jede beliebige Steinhütte von dem prähistorischen Volk könnte ihm als Versteck dienen. Aber er würde nichts zu essen finden, wenn er nicht etwa ein Moorschaf finge und schlachtete. Wir glauben daher, daß er fort ist, und die Pächter am Moorrand schlafen jetzt wieder viel besser.
Wir im Schloß sind vier rüstige Männer, könnten uns also eines Angriffes leicht erwehren; aber ich gestehe, daß ich mir um die Stapletons Unruhe und Sorge gemacht habe. Sie wohnen meilenweit von jeder menschlichen Hilfe entfernt. In ihrem Hause sind ein Dienstmädchen, der alte Diener, die Schwester und der Bruder, und dieser letztere ist kein sehr kräftiger Mann. Sie wären widerstandsunfähig, sobald ein verzweifelter Bursche, wie der Mörder von Notting Hill, in ihr Haus eingedrungen wäre. Sir Henry begriff ebenso gut die Gefährlichkeit ihrer Lage und schlug ihnen vor, den Stallknecht Perkins zu ihnen zu schicken, um in Merripit House zu schlafen, aber Stapleton wollte nichts davon wissen.
Es läßt sich nicht leugnen, daß unser Freund, der Baronet, ein bedeutendes Interesse an unserer schönen Nachbarin zu zeigen beginnt. Das ist auch kein Wunder, denn einem so sehr an Thätigkeit gewöhnten Mann, wie Sir Henry, muß hier wohl die Zeit lang werden, und sie ist ein bezaubernd schönes Weib. Sie hat etwas Tropisches, Exotisches an sich, was in eigenartiger Weise von dem kühlen und verstandesmäßigen Wesen ihres Bruders absticht. Doch muß ich manchmal denken, daß auch in ihm verborgenes Feuer glüht. Ganz gewiß übt er auf sie einen sehr bedeutenden Einfluß aus, denn ich habe bemerkt, daß sie beim Sprechen fortwährend nach ihm hinsieht, als wollte sie bei jedem Wort, das sie sagt, sich seines Einverständnisses versichern. Ich will hoffen, daß er sie freundlich behandelt. In seinen Augen liegt ein kalter Glanz, und um seine dünnen Lippen zeigt sich ein fester Zug; beides läßt auf einen bestimmten und möglicherweise etwas herben Charakter schließen. Du würdest ihn mit Interesse näher studieren.
Schon am ersten Tage machte er Sir Henry seinen Besuch, und gleich am anderen Morgen nahm er uns mit nach der Stelle, wo der Sage nach der verruchte Hugo seinen Tod fand. Der Ort liegt ein paar Meilen jenseits des Moors und macht einen so traurigen Eindruck auf das Gemüt, daß man das Entstehen der Sage sehr wohl begreift. Zwischen schroffen Felsen führt ein kurzes Thal auf einen offenen grasbewachsenen Raum, in dessen Mitte zwei große Steine mit scharfen Spitzen wie die riesigen Fangzähne eines ungeheuren Raubtiers aus dem Boden emporragen. Der Platz entspricht in jeder Beziehung der Szene der alten Tragödie, wie die Sage sie überliefert hat. Sir Henry fragte Stapleton mehr als einmal, ob er wirklich an die Möglichkeit glaube, daß übernatürliche Mächte sich in die Geschicke sterblicher Menschen einmischen könnten. Er sagte das in scherzendem Ton, aber es war leicht zu merken, daß er die Sache vollkommen ernst meinte. Stapleton war in seinen Antworten vorsichtig; er sagte offenbar nicht alles, was er dachte, und hielt mit seiner wahren Meinung aus Rücksicht auf die Gefühle des Baronets zurück. Er erzählte von ähnlichen Fällen, wobei Familien unter solchen Verfolgungen zu leiden gehabt hätten, und wir hatten den Eindruck, daß er den Volksglauben in diesem Falle vollkommen teile.
Auf dem Rückwege kehrten wir zum Frühstück in Merripit House ein, und hier machte Sir Henry Fräulein Stapletons Bekanntschaft Vom ersten Augenblick an schien er sich stark zu ihr hingezogen zu fühlen, und ich müßte mich sehr irren, wenn das Gefühl nicht gegenseitig ist. Auf dem Heimweg fing er immer wieder an, von ihr zu sprechen, und seitdem ist kaum ein Tag vergangen, an dem wir das Geschwisterpaar nicht gesehen haben. Heute abend speisen sie hier, und es ist davon die Rede, daß wir nächste Woche zu ihnen eingeladen werden sollen. Man sollte denken, eine solche Partie müßte Stapleton sehr willkommen sein, indessen habe ich mehr a!s einmal auf seinem Gesicht einen Ausdruck schärfster Mißbilligung gelesen, wenn Sir Henry seiner Schwester irgend ein Kompliment machte. Stapleton ist ihr freilich ohne allen Zweifel sehr zugethan und sein Leben würde ja sehr einsam werden, wenn sie von ihm ginge, aber es wäre doch der Gipfel der Selbstsucht, wenn er ihr bei einer so überaus glänzenden Heirat Hindernisse in den Weg legen wollte. Aber so viel steht für mich fest: er wünscht nicht, daß ihr vertrauter Verkehr sich zu Liebe entwickelt, und ich habe verschiedene Male bemerkt, daß er sich bemühte, ein Zusammensein unter vier Augen zu verhindern. Nebenbei bemerkt, wird Deine Weisung, ich dürfte Sir Henry niemals allein ausgehen lassen, noch viel lästiger werden, wenn zu unseren anderen Schwierigkeiten auch noch eine Liebesgeschichte hinzukäme. Meine Beliebtheit würde sehr bald ins Wanken geraten, wenn ich Deine Vorschriften in diesem Punkte buchstäblich ausführte.
Neulich — um den Tag ganz genau zu bezeichnen: am Donnerstag — frühstückte Dr. Mortimer bei uns. Er hat in Long Down einen Grabhügel untersucht und einen prähistorischen Schädel gefunden, der ihn mit großer Freude erfüllt. Er ist ein ganz einzig dastehender Enthusiast! Nach dem Essen kamen auch die Stapletons, und der gute Doktor führte uns alle nach der Taxusallee, um uns auf Sir Henrys Bitten genau zu erklären, wie der Vorgang in der verhängnisvollen Nacht sich abspielte.
Die Taxusallee ist ein langer öder Weg zwischen zwei hohen geschorenen Wänden; ein schmaler Grasstreifen befindet sich an jeder Seite. Ungefähr auf halbem Wege ist die Moorpforte, wo der alte Herr seine Cigarrenasche abgestreift hatte. Es ist eine weiße Lattenthür, die mit einem Riegel verschlossen ist. Dahinter erstreckt sich das weite Moor. Ich erinnerte mich der von Dir aufgestellten Mutmaßung über den Hergang und versuchte mir ein Bild davon zu machen. Als der alte Herr an der Pforte stand, sah er irgend etwas über das Moor kommen, irgend ein Etwas, das ihn so in Schrecken setzte, daß er die Besinnung verlor und rannte und rannte, bis er vor reiner Angst und Erschöpfung tot hinfiel. Was verfolgte ihn? Ein Schäferhund vom Moor? Oder ein schwarzer, schweigender, ungeheurer Gespensterhund? Waren Menschenhände dabei im Spiel? Wußte der wachsame blasse Barrymore mehr als er sagen wollte? Alles ist schwankend und unbestimmt, aber überall steht der dunkle Schatten eines Verbrechens hinter diesem Rätsel.
Seitdem ich meinen letzten Brief schrieb, habe ich noch einen anderen Nachbarn kennen gelernt: Herrn Frankland von Laster Hall, vier Meilen von uns in südlicher Richtung gelegen. Er ist ein älterer Herr mit rotem Gesicht, weißem Haar und höchst cholerischer Gemütsanlage. Seine Leidenschaft ist das britische Recht, und er hat ein bedeutendes Vermögen in Prozessen draufgehen lassen. Er kämpft aus reiner Lust am Kampf und ist stets bereit, die eine oder die andere Seite eines Rechtsstreites zu seiner Sache zu machen; kein Wunder daher, daß er sein Vergnügen als recht kostspielig befunden hat. Zuweilen erläßt er ein Verbot, irgend einen Weg zu benutzen; dann muß die Gemeinde erst einen Prozeß führen, um die Oeffnung desselben durchzusetzen. Dann wieder reißt er eigenhändig irgend ein anderen Leuten gehörendes Thorgatter nieder und behauptet, es habe seit undenklichen Zeiten an der betreffenden Stelle ein freier Weg existiert. Dann muß der Eigentümer ebenfalls erst einen Prozeß führen, um ihn zur Buße zu ziehen.
Er besitzt bedeutende Kenntnisse von alten Rechten der verschiedenen Gemeinden und Gutsherrschaften und verwendet diese Kenntnisse zuweilen zu Gunsten der Einwohner von Fernworthy, zuweilen aber auch gegen sie. Gegenwärtig soll er sieben Prozesse schweben haben, die wahrscheinlich den Rest seines Vermögens verschlingen werden; dann wird ihm der Stachel genommen und er in Zukunft ein harmloser alter Herr sein. Abgesehen von seiner Prozeßsucht macht er den Eindruck eines freundlichen und gutmütigen Menschen, und ich erwähne ihn nur, weil Du mir besonders einschärftest, ich sollte die Personen unserer Umgebung genauer beschreiben.
Gegenwärtig hat er eine sonderbare Beschäftigung: er ist Amateur-Sterngucker und besitzt in dieser Eigenschaft ein ausgezeichnetes Fernrohr. Mit diesem liegt er nun den ganzen Tag auf dem Dach seines Hauses und sieht auf das Moor hinaus in der Hoffnung, den entsprungenen Zuchthäusler zu entdecken. Wollte er seine Thatkraft hierauf beschränken, so wäre alles schön und gut, aber wie das Gerücht wissen will, beabsichtigt er dem Dr. Mortimer wegen seiner Ausgrabung des vorgeschichtlichen Schädels in Long Down einen Prozeß anzuhängen, weil er ohne Einwilligung des nächsten Anverwandten ein Grab geöffnet habe! Herr Frankland bringt ein bißchen Abwechselung in unser gar zu
eintöniges Leben hier und sorgt für etwas Komik, die wir hier wirklich recht nötig haben.
Und nun, nachdem ich Dir über den entsprungenen Sträfling, über die Stapletons, Dr. Mortimer und Herrn Frankland von Lafter Hall alles mir Bekannte mitgeteilt habe, will ich mich zum Schluß dem wichtigsten Teil meines Berichtes zuwenden und Dir einiges Neue über die Barrymores melden, besonders eine überraschende Wendung, die die vorige Nacht gebracht hat.
Zunächst noch einiges über das Telegramm, das Du von London aus sandtest, um Gewißheit zu erlangen, ob Barrymore in Wirklichkeit hier anwesend wäre oder nicht. Wie ich bereits auseinandersetzte, geht aus dem Zeugnis des Postmeisters von Grimpen hervor, daß in keiner Weise ein gültiger Beweis für den einen oder für den anderen Fall erbracht worden ist. Ich sagte Sir Henry, wie die Sache stände, und in seiner geraden offenen Art ließ er sofort Barrymore rufen und fragte ihn, ob er das Telegramm selber in Empfang genommen hätte. Der Kammerdiener bejahte die Frage.
»Lieferte der Junge es zu Ihren eigenen Händen ab?« fragte der Baronet weiter.
Barrymore machte ein überraschtes Gesicht, dachte eine kleine Weile nach und sagte dann:
»Nein; ich war in dem Augenblick gerade auf dem Boden und meine Frau brachte es mir herauf.«
»Beantworteten Sie es selber?«
»Nein, ich sagte meiner Frau, was zu antworten sei, und sie ging hinunter, um es aufzuschreiben.«
Am Abend kam Barrymore von selber auf den Gegenstand zurück, indem er sagte:
»Ich konnte nicht recht verstehen, welche Absicht Ihre Fragen von heute früh verfolgten, Sir Henry. Es war damit doch gewiß nicht bezweckt, mir eine Täuschung Ihres Vertrauens zur Last zu legen?«
Sir Henry mußte ihm versichern, dies sei nicht der Fall und gab ihm schließlich, um ihn nur wieder zu beruhigen, einen beträchtlichen Teil seiner alten Sachen; die in London bestellte neue Ausrüstung ist nämlich jetzt eingetroffen.
Frau Barrymore interessiert mich. Sie ist eine derbe, grobschlächtige Person, sehr beschränkt, durch und durch ehrenwert und mit einer Neigung zum Puritanischen. Rührselig ist sie sicherlich nicht im geringsten. Und doch hörte ich sie in der ersten Nacht meines Hierseins schluchzen, wie ich Dir bereits schrieb, und seitdem habe ich mehr als einmal aus ihrem Gesicht die Spuren von Thränen bemerkt. Irgend ein tiefer Kummer nagt ihr am Herzen. Manchmal frage ich mich, ob vielleicht ein schuldbeladenes Gewissen sie quält, manchmal habe ich Barrymore im Verdacht, ein Haustyrann zu sein. Von Anfang an hatte ich das Gefühl, daß sein Charakter seltsam und fragwürdig sei, aber mein Erlebnis von voriger Nacht giebt meinem Verdacht eine bestimmte Richtung — obgleich es Dir vielleicht an und für sich unbedeutend vorkommen wird.
Wie du weißt, habe ich keinen sehr festen Schlaf, und seitdem ich hier auf meinem Beobachtungsposten bin, ist mein Schlummer leiser denn je. Heute nacht — es war gegen zwei Uhr morgens — weckte mich das Geräusch verstohlener Schritte auf dem Korridor. Ich stand auf, öffnete meine Thür und lugte hinaus. Ein langer schwarzer Schatten schwebte den Gang entlang. Es war ein Mann, der mit einer Kerze in der Hand behutsam den Korridor hinunterging. Er war in Hemd und Hosen und barfüßig; ich konnte nur die Umrisse seiner Gestalt sehen, merkte aber an der Größe, daß es Barrymore war. Er ging sehr langsam und vorsichtig und seine ganze Erscheinung hatte etwas unbeschreiblich Scheues und Schuldbewußtes an sich.
Wie ich Dir bereits schrieb, wird der Korridor von dem rund um die große Halle laufenden Balkon unterbrochen, hat aber eine Fortsetzung jenseits desselben. Ich wartete, bis Barrymore verschwunden war und ging ihm dann nach. Als ich am Balkon vorbei war, hatte er bereits das andere Ende des Korridors erreicht und war, wie ich an einem aus einer offenen Thür herausfallenden Lichtscheine sehen konnte, in eines der Zimmer eingetreten. Da nun alle diese Räume unbewohnt und unmöbliert sind, so wurde sein Vorhaben immer rätselhafter für mich. Der Lichtschein blieb immer auf einer Stelle, woraus man schließen konnte, daß Barrymore still stand. Ich schlich mich so geräuschlos wie möglich den Gang entlang und sah in das Zimmer hinein.
Barrymore hockte am Fenster und hielt sein Licht an die Scheibe. Sein Profil war mir halb zugewandt und sein Gesicht war starr gespannt; er spähte in die auf dem Moor liegende Finsternis hinaus. Mehrere Minuten lang wartete er; dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und löschte das Licht. Sofort ging ich nach meinem Zimmer zurück, und ganz wenige Augenblicke darauf kamen wieder die verstohlenen Schritte an meiner Thür vorbei.
Lange Zeit nachher, als ich in einen leichten Schlummer gefallen war, hörte ich einen Schlüssel sich in einem Schloß drehen, konnte aber nicht feststellen, aus welcher Richtung der Laut kam.
Was dies alles bedeutet, davon kann ich mir keine Vorstellung machen, aber soviel ist sicher: etwas Geheimnisvolles geht in diesem Hause vor, und früher oder später werden wir dahinter kommen. Ich will Dich nicht mit Theorien behelligen, denn Du batest mich ja, bloß Thatsachen mitzuteilen. Ich habe heute früh ein langes Gespräch mit Sir Henry gehabt, und wir haben auf Grund meiner in der vorigen Nacht gemachten Beobachtungen einen Feldzugsplan entworfen. Ich will heute nichts mehr darüber sagen, um nicht das meinem nächsten Bericht zukommende Interesse vorwegzunehmen. Âů
9
(Zweiter Bericht des Doktor Watson.)Âů
Baskerville Hall, den 15. Oktober.
Mein lieber Holmes!
Wenn ich in den ersten Tagen meiner hiesigen Thätigkeit genötigt war, Dich mit recht spärlichen Nachrichten abzuspeisen, so mußt Du zugeben, daß ich das Versäumte jetzt nachhole, denn die Ereignisse drängen und jagen jetzt einander. Der Höhepunkt meines letzten Berichtes war dies Ueberraschung Barrymores am Fenster; und heute habe ich wieder einen ganzen Vorrat an Neuigkeiten, von denen ich annehmen darf, daß sie Dir nicht wenig überraschend kommen werden. Die Ereignisse haben eine Wendung genommen, die sich gar nicht vorhersehen ließ. Die Verhältnisse sind in den letzten achtundvierzig Stunden in mancher Beziehung viel klarer, in mancher Beziehung aber auch viel verworrener geworden. Aber ich will Dir das Ganze berichten, und Du kannst dann selber urteilen.
Ehe ich mich am anderen Morgen zum Frühstück begab, ging ich in den Korridor hinunter und untersuchte das Zimmer, worin Barrymore die Nacht vorher gewesen war. Das Fenster in der Westwand, durch welches er mit so gespannter Aufmerksamkeit in die Nacht hinausgespäht hatte, zeichnet sich, wie ich sofort bemerkte, vor allen anderen Fenstern des Gebäudes durch eine ganz besondere Eigentümlichkeit aus: Man hat von dort einen vollkommenen Ueberblick über das Moor. Durch eine Lücke zwischen zwei Bäumen sieht man es ganz nahe und deutlich vor sich liegen, während man von den anderen Fenstern aus nur entferntere Partien des Moors in verschwommenen Umrissen sieht. Da also nur dies eine Fenster die erwähnte Eigenschaft aufweist, so folgt daraus, daß Barrymore irgend wen oder irgend was aus dem Moor suchte. Die Nacht war sehr finster, ich kann mir daher kaum vorstellen, wie er hoffen konnte, jemanden in der Dunkelheit zu sehen. Mir war der Gedanke gekommen, es könnte sich möglicherweise um irgend eine Liebesintrigue handeln. Das hätte sein heimliches Umherschleichen und zugleich auch die niedergedrückte Stimmung seiner Frau erklärt. Der Mann ist ein ausfallend hübscher Bursche, von dem man sich wohl denken kann, daß er einem Landmädel das Herz zu stehlen vermag; die Annahme erschien daher nicht ganz unbegründet. Das Oeffnen der Thür, das ich später im Halbschlummer gehört hatte, ließ sich damit erklären, daß er zu einem heimlichen Stelldichein ins Freie gegangen war. Mit diesem Gedanken beschäftigte ich mich den Morgen über, und ich wollte Dir meinen Verdacht doch jedenfalls mitteilen, wenngleich der Lauf der Ereignisse wohl dargethan haben dürfte, daß derselbe unbegründet war.
Aber mochte nun Barrymores nächtliches Herumwandern hiermit oder aus eine andere Weise zu erklären sein — ich fühlte, daß die Verantwortlichkeit, das Rätsel so lange für mich allein zu behalten, bis ich selber die Lösung gesunden, zu schwer aus mir lasten würde. Ich suchte also nach dem Frühstück den Baronet in seinem Arbeitszimmer auf und teilte ihm alles mit, was ich gesehen hatte. Er war weniger überrascht, als ich es erwartet hatte.
»Ich wußte bereits,« sagte er, »daß Barrymore nächtlicherweile herumgeht und hatte die Absicht, mit ihm darüber zu sprechen. Zwei- oder dreimal habe ich, gerade um die von Ihnen genannte Stunde, seine Schritte im Korridor kommen und gehen hören.«
»Dann macht er also vielleicht jede Nacht den Gang zu jenem Fenster?«
»Kann sein. Wenn es der Fall wäre, so könnten wir ihm ja heimlich nachgehen und sehen, was er dort treibt. Was würde wohl Ihr Freund Holmes thun, wenn er hier wäre?«
»Vermutlich genau dasselbe, was Sie soeben anregten,« antwortete ich. »Er würde Barrymore nachgehen und mit eigenen Augen sehen, was er macht.«
»Dann wollen wir zusammen gehen!«
»Aber er würde uns ganz gewiß hören!«
»Der Mann ist ziemlich schwerhörig — aber einerlei, wir müssen es darauf ankommen lassen. Wir wollen heute nacht aufbleiben und in meinem Zimmer warten, bis er vorbeikommt.«
Sir Henry rieb sich vergnügt die Hände; augenscheinlich begrüßte er das Abenteuer als eine Abwechselung in seinem so ruhigen Leben auf dem Moor.
Der Baronet hat sich mit dem Baumeister, der für Sir Charles die Pläne entworfen hatte, und auch mit einem Londoner Bauunternehmer in Verbindung gesetzt; wir können daher erwarten, daß hier in kurzer Zeit große Veränderungen platzgreifen. Möbellieferanten und Tapezierer waren von Plymouth hier, und es geht aus allem hervor, daß unser Freund sich mit großen Plänen trägt, und weder Geld noch Mühe zu sparen gedenkt, um den alten Glanz seiner Familie wiederherzustellen. Wenn das Haus umgebaut und neu eingerichtet ist, fehlt bloß noch eine Frau, um es vollständig zu machen. Unter uns gesagt: es geht aus recht deutlichen Anzeichen hervor, daß es daran nicht fehlen wird, wenn nur die Dame will, denn ich habe selten jemand so verliebt gesehen, wie er’s in unsere schöne Nachbarin, Fräulein Stapleton ist. Es geht jedoch mit dieser Liebe nicht so sacht und eben, wie man’s den Umständen nach erwarten sollte. Heute zum Beispiel kam ganz unerwartet etwas in die Quere, was unseren Freund sehr überrascht und geärgert hat.
Nach der soeben geschilderten Unterhaltung betreffs Barrymores setzte Sir Henry seinen Hut auf und machte sich zum Ausgehen fertig. Natürlich that ich dasselbe.
»Was, gehen Sie auch aus, Watson?« fragte er, indem er mich ganz sonderbar ansah.
»Das kommt darauf an, ob Sie aufs Moor hinausgehen,« antwortete ich.
»Jawohl, das thue ich.«
»Nun, Sie wissen, was für Vorschriften ich habe. Es thut mir leid, mich aufzudrängen, aber Sie hörten ja selbst, wie ernstlich Holmes darauf bestand, daßÂů ich Ihnen nicht von der Seite gehen, und besonders, daß ich Sie nicht allein aufs Moor hinauslassen dürfte.«
Sir Henry legte mit einem freundlichen Lächeln seine Hand auf meine Schulter und sagte:
»Mein lieber Junge, Holmes hat in aller seiner Weisheit gewisse Dinge nicht vorausgesehen, die sich während meines Aufenthaltes hier auf dem Moor zugetragen haben. Sie verstehen mich! Ich bin gewiß, Sie sind der letzte, der den Spielverderber machen möchte. Ich muß allein gehen.«
Das brachte mich in eine höchst unangenehme Lage. Ich wußte nicht, was ich sagen oder machen sollte, und bevor ich mit mir selbst im reinen war, hatte er seinen Stock aus der Ecke genommen und war gegangen.
Als ich mir dann aber die Sache recht überdachte, machte ich mir in meinem Gewissen die bittersten Vorwürfe, daß ich ihn unter irgend welchem Vorwande aus den Augen gelassen hatte. Ich malte mir aus, mit welchen Gefühlen ich Dir vor Augen treten würde, wenn ich bekennen mußte, es hätte sich durch meine Vernachlässigung Deiner Vorschriften irgend ein Unglück zugetragen. Ich kann Dir sagen, bei dem bloßen Gedanken errötete ich! Dann fiel mir ein, es könnte vielleicht noch nicht zu spät sein, ihn einzuholen; ich machte mich daher unverzüglich in der Richtung nach Merripit House auf den Weg.
So schnell ich laufen konnte, eilte ich die Straße entlang, konnte aber von Sir Henry nichts entdecken, bis ich an die Stelle kam, wo der Fußweg über das Moor sich abzweigt. In der Befürchtung, ich wäre vielleicht überhaupt auf ganz falschem Wege, erstieg ich einen Hügel, von welchem aus ich eine weite Aussicht haben mußte. Wirklich sah ich ihn sofort. Er ging ungefähr eine Viertelmeile entfernt auf dem Moorwege, und an seiner Seite befand sich eine Dame, die nur Fräulein Stapleton sein konnte. Offenbar herrschte bereits ein Einverständnis zwischen ihnen; sie mußten sich aus Verabredung getroffen haben. In ihr Gespräch vertieft, gingen sie langsam auf dem Fußpfade weiter. Oft machte sie rasche, kleine Handbewegungem wie wenn sie etwas mit besonderem Nachdruck sagte; er hingegen hörte sie mit gespannter Aufmerksamkeit an und schüttelte ein paarmal in energischer Verneinung den Kopf. Hinter einem Felsblock verborgen, beobachtete ich sie mit größter Aufmerksamkeit; ich war ganz ratlos, was ich weiter thun sollte. Wäre ich ihnen nachgegangen und hätte mich in ihre vertrauliche Unterhaltung eingemischt, so wäre das eine beleidigende Taktlosigkeit gewesen; dabei aber schrieb mir meine Pflicht klar und deutlich vor, ihn keinen Augenblick aus dem Gesicht zu verlieren. Einen Freund auszuspionieren, war eine erbärmliche Aufgabe. Ich fand jedoch keinen anderen Ausweg, als ihn von meinem Hügel aus zu beobachten und hinterher ihm dies einzugestehen und dadurch mein Gewissen zu reinigen. Wäre er von einer plötzlichen Gefahr bedroht worden, dann war ich freilich zu weit entfernt, um ihm von Nutzen sein zu können; Du wirst mir aber gewiß zugeben, daß ich in schwieriger Lage, und daß eine andere Handlungsweise für mich nicht möglich war.
Unser Freund Sir Henry und die Dame waren stehen geblieben und hatten augenscheinlich über ihrem Gespräch die ganze Außenwelt vergessen; plötzlich bemerkte ich, daß ich nicht der einzige Zeuge ihrer Zusammenkunft war. Es flatterte irgend etwas Grünes in der Luft und als ich näher hinsah, bemerkte ich, daß dieses Grüne an einem Stock befestigt war, und daß diesen Stock ein Mann trug, der sich schnell über den Moorgrund bewegte. Es war Stapleton mit seinem Schmetterlingsnetz.
Er war viel näher bei dem Paar als ich und ging augenscheinlich geraden Weges auf die beiden jungen Leute zu. In diesem Augenblick zog plötzlich Sir Henry Fräulein Stapleton an sich. Sein Arm hielt sie
umschlungen, aber es kam mir vor, als suchte sie sich mit abgewandtem Antlitz von ihm loszumachen. Er beugte sein Gesicht zu dem ihrigen herunter, und sie hob die eine Hand auf, wie wenn sie ihm wehren wollte. Unmittelbar darauf sah ich sie auseinanderfahren und sich schnell umdrehen. Stableton war der Störenfried. Er sprang in wilden Sätzen auf sie zu, wobei sein Schmetterlingsnetz in lächerlicher Weise hinter ihm in der Luft flatterte. Die Bedeutung des ganzen Vorganges konnte ich mir nicht erklären, aber mir kam es vor, als ob Stapleton Sir Henry heftige Vorwürfe machte. Dieser gab, wie es schien, Erklärungen ab und wurde dann auch ärgerlich, als der andere davon nichts hören wollte. Die Dame stand in stolzem Schweigen dabei.
Zuletzt drehte Stapleton sich kurz um und winkte mit gebieterischer Gebärde seiner Schwester; diese warf noch einen unentschlossenen Blick auf Sir Henry und entfernte sich dann an der Seite ihres Bruders. An den ärgerlichen Gestikulationen des Naturforschers ließ sich erkennen, daß er auch mit seiner Schwester unzufrieden war. Der Baronet sah ihnen etwa eine Minute lang nach, dann ging er gesenkten Hauptes langsam den Weg zurück, den er gekommen war; offenbar war er in tiefer Niedergeschlagenheit.
Die Bedeutung des Vorfalls war mir, wie gesagt, unklar, aber ich schämte mich aufs tiefste, ohne Wissen meines Freundes einem nicht für Zeugen bestimmten Austritt beigewohnt zu haben. Ich eilte daher den Hügel hinunter und traf unten mit dem Baronet zusammen. Sein Gesicht war vor Aerger gerötet und seine Augenbrauen waren in scharfem Nachdenken zusammengezogen, als wüßte er nicht, welchen Entschluß er fassen sollte.
»Hallo, Watson!« rief er, als er mich bemerkte. »Wo kommen Sie denn hergeschneit? Sie sind mir doch nicht etwa trotz alledem nachgegangen?«
Ich gab ihm eine offene Erklärung, daß es mir unmöglich gewesen wäre, zurückzubleiben, daß ich ihm deshalb gefolgt wäre und den ganzen Vorfall mit angesehen hätte. Zuerst sah er mich mit funkelnden Augen an, aber meine Freimütigkeit entwaffnete seinen Zorn, und zuletzt brach er in ein allerdings ziemlich trauriges Lachen aus und sagte:
»Man hätte doch denken sollen, daß mitten auf dieser Ebene jemand ungestört seinen Privatangelegenheiten nachgehen könnte; aber, zum Donnerwetter, die ganze Nachbarschaft scheint sich auf die Beine gemacht zu haben, um sich meine Liebeswerbung anzusehen — freilich, eine recht klägliche Liebeswerbung. Welchen Platz hatten Sie denn, Doktor?«
»Ich war da oben aus dem Hügel.«
»Also Stehplatz ganz hinten. Dafür aber war ihr Bruder ganz vorn, sozusagen Orchesterfauteuil. Sahen Sie ihn auf uns loskommen?«
»Ja.«
»Machte er je auf Sie den Eindruck, daß er verrückt ist — ich meine ihren Bruder?«
»Das kann ich nicht von ihm sagen«
»Ich auch nicht. Ich hielt ihn bis heute für vollkommen vernünftig, aber glauben Sie mir, entweder er oder ich gehören in eine Zwangsjacke. Nun, wie steht’s denn mit mir? Sie haben jetzt mehrere Wochen in meiner Gesellschaft gelebt, Watson. Sagen Sie mir frei heraus: Ist an mir irgend etwas, das mich verhindern würde, für das Weib, das ich liebe, ein guter Gatte zu sein?«
»Das kann man ganz gewiß nicht behaupten!«
»Gegen meine Stellung in der Welt kann er nichts einzuwenden haben, also muß ich selber ihm nicht recht sein. Was hat er gegen mich? Ich habe, so viel ich weiß, meiner Lebtage weder Mann noch Weib was zuleide gethan. Und dabei will er mich nicht mal ihre Fingerspitzen anrühren lassen.«
»Sagte er das?«
»Das und noch viel mehr. Wissen Sie, Watson, ich habe sie erst diese paar Wochen gekannt, aber vom ersten Augenblick an fühlte ich, daß sie für mich geschaffen war, und auch sie — sie war glücklich, wenn sie mit mir zusammen war, darauf will ich schwören. In einem Frauenauge ist ein gewisser Glanz, der deutlicher spricht als Worte. Aber er ließ uns nie ungestört beisammen sein und heute zum erstenmal ergab sich die Möglichkeit, ein paar Worte mit ihr unter vier Augen zu sprechen. Sie freute sich ebenfalls, mit mir zusammen zu kommen, aber als wir uns dann trafen, wollte sie nichts von Liebe hören, geschweige denn selbst davon sprechen. Fortwährend kam sie darauf zurück, daß die Gegend gefahrvoll wäre und daß sie nicht mehr glücklich sein könnte, als bis ich den Ort verlassen hätte. Ich sagte ihr: seit ich sie gesehen, hätte ich’s mit der Abreise durchaus nicht eilig, und wenn sie wirklich wünschte, daß ich ginge, so gebe es kein anderes Mittel, als wenn sie mit mir ginge. Und ich bot ihr in beredten Worten mich als Gatten an; aber bevor sie antworten konnte, da kam ihr Bruder aus uns losgesprungen mit einem Gesicht wie ein Irrsinniger. Er war kreideweiß vor Wut, und seine hellblauen Augen schleuderten Blitze. Was machte ich da mit der Dame? Wie könnte ich’s wagen, ihr Ausmerksamkeiten zu erweisen, die ihr nicht willkommen wären. Glaubte ich vielleicht, weil ich Baronet wäre, könnte ich thun was mir gefiele?
Wäre er nicht ihr Bruder gewesen, so hätte ich wohl die richtige Antwort für ihn gehabt. So begnügte ich mich damit ihm zu sagen, meine Gesinnungen gegen seine Schwester wären von der Art, daß ich mich ihrer nicht zu schämen brauchte, und ich hoffte, sie würde mir die Ehre erweisen, mein Weib zu werden. Diese Erklärung hatte aber anscheinend keine Wirkung; da verlor auch ich die Geduld und antwortete ihm hitziger als ich’s wohl eigentlich hätte dürfen, da sie ja neben uns stand. Das Ende vom Liede war, daß er mit ihr fortging, wie Sie sahen, und hier stehe ich nun und bin ganz außer Rand und Band. Sagen Sie mir doch um Gottes willen, Watson, was dies alles bedeutet!«
Ich versuchte ein paar Erklärungen des Rätsels zu geben, aber ich war in der That selber vollkommen verblüfft. Unseres Freundes Adelstitel, sein Vermögen, sein Alter, sein Charakter, seine äußere Erscheinung — dies alles fpricht zu seinen Gunsten, und ich weiß nicht, was man überhaupt gegen ihn anführen könnte — abgesehen etwa von dem düsteren Verhängnis, das seine Familie verfolgt. Daß seine Anträge so schroff zurückgewiesen werden, ohne daß die Dame überhaupt nur um ihre Meinung gefragt wird, und daß die Dame sich ohne ein Wort des Protestes in diese Lage fügt — das ist sehr überraschend. Wir wurden indessen der Beschäftigung mit unserm Mutmaßungen bald überhoben, indem der Bruder noch am selben Nachmittag einen Besuch auf Baskerville Hall machte. Er kam, um sich wegen seines ungezogenen Benehmens zu entschuldigen, und das Endergebnis einer langen Unterredung, die er mit Sir Henry unter vier Augen in dessen Arbeitszimmer hatte, ist, daß der Bruch vollkommen wieder ausgeglichen ist und daß wir zum Zeichen der Versöhnung am Freitag nachÂů Merripit House zum Essen kommen sollen.
»Ich will nicht behaupten, daß er nicht verrückt ist!« sagte Sir Henry zu mir. »Ich kann den Ausdruck nicht vergessen, der in seinen Augen lag, als er heute früh auf mich losstürzte, aber ich muß zugeben, daß niemand eine bessere Entschuldigung vorbringen konnte, als er es gethan hat.«
»Gab er irgend eine Erklärung für sein Benehmen?«
»Er sagt, seine Schwester sei alles und jedes in seinem Leben. Das ist ja auch ganz natürlich, und ich freue mich sogar darüber, daß er ihren Wert zu schätzen weiß. Sie sind immer zusammen gewesen, und er war, wie er sagt, jederzeit ein einsamer Mann, der niemals andere Gesellschaft hatte außer ihr; der Gedanke, sie verlieren zu müssen, sei für ihn daher geradezu fürchterlich gewesen. Er hätte nichts davon gemerkt, daß sich ein Verhältnis zwischen uns anbahnte, als er es dann aber mit eigenen Augen gesehen hätte und ihm zum Bewußtsein gekommen wäre, daß sie ihm vielleicht genommen würde, da hätte ihm das einen solchen Stoß gegeben, daß er eine Zeit lang nicht gewußt hätte, was er sagte oder that. Der ganze Vorfall thäte ihm außerordentlich leid, und er müßte zugeben, daß es thöricht und selbstsüchtig von ihm sei sich einzubilden, daß er ein schönes Mädchen wie seine Schwester ihr ganzes Leben lang für sich behalten könnte. Wenn sie ihn denn doch verlassen müßte, so wäre es ihm noch lieber, ein Nachbar wie ich bekäme sie, als sonst jemand. Aber jedenfalls wäre es ein harter Schlag für ihn, und er bedürfte einer gewissen Zeit, um sich damit abzufinden. Er wollte seinerseits aus jeden Widerstand verzichten, wenn ich dafür verspräche, drei Monate lang die Angelegenheit ruhen zu lassen, um mich damit zu begnügen, während dieser Zeit der Dame meine Freundschaft zu bezeigen und nicht um ihre Liebe zu werben. Das versprach ich ihm, und somit ist die Sache vorläufig erledigt.«
So ist also eines von unseren kleinen Geheimnissen aufgeklärt! Es ist immerhin schon etwas, in diesem Morast, worin wir uns bewegen, wenigstens an einer Stelle auf festen Grund gekommen zu sein. Wir wissen jetzt, warum Stapleton mit so scheelen Blicken auf seiner Schwester Freier sah, obwohl dieser Freier ein so begehrenswerter Mann ist wie Sir Henry.
Und nun komme ich zu dem anderen Faden, den ich aus dem wirren Knäuel freigemacht habe, zu dem Geheimnis der nächtlichen Seufzer, der Thränenspuren auf Frau Barrymores Gesicht, der verstohlenen Wanderungen des Schloßverwalters zu dem Fenster an der westlichen Seite des Hauses. Wünsche mir Glück, mein lieber Holmes, und sage mir, daß ich Dich in meiner Thätigkeit als Dein Abgesandter nicht enttäuscht habe — daß Dir das Vertrauen, das Du mir mit Uebertragung dieser Sendung bezeigtest, nicht leid thut. Alle diese dunklen Punkte sind durch die Thätigkeit einer einzigen Nacht vollkommen aufgeklärt worden.
Ich sagte: ‘durch die Thätigkeit einer einzigen Nacht,’ aber in Wirklichkeit brauchten wir zwei Nächte dazu, denn in der ersten war unsere Mühe völlig vergeblich. Ich saß mit Sir Henry bis gegen drei Uhr früh in seinem Zimmer auf, aber kein Laut irgend welcher Art ließ sich vernehmen; nur die Wanduhr auf dem Treppenflur hörten wir schlagen. Es war eine höchst melancholische Nachtwache, die damit endete, daß wir alle beide in unseren Stühlen einschliefen. Zum Glück waren wir durch unseren Mißerfolg nicht entmutigt, sondern beschlossen, noch einen Versuch zu machen. Am nächsten Abend schraubten wir wieder unser Lampenlicht niedrig und saßen Cigaretten rauchend in lautloser Stille da. Die Stunden schlichen mit unglaublicher Langsamkeit dahin; doch half uns eine Art von geduldiger Neugier darüber hinweg, wie wohl der Jäger sie spüren mag, der neben einer Falle, in der er ein wildes Tier zu fangen hofft, auf der Lauer liegt.
Es schlug eins — dann zwei — und wir hätten es beinahe zum zweitenmale, am Erfolg verzweifelnd, aufgegeben — da plötzlich richteten wir uns beide zugleich kerzengerade in unseren Stühlen auf; alle unsere Sinne waren aufs schärfste angespannt: wir hörten auf dem Gange das leise Geräusch eines Schrittes!
Ganz leise, leise hörten wir den Mann entlangschleichen, bis das Geräusch in der Ferne erstarb. Dann öffnete der Baronet leise die Thür, und wir machten uns zur Verfolgung auf. Unser Mann war bereits bei der Galerie um die Ecke gebogen, und der Korridor lag in tiefer Finsternis da. Leise schlichen wir uns den Gang entlang nach dem anderen Flügel. Wir erhaschten gerade noch den Anblick der langen, schwarzbärtigen Gestalt, die vornübergebeugt und aus den Zehenspitzen gehend den Korridor entlangschlich. Dann trat er in dieselbe Thür ein wie das vorigemal, und in dem Kerzenlicht zeichnete sich der viereckige Thürrahmen mit gelbem Schein auf dem schwarzen Korridor ab. Wir tasteten uns vorsichtig nach jener Stelle hin; jedes Brett untersuchten wir erst mit dem Fuß, ehe wir wagten, es mit unserem ganzen Gewicht zu belasten. Aus Vorsicht hatten wir auch unsere Stiefel vorher ausgezogen, aber trotzdem ächzten und knarrten die alten Bretter unter unseren Tritten. Zuweilen dachten wir, es wäre unmöglich, daß er unsere Annäherung nicht hörte. Aber der Mann ist zum Glück wirklich recht schwerhörig, und zudem waren seine Gedanken völlig von seinem Thun in Anspruch genommen. Nachdem wir endlich die Thür erreicht hatten und durch die Oeffnung in das Zimmer spähten, sahen wir ihn mit der Kerze in der Hand vor dem Fenster hocken, das blasse Gesicht mit einem Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit gegen eine der Scheiben gepreßt. Es war genau dieselbe Stellung, in der ich ihn zwei Nächte vorher überrascht hatte.
Wir hatten uns keinen bestimmten Plan gemacht, aber dem Wesen des Baronets entspricht es, stets den geradesten Weg zu gehen. Er betrat das Zimmer, und sofort sprang Barrymore mit einem scharfen, keuchenden Atemzuge von seinem Platze am Fenster auf und stand bleich und zitternd vor uns. Seine dunklen Augen glühten aus der Blässe seines maskengleichen Gesichtes hervor und blickten voll von entsetzter Ueberraschung auf Sir Henry und mich.
»Was machen Sie hier, Barrymore?«
»Nichts, Herr.«
Seine Aufregung war so groß, daß er kaum sprechen konnte; er zitterte so stark, daß die Kerze, die er hielt, hüpfende Schatten an die Wand warf.
»Es war wegen des Fensters, Herr! Ich mache nachts die Runde, um nachzusehen, ob sie auch fest geschlossen sind.«
»Im zweiten Stock?«
»Jawohl, Herr, ich untersuche alle Fenster!«
»Hören Sie zu, Barrymore!« sagte Sir Henry ernst. »Wir sind entschlossen, die Wahrheit aus Ihnen herauszubekommen. Sie sparen sich also Unannehmlichkeiten, wenn Sie sofort die Wahrheit sagen, anstatt noch länger damit zu warten. Also vorwärts! Keine Lügen! Was wollten Sie an diesem Fenster?«
Der Mann sah uns mit einem hilflosen Ausdruck an und krampfte die Hände zusammen, wie wenn er im höchsten Grade verzweifelt wäre.
»Ich that nichts Böses, Herr. Ich hielt bloß ein Licht an das Fenster.«
»Und warum hielten Sie ein Licht an das Fenster?«
»Fragen Sie mich nicht danach, Sir Henry — bitte, fragen Sie mich nicht! Ich gebe Ihnen mein Wort, Herr, daß es nicht mein Geheimnis ist, und daß ich es also nicht sagen kann. Wenn es nur mich selber beträfe, so würde ich nicht versuchen, es Ihnen vorzuenthalten.«
Ein plötzlicher Gedanke durchfuhr mich, und ich nahm die Kerze von dem Fensterbrett, worauf der Mann sie gestellt hatte.
»Er muß die Kerze als ein Zeichen ans Fenster gehalten haben,« sagte ich. »Wir wollen doch mal sehen, ob nicht irgend eine Antwort darauf gegeben wird.«
Ich hielt das Licht genau so, wie Barrymore es gethan hatte, und spähte in die nächtliche Finsternis hinaus. Nur undeutlich konnte ich die schwarze Masse der Baumwipfel unterscheiden und dahinter die hellere Fläche des Moors, denn der Mond war hinter den Wolken verborgen. Dann aus einmal stieß ich einen triumphierenden Ruf aus, denn ein feines, nadelförmiges Lichtpünktchen durchbrach plötzlich den schwarzen Schleier und glühte, auf demselben Fleck bleibend, in dem dunklen, vom Fenster eingerahmten Viereck.
»Da ist’s!« rief ich.
»Nein, nein, Herr; es ist nichts; wirklich nichts!« fiel der Diener ein. »Ich versichere Ihnen, Herr …«
»Bewegen Sie Ihr Licht vor dem Fenster hin und her, Watson!« rief der Baronet. »Sehen Sie, das andere bewegt sich ebenfalls! Nun, Sie Schurke, leugnen Sie immer noch, daß es ein Signal ist? Vorwärts, heraus mit der Sprache! Wer ist Ihr Mitverschworener da draußen, und was für ’ne Verschwörung ist hier im Gange?«
Barrymores Gesicht nahm plötzlich einen trotzigen Ausdruck an; er sagte:
»Das ist meine Sache und nicht Ihre. Ich sage nichts!«
»Dann verlassen Sie auf der Stelle meinen Dienst«
»Sehr wohl, Herr. Wenn es sein muß, so thu’ ich’s!«
»Und mit Schimpf und Schande gehen Sie aus meinem Hause! Zum Donnerwetter, Sie sollten sich doch schämen! Ihre Familie hat mit der meinigen seit einem Jahrhundert unter diesem Dach gewohnt, und hier finde ich Sie in eine lichtscheue Verschwörung gegen mich verwickelt!«
»Nein, Herr, nein! Nicht gegen Sie!«
Es war eine weibliche Stimme, die diese Worte sprach, und als wir uns umdrehten, sahen wir Frau Barrymore noch bleicher und verstörter, als ihr Mann es war, in der Thür stehen. Ihre vierschrötige Gestalt, die in einen Unterrock und ein Umschlagetuch gehüllt war, machte fast einen komischen Eindruck; dieser verschwand jedoch sofort, wenn man den Ausdruck tiefer Angst auf ihrem Gesicht bemerkte.
»Wir müssen gehen, Eliza. Das ist das Ende vom Liede. Du kannst unsere Sachen packen!« sagte der Mann.
»O, John, John, habe ich dich dahingebracht? Es ist meine Schuld, Sir Henry — nur meine ganz allein. Er hat nichts gethan, als um mir zu Gefallen zu sein, und weil ich ihn darum bat.«
»Dann heraus mit der Sprache! Was bedeutet dies alles?«
»Mein unglücklicher Bruder irrt hungernd aus dem Moor umher. Wir können ihn nicht unmittelbar vor unserer Thür umkommen lassen. Das Licht ist ein Zeichen für ihn, daß wir Lebensmittel für ihn bereit halten, und das Licht dort drüben bezeichnet die Stelle, wohin wir das Essen bringen müssen.«
»Dann ist also Ihr Bruder …?«
»Der entsprungene Sträfling, ja, Herr …der Verbrecher Selden.«
»Das ist die Wahrheit, Herr,« bestätigte Barrymore. »Ich sagte Ihnen, es wäre nicht mein Geheimnis, und ich könnte Ihnen nichts sagen. Aber nun haben Sie es selber gehört, und Sie werden einsehen, daß gegen Sie keine Verschwörung vorhanden war, wenn überhaupt von einer solchen die Rede sein kann.«
Das also war die Erklärung des heimlichen nächtlichen Herumschleichens und des an das Fenster gehaltenen Lichtes! Sir Henry und ich starrten ganz verdutzt die Frau an. War es möglich, konnte diese augenscheinlich beschränkte, aber dabei ehrbare Person vom selben Fleisch und Blut sein wie einer der berüchtigtsten Verbrecher im ganzen Lande?
»Ja, Herr!« fuhr sie fort. »Ich hieß früher Selden, und er ist mein jüngerer Bruder. Wir verzogen ihn zu sehr, als er ein kleiner Knirps war, und ließen ihm in allem seinen Willen, bis er zuletzt dachte, die ganze Welt sei nur zu seinem Vergnügen da, und er könne thun, was ihm gefiele. Als er dann älter wurde, kam er in schlechte Gesellschaft, und der Teufel wurde Herr über ihn, bis er zuletzt meiner Mutter Herz brach und unseren guten Namen in den Kot zog. Von Verbrechen zu Verbrechen sank er immer tiefer und tiefer, und nur Gottes Gnade hat ihn vor dem Galgen bewahrt. Für mich aber, Herr, war er immer der krausköpfige kleine Junge, den ich als ältere Schwester aufgezogen und mit dem ich gespielt hatte. Deshalb brach er aus dem Zuchthause aus, Herr. Er wußte, daß ich hier war und ihm nicht meine Hilfe verweigern würde Und als er sich dann eines Nachts abgemattet und halb verhungert an unsere Thür schleppte und die Aufseher ihm dicht aus der Spur waren — ja, was konnten wir da thun? Wir ließen ihn ein und gaben ihm zu essen und pflegten ihn. Dann kamen Sie hierher, Herr, und mein Bruder dachte, es wäre sicherer für ihn draußen auf dem Moor, bis der erste Lärm und die Hetzjagd vorüber wäre; deshalb verbarg er sich draußen. Aber jede zweite Nacht vergewisserten wir uns, ob er noch da wäre, indem wir ein Licht ins Fenster stellten, und wenn er auf dieses Zeichen antwortete, brachte mein Mann ihm Brot und Fleisch hinaus. Jeden Tag hofften wir, er wäre fort, aber so lange er noch hier war, konnten wir ihn nicht im Stich lassen. Das ist die ganze Wahrheit — so war ich eine ehrliche Christin bin, und Sie werden einsehen, wenn dabei jemand zu tadeln ist, so fällt der Vorwurf nicht auf meinen Mann, sondern nur auf mich allein, denn nur um meinetwillen hat er alles gethan.«
Die Frau sprach mit solchem Ernst, daß man von ihrer Wahrhaftigkeit überzeugt sein mußte.
»Ist dies wahr, Barrymore?«
»Ja, Sir Henry! Vom ersten bis zum letzten Wort!«
»Nun, ich kann Sie nicht dafür tadeln, daß Sie Ihrer Frau geholfen haben. Vergessen Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Gehen Sie mit Ihrer Frau in Ihr Zimmer; morgen wollen wir weiter darüber sprechen.«
Als sie fort waren, sahen wir wieder aus dem Fenster. Sir Henry hatte es aufgestoßen, und der kalte Nachtwind schlug uns ins Gesicht. In der finsteren Ferne glomm noch immer das gelbe Lichtpünktchen.
»Ich wundere mich, daß er das wagt!« rief Sir Henry.
»Vielleicht ist das Licht so aufgestellt, daß es nur von hier aus sichtbar ist.«
»Höchstwahrscheinlich. Wie weit ist es Ihrer Meinung nach entfernt?«
»Es scheint mir bei Clest Tor zu sein.«
»Also nur eine oder zwei Meilen von hier?«
»Kaum so weit!«
»Jedenfalls kann es nicht sehr weit sein, da Barrymore die Lebensmittel hinauszubringen hatte. Und da draußen wartet der Schurke, neben seinem Licht! Zum Donnerwetter, Watson, ich will hinaus und den Kerl festnehmen!«
Derselbe Gedanke war auch mir schon gekommen. Es konnte nicht davon die Rede sein, daß die Barrymores uns ins Vertrauen gezogen hatten. Ihr Geheimnis war ihnen mit Gewalt entrissen worden. Der Mann war eine Gefahr für die menschliche Gesellschaft, ein unbarmherziger Schurke, für den es kein Erbarmen und kein Mitleid gab. Wir thaten nur unsere Pflicht, wenn wir ihn an den Ort zurückbrachten, wo er keinen Schaden anrichten konnte. Ließen wir diesen rohen, gewaltthätigen Verbrecher aus den Händen, so würden andere dafür büßen müffen. Jede Nacht waren zum Beispiel unsere Nachbarn, die Stapletons, durch einen Angriff von ihm bedroht; vielleicht war es dieser letztere Gedanke, der Sir Henry so besonders erpicht auf das Abenteuer machte.
»Ich werde mitkommen,« sagte ich.
»Dann holen Sie Ihren Revolver und ziehen Sie Ihre Stiefel an. Je eher wir uns auf den Weg machen, desto besser, sonst bläst der Kerl vielleicht sein Licht aus und macht sich davon.«
Keine fünf Minuten später waren wir draußen. Schnell durchschritten wir den finsteren Baumgarten; der Nachtwind brauste eintönig, die fallenden Blätter raschelten. Die Nachtluft war drückend schwer von Nebel und Dunst. Ab und zu wurde der Mond für einen Augenblick sichtbar, aber der Himmel war dicht von eilenden Wolken überzogen, und gerade als wir auf das Moor hinaustraten, begann ein feiner Regen zu fallen. Das Licht brannte noch immer gerade vor uns aus demselben Fleck.
»Sind Sie bewaffnet?« fragte ich.
»Ich habe einen Reitstock mit Bleiknopf.«
»Wir müssen blitzschnell über ihn herfallen, denn er soll ein ganz verzweifelter Geselle sein. Wir werden ihn überraschen und ihn wehrlos machen, ehe er nur an Widerstand denken kann.«
»Na, Watson,« sagte der Baronet, »was würde Holmes hierzu sagen? Wie war’s doch mit der Stunde der Finsternis, da die Macht des Bösen entfesselt ist?«
Gleichsam als Antwort auf diese Frage erhob sich plötzlich aus der düsteren weiten Fläche des Moors jener seltsame Schrei, den ich schon einmal, am Rande des großen Grimpener Sumpfes, vernommen hatte. Der Wind trug ihn durch das nächtliche Schweigen zu uns heran — ein langes, tiefes Stöhnen, dann ein anschwellendes Heulen und dann das grausige Seufzen, worin es ausklang. Immer und immer wieder erhob sich der Laut, die ganze Lust schien von dem wilden, drohenden, durchdringenden Klang erfüllt zu sein. Der Baronet packte mich am Aermel, und ich sah trotz der Finsternis, daß sein Gesicht leichenblaß geworden war.
»Um Gottes willen, was ist das, Watson?«
»Ich weißes nicht. Es ist ein Laut, der dem Moor eigentümlich ist. Ich hörte ihn früher schon einmal.«
Der Ton verstummte, und tiefstes Schweigen umhüllte uns. Wir lauschten mit Anspannung aller unserer Gehörnerven, aber es kam nichts mehr.
»Watson,« sagte der Baronet, »es war das Geheul eines Hundes.«
Mir erstarrte das Blut in den Adern, denn seine Stimme klang ganz gebrochen; offenbar hatte ihn ein plötzliches Entsetzen gepackt.
»Wie nennt man diesen Laut?« fragte er.
»Wer?«
»Nun, die Leute hier in der Gegend.«
»Ach, das ist ja unwissendes Volk. Was kümmert es Sie, was die Leute darüber sagen?«
»Sprechen Sie, Watson! Was sagen sie darüber?«
Ich zauderte, aber ich konnte der Beantwortung der Frage nicht ausweichen.
»Man sagt, es sei das Geheul des Baskerville-Hundes.«
Er stöhnte und schwieg einige Augenblicke. Endlich sagte er:
»Ein Hund war es; aber das Geheul schien aus weiter Ferne zu kommen; von dort drüben her, glaube ich.«
»Es läßt sich schwer angeben, woher es kam.«
»Es schwoll an und wurde schwächer mit dem Wind. Liegt nicht in jener Richtung der große Grimpener Sumpf?«
»Ja.«
»Hm, dorther kam es. Seien Sie offen, Watson! Glauben Sie nicht selber, es war das Geheul eines Hundes? Ich bin kein Kind. Sie können ohne Furcht die Wahrheit sagen.«
»Stapleton war bei mir, als ich es das vorigemal hörte; er sagte, es könnte möglicherweise der Schrei eines seltsamen Vogels sein.«
»Nein, nein, es war ein Hund. Mein Gott, kann denn wirklich was Wahres an all diesen Geschichten sein? Ist es möglich, daß wirklich eine so geheimnisdunkle Gefahr mich ernstlich bedroht? Sie glauben doch nicht daran, Watson, nicht wahr?«
»Nein, nein!«
»Und doch, in London konnte man wohl darüber lachen, aber es ist was anderes, hier in der Finsternis aus dem Moor zu stehen und ein solches Geheul zu hören. Und mein Onkel! Neben der Stelle, wo er lag, war die Fußspur eines riesigen Hundes. Es stimmt alles zusammen. Ich glaube, kein Feigling zu sein, Watson, aber bei jenem Ton war es mir, als gefröre das Blut in meinen Adern. Fühlen Sie meine Hand!«
Sie war so kalt wie ein Stück Marmor.
»Morgen wird Ihnen wieder ganz wohl sein.«
»Ich glaube, das Geheul werde ich nicht so leicht wieder aus den Ohren los. Was sollen wir nach Ihrer Meinung jetzt zunächst thun?«
»Sollen wir umkehren?«
»Zum Donnerwetter, nein! Wir sind herausgekommen, um den Kerl zu fangen, und wir werden ihn fangen. Wir sind hinter dem Sträfling her, und ein Höllenhund ist ohne Zweifel hinter uns her. Vorwärts! Wir wollen die Sache zum Ende führen, und wenn alle Teufel der Hölle auf das Moor losgelassen wären!«
Wir tappten langsam in der Finsternis vorwärts, rings um uns war der schwarze Kranz der zerklüfteten Felsenhügel, vor uns brannte, immer auf demselben Fleck, der gelbe Lichtpunkt. Ueber nichts täuscht man sich so leicht wie über die Entfernung eines Lichtes in pechfinsterer Nacht; zuweilen sah es aus wie ein Flimmern am fernen Horizont, dann wieder schien es ein paar Ellen vor uns zu sein. Schließlich aber sahen wir, woher der Schein kam, und erkannten zugleich, daß wir ganz dicht dabei waren. Eine tropfende Kerze war in eine Felsenspalte gestellt; das Gestein beschützte die Flamme auf beiden Seiten gegen den Wind und bewirkte zugleich, daß der Lichtschein nur von Baskerville Hall her gesehen werden konnte. Ein Granitblock ermöglichte uns, ungesehen näher zu kommen; wir kauerten uns hinter dieser Deckung zusammen und spähten nach dem Signallicht. Einen seltsamen Anblick bot diese einsame Kerze, die hier mitten aus dem Moor brannte.
Kein Zeichen des Lebens ringsum — nur diese eine gelbe Flamme und der Widerschein des Lichtes aus dem Gestein zu beiden Seiten.
»Was sollen wir jetzt zunächst thun?« flüsterte Sir Henry.
»Hier wartenl Er muß in der Nähe seines Lichtes sein. Wir wollen versuchen, ob wir ihn nicht zu Gesicht bekommen können.«
Ich hatte kaum diese Worte ausgesprochen, als wir ihn beide sahen. Ueber den Felsen, in der Spalte, worin das Licht brannte, streckte sich ein fahlgelbes Gesicht vor, ein scheußlich viehisches Gesicht, von niedrigen Leidenschaften verzerrt und durchfurcht. Von dem Morast besudelt, von zottigem Bart und wirrem Haar umgeben, hätte man es wohl für das Gesicht eines jener vorgeschichtlichen Wilden halten können, die in den Höhlen am Hügelabhang gelebt hatten. Das unter ihm brennende Licht spiegelte sich in seinen kleinen schlauen Augen, die mit wildem Blick sich nach rechts und links durch die Finsternis bohrten, wie die Augen eines listigen Raubtiers, das den Schritt des Jägers gehört hat.
»Augenscheinlich hatte irgend etwas seinen Verdacht erregt. Vielleicht hatte sonst Barrymore irgend ein anderes Zeichen gegeben, das wir natürlich nicht kannten, vielleicht hatte der Mann sonst einen Grund, anzunehmen, daß nicht alles in Ordnung war. Die Furcht war deutlich auf seinem Verbrechergesicht zu lesen. Jeden Augenblick konnte er mit einem Sprung sich aus dem Bereich des Lichtes entfernen und in der Dunkelheit verschwinden. Ich sprang deshalb aus ihn zu, und Sir Henry folgte meinem Beispiel. Im selben Augenblick schrie der Zuchthäusler uns einen wütenden Fluch entgegen und schleuderte einen großen Stein, der an dem uns bisher zur Deckung dienenden Granitblock in Stücke zerschellte.
Als er aus die Füße sprang und sich zur Flucht wandte, konnte ich einen kurzen Blick aus seine kurze, stämmige und kräftige Gestalt werfen. Im selben Augenblick hatten wir das Glück, daß der Mond die Wolken durchbrach. Wir sprangen eiligst auf den Gipfel des Hügels hinauf, und da sahen wir unseren Mann mit großer Schnelligkeit auf der anderen Seite herunterrennen und die Steine, die ihm im Wege waren, mit der Gewandtheit einer Bergziege überspringen. Ein glücklicher Schuß meines Revolvers hätte ihn vielleicht zum Krüppel machen können, aber ich hatte die Waffe nur zu meiner Verteidigung mitgenommen und nicht, um aus einen unbewaffneten und fliehenden Menschen damit zu schießen.
Wir waren beide gute Läufer und beide gesund und kräftig, aber wir fanden bald, daß wir keine Aussicht hatten, ihn einzuholen. Lange sahen wir ihn im Mondschein vor uns herrennen, bis er endlich nur noch wie ein kleiner Punkt zwischen den Granitblöcken am Abhange eines entfernten Hügels sich in eiligem Laufe hindurchwand. Wir rannten und rannten, bis uns der Atem völlig ausging, aber der Abstand wurde nur immer größer. Schließlich gaben wir die Verfolgung auf und setzten uns keuchend auf zwei große Steine; von hier aus sahen wir ihn in der Ferne verschwinden.
Und in diesem Augenblick trat etwas ganz Seltsames und Unerwartetes ein. Wir waren von unseren Steinblöcken aufgestanden, um nach Hause zu gehen, denn die Verfolgung hatten wir als gänzlich hoffnungslos aufgegeben. Zu unserer Rechten stand der Mond niedrig am Himmel, und die zackige Spitze eines Granitfelsens hob sich von dem unteren Rande der silbernen Mondscheibe ab. Und in scharfen Umrissen, schwarz wie eine Ebenholzstatue von dem leuchtenden Hintergrunde sich abhebend, sah ich die Gestalt eines Mannes auf der Felsspitze stehen.
Glaube ja nicht, Holmes, es sei eine Augentäuschung gewesen! Ich versichere Dir,
ich habe nie in meinem Leben etwas klarer und deutlicher gesehen. Soweit ich es
beurteilen konnte, war es die Gestalt eines großen, schlanken Mannes. Er stand mit
etwas auseinandergespreizten Beinen, mit gefalteten Armen und gesenktem Kopfe,
als betrachte er grübelnd die ungeheure Einöde von Moor und Granit, die da vor
ihm lag. So konnte man sich den bösen Geist denken, der an diesem furchtbaren Ort
gebot. Der Sträfling war es nicht. Dieser Mann stand weit von der Stelle ab, wo
Selden verschwunden war. Außerdem war er viel größer. Mit einem Ausruf der
Ueberraschung streckte ich meinen Arm aus, um ihn dem Baronet zu zeigen; aber in
dem Augenblick, wo ich mich zu Sir Henry umgedreht hatte, war der Mann
verschwunden. Die scharfe Granitspitze hob sich noch immer vom unteren Rande der
Mondscheibe ab, aber von der schweigenden und regungslosen Gestalt war jede Spur
verschwunden.
Ich wäre gern hingegangen und hätte die Felsspitze untersucht, aber die Entfernung bis dahin war ziemlich groß. Des Baronets Nerven waren noch von jenem Geheul angegriffen, das ihm die düstere Geschichte seiner Familie zum Bewußtsein gebracht hatte, und er war nicht in der Stimmung, noch neue Abenteuer aufzusuchen. Er hatte den einsamen Mann auf der Felsenspitze nicht gesehen und hatte den Schauer nicht gefühlt, der bei dem Anblick der seltsamen, mächtigen Gestalt mich durchrieselt hatte.«
»Ohne Zweifel einer von den Zuchthausaufsehern!« bemerkte Sir Henry. »Seit der Flucht dieses Kerls hat das Moor von ihnen gewimmelt.«
Nun, vielleicht mag er mit dieser Erklärung recht haben, aber es wäre mir doch lieb, noch weitere Beweise dafür zu erhalten. Heute gedenken wir, den Beamten von Princetown mitzuteilen, wo sie nach ihrem Flüchtling suchen müssen, aber es thut uns doch außerordentlich leid, daß wir nicht den Triumph gehabt haben, ihn als unseren eigenen Gefangenen einzuliefern.
Dies sind die Abenteuer der letzten Nacht, mein lieber Holmes, und Du wirst anerkennen, daß ich Dich mit meinem Bericht sehr gut bedient habe. Ohne Zweifel wird vieles von dem Angeführten ohne jede Bedeutung sein, ich bin aber überzeugt, es ist das beste, wenn ich Dir alle Thatsachen ohne Ausnahme überliefere und Dich selber Deine Auswahl treffen lasse, um Deine Schlüsse zu bilden. Ganz sicherlich machen wir Fortschritte In Bezug auf die Barrymores haben wir den Beweggrund ihrer Handlungsweise ausfindig gemacht, und das hat die Lage ganz bedeutend aufgeklärt.
Aber das Moor mit seinen Geheimnissen und seinen seltsamen Bewohnern bleibt unergründlich wie immer. Vielleicht kann ich in meinem nächsten Brief auch diese Dunkelheit ein wenig aufhellen. Am allerbesten aber wäre es, Du kämst selber zu uns herüber
10
(Auszug aus meinem Tagebuch.)
Bis zu diesem Punkt meiner Erzählung brauchte ich nur die Berichte abzuschreiben, die ich im Anfang meines Ausenthaltes aus Baskerville Hall an Sherlock Holmes sandte. Jetzt bin ich jedoch an einer Wendung angelangt, wo diese Methode sich nicht mehr anwenden läßt; ich muß von nun an wieder aus meinen Erinnerungen schöpfen, habe dabei aber als Unterlage die Auszeichnungen, die ich damals in mein Tagebuch eintrug. Ich gebe zunächst einige Auszüge daraus und komme dann sofort zu jenen Ereignissen, die sich in unauslöschlichen Zügen meinem Gedächtnis eingeprägt haben. Ich beginne mit dem Morgen, der auf unsere ergebnislose Jagd nach dem Sträfling und auf die anderen seltsamen Erscheinungen in der Mooreinsamkeit folgte.
Den 16. Oktober. Ein trüber, nebeliger Tag mit unaufhörlichem seinen Sprühregen. Das Haus ist in schwere Wolken gehüllt, die sich von Zeit zu Zeit lichten und dann einen Blick aus die öden Wellenlinien der Moorlandschaft eröffnen; aus den Flanken der Hügel sieht man dünne, silberweiße Adern, und die Granitblöcke leuchten in der Ferne auf, wenn ein Lichtschein auf ihr nasses Gestein fällt. Melancholische Stimmung draußen und drinnen. Der Baronet ist nach den Aufregungen der letzten Nacht abgespannt und in düsterer Laune. Mir selber ist das Herz schwer, und ich habe das Gefühl, daß eine Gefahr droht — eine immer gegenwärtige Gefahr, die um so furchtbarer ist, da ich nicht angeben kann, worin sie besteht.
Und habe ich nicht Ursache zu solchen Befürchtungen? Wir blicken jetzt auf eine lange Reihenfolge einzelner Ereignisse zurück, die alle ohne Ausnahme darauf schließen lassen, daß irgend eine umheimliche Macht in unserer Nähe am Werke ist. Da ist zunächst der Tod des vorigen Schloßherrn, ein Ereignis, das so genau mit den Ueberlieferungen der alten Familiensage übereinstimmt. Dann haben wir die Berichte zahlreicher Landleute, die alle eine grausigse Kreatur auf dem Moor gesehen haben. Zweimal hörte ichs mit meinen eigenen Ohren jenen Laut, der dem fernen Gebell eines großen Hundes gleicht. Es ist unglaublich, ja unmöglich, daß dieser Laut wirklich dem Gebiet des Uebernatürlichen angehört. Einen Gespensterhund, der körperliche Fußspuren zurückläßt und die Luft mit seinem Geheul erfüllt, den giebt es nicht, ganz gewiß nicht! Mag Stapleton sich solchem Aberglauben hingeben und Doktor Mortimer sich ihm anschließen — aber wenn ich überhaupt irgend eine hervorstechende Eigenschaft habe, so ist es nüchterner, gesunder Menschenverstand, und nichts wird mich dahin bringen, an so etwas zu glauben! Damit würde ich ja zu dem Niveau der armen Bauersleute herabsteigen, die nicht einmal mit einem gewöhnlichen Geisterhund zufrieden sind, sondern ihn als ein Tier beschreiben, dem höllisches Feuer aus Maul und Augen sprüht. Von solchen Phantasiereien würde Holmes nichts wissen wollen, und ich bin hier als sein Vertreter. Aber Thatsachen sind und bleiben Thatsachen, und ich habe zweimal sein Geheul auf dem Moor gehört. Nehmen wir an, es triebe sich wirklich irgend ein riesiger Hund aus dem Moor herum — damit ließe sich ja alles erklären. Aber wo könnte ein solcher Hund verborgen liegen, wo bekäme er zu fressen, woher wäre er gekommen, und wie ginge es zu, daß kein Mensch ihn je bei Tage gesehen hat? Ich muß zugeben, daß die natürliche Erklärung fast ebenso viele Schwierigkeiten darbietet wie die andere. Und ganz abgesehen vom Hund — es bleibt die Thatsache bestehen, daß in London irgend eine menschliche Thatkraft im Spiele war; wir hatten den Mann in der Droschke und den Warnungsbrief, der Sir Henry aufforderte, dem Moor fernzubleiben. Dieser Brief zum mindesten existierte thatsächlich, aber er konnte ebensowohl von einem beschützenden Freund, wie von einem Feinde ausgehen. Wo war jetzt in diesem Augenblick dieser Freund oder Feind? War er in London geblieben oder war er uns hierher gefolgt? Konnte er — konnte er der Fremde sein, den ich aus dem Moor gesehen hatte?
Allerdings habe ich nur jenen einzigen flüchtigen Blick aus ihn geworfen — und doch, es sind bei diesem Erlebnis verschiedene Umstände vorhanden, deren ich so sicher bin, daß ich darauf schwören kann. Der Fremde gehört nicht zu den Leuten, mit denen ich hier bekannt geworden — und ich habe jetzt sämtliche Leute der ganzen Gegend gesehen. Er war der Gestalt nach viel größer als Stapleton, viel schlanker als Frankland. Barrymore hätte es möglicherweise sein können, aber diesen hatten wir im Hause zurückgelassen, und ich bin sicher, daß er uns nicht unbemerkt hätte folgen können. Also verfolgt uns hier ein Fremder auf Schritt und Tritt, gerade wie ein Fremder uns in London ausspionierte. Wir sind ihn die ganze Zeit über nicht losgeworden! Könnte ich meine Hand aus diesen Mann legen, so wären wir vielleicht am Ende aller unserer Schwierigkeiten. Zur Erreichung dieses Ziels muß ich jetzt alle meine Kräfte anspannen!
Mein erster Gedanke war, Sir Henry von allen meinen Plänen in Kenntnis zu setzen; ein zweiter und klügerer Gedanke jedoch brachte mich zum Entschluß, auf eigene Faust zu handeln und so wenig wie möglich von meinen Gedanken verlauten zu lassen. Sir Henry ist schweigsam und zerstreut. Seine Nerven haben einen seltsamen Stoß erlitten, seitdem er jenes Geheul aus dem Moor hörte. Ich will nichts sagen, was seine Beängstigungen womöglich noch vermehren könnte, aber ich will meine Vorkehrungen treffen, um meinen Zweck zu erreichen.
Heute morgen nach dem Frühstück hatten wir eine kleine Szene. Barrymore bat Sir Henry um eine Unterredung, und sie verweilten kurze Zeit unter vier Augen in seinem Arbeitszimmer. Ich saß im Billardzimmer und hörte mehreremal, daß sie ihre Stimmen erhoben; ich konnte mir wohl denken, was den Gegenstand ihres Gespräches bildete. Nach einer Weile öffnete der Baronet die Thür und bat mich, hereinzukommen.
»Barrymore glaubt Grund zu Beschwerden zu haben,« sagte er. »Er meint, es sei unredlich von uns gewesen, auf seinen Schwager Jagd zu machen, nachdem er uns aus freiem Willen das Geheimnis mitgeteilt hätte.«
Der Schloßberwalter stand, sehr bleich, jedoch vollkommen gefaßt, vor uns.
»Ich mag vielleicht zu heftig gesprochen haben, Herr,« sagte er, »und wenn dies der Fall sein sollte, so bitte ich recht sehr um Vergebung. Ich war eben sehr überrascht, als ich die beiden Herren heute früh zurückkommen hörte und erfuhr, daß sie Selden verfolgt hätten. Der arme Kerl hat gerade genug durchzumachen und es war nicht nötig, daß sich ihm noch jemand auf die Hacken setzte!«
»Wenn Sie zu uns aus freiem Antrieb davon gesprochen hätten, so wäre es allerdings was anderes,« antwortete der Baronet. »Sie sprachen aber erst — oder vielmehr Ihre Frau that es — als Sie nicht mehr anders konnten.«
»Ich glaubte aber nicht, daß Sie von meiner Mitteilung Gebrauch machen würden, Sir Henry — wirklich, dieser Gedanke lag mir völlig fern!«
»Der Mann ist eine Gefahr für die Menschheit. Ueberall über das Moor verstreut liegen einsame Wohnungen, und er ist ein Bursche, der vor nichts zurückschrecken würde. Man braucht nur mal einen Augenblick sein Gesicht zu sehen, um das zu wissen. Nun nehmen Sie mal zum Beispiel Herrn Stapletons Haus; da ist bloß er allein, der die Bewohner verteidigen könnte. Nein, die ganze Gegend ist unsicher, so lange Selden nicht wieder hinter Schloß und Riegel ist!«
»Er bricht in kein Haus ein, Herr! Darauf gebe ich Ihnen mein heiliges Wort. Aber er wird überhaupt keinen Menschen mehr in dieser Gegend belästigen. Ich versichere Ihnen, Sir Henry, in ganz wenig Tagen werden die nötigen Vorkehrungen getroffen und wird mein Schwager nach Südamerika unterwegs sein. Um des Himmels Willen, Herr, bitte ich Sie, teilen Sie der Polizei nicht mit, daß er noch auf dem Moor ist. Sie haben es aufgegeben, ihn dort zu suchen, und wenn er sich ruhig verhält, so kann er’s abwarten, bis sein Schiff abgeht. Wenn Sie ihn angeben, so bringen Sie damit unbedingt auch meine Frau und mich in Ungelegenheiten; Ich bitte Sie, Herr, sagen Sie der Polizei nichts davon!«
»Was meinen Sie dazu, Watson?«
Ich zuckte die Achseln und erwiderte:
»Wenn er außer Landes wäre, so wäre der ruhige Steuerzahler damit ’ne Last los!«
»Aber wenn er nun noch jemanden anfällt, ehe er abreist?«
»So einen wahnsinnigen Streich wird er nicht begehen, Herr. Wir haben ihn mit allem versorgt, was er nur braucht Wenn er ein Verbrechen beginge, so würde dadurch ja bekannt werden, daß er hier auf dem Moor versteckt liegt!«
»Da haben Sie recht!« sagte Sir Henry. »Nun, Barrymore …«
»O, Gott segne Sie, Herr! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Es wäre meiner armen Frau Tod gewesen, hätte man ihren Bruder wieder ergriffen!«
»Ich glaube, Watson, wir machen uns da einer Begünstigung schuldig. Aber nach dem, was ich gehört habe, glaube ich, ich könnte es nicht übers Herz bringen, den Mann anzugeben, — und damit basta! — Es ist gut, Barrymore, Sie können gehen.«
Der Mann stammelte noch einige Worte des Dankes und ging. Plötzlich aber blieb er zögernd stehen, kam zurück und sagte:
»Sie sind so freundlich gegen uns gewesen, Herr, daß ich es gern vergelten möchte, so gut ich’s nur kann. Ich weiß etwas, Sir Henry, und hätte es vielleicht früher sagen sollen, aber als ich Kenntnis davon erhielt, war seit Sir Charles’ Leichenschau schon lange Zeit verstrichen. Ich habe bis jetzt zu keiner Menschenseele ein Wort davon verlauten lassen. Es betrifft den Tod meines armen früheren Herrn!«
Der Baronet und ich sprangen beide gleichzeitig von unseren Stühlen aus und riefen:
»Wissen Sie, wie er ums Leben kam?«
»Nein, Herr, davon weiß ich nichts!«
»Was wissen Sie denn?«
»Ich weiß, warum er um jene Stunde an der Pforte war. Er hatte eine Verabredung mit einem Weibe.«
»Mit einem Weibe? Was?«
»Ja.«
»Und wie hieß sie?«
»Den Namen kann ich Ihnen nicht angeben, wohl aber seine Anfangsbuchstaben. Diese sind L. L.«
»Woher wissen Sie das, Barrymore?«
»Sehen Sie, Sir Henry, Ihr Onkel bekam an jenem Morgen einen Brief. Für gewöhnlich bekam er sehr viele Briefe, denn er war eine hervorragende Persönlichkeit hier in der Gegend, und seine Gutherzigkeit war allgemein bekannt; deshalb wandte sich jeder, der in Verlegenheit war, mit Vorliebe an Sir Charles. Aber an jenem Morgen war nur der einzige Brief angekommen; deshalb fiel er mir umsomehr auf. Der Brief war in Coombe Tracey aufgegeben und die Adresse von einer Frauenhand geschrieben.«
»Weiter?«
»Nun, Herr, ich dachte nicht mehr daran und würde überhaupt nicht mehr daran gedacht haben. Indessen vor ein paar Wochen räumte meine Frau Sir Charles’ Arbeitszimmer auf — es war seit seinem Tode nichts darin angerührt worden —, und da fand sie hinten am Kaminrost die Asche von einem verbrannten Briefe. Sein größerer Teil war in kleine Stückchen zerfallen, aber ein kleiner Streifen vom unteren Ende einer Seite hing noch zusammen, und die Schriftzüge waren zu lesen, indem sie sich grau von dem schwarzen Grunde abhoben. Wir hielten es für eine Nachschrift zu dem Briefe, und die Worte lauteten folgendermaßen: ‘Bitte, bitte! Da Sie ein Gentleman find, so verbrennen Sie diesen Brief und seien Sie um zehn an der Pforte!’ Unterzeichnet war dieser Satz mit den Buchstaben L. L.«
»Haben Sie den Streifen aufbewahrt?«
»Nein, Herr, er fiel uns unter den Händen in Asche zusammen.«
»Hatte Sir Charles schon früher Briefe mit derselben Handschrift erhalten?«
»Hm, ich sah mir sonst seine Briefe nicht an und achtete nicht besonders darauf. Ich hätte auch auf diesen Brief nicht geachtet, wenn er nicht eben allein gekommen wäre.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wer L. L. ist?«
»Nein, Herr — so wenig wie Sie selber! Aber ich nehme an, wenn wir die Dame ausfindig machen könnten, so würden wir mehr über Sir Charles’ Ende erfahren!«
»Ich begreife nicht, Barrymore, wie Sie dazu kamen, einen so wichtigen Umstand zu verheimlichen«
»Nun, Sir Henry, wir fanden den Brief gerade in jenen Tagen, als wir selber durch meinen Schwager in eine so fatale Verlegenheit versetzt wurden. Und dann, Herr — wir hatten alle beide Sir Charles sehr lieb gehabt — wie es ja nach allem, was er für uns gethan hatte, gar nicht anders sein konnte. Wenn wir die Geschichte wieder aufrührten, so konnte das unserem armen alten Herrn nichts nützen — und wenn irgendwo eine Dame im Spiel ist, so ist es besser, vorsichtig zu sein. Auch der beste Mensch …«
»Sie meinten, es könnte seinem guten Rufe schaden?«
»Nun, jedenfalls dachte ich, es könnte nichts Gutes daraus entstehen! Aber jetzt sind Sie so gut zu uns gewesen, und ich fühle, es wäre nicht recht von mir gewesen, wenn ich Ihnen nicht alles gesagt hätte, was ich von der Geschichte weiß.«
»Seht gut, Barrymore! Sie können gehen.«
Nachdem der Mann hinausgegangen war, wandte Sir Henry sich zu mir und sagte:
»Nun, Watson, was meinen Sie zu diesem neuen Licht, das aus meines Onkels Ende fällt?«
»Mir scheint, die Dunkelheit ist nur noch schwarzer geworden, als sie schon war!«
»Das ist auch meine Meinung. Aber wenn wir nur L. L. ausspüren könnten, so würde sich die ganze Sache ausklären! Was sollen wir nach Ihrer Meinung thun?«
»Sofort Holmes von allem in Kenntnis setzen! Für ihn wird dies der Anhaltspunkt sein, nach welchem er so lange gesucht hat.«
Ich begab mich sogleich auf mein Zimmer, um für Holmes einen Bericht über das Gespräch dieses Morgens niederzuschreiben. Augenscheinlich mußte er in der letzten Zeit mit Arbeit überhäuft gewesen sein, denn ich hatte aus der Balerstraße nur ein paar ganz kurze Notizen erhalten, worin von meinen Berichten überhaupt nicht die Rede war; sogar die Aufgabe, die ich auf Baskerville Hall zu erfüllen hatte, war nur ganz obenhin erwähnt. Ohne Zweifel nimmt die Untersuchung wegen der Erpressung alle seine Geisteskräfte in Anspruch.
Aber der heute neu hinzugekommene Umstand muß ganz gewiß seine Aufmerksamkeit fesseln und seine Teilnahme neu beleben. Ich wollte, er wäre hier …
Den 17. Oktober. — Heute strömte den ganzen Tag der Regen hernieder, raschelte im Epheu des alten Hauses und troff aus den Dachrinnen. Ich dachte an den entsprungenen Sträfling, der obdachlos draußen auf dem öden kalten Moor umherirrt. Der arme Kerl! Wie furchtbar auch seine Verbrechen gewesen sind, er hat gelitten und dadurch wenigstens teilweise gesühnt. Und dann dachte ich an den anderen — den Mann, dessen Gesicht wir in der Droschke sahen, dessen Gestalt sich im Moor gegen die Mondscheibe abhob. War er ebenfalls draußen in der Regenflut — der unsichtbare Späher, der Mann der Finsternis?
Als es Abend wurde, zog ich meinen Regenmantel an und wanderte voll düsterer Gedanken weit hinaus in die regendurchweichte Heide, und ließ mir den kalten Regen ins Gesicht schlagen und den Wind um die Ohren pfeifen. Gott sei bei denen, die jetzt in den großen Morast hineingeraten, denn selbst das feste Land ist beinahe schon ein Sumpf. Ich fand die schwarze Felsenspitze, auf dessen Höhe ich den einsamen nächtlichen Gesellen gesehen hatte; ich erklomm die schroffe Zacke, und blickte von der Höhe aus über die traurig düstere Hügellandschaft hin. Ueberall nichts als das öde Land, schwere Regengüsse, die die Flanken der Hügel peitschten, und langsam ziehende schiesergraue Wolken. Fern zur Linken ragten, halb verborgen durch den Nebel, die beiden schlanken Türme von Baskerville über den Bäumen auf. Sie waren die einzigen Anzeichen menschlichen Lebens, die ich erblicken konnte; die einzigen Wohnungen weit und breit waren die plumpen prähistorischen Steinhütten auf den Abhängen der Hügel. Nirgends eine Spur von dem einsamen Manne, den ich in der vergangenen Nacht an dieser selben Stelle sah.
Auf dem Rückwege überholte mich Dr. Mortimer in seinem Wägelchen. Er kam auf holperigem Heidewege von dem einsam liegenden Pachthof Foulmire her. Er hat sich uns gegenüber sehr aufmerksam benommen, und es ist kaum ein Tag vergangen, daß er nicht auf Baskerville Hall vorgesprochen und sich nach dem Fortgang unserer Nachforschungen erkundigt hätte. Er bat mich dringend, in seinen Wagen zu steigen, da er mich durchaus nach Hause bringen wollte. Ich fand ihn verstimmt und zerstreut, und die Zerstreutheit rührte von dem Verschwinden seines Hündchens her, das aufs Moor hinausgelaufen und nicht wieder zurückgekommen war. Ich suchte ihn möglichst zu trösten, konnte mich aber innerlich des Gedankens an das Pferd, das ich im Grimpener Sumpf verschwinden sah, nicht erwehren, und ich glaube nicht, daß er seinen kleinen Freund jemals wiedersehen wird.
»Ach, sagen Sie doch mal, Mortimer,« fragte ich, als wir den schlechten Weg entlang rumpelten, »es giebt wohl wenig Leute hier in der Gegend, die Sie nicht kennen?«
»Wohl kaum einen einzigen Menschen.«
»Können Sie mir dann vielleicht den Namen einer weiblichen Person sagen, deren Anfangsbuchstaben L. L. sind?«
Er dachte ein paar Minuten nach und antwortete:
»Nein. Es giebt hier ein paar Zigeuner und einige Leute aus dem Arbeiterstand, von denen ich nicht genau Bescheid weiß, aber unter dem Landvolk oder den Gebildeten giebt es keine, deren Namen diese Anfangsbuchstaben aufweist…. Doch halt! Warten Sie mal!« fuhr er nach einer kleinen Pause fort. »Da ist Laura Lyons — das stimmt mit den Buchstaben L. L. — sie wohnt jedoch in Coombe Tracey.«
»Wer ist das?« fragte ich.
»Herrn Franklands Tochter.«
»Was? Vom alten Frankland, dem Rechtsverdreher?«
»Ganz recht. Sie heiratete einen Maler Namens Lyons, der hierher aufs Moor kam, um Skizzen zu machen. Nachher stellte es sich heraus, daß er ein Lump war, und er verließ sie. Nach allem, was ich gehört habe, mag indessen die Schuld nicht ausschließlich aus seiner Seite gelegen haben. Ihr Vater weigerte sich, auch nur das Geringste zu thun; sie hatte nämlich gegen seinen Willen geheiratet, und vielleicht hatte er auch sonst noch einige Gründe. Sie hat daher mit dem alten Sünder sowohl wie mit dem jungen einen ziemlich schweren Stand gehabt.«
»Wovon lebt sie?«
»Ich glaube, der alte Frankland hat ihr ’ne Kleinigkeit ausgesetzt; viel kann das jedenfalls nicht sein, denn mit seinen eigenen Verhältnissen steht es ziemlich faul. Mag sie nun auch an ihrem Unglück selber schuld sein, jedenfalls konnten wir nicht ruhig mit ansehen, daß sie hoffnungslos unter die Räder kam. Man beschäftigte sich mit ihrer Lage, und verschiedene von den Leuten hier in der Gegend sprangen ihr bei, um ihr einen anständigen Erwerb zu ermöglichen. Stapleton that etwas und Sir Charles ebenfalls; ich steuerte auch eine Kleinigkeit bei. Sie schaffte sich eine Schreibmaschine an und lebt nun von der Anfertigung von Abschriften.«
Er wollte wissen, warum ich fragte, doch gelang es mir, seine Neugier zu befriedigen, ohne ihm allzu viel zu sagen, denn wir haben durchaus keinen Anlaß, jedermann ins Vertrauen zu ziehen. Morgen früh werde ich mich nach Coombe Tracey aufmachen, und wenn es mir gelingt, diese Frau Laura Lyons von etwas zweifelhaftem Rufe zu sprechen, so bringt uns dies der Aufklärung von einem der vielen geheimnisvollen Ereignisse um ein gutes Stück näher. Ich kann von mir sagen, daß ich heute klug wie eine Schlange gewesen bin, denn als Dr. Mortimer mit seinen Fragen ein bißchen gar zu unbequem wurde, fragte ich ihn so ganz nebenbei, zu welchem Typus eigentlich Franklands Schädel gehöre. Die Folge davon war, daß ich während des ganzen Restes unserer Fahrt nichts als Schädellehre zu hören bekam. Ja, ich habe nicht umsonst jahrelang mit Sherlock Holmes zusammen gelebt!
Von dem heutigen trüben Regentag habe ich nur noch einen einzigen Vorfall zu verzeichnen. Ich hatte nämlich gerade eben eine Unterhaltung mit Barrymore und bekam dabei eine Trumpfkarte in die Hand, die sich gewiß als wertvoll erweisen wird, wenn der rechte Zeitpunkt da ist.
Mortimer blieb bei uns zu Tisch, und nach dem Essen spielten der Baronet und er Ecarté. Ich ging ins Bibliothekzimmer und ließ mir dorthin von Barrymore meinen Kaffee bringen. Da die Gelegenheit günstig war, so benutzte ich sie, ein paar Fragen an ihn zu richten.
»Na?« sagte ich. »Ist denn nun Ihr braver Verwandter fort oder haust er noch aus dem Moor?«
»Ich weiß es nicht, Herr! Ich hoffe zu Gott, daß er fort ist, denn er hat uns nichts als Verlegenheiten bereitet. Ich habe nichts mehr von ihm gehört, seitdem ich ihm das letztemal Speisen brachte, und das war vor drei Tagen.«
»Sahen Sie ihn denn damals?«
»Nein; aber das Essen war verschwunden, als ich das nächstemal nach jener Stelle ging.«
»Dann muß er also ganz bestimmt dagewesen sein?«
»Man sollte das annehmen; indessen wäre es auch möglich, daß der andere es genommen hätte.«
Ich wollte gerade die Kaffeetasse an meine Lippen führen, hielt aber aus halbem Wege inne und starrte Barrymore an.
»Der andere? Sie wissen also, daß noch ein anderer Mann da ist?«
»Ja, Herr; es ist noch einer aus dem Moor.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein.«
»Woher wissen Sie denn etwas von ihm?«
»Selden erzählte mir von ihm; es mag etwa eine Woche her sein, vielleicht auch etwas länger. Er hält sich ebenfalls versteckt, ist aber kein entsprungener Sträfling, nach allem, was ich erfahren konnte. Es gefällt mir nicht, Herr Doktor — ich muß Ihnen aufrichtig sagen, die Sache gefällt mir ganz und gar nicht.«
Es lag plötzlich ein seltsam eindringlicher Ernst in dem Ton, womit Barrymore sprach.
»Nun, Barrymore, hören Sie mal, was ich Ihnen sage! Ich verfolge bei dieser ganzen Angelegenheit kein Interesse als das Ihres Herrn. Ich bin nur zu dem Zweck hierhergekommen, ihm beizustehen. Sagen Sie mir also frei und offen: Was ist bei dieser Sache, das Ihnen nicht gefällt?«
Barrymore zögerte einen Augenblick, als bedauerte er, daß er sich zu einem Gefühlsausbruch habe hinreisen lassen, oder als wüßte er nicht die rechten Worte zu finden. Endlich aber rief er, indem er mit der Hand nach dem aufs Moor hinausgehenden Fenster deutete, gegen dessen Scheiben der Regen peitschte:
»Es sind alle diese Vorgänge, Herr! Irgendwo ist ein Verbrechen im Spiel, und es wird irgend ein fürchterlicher Schurkenstreich ausgebrütet, darauf will ich schwören! Ich wäre wirklich von Herzen froh, wenn ich Sir Henry erst wieder auf der Rückreise nach London wüßte!«
»Aber was ist es denn, das Sie beunruhigt?«
»Nehmen Sie nur Sir Charles’ Tod! Die Umstände waren ja schlimm genug, nach allem, was der Vorsitzende bei der Leichenschau sagte! Dann die Töne nachts auf dem Moore! Kein Mensch hier in der Gegend würde wagen, nach Sonnenuntergang übers Moor zu gehen, und wenn er noch so viel dafür bezahlt bekäme. Dann dieser Fremde, der sich da draußen versteckt hält und überall herumschleicht und herumschnüffelt! Was sucht er? Was bedeutet das alles? Sicherlich nichts Gutes für jeden, der den Namen Baskerville trägt — und ich will mich aufrichtig freuen, wenn Sir Henrys neue Dienerschaft hier in Baskerville Hall einzieht und ich nichts mehr damit zu thun habe.«
»Aber was ist’s denn mit diesem Fremden?« fragte ich. »Können Sie mir irgend etwas über ihn sagen? Was sagte Selden Ihnen? Hatte er das Versteck des Mannes herausbekommen, oder wußte er, welche Zwecke dieser verfolgte?«
»Er sah ihn ein- oder zweimal — aber er ist ein verschlossener Charakter und durchaus nicht mitteilsam. Zuerst dachte er, es wäre einer von der Polizei, doch merkte er bald, daß jener seine eigenen Absichten verfolgte. Worin diese aber bestanden, das konnte er nicht entdecken, nur meinte er, es wäre wohl ein feiner Herr.«
»Und wo hauste dieser Mann nach Seldens Angabe?«
»In den alten Häusern am Hügel — in einer von den Steinhütten aus der Vorzeit.«
»Aber wie verschaffte er sich sein Essen?«
»Selden bemerkte, daß er einen Jungen hat, der ihm alles besorgt imd ihn mit dem Notwendigsten versieht. Höchst wahrscheinlich holt er dieses aus Coombe Tracey.«
»Schön, Barrymore Wir können gelegentlich mal wieder darüber sprechen.«
Nachdem der Diener gegangen war, trat ich an das schwarze Fenster und sah durch die vom Regenwasser trüben Scheiben nach den ziehenden Wolken und den Baumwipfeln, die sich vor dem Sturmwind bogen. Eine unbehagliche Nacht hier drinnen — und wie muß sie erst draußen sein aus dem Moor in einer Steinhütte! Welch ein leidenschaftlicher Haß muß den Mann beseelen, der sich in dieser Jahreszeit in solchen Verstecken verbirgt! Und welchen Zweck muß einer verfolgen, der sich solchen Strapazen unterzieht? Jedenfalls einen ernsten und wichtigen! Dort, in der Steinhütte aus dem Moor, liegt der wahre Mittelpunkt des Problems, das mich so fürchterlich gemartert hat. Und ich schwöre, es soll kein Tag mehr vergehen, und ich werde alles thun, was in Menschenkräften steht, um dem Geheimnis auf den Grund zu kommen.
11
Der Auszug aus meinem Tagebuch, den ich im letzten Kapitel mitgeteilt habe, reicht bis zum 18. Oktober. An diesem Tage begannen die seltsamen Ereignisse sich schnell zu ihrem entsetzlichen Ende zu entwickeln. Die Vorfälle der nächsten Tage haben sich unauslöschlich meinem Gedächtnis eingegraben, und ich brauche, um sie zu erzählen, nicht meine damaligen Aufzeichnungen zu Hilfe zu nehmen.
Ich hatte, wie bereits berichtet, am 17. Oktober zwei Thatsachen von großer Bedeutung festgestellt: erstens, daß Frau Laura Lyons in Coombe Tracey an Sir Charles Baskerville geschrieben und ihm ein Stelldichein gegeben hatte, und daß dieses Zusammentreffen genau an dem Ort und zu der Stunde seines jähen Todes hatte stattfinden sollen; zweitens, daß der Mann, der sich auf dem Moor versteckt hielt, in den Steinhäusern am Hügelabhang zu finden war. Da ich von diesen beiden Thatsachen Kenntnis hatte, so mußte ich unbedingt neues Licht in die noch dunklen Rätsel hineinbringen, falls nicht etwa meine Intelligenz oder mein Mut mich in Stich ließen — und das befürchtete ich nicht.
Ich hatte keine Gelegenheit gefunden, den Baronet noch im Laufe des Abends von den neuen Mitteilungen betreffs Frau Lyons in Kenntnis zu setzen, denn Doktor Mortimer blieb bis tief in die Nacht hinein mit ihm am Spieltische sitzen. Beim Frühstück jedoch teilte ich ihm meine Entdeckung mit und fragte ihn, ob er Lust hätte, mich nach Coombe Tracey zu begleiten. Zuerst war er Feuer und Flamme für diesen Plan; nach reiflicherem Ueberlegen jedoch schien es uns beiden, ich würde vielleicht mehr ausrichten, wenn ich allein ginge. Es war sehr leicht möglich, daß wir umso weniger erfuhren, je formvoller wir den Besuch machten. Ich ließ daher, wenngleich nicht ohne einige Gewissensbisse, Sir Henry allein zurück und machte mich auf meinen Weg.
In Coombe Tracey angekommen, befahl ich Perkins, die Pferde einzustellen, und erkundigte mich nach der Dame, der mein Besuch galt. Ich fand ohne Mühe ihre Wohnung, die mitten im Ort lag und gut eingerichtet war. Ein Dienstmädchen ließ mich ohne weitere Förmlichkeiten in das Wohnzimmer eintreten, und eine Dame, die vor einer Remington-Schreibmaschine saß, sprang auf und bewillkommnete mich mit einem freundlichen Lächeln. Dieser Ausdruck von Frermdlichkeit verschwand indessen, als sie sah, daß ich ein Unbekannter war; sie setzte sich wieder hin und fragte mich nach dem Anlaß meines Besuches.
Auf den ersten Blick machte Frau Lyons den Eindruck einer außerordentlichen Schönheit. Ihre Haare waren, wie die Augen, von dunkelbrauner Farbe, ihre Wangen waren zwar etwas sommersprossig, aber es lag auf ihnen der köstliche Flaum der Brünetten, jener zartrote Hauch, der sich im Herzen der gelben Rose birgt. Bewunderung war, ich wiederhole es, das erste Gefühl, das sie einflößte; dann aber kam sofort die Kritik. Es lag in ihrem Gesicht ein eigentümlicher, nicht anziehender Ausdruck, vielleicht eine gewisse Härte des Blickes, eine Schlaffheit der Lippen — genug, die Vollkommenheit ihrer Schönheit wurde dadurch beeinträchtigt. Doch diese Gedanken machte ich mir natürlich erst hinterher. In jenem Augenblick hatte ich nur das Gefühl, mich einer sehr hübschen Frau gegenüber zu befinden, die mich fragte, warum ich sie besuchte. Diese Frage brachte mir so recht zum Bewußtsein, wie delikat meine Aufgabe war.
»Ich habe das Vergnügen,« begann ich, »Ihren Herrn Vater zu kennen.«
Dies war nun freilich eine recht linkische Eröffnung des Gespräches, und die Dame gab es mir denn auch sofort zu verstehen.
»Zwischen meinem Vater und mir,« sagte sie, »bestehen keine Beziehungen. Ich bin ihm nichts schuldig, und seine Freunde sind nicht die meinigen. Wäre nicht der verstorbene Sir Charles Baskerville gewesen, und hätte ich nicht noch einige andere gütige Herzen gefunden, so hätte ich hungern können — mein Vater hätte sich nicht darum gekümmert!«
»Der Anlaß meines Besuches bei Ihnen betrifft gerade den verstorbenen Sir Charles Baskerville.«
Die Dame wurde rot, so daß die Sommersprossen aus ihren Wangen deutlich hervortraten.
»Was wünschen Sie von mir in betreff dieses Herrn zu hören?« fragte sie, und ihre Finger spielten nervös auf den Tasten der Schreibmaschine.
»Sie kannten ihn, nicht wahr?«
»Wie ich Ihnen bereits sagte, bin ich seiner Freundlichkeit großen Dank schuldig. Wenn ich imstande bin, mein Brot selber zu verdienen, so habe ich das in weitem Maße der Teilnahme zu verdanken, die ihm meine unglückliche Lage einflößte.«
»Standen Sie mit ihm in brieflichem Verkehr?«
Sie warf einen raschen Blick aus mich, und in ihren nußbraunen Augen lag ein ärgerlicher Schein.
»Was bezwecken Sie mit diesen Fragen?« rief sie dann scharf.
»Ich bezwecke damit einen öffentlichen Skandal zu vermeiden Es ist besser, ich richte diese Frage hier an Sie als an einem anderen Ort, wo die Sache vielleicht eine Wendung nehmen möchte, gegen die wir nichts machen könnten.«
Sie schwieg und ihr Gesicht war sehr blaß. Schließlich blickte sie auf, und in ihrer Haltung sprach sich ein gewisser leichtfertiger und herausfordernder Trotz aus.
»Gut, ich will antworten!« sagte sie. »Fragen Sie!«
»Standen Sie mit Sir Charles in Briefwechsel?«
»Gewiß; ich schrieb ihm ein- oder zweimal, um ihm für sein Zartgefühl und seinen Edelmut zu danken.«
»Wissen Sie die Daten dieser Briefe?«
»Nein.«
»Sind Sie jemals persönlich mit ihm zusammengetroffen?«
»Ja, ein- oder zweimal hier in Coombe Tracey. Er lebte sehr zurückgezogen, und wenn er Gutes that, so liebte er, daß es im Verborgenen geschah.«
»Aber wenn Sie ihm so selten schrieben und ihn so selten sprachen, wie kommt es dann, daß er mit Ihren Angelegenheiten so gut Bescheid wußte, um Ihnen helfen zu können, wie er es doch that, nach dem, was Sie sagten?« …
Auf diesen Einwurf war sie sofort mit einer Erklärung bei der Hand.
»Mehrere Herren kannten meine traurige Geschichte und thaten sich zusammen, um mir zu helfen. Einer von ihnen war Herr Stapleton, ein Nachbar und intimer Freund von Sir Charles. Er war außerordentlich freundlich und durch ihn wurde Sir Charles mit dem Stande meiner Angelegenheiten genauer bekannt.«
Ich wußte bereits, daß Sir Charles Baskerville sich bei verschiedenen Gelegenheiten Stapletons als seines Almoseniers bedient hatte; die Angabe der Dame trug daher den Stempel der Wahrheit.
»Schrieben Sie jemals an Sir Charles, um ihn um eine Begegnung zu bitten?« fuhr ich fort.
Frau Lyons wurde abermals rot vor Aerger.
»In der That, mein Herr, das ist eine höchst eigentümliche Frage!«
»Es thut mir leid, gnädige Frau, aber ich muß sie wiederholen.«
»Dann antworte ich Ihnen: nein! ich schrieb ganz gewiß nicht!«
»Auch nicht an eben jenem Tage, als Sir Charles starb?«
Die Röte war augenblicklich verflogen und ein totenbleiches Antlitz starrte mich an. Ihre trockenen Lippen vermochten kaum das ‘Nein’ hervorzubringen das ich mehr sah als hörte.
»Ihr Gedächtnis täuscht Sie ganz gewiß!« sagte ich. »Ich könnte Ihnen sogar eine Stelle Ihres Briefes wortgetreu hersagen. Sie lautete: ‘Bitte, bitte, da Sie ein Gentleman sind, so verbrennen Sie diesen Brief und seien Sie um zehn Uhr an der Pforte!«
Ich glaubte, sie fiele in Ohnmacht, aber sie hielt sich mit höchster Anspannung ihrer Willenskraft aufrecht, doch stöhnte sie:
»So giebt es also keinen Gentleman?!«
»Sie sind ungerecht gegen Sir Charles. Er verbrannte wirklich den Brief. Aber ein Brief kann zuweilen noch leserlich sein, selbst wenn er verbrannt ist. Sie erkennen jetzt also an, daß Sie ihn geschrieben?«
»Ja, ich schrieb ihn!« rief sie, und die ganze Erregung ihrer Seele brach sich in einem Strom von Worten Bahn. »Ich schrieb ihn. Warum sollte ich das leugnen? Ich habe keinen Grund, mich deswegen zu schämen. Ich wünschte von ihm Hilfe zu erhalten. Ich glaubte, wenn ich ein Zusammentreffen erlangte, so wäre mir seine Hilfe sicher, und deshalb bat ich ihn um das Stelldichein.«
»Aber warum zu solch einer Stunde?«
»Weil ich gerade erst erfahren hatte, daß er am nächsten Tage nach London reiste und vielleicht monatelang abwesend sein würde. Aus verschiedenen Gründen konnte ich mich nicht früher einfinden.«
»Aber warum ein Stelldichein im Garten statt eines einfachen Besuches im Hause?«
»Sind Sie der Meinung, eine Frau könnte zu solcher Stunde allein in die Wohnung eines unverheirateten Herrn gehen?«
»Nun, was passierte denn weiter, als Sie an der Pforte ankamen?«
»Ich bin gar nicht hingegangen.«
»Frau Lyons!«
»Nein. Ich schwöre es Ihnen bei allem, was mir heilig ist. Ich ging nicht. Es kam etwas dazwischen, was mich davon abhielt.«
»Und was war das?«
»Das ist eine Privatangelegenheit. Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
»Sie geben also zu, daß Sie mit Sir Charles am Tage seines Todes eine Verabredung hatten und sogar für die Stunde und den Ort, wo er starb, Sie leugnen aber, diese Verabredung eingehalten zu haben?«
»So ist es!«
Immer und immer wieder fragte ich sie aus wie in einem Kreuzverhör, aber über diesen Punkt gelang es mir nicht hinwegzukommen. Schließlich stand ich auf, um dem langen und ergebnislosen Gespräch ein Ende zu machen.
»Frau Lyons,« sagte ich, als ich mich erhob, »Sie laden eine sehr große Verantwortlichkeit auf sich und bringen sich selber in eine ganz schiefe Lage, indem Sie nicht frei heraus alles sagen, was Sie wissen. Wenn ich die Hilfe der Polizei anrufen muß, so werden Sie finden, wie ernstlich Sie sich bloßgestellt haben. Sind Sie vollkommen unschuldig, warum leugneten Sie denn im ersten Augenblick, daß Sie an jenem Tage an Sir Charles geschrieben hatten?«
»Weil ich fürchtete, es könnten falsche Schlußfolgerungen daraus gezogen werden, durch welche ich mich möglicherweise in einen Siandal verwickelt gesehen hätte.«
»Und warum drangen Sie so sehr darauf, daß Sir Charles Ihren Brief vernichten sollte?«
»Wenn Sie den Brief gelesen haben, so werden Sie das ja selber wissen!«
»Ich habe nicht behauptet, daß ich den ganzen Brief gelesen hätte.«
»Sie zitierten doch etwas daraus.«
»Ja, die Nachschrift Der Brief war, wie ich bereits sagte, verbrannt worden, und es war nicht mehr alles leserlich. Ich frage noch einmal, warum Sie Sir Charles so dringend baten, diesen Brief zu vernichten, den er an seinem Todestage empfing.«
»Die Angelegenheit ist rein persönlich.«
»Umsomehr sollten Sie bemüht sein, eine öffentliche Untersuchung fernzuhalten!«
»Nun, so will ich’s Ihnen denn sagen! Wenn Sie einiges von meiner unglücklichen Geschichte gehört haben, so werden Sie wissen, daß ich mich in unbesonnener Weise verheiratete, und daß ich Ursache hatte, diesen Schritt zu bereuen.«
»Ich habe davon gehört.«
»Seit jenem Augenblick wurde ich unaufhörlich von meinem Manne verfolgt, den ich verabscheue. Das Gesetz steht auf seiner Seite, und jeden Tag sehe ich mich der Möglichkeit gegenübergestellt, daß er mich zwingt, wieder mit ihm zusammenzuleben. Damals, als ich Sir Charles jenen Brief schrieb, hatte ich erfahren, es wäre für mich Aussicht vorhanden, meine Freiheit wiederzuerlangen, wenn ich über eine gewisse Summe Geldes verfügen könnte. Für mich hing alles davon ab: Seelenruhe, Glück, Selbstachtung — mit einem Wort: alles! Ich kannte Sir Charles’ Freigiebigkeit, und ich dachte, wenn er die Geschichte aus meinem eigenen Munde hörte, so würde er mir ganz gewiß helfen.«
»Wie kommt es dann aber, daß Sie nicht hingingen?«
»Weil mir in der Zwischenzeit von anderer Seite her Hilfe kam.«
»Aber warum schrieben Sie dies nicht an Sir Charles?«
»Ich hätte das gethan, wenn ich nicht am anderen Morgen seinen Tod in der Zeitung gelesen hätte.«
Die Geschichte der Frau war in sich zusammenhängend, und mit all meinen Fragen gelang es mir nicht, ihre Angaben zum Wanken zu bringen. Ich konnte nichts weiter thun, als Nachforschungen anzustellen, ob sie wirklich zur Zeit, wo die Tragödie von Baskerville Hall sich abgespielt hatte, Schritte gethan, um sich von ihrem Gatten scheiden zu lassen.
Es war nicht anzunehmen, daß sie geleugnet hätte, in der Taxusallee von Baskerville Hall gewesen zu sein, wenn sie in Wirklichkeit dort gewesen wäre, denn, um dorthin zu gelangen, hätte sie sich unbedingt eines Wagens bedienen müssen, und dieser hätte nicht vor den frühen Morgenstunden wieder in Coombe Tracey anlangen können. Eine solche Ausfahrt ließ sich nicht geheim halten. Es war also anzunehmen, daß sie in dieser Hinsicht die Wahrheit sagte — oder wenigstens einen Teil der Wahrheit Ich fühlte mich gefoppt und fuhr niedergeschlagen von Coombe Tracey ab. Abermals stand ich vor jener unübersteiglichen Mauer, die anscheinend aus jedem Wege sich erhob, den ich einschlug, um zu meinem Ziel zu gelangen. Und doch, je mehr ich an das Mienenspiel und das Benehmen der Dame dachte, desto stärker wurde der Eindruck, daß sie mir irgend etwas verheimlichte.
Warum war sie so bleich geworden? Warum mußte ihr jedes Zugeständnis sozusagen abgekämpft werden? Warum war sie in jenen Tagen, als die Tragödie die ganze Gegend in Aufruhr versetzt hatte, so schweigsam gewesen? Ganz gewiß ließ dies alles sich nicht auf eine so unschuldige Art erklären, wie sie mich glauben machen wollte! Für den Augenblick konnte ich indessen keine weiteren Schritte in jener Richtung thun, sondern mußte mich zu der anderen Spur wenden, die in den Steinhütten aus dem Moor zu suchen war.
Und das war eine von sehr ungewisser Art! Es kam mir so recht zum Bewußtsein, als ich aus der Rückfahrt bemerkte, wie Hügel um Hügel die Spuren des Heidenvolkes zeigte. Barrymore hatte nichts weiter sagen können, als daß der Fremde in einer von den verlassenen Hütten hauste, und nun sah ich, daß diese zu Hunderten überall und überall übers Moor zerstreut waren. Immerhin hatte ich mein eigenes nächtliches Erlebnis als Ausgangspunkt, denn ich hatte mit meinen Augen den Mann selber aus dem Gipfel des ‘Black Tor’ stehen sehen. Von diesem Punkt aus mußte ich also meine Nachforschungen beginnen. Ich konnte nichts anderes thun, als von diesem Mittelpunkt aus jede Hütte aus dem Moor zu untersuchen, bis ich die richtige traf. War dieser Mann in der Hütte, so mußte er mir selber gestehen — wenn nötig, vor der Mündung meines Revolvers — wer er war und warum er uns so lange nachgespürt hatte. Im Gedränge der Regent Street konnte er uns wohl entschlüpfen, aber hier auf dem einsamen Moor sollte ihm das doch schwer werden! Sollte ich dagegen die Hütte finden, ihr Bewohner aber nicht anwesend sein — nun so mußte ich dort warten, bis er zurückkehrte, mochte meine Wache auch noch so lange dauern. Holmes hatte ihn in London entwischen lassen. Es wäre in der That ein Triumph für mich gewesen, hätte ich den Mann dingfest gemacht, den mein Meister nicht hatte halten können!
Während all unserer Bemühungen war das Glück immer und immer wieder uns feindlich gewesen — nun auf einmal kam es uns zu Hilfe. Und der Glücksbringer war niemand anderes als der alte Frankland, der mit seinem grauen Backenbart und roten Gesicht vor seiner Gartenpforte auf dem Wege stand, den ich entlang fuhr.
»Guten Tag, Doktor Watson!« rief er mit ungewohntem guten Humor. »Sie müssen wirklich Ihre Pferde ein bißchen ausruhen lassen und mit mir hereinkommen, um ein Glas Wein mit mir zu trinken und mir zu gratulieren.«
Ich empfand durchaus keine freundschaftlichen Gefühle für den Mann, der nach allem, was man mir erzählt, seine Tochter so schlecht behandelt hatte, aber mir lag viel daran, Perkins mit dem Fuhrwerk nach Hause zu schicken, und diese Gelegenheit war günstig. Ich stieg also aus und sagte dem Kutscher, er möchte Sir Henry bestellen, daß ich zur Essenszeit zu Hause sein würde. Dann folgte ich Frankland in sein Speisezimmer.
»Heut ist ein großer Tag für mich, Herr Doktor
— einer von den wenigen Tagen in meinem Leben, die ich rot anstreichen kann!« rief er, unaufhörlich kichernd. »Ich habe einen Doppelsieg! Ja, ich will den Leuten hier beibringen, daß das Gesetz Gesetz ist, und daß es hier einen Mann giebt, der sich nicht fürchtet, es anzurufen! Ich habe ein Wegerecht mitten durch des alten Middletons Park nachgewiesen, mitten durch, Herr Doktor, keine hundert Ellen von seiner Hausthür. Was sagen Sie dazu? Wir wollen diesen Magnaten zeigen, daß sie nicht so mir nichts dir nichts sich über die Rechte von uns Bürgerlichen hinwegsetzen können, hol’ sie der Henker! Dann habe ich den Wald gesperrt, wo die Fernworthyer immer Picknicks hielten. Diese Höllenbrut scheint zu glauben, es gebe keine Eigentumsrechte und sie können nach freiem Belieben überall herumschwärmen mit ihren Flaschen und mit ihrem Butterbrotpapier. Beide Prozesse sind entschieden, Doktor Watson, und beide zu meinen Gunsten. Solch einen Tag habe ich nicht gehabt, seitdem ich Sir John Morland verurteilen ließ, weil er in seiner eigenen Fasanerie geschossen hatte.«
»Wie in aller Welt brachten Sie denn das fertig?«
»Lesen Sie’s nur in den Büchern nach, Doktor! Es lohnt sich der Mühe! Frankland gegen Morland, Gerichtshof: Queens Bench Es kostet mich 200 Pfund, aber ich setzte mein Urteil durch!«
»Hatten Sie irgend einen Vorteil dabei?«
»Keinen, Herr Doktor, gar keinen! Ich sage es voll Stolz, ich hatte gar kein Interesse an der Sache. Ich handle durchaus nur aus Pflichtgefühl zum allgemeinen Besten. Ich zweifle zum Beispiel nicht, daß die Leute von Fernworthy mich heute abend in effigie verbrennen werden. Als sie’s das letztemal thaten, sagte ich der Polizei, sie müßte derartige anstößige Auftritte verhindern. Die Grafschaftspolizei ist in einem skandalösen Zustande, Herr Doktor, und hat mir nicht den Schutz gewährt, auf den ich Anspruch habe. Der Prozeß Frankland gegen Reginam wird die Sache vor die Oeffentlichkeit bringen. Ich sagte ihnen, es würde ihnen schon noch mal leid thun, mich so behandelt zu haben, und meine Worte haben sich denn auch bereits bewahrheitet!«
»Wieso?«
Der alte Mann machte ein sehr geheimnisvolles Gesicht und flüsterte:
»Weil ich ihnen was sagen könnte, wonach sie sich die Beine abgelaufen haben; aber nichts soll mich dazu bringen, diesen Schuften in irgend einer Weise beizustehen.«
Ich hatte bereits nach einem Vorwand gesucht, um mich seinem Geschwätz zu entziehen; die letzten Worte erregten jedoch in mir den Wunsch mehr zu hören. Ich hatte von dem Widerspruchsgeist des alten Sünders genug gesehen, um nicht zu begreifen, daß er seine Herzensergüsse sofort einstellen würde, wenn ich mich irgendwie neugierig zeigte. Ich sagte daher mit möglichst gleichgültiger Miene:
»Jedenfalls handelt sich’s um irgend ’ne Wilddieberei.«
»Haha, mein Junge! Nein, um etwas viel, viel Wichtigeres! Was meinen Sie wohl? Es betrifft den Sträfling auf dem Moor!«
Ich fuhr in die Höhe und rief:
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie wissen, wo der Mann ist?«
»Ich weiß vielleicht nicht ganz genau, wo er ist, aber ich bin vollkommen sicher, daß ich der Polizei helfen könnte, ihn festzunehmen! Ist es Ihnen niemals eingefallen, daß es kein besseres Mittel giebt, den Mann zu fangen, als indem man ausfindig macht, von wem er seine Nahrungsmittel erhält? Man braucht nur die Spur zu verfolgen und man hat ihn!«
Der alte Herr schien in der That in sehr unbequemer Weise dicht bei der Wahrheit zu sein.
»Ohne Zweifel haben Sie recht,« antwortete ich, »aber wie wissen Sie überhaupt, daß er irgendwo aus dem Moor ist?«
»Das weiß ich, weil ich mit eigenen Augen den Boten gesehen habe, der ihm sein Essen bringt.«
Ich bekam Angst um Barrymore. Es war keine Kleinigkeit, in der Gewalt dieses boshaften alten Krakehlers zu sein. Aber als er weiter sprach, fiel mir ein Stein vom Herzen.
»Es wird Sie überraschen, wenn ich Ihnen sage, daß sein Essen ihm von einem Knaben gebracht wird. Ich sehe ihn jeden Tag durch mein Fernrohr, das oben auf meinem Dache steht. Er geht immer um dieselbe Stunde denselben Weg entlang, und zu wem sollte er gehen, als zu dem Sträfling?«
Das war allerdings wirklich Glück! Doch trotz meiner inneren Freude unterdrückte ich jedes Anzeichen von Neugier. Ein Knabe! Barrymore hatte gesagt, unser Unbekannter würde von einem Knaben bedient. Auf dessen Spur und nicht auf die des Sträflings war Frankland geraten! Wenn ich ihn dazu bringen konnte, mir alles zu sagen, was er wußte, so ersparte mir das vielleicht eine lange und mühsame Jagd. Aber das beste Mittel, um diesen Zweck zu erreichen, waren offenbar zur Schau getragene Ungläubigkeit und Gleichgültigkeit.
»Meiner Meinung nach dürfte es wahrscheinlicher sein, daß der Junge der Sohn irgend eines Moorschäfers ist und seinem Vater das Mittagessen bringt.«
Bei dem geringsten Widerspruch sprühte der alte Autokrat sofort Feuer und Flammen. Er sah mich mit einem giftigen Blick an und seine grauen Barthaare sträubten sich wie die eines wütenden Katers.
»Was Sie nicht sagen!« rief er, und damit streckte er den Finger in der Richtung nach dem Moor aus. »Sehen Sie dahinten den Black Tor? Sehen Sie darunter den niedrigen Hügel mit dem Dornbusch drauf? Es ist der steinigste Teil des ganzen Moores. Würde wohl ein Schäfer da sein Standquartier aufschlagen? Ihre Meinung, Herr, ist im höchsten Grade abgeschmackt!«
Ich antwortete ganz kleinlaut, ich hätte gesprochen, ohne alle diese Thatsachen zu kennen. Meine Unterwürfigkeit gefiel ihm und veranlaßte ihn zu weiteren vertraulichen Mitteilungen.
»Verlassen Sie sich darauf, Doktor, ich habe meine guten Gründe, bevor ich mir eine Meinung bilde. Ich sah den Jungen wieder und immer wieder mit seinem Bündel. Jeden Tag und oft sogar zweimal täglich konnte ich — aber warten Sie doch ’mal, Doktor Watson! Täuschen meine Augen mich oder bewegt sich gerade in diesem Augenblick etwas den Hügel hinauf?«
Die Entfernung betrug mehrere Meilen, aber ich konnte ganz deutlich auf dem dunkelgrauen und grünen Grunde einen schwarzen Fleck sich abheben sehen.
»Kommen Sie, kommen Sie!« rief Frankland und rannte dabei die Treppe hinauf. »Sie sollen mit Ihren eigenen Augen sehen und selber urteilen.«
Das Fernrohr, ein riesiges Instrument auf einem dreibeinigen Gestell, stand auf dem flachen Dache des Hauses. Frankland legte das Auge an das Glas und stieß einen Schrei der Genugthuung aus.
»Schnell, Doktor Watson, schnell! Sonst verschwindet er über dem Hügelgipfel!«
Richtig, da ging ein Junge mit einem kleinen Bündel auf der Schulter. Er stieg langsam den Hügel hinauf, und als er oben war, sah ich einen Augenblick lang die zerlumpte Gestalt sich gegen den kalten blauen Himmel abheben. Er sah sich mit scheuem Wesen um, wie einer, der verfolgt zu werden fürchtet. Dann verschwand er jenseits des Hügels.
»Na, hab’ ich recht?«
»Jedenfalls ging da ein Junge, der irgend eine geheime Besorgung zu machen scheint.«
»Und was das sür eine Besorgung ist, das könnte sogar ein Grafschaftspolizist erraten! Aber kein Wort sollen sie von mir darüber erfahren, und ich verlange auch von Ihnen Verschwiegenheit, Doktor Watson. Kein Wort! Berstehen Sie?«
»Ganz, wie Sie wünschen.«
»Sie haben mich schändlich behandelt — schändlich! Wenn im Prozeß Frankland gegen Reginam die Thatsachen ans Licht kommen, so wird — das darf ich wohl annehmen — ein Schrei der Entrüstung durchs Land gehen! Nichts könnte mich dazu bringen, der Polizei in irgend einer Weise beizustehen. Die hätte ja ruhig mit zugesehen, wenn ich selber anstatt meines Abbildes von den Schurken da aus dem Scheiterhaufen verbrannt wdrden wäre …Aber Sie gehen doch nicht schon? Sie werden mir doch noch helfen, zu Ehren dieses großen Anlasses die Karosse zu leeren?«
Aber ich blieb allen Einladungen gegenüber standhaft und schließlich gelang es mir auch, ihn von seiner Absicht abzubringen mich nach Baskerville Hall zu begleiten. So lange er mir noch mit dem Auge folgen konnte, blieb ich auf der Straße; dann aber bog ich vom Wege ab in das Moorland hinein und schritt auf den Felsenhügel zu, auf dessen Kuppe der Junge verschwunden war. Alle Umstände hatten sich zu meinen Gunsten gewandt, und ich schwor mir selber zu, wenn der glückliche Zufall mir keinen Erfolg brächte, so sollte dies jedenfalls nicht an Mangel an Thatkraft oder Ausdauer von meiner Seite liegen.
Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, als ich den Gipfel des Hügels erreichte, und die langgestreckten Schluchten zu meinen Füßen glänzten auf der einen Seite in goldigem Grün und waren auf der anderen in graue Schatten gehüllt.
Aus dem Nebelstreifen, der in der Ferne den Horizont verbarg, ragten die phantastisch geformten Umrisse des Belliver und des Biren Tor hervor. Auf der ganzen weiten Fläche kein Laut, keine Bewegung! Ein großer grauer Vogel, eine Möwe oder ein Brachvogel, schwebte hoch über mir in der blauen Luft. Er und ich schienen die einzigen lebenden Wesen zwischen dem Riesengewölbe des Himmels und der weiten Wüste zu sein. Die traurige Landschaft, das Gefühl der Einsamkeit, das Geheimnisvolle und Dringliche meiner Aufgabe — dies alles ergriff mein Herz mit einem kalten Schauer. Der Junge war nirgends zu sehen. Aber tief unter mir in einer Schlucht war ein Kreis der alten Steinhütten, und in ihrer Mitte bemerkte ich eine, die noch hinreichend gut erhalten war, um gegen die Unbilden des Wetters Schutz bieten zu können. Das Herz klopfte mir, als ich sie sah. Dies mußte der Versteck sein, worin der Fremde hauste. Endlich berührte mein Fuß die Schwelle seiner Zufluchtsstätte — sein Geheimnis lag greifbar vor mir.
Vorsichtig näherte ich mich der Hütte — ich mußte an Stapleton denken, wenn er mit seinem Netz sich an den Schmetterling heranschlich, der sich auf eine Pflanze niedergelassen — und ich bemerkte mit Befriedigung, daß die Stätte wirklich als Wohnung benutzt worden war. Ein kaum erkennbarer Fußweg führte zwischen den Granitblöcken hindurch zu dem verfallenen Eingang der Hütte. Drinnen war alles still. Vielleicht hielt der Unbekannte sich dort versteckt, vielleicht aber streifte er auf dem Moor umher. Die Erregung der Abenteuerlust hielt meine Nerven auf das höchste gespannt. Ich warf meine Cigarette weg, umspannte mit der Faust den Kolben des Revolvers und ging schnellen Schrittes auf die Thür zu. Ich sah hinein. Der Raum war leer.
Aber es waren Anzeichen in Hülle und Fülle vorhanden, die dafür sprachen, daß ich auf keiner falschen Fährte war. Ganz bestimmt mußte der Mann hier wohnen. In einen wasserdichten Regenmantel eingewickelt lagen mehrere Wolldecken auf der Steinplatte, die schon den Heiden der Vorzeit als Schlummerstätte gedient hatte. Auf einem primitiven Feuerroste lag ein Haufen Asche. Daneben bemerkte ich einige Küchengeräte und einen halbvollen Wassereimer. Eine Anzahl aufeinander geworfener leerer Zinnbüchsen bewiesen mir, daß die Hütte schon seit einiger Zeit bewohnt sein müsse, und als meine Augen sich erst an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah ich in der Ecke eine Pfanne und eine angebrochene Flasche Branntwein.
Mitten im Raume lag ein flacher Stein, der als Tisch diente, und auf diesem lag, in ein Tuch eingewickelt, ein kleines Bündel — ohne Zweifel dasselbe, das ich durch das Fernrohr aus der Schulter des Jungen bemerkt hatte. Es enthielt einen Laib Brot, eine Büchse mit Zunge und zwei Dosen mit eingemachten Pfirsichen. Ich prüfte alle diese Gegenstände sorgfältig, und als ich sie wieder hinsetzte, bemerkte ich plötzlich mit Herzklopfen, daß unter dem Bündel ein Blatt Papier lag, worauf etwas geschrieben war. Ich nahm es in die Hand und las folgende Worte, die in unbeholfenen Zügen mit Bleistift gekritzelt waren:
»Doktor Watson ist nach Coombe Tracey gefahren.« Eine Minute lang stand ich, das Papier in der Hand haltend, regungslos da. Was bedeutete diese kurze Botschaft? So war ich es also und nicht Sir Henry, der von diesem geheimnisvollen Mann belauert wurde? Er war mir nicht selber gefolgt, sondern hatte mir einen Agenten — vielleicht den Jungen — auf die Spur gehetzt, und dies war der Bericht. Vielleicht hatte ich seit meiner Ankunft auf dem Moor keinen einzigen Schritt gethan, der nicht beobachtet und berichtet worden war!
Immer wieder drängte sich mir das Gefühl auf, daß eine unsichtbare Macht uns umgab, daß mit außerordentlicher Geschicklichkeit und Sorgfalt ein seines Netz um uns gespannt war — ein so leichtes und seines Netz, daß wir nur in gewissen, entscheidenden Augenblicken uns bewußt wurden, wirklich in die Maschen desselben verstrickt zu sein.
Wenn der Fremde einen schriftlichen Bericht empfangen hatte, so mochten wohl auch deren mehrere vorhanden sein; ich durchsuchte deshalb die ganze Hütte danach, fand indessen nicht das allergeringste Derartige. Ebensowenig entdeckte ich irgend ein Anzeichen, woraus ich auf den Charakter oder die Absichten des Mannes hätte schließen können, der sich eine so ungewöhnliche Wohnung ausgesucht hatte. Nur so viel ergab sich klar und deutlich, daß er ein Mann von spartanischen Lebensgewohnheiten sein mußte, und daß er sich aus den Bequemlichkeiten der Häuslichkeit wenig machte. Wenn ich an die schweren Regengüsse der letzten Zeit dachte und mir die klaffenden Lücken der Bedachung ansah, so konnte ich mich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß nur eine starke und unerschütterliche Willenskraft ihn vermögen konnte, an einem so unwirtlichen Platze zu bleiben. War er unser erbitterter Feind oder etwa unser Schutzengel? Ich nahm mir fest vor, die Hütte nicht eher zu verlassen, als bis ich mir darüber Klarheit verschafft hätte.
Draußen ging jetzt gerade die Sonne unter, und über den westlichen Himmel ergoß sich eine Glut von Rot und Gold. Ihr Widerschein lag in rötlichen Flecken auf den Wasserlachen im fernen großen Grimpener Sumpf. Ich sah die beiden Türme von Baskerville Hall, und eine undeutliche Rauchsäule zeigte mir den Ort an, wo das Dorf Grimpen lag. Zwischen diesen beiden Punkten, hinter dem Hügel, sah ich das Stapletonsche Haus. So sanft und friedlich lag das alles da in der goldenen Abendsonne, und doch, als mein Blick darüber hinschweifte, da fühlte meine Seele nichts von dem Frieden der Natur, sondern sie erbebte nur in einem unbestimmten Grauen vor dem Zusammentreffen, welchem jede Minute mich näher brachte. Aufgeregt, aber fest entschlossen, saß ich im finsteren Versteck der Hütte und erwartete mit düsterer Geduld die Heimkehr ihres Bewohners.
Endlich hörte ich ihn. Ein scharfes Klappen von einem Stiefel, der fest auf den
Felsgrund auftrat. Und noch ein Klappen und wieder und wieder eins, näher und
immer näher. Ich zog mich ganz in die dunkelste Ecke zurück und spannte den
Revolver in meiner Tasche, fest entschlossen, meine Anwesenheit nicht eher zu
verraten, als bis es mir gelungen wäre, einen Blick auf den Fremden zu werfen. Dann
kam eine lange Pause; ich hörte nichts mehr — offenbar war er stehen geblieben.
Dann kamen wieder die Fußtritte näher, und ein Schatten fiel quer über die
Thüröffnung.
»’s ist ein schöner Abend, mein lieber Watson,« sagte eine wohlbekannte Stimme. »Ich glaube wirklich, du sitzest hier außen angenehmer als drinnen.«
12
Ein paar Augenblicke saß ich bewegungslos da; mir stockte der Atem, kaum wollte ich meinen Ohren trauen. Dann aus einmal hatte ich ein Gefühl, als ob eine erdrückende Last von Verantwortlichkeit mir plötzlich von der Seele genommen würde. Diese kalte, schneidende, ironische Stimme konnte aus der ganzen Welt nur einem einzigen Mann angehören. Und ich rief:
»Holmes! …Holmes!«
»Komme heraus,« sagte er, »und sei vorsichtig mit dem Revolver.«
Ich bückte mich und kroch unter dem roh behauenen Steinblock durch, der quer über der Thüröffnung lag. Richtig, da saß Holmes draußen auf einem Stein, und seine grauen Augen tanzten vor Vergnügen, als sein Blick aus mein erstauntes Gesicht fiel. Er war mager und abgezehrt, dabei aber frisch und gesund, sein scharfgeschnittenes Gesicht war von Sonne und Wind gebrannt Seiner Kleidung nach sah er aus wie ein gewöhnlicher Tourist, der das Moor besucht, und mit seiner katzenmäßigen Vorliebe für persönliche Sauberkeit hatte er es fertig gebracht, daß sein Kinn so glatt und seine Wäsche so sauber waren, wie wenn er in seiner Wohnung in der Bakerstraße gewesen wäre.
»Nie in meinem Leben habe ich beim Anblick eines Menschen eine solche Freude empfunden!« rief ich, als ich ihm die Hand schüttelte.
»Und noch nie solches Erstaunen, he?«
»Ja, das muß ich freilich zugeben.«
»Die Ueberraschung war durchaus nicht einseitig, das kann ich dir versichern. Ich hatte keine Ahnung davon, daß du meinen derzeitigen Schlupfwinkel herausgefunden hättest und noch viel weniger, daß du in eigener Person darin säßest, als bis ich zwanzig Schritte von meiner Thür entfernt war.«
»Du bemerktest wahrscheinlich meine Fußspur?«
»Nein, Watson, so weit geht denn doch meine Beobachtungsgabe nicht, daß ich deine Fußspur unter allen Fußspuren der ganzen Welt herausfinden könnte. Wenn du im Ernst wünschest, mich in eine Falle zu locken, so mußt du dir einen anderen Tabakslieferanten anschaffen; denn wenn ich einen Cigarettenstummel finde, worauf die Firma ‘Bradley, Oxford Street’ steht, so weiß ich, daß mein Freund Watson in der Nähe ist. Du kannst den Stummel dort neben dem Fußweg sehen. Ohne Zweifel warfst du ihn im letzten Augenblick weg, als du deinen Angriff auf die leere Hütte machtest.«
»Ganz recht.«
»Das dachte ich mir wohl — und da ich deine bewunderungswürdige Ausdauer kenne, so war ich überzeugt, daß du, mit einer Schußwaffe in Griffweite, im Hinterhalt säßest und auf die Heimkehr des Hüttenbewohners lauertest. Du glaubst also wirklich, ich sei der Verbrecher?«
»Ich wußte nicht, wer der Mann mar, aber ich war fest entschlossen, das herauszubekommen.«
»Ausgezeichnet, Watson! Und wie machtest du meine Wohnstätte ausfindig? Sahst du mich vielleicht in jener Nacht, wo du auf der Jagd nach dem Sträfling warst? Ich war damals so unvorsichtig, den Mond hinter mir ausgehen zu lassen.«
»Ja, ich sah dich in jener Nacht.«
»Und hast ohne Zweifel alle Hütten durchsucht, bis du zu dieser hier kamst?«
»Nein, dein Junge war beobachtet worden, und dadurch bekam ich einen Anhaltspunkt, wo ich zu suchen hätte.«
»Jedenfalls von dem alten Herrn mit dem Fernrohr! Ich konnte erst gar nicht herausbekommen, was es war, als ich das Sonnenlicht von der Linse seines Instruments zurückgewofen sah.« Holmes stand auf und warf einen Blick in die Hütte »Ah, ich sehe, Cartwright hat mir wieder einige Vorräte gebracht. Doch, was bedeutet denn dieser Zettel? Du bist also in Coombe Tracey gewesen, wirklich?«
»Ja.«
»Und hast Frau Laura Lyons besucht.«
»Ganz recht.«
»Ausgezeichnet! Unsere Nachforschungen haben sich offenbar in parallelen Richtungen bewegt, und wenn wir unsere Erlebnisse zusammenhalten, so werden wir, davon bin ich überzeugt, eine ziemlich vollständige Kenntnis vom ganzen Fall besitzen.«
»Nun, jedenfalls bin ich von Herzen froh, daß du hier bist, denn die Verantwortlichkeit und das Geheimnisvolle der Sache, das beides zusammen wurde wirklich allmählich zu viel für meine Nerven. Aber warum in aller Welt kamst du denn hierher und was hast du hier getrieben? Ich glaubte, du säßest in der Bakerstraße und zerbrächst dir den Kopf über jener Erpressungsgeschichte.«
»Das solltest du auch glauben.«
»Dann benutztest du mich also für deine Zwecke und traust mir doch nicht?« rief ich ziemlich bitter. »Ich glaube, ich habe Besseres um dich verdient, Holmes!«
»Mein lieber Junge, du bist bei diesem wie bei vielen anderen Fällen für mich von unschätzbarem Wert gewesen und ich bitte dich, mir zu verzeihen, wenn ich dir anscheinend einen kleinen Streich gespielt habe. In Wirklichkeit geschah das hauptsächlich in deinem eigenen Interesse, und eben weil ich die Größe der Gefahr kannte, von der du bedroht warst, kam ich her, um den Fall ganz in der Nähe zu prüfen. Wäre ich bei Sir Henry und dir gewesen, so hätte ich augenscheinlich von demselben Standpunkt geurteilt wie ihr beide, und meine Anwesenheit würde unsere höchst gefährlichen Gegner gewarnt haben, so daß sie auf der Hut gewesen wären. Indem ich aus meine eigene Faust handelte, konnte ich mich in einer Weise frei bewegen, wie es nicht möglich gewesen wäre, hätte ich im Schloß gewohnt. Ich bin und bleibe bei der Entwickelung der Angelegenheit ein unbekannter Faktor, der im gegebenen Augenblick mit seiner ganzen Bedeutung einspringen kann.«
»Aber warum ließest du mich im Dunkeln?«
»Hättest du gewußt, daß ich aus dem Moor war, so konnte uns das nichts nützen, möglicherweise aber zu meiner Entdeckung führen. Du hättest den Wunsch gehabt, mir irgend etwas mitzuteilen oder mir in deiner Gutherzigkeit die eine oder die andere Bequemlichkeit herausgebracht, und das alles wären ganz überflüssige Wagnisse gewesen. Ich habe mir Cartwright mitgenommen — du erinnerst dich wohl: der kleine Bursche von der Expreßgesellschaft — und er hat für meine einfachen Bedürfnisse gesorgt: ein Laib Brot und ein reiner Kragen — was braucht ein Mann mehr? An ihm hatte ich ein zweites Paar Augen und ein Paar sehr flinker Füße, und beides ist für mich von unschätzbarem Werte gewesen.«
»Dann waren also alle meine Berichte zu gar nichts gut?«
Meine Stimme zitterte unwillkürlich, denn ich dachte an die große Mühe, die ich mir gegeben, und an den Stolz, womit ich sie ausgearbeitet hatte.
Holmes zog ein Päckchen Papiere aus der Tasche und sagte:
»Hier sind deine Berichte, mein lieber Junge, und ganz gehörig durchgearbeitet, das kannst du mir glauben. Ich hatte ausgezeichnete Vorkehrungen getroffen, und die Berichte gelangten nur um einen einzigen Tag verspätet in meine Hände. Ich muß dir meine allergrößten Komplimente machen zu dem Eifer und der Intelligenz, die du bei einem so ungewöhnlich schwierigen Falle bewiesen hast.«
Ich war immer noch etwas empfindlich wegen der Komödie, die Holmes mir mir gespielt hatte, aber sein warmes Lob verscheuchte doch meinen Aerger. Ich fühlte auch innerlich, daß er mit dem, was er sagte, im Grunde genommen völlig recht hatte, und daß es in der That für unsere Absichten besser gewesen war, daß ich von seiner Anwesenheit aus dem Moor nichts gewußt.
»So ist’s besser!« sagte Holmes, als er den Schatten von meinen Gesichtszügen verschwinden sah. »Und nun erzähle mir, was du mit deinem Besuche bei Frau Laura Lyons ausgerichtet hast — daß du bei ihr gewesen warst, konnte ich unschwer erraten, denn sie ist in Coombe Tracey die einzige Person, die in dieser Angelegenheit für uns von Nutzen sein kann. In der That, wärst du nicht heute bei ihr gewesen, so wäre ich aller Wahrscheinlichkeit nach morgen selber zu ihr hingegangen.«
Die Sonne war untergegangen, und die Dämmerung senkte sich aus das Moor herab. Die Luft war kühl geworden und wir zogen uns daher in die Hütte zurück, wo es wärmer war. Dort saßen wir im Zwielicht neben einander und ich berichtete Holmes meine Unterhaltung mit der Dame. Sie interessierte ihn in so hohem Grade, daß ich manche Stellen wiederholen mußte, ehe er sich für befriedigt erklärte.
»Dies ist von höchster Wichtigkeit!« rief er, als ich fertig war. »Eine Lücke in diesem sehr verwickelten Fall, die ich nicht überbrücken konnte, ist jetzt ausgefüllt. Du weißt vielleicht, daß zwischen der Dame und diesem Stapleton eine sehr innige Vertraulichkeit besteht?«
»Von enger Vertraulichkeit war mir nichts bekannt.«
»In dieser Beziehung kann kein Zweifel obwalten. Sie kommen zusammen, sie schreiben sich, es herrscht zwischen ihnen ein vollkommenes Einverständnis. Nun, durch deine Unterredung haben wir eine sehr wirksame Waffe in unsere Hände bekommen. Wenn ich diese nur abwenden könnte, um seine Frau von ihm abzubringen …«
»Seine Frau?«
»Ja, jetzt bekommst du von mir etwas Neues zu hören zum Austausch für all das, was ich durch dich erfahren habe. Die Dame, die hier für Fräulein Stapleton gegolten hat, ist in Wirklichkeit seine Frau.«
»Um des Himmels willen, Holmes! Bist du auch dessen sicher, was du da sagst? Wie hätte er Sir Henry erlauben können, sich in sie zu verlieben?«
»Wenn Sir Henry sich in sie verliebte, so konnte das keinem Menschen etwas schaden, als nur dem Baronet selber. Er paßte mit ganz besonderer Sorgfalt darauf auf, daß Sir Henry seine Liebe zu ihr nicht in Handlungen umsetzte; das hast du ja selber bemerkt. Ich wiederhole, die Dame ist seine Frau und nicht seine Schwester.«
»Aber wozu diese umständliche Täuschung?«
»Weil er vorausgesehen hatte, daß sie ihm im Charakter einer Unverheirateten von viel größerem Nutzen sein würde.«
Alle meine unausgesprochenen instinktivmäßigen Verdachtsgründe nahmen plötzlich bestimmte Formen an, und alles sprach gegen den Naturforscher. In diesem leidenschaftslosen, blassen Mann mit seinem Strohhut und dem Schmetterlingsnetz glaubte ich jetzt ein furchtbares Wesen zu sehen — ein Geschöpf voll unendlicher Geduld und Geschicklichkeit, mit lächelndem Antlitz und einem Mörderherzen.
»So ist also er unser Feind — er war es, der uns in London nachspürte?«
»Das halte ich für des Rätsels Lösung.«
»Und die Warnung — die muß dann von ihr gekommen sein!«
»Ganz gewiß.«
Ein furchtbares Schurkenwerk, halb gesehen, halb nur geahnt, trat aus der Dunkelheit hervor, die mich so lange umfangen gehalten hatte.
»Aber bist du auch deiner Sache sicher, Holmes? Woher weißt du, daß sie seine Frau ist?«
»Weil er sich so weit vergessen hatte, dir beim ersten Zusammentreffen ein Stück seiner wirklichen Lebensgeschichte zu erzählen, und verlaß dich darauf, das hat ihm seither schon manchesmal leid gethan. Er hatte wirklich früher eine Schule in Nordengland. Nun kann man über keinen Menschen leichter etwas erfahren als über einen Schullehrer. Es giebt Stellenvermittelungsagenten für Lehrer, durch die man die Identität eines jeden feststellen kann, der einmal diesem Beruf angehört hat. Durch eine kleine Nachforschung erfuhr ich, daß eine Schule unter entsetzlichen Umständen zu Grunde gegangen, und daß ihr Eigentümer — dessen Name anders lautete — mit seiner Frau verschwunden war. Die Personalbeschreibungen passen. Als ich erfuhr, daß der Flüchtling sich ganz besonders für Schmetterlingskunde interessiert hatte, war kein Zweifel mehr möglich.«
Das Dunkel lichtete sich — aber noch immer lag gar vieles im Schatten.
»Wenn die Frau wirklich seine Gattin ist,« fragte ich, »wie kommt dann diese Frau Laura Lyons mit ins Spiel hinein?«
»Das ist einer von den Punkten, die durch deine Nachforschungen aufgehellt worden sind. Dein Gespräch mit der Dame hat die Situation bedeutend geklärt. Ich wußte nicht, daß eine Scheidung von ihrem Mann in Aussicht genommen war. Wenn aber dies der Fall ist, so rechnete sie ohne Zweifel darauf, daß Stapleton sie heiraten werde, da sie ihn für einen unverehelichten Mann ansah.«
»Und wenn sie über ihre Täuschung aufgeklärt wird?«
»Ja, dann werden wir in der Dame vielleicht ein nützliches Werkzeug für uns finden. Das erste, was wir morgen zu thun haben, ist, daß wir sie aufsuchen — und zwar wir beide zusammen …Glaubst du nicht, Watson, daß du schon ziemlich lange von deinem Posten fort bist? Dein Platz sollte in Baskerville Hall sein.«
Die letzten roten Streifen waren am westlichen Himmel verblichen, und nächtliches Dunkel hatte sich aus das Moor herniedergesenkt. Ein paar schwache Sternpünktchen glommen am violetten Himmel auf.
»Noch eine letzte Frage, Holmes!« sagte ich, indem ich aufstand. »Ganz gewiß brauchen doch wir beide keine Geheimnisse vor einander zu haben. Was bedeutet dies alles? Was will er?«
Flüsternd antwortete Holmes mir:
»Es ist Mord, Watson — abgefeimter, kaltblütiger, hartherziger Mord! Frage mich nicht nach Einzelheiten! Mein Netz schwebt über ihm, so wie sein Netz über Sir Henry schwebt, und dank deiner Hilfe ist er bereits sozusagen ohne Gnade in meine Hand gegeben. Nur eine Gefahr kann uns noch drohen: daß er seinen Streich führt, bevor wir soweit sind. Noch einen Tag, — höchstens zwei! — und ich habe mein Material vollständig beisammen — aber bis dahin sei auf deinem Posten und halte so sorgsam Wacht wie eine Mutter bei ihrem kranken Kinde. Dein heutiges Tagewerk war durch die Umstände berechtigt, und doch möchte ich beinahe wünschen, du wärst ihm nicht von der Seite gewichen — horch! was ist das?«
Ein furchtbarer Schrei — ein langer gellender Schrei voll Angst und Entsetzen drang aus der Einsamkeit des schweigenden Moors zu uns herüber. So entsetzlich war der Ton, daß das Blut in meinen Adern zu Eis erstarrte. »O, mein Gott!« stöhnte ich. »Was ist das? Was kann das bedeuten?«
Holmes war aufgesprungen, und ich sah die dunklen Umrisse seiner athletischen Gestalt sich in der Oeffnung der Hütte abzeichnen. Die Schultern gebeugt, den Kopf vorgeneigt, mit scharfen Augen in die Finsternis hineinspähend — so stand er da!
»Psst!« zischelte er. »Psst!«
Der Schrei war laut zu uns herübergedrungen, weil er mit ungeheurer Heftigkeit ausgestoßen war, aber als er in einem Stöhnen erstarb, da erkannten wir, daß er in weiter Ferne irgendwo auf der dunkeln Ebene erschollen war. Dann drang ein neuer Schrei an unser Ohr — näher, lauter, dringender als der erste.
»Wo ist es?« flüsterte Holmes, und ich erkannte an dem Zittern seiner Stimme, daß er, der Mann von Stahl und Eisen, bis in die Tiefe seiner Seele erschüttert war.
»Wo ist es, Watson?«
»Dort, glaube ich!« Und ich wies in die dunkle Landschaft hinein.
»Nein, dort!«
Wieder durchbrach der Todesschrei die nächtliche Stille — wieder lauter und näher als die vorigen. Und ein neuer Laut mischte sich mit ihm, ein tiefer, grollender Ton, klangvoll und doch drohend, steigend und fallend wie das unablässige tiefe Rauschen des Meeres.
»Der Hund!« schrie Holmes. »Komm, Watson, vorwärts! Großer Gott, wenn wir zu spät kämen!«
Er war hinausgesprungen und rannte schnell über das Moor dahin. Ich folgte ihm unmittelbar auf den Fersen. Aber auf einmal kam irgendwo aus der Wirrnis der unmittelbar vor uns liegenden Schluchten und Klüfte ein letzter, verzweiflungsvoll aufgellender Schrei, und dann ein dumpfer, schwerer Schlag. Wir standen still und lauschten. Aber kein Laut durchbrach mehr das drückende Schweigen der windstillen Nacht.
Ich sah, wie Holmes sich wie ein Wahnsinniger mit der Faust vor die Stirn schlug. Er stampfte mit dem Fuße auf und rief:
»Er hat uns geschlagen, Watson! Wir sind zu spät gekommen!«
»Nein, nein, gewiß nicht!«
»Thor, der ich war, daß ich nicht zuschlug! Und du, Watson, da siehst du die Folgen davon, daß du von deinem Posten gegangen bist! Aber, beim himmlischen Gott, wenn das Schlimmste eingetreten ist, so werden wir ihn rächen.«
Blindlings rannten wir in die Finsternis hinein; wir stießen uns an Granitblöcken, brachen uns durch Ginsterbüsche Bahn, leuchten Hügel hinauf und sprangen mit großen Sätzen in Schluchten hinunter, doch gelang es uns im großen und ganzen die Richtung einzuhalten, aus der die fürchterlichen Schreie gekommen waren. Jedesmal, wenn wir auf einer Höhe waren, warf Holmes einen schnellen Blick um sich, aber die Schatten lagen dick auf dem Moor und nichts bewegte sich auf der öden Fläche.
»Siehst du etwas?«
»Nichts.«
»Aber, horch, was ist das?«
Ein leises Stöhnen war an unser Ohr gedrungen Und noch einmal — es war zu unserer Linken! Dort lief ein Felsengrat in eine steile Wand aus, die eine mit Steinblöcken besäte Schlucht überragte. Und auf diesem Grunde lag etwas Dunkles von eigentümlicher Form. Doch als wir hinzuliefen, nahmen die unbestimmten Linien feste Gestalt an. Es war ein Mann, der, das Gesicht nach unten, auf dem Boden lag; der Kopf stak in einem fürchterlichen Winkel unter dem Leib, die Schultern waren gerundet und der ganze Körper war zusammengezogen, als ob der Mann im Begriff wäre, einen Purzelbaum zu schlagen. So grotesk war die ganze Haltung, daß es mir im ersten Augenblick gar nicht zum Bewußtsein kam, mit jenem letzten Seufzer das Verhauchen seiner Seele gehört zu haben. Kein Flüstern, kein Röcheln ging mehr
von der dunklen Gestalt aus, über die wir uns herniederbeugten. Holmes berührte sie mit der Hand und erhob diese sofort wieder mit einem Ausruf des Entsetzens. Er rieb ein Zündholz an; der schwache Schein fiel auf seine blutbedeckten Finger und auf die grausige Blutlache, die langsam dem zerschmetterten Schädel des Opfers entfloß. Und er fiel noch auf etwas anderes, dessen Anblick uns vor Weh krank machte und uns einer Ohnmacht nahe brachte — auf die Leiche von Sir Henry Baskerville!
Keiner von uns beiden konnte einen Augenblick im Zweifel sein; nur zu gut kannten wir den eigentümlich rötlichen, halbwollenen Anzug — denselben, den er an jenem ersten Morgen trug, als wir ihn in der Bakerstraße kennen lernten. Wir konnten nur den einen flüchtigen, aber untrüglichen Blick darauf werfen. Dann flackerte das Zündholz und erlosch — so wie die Hoffnung in unseren Herzen erloschen war. Holmes stöhnte, und sich sah trotz der Finsternis sein Gesicht, weil es ganz weiß geworden war.
»Die Bestie, die Bestie!« rief ich mit geballten Fäusten. »O, Holmes, niemals werde ich’s mir verzeihen, daß ich Sir Henry seinem Schicksal schutzlos preisgegeben habe!«
»Ich bin mehr zu tadeln als du, Watson. Um meinen Fall recht schön abgerundet und vollständig vor mir zu haben, vergeudete ich das Leben meines Klienten! Es ist der härteste Schlag, der mich jemals während meiner ganzen Laufbahn getroffen hat. Aber wie konnte ich wissen — wie konnte ich wissen — daß er, allen meinen Warnungen zum Trotz, allein aufs Moor gehen würde, wo er sein Leben riskierte?«
»Ach, und wir hörten seine Schreie — o mein Gott, und was für Schreie — und waren doch nicht imstande, ihn zu retten. Wo ist die Bestie von Hund, die ihn in den Tod hetzte? Vielleicht liegt sie in diesem selben Augenblick zwischen den Felsen hier verborgen. Und Stapleton, wo ist er? Er soll für seine That Rechenschaft ablegen!«
»Das soll er! Dafür will ich sorgen. Onkel und Neffe sind ermordet worden. — Der eine zu Tode geängstigt durch den bloßen Anblick einer Bestie, die er für übernatürlich hielt, der andere in seiner wilden Flucht vor eben demselben Tier ins Verderben gejagt! Aber jetzt haben wir zu beweisen, daß zwischen dem Mann und dem Tier eine Verbindung besteht. Das letztere haben wir allerdings gehört, aber auf die Existenz desselben können wir vor Gericht nicht einmal schwören, denn Sir Henrys Tod ist augenscheinlich infolge seines Sturzes erfolgt. Aber, bei Gott im Himmell so schlau der Bursche auch ist — er soll in meiner Gewalt sein, ehe vierundzwanzig Stunden vergangen sind!«
Die Herzen von Bitterkeit erfüllt standen wir zu beiden Seiten des zerschmetterten Leichnams, überwältigt von diesem plötzlichen und nie wieder gut zu machenden Unglück, das all unserer langen und mühseligen Arbeit ein so plötzliches Ende bereitet hatte. Dann, als der Mond aufgegangen war, kletterten wir zum Gipfel des Felsens empor, von dessen Höhe unser armer Freund abgestürzt war; von dort aus spähten wir über das weite Moor, auf welchem silbernes Mondlicht und düstere Schatten wechselten. In meilenweiter Ferne, in der Richtung des Dorfes Grimpen leuchtete ein einzelnes gelbes Licht immer auf derselben Stelle. Es konnte nur das einsame Wohnhaus der Stapletons sein. Mit einem haßerfüllten Fluch schüttelte ich meine Fäuste nach jener Richtung.
»Warum sollten wir ihn nicht sofort festnehmen?«
»Unsere Beweise sind nicht vollständig. Der Bursche ist über alle Maßen vorsichtig und schlau. Nicht darauf kommt es an, was wir wissen, sondern darauf, was wir beweisen können. Wenn wir einen einzigen falschen Schritt thun, kann der Schurke uns vielleicht selbst jetzt noch entwischen!«
»Was können wir thun?«
»Morgen werden wir Arbeit in Hülle und Fülle haben. Heute abend können wir nur noch unserem armen Freunde die letzten Dienste erweisen.«
Wir stiegen wieder den jähen Abhang hinunter und näherten uns dem Leichnam, der als dunkler Fleck sich scharf von den mondlichtübergossenen Steinen abhob. Beim Anblick dieser im Todeskampf verrenkten Glieder überwältigte mich der Schmerz und heiße Thränen schossen mir in die Augen.
»Wir müssen Hilfe heranholen, Holmes! Wir können ihn nicht den ganzen Weg bis zum Schloß allein tragen. Gott im Himmel, bist du wahnsinnig geworden?«
Er hatte einen Schrei ausgestoßen und sich über den Leichnam gebeugt. Aus einmal sprang er im Kreise herum und lachte und schüttelte meine Hand. Konnte dies mein ernster, in sich selbst verschlossener Freund sein? Ja, ja, man kann wohl von verborgenen Feuern reden!
»Ein Bart! Ein Bart! Der Mann hat einen Bart!«
»Einen Bart?«
»Es ist nicht der Baronet — es ist — ja, wahrhaftig, es ist mein Nachbar, der Sträfling!«
In fieberischer Hast hatten wir den Leichnam aus den Rücken gelegt, und der zottige Bart starrte in der That zum kalten, klaren Mond empor! Ein Zweifel war nicht möglich — die vorspringende Stirn — die eingesunkenen tierischen Augen — ja, es war dasselbe Antlitz, das mich im Lichte der Kerze hinter dem Felsen her angestarrt hatte — es war der Verbrecher Selden!
Und in einem Augenblick war mir alles klar. Ich erinnerte mich, daß der Baronet mir erzählt hatte, er hätte Barrymore seine alten Kleider überlassen. Barrymore hatte sie an Selden weitergegeben, um diesem bei seiner Flucht behilflich zu sein. Stiefel, Hemd, Mütze — alles hatte früher Sir Henry gehört. Die Tragödie war immer noch furchtbar genug, aber dieser Mann hatte doch wenigstens nach den Gesetzen seines Landes den Tod verdient. Ich setzte Holmes den Zusammenhang auseinander, und mein Herz schlug hoch in Freude und Dankbarkeit.
»Da sind Sir Henrys Kleider des armen Kerls Verhängnis geworden!« rief Holmes »Es ist ganz klar, daß der Hund auf irgend einen von Sir Henry getragenen Gegenstand abgerichtet ist — aller Wahrscheinlichkeit nach auf den im Hotel abhanden gekommenen Schuh; so hat er denn diesen Mann zu Tode gehetzt. Ein sehr sonderbarer Umstand ist jedoch noch vorhanden: woher wußte Selden in der Dunkelheit, daß der Hund auf seiner Spur war?«
»Er hörte ihn.«
»Wenn ein hartgesottener Verbrecher wie dieser Zuchthäusler einen Hund auf dem Moor hört, so bringt ihn das nicht in einen solchen Paroxysmus des Entsetzens, daß er auf die Gefahr hin, wieder ergriffen zu werden, wild um Hilfe schreit! Nach den Schreien zu urteilen, die wir gehört haben, muß er ein weites Stück Weges gerannt sein, nachdem er gemerkt hatte, daß das Tier ihn verfolgte. Woher wußte er es?«
»Für mich ist es ein größeres Geheimnis, warum dieser Hund — vorausgesetzt, alle unsere Mutmaßungen seien richtig —«
»Ich setze nichts voraus.«
»Nun …also, warum dieser Hund nachts frei auf dem Moor herumläuft? Ich vermute, daß er nicht beständig losgelassen ist. Stapleton würde die Bestie nicht freilassen, wenn er nicht Grund zu der Annahme hätte, daß Sir Henry sich auf dem Moor befindet.«
»Von diesen beiden Schwierigkeiten ist die meinige bei weitem die furchtbarere — denn die deine wird sich, glaube ich, sehr bald aufklären, die meinige dagegen bleibt vielleicht für ewig ein Geheimnis …Die Frage ist jetzt: Was sollen wir mit dieses armen Schelms Leichnam nun anfangen? Wir können ihn nicht hier liegen lassen als Fraß für Füchse und Krähen.«
»Ich schlage vor, wir schaffen ihn in eine von den Steinhütten, bis wir der Polizei Anzeige machen können.«
»Seht gut. Ich bezweifle nicht, daß wir beide zusammen ihn ganz gut so weit tragen können…. Hallo, Watson, was ist das? Es ist der Mann selber…. Das nenne ich aber wahrhaftig eine geradezu großartige Frechheit! Laß mit keinem Wort deinen Verdacht merken — mit keinem Wort, sonst brechen alle meine Pläne in sich zusammen!«
Eine Gestalt kam über das Moor her auf uns zu, und ich sah das düsterrote Glühen einer Cigarre. Das Mondlicht fiel auf ihn und ich konnte die schmächtige Gestalt und den flinken Schritt des Naturforschers erkennen. Als er uns sah, blieb er stehen; dann kam er auf uns zu und rief:
»Wahrhaftig — Doktor Watson — das können Sie doch nicht sein! Sie sind der letzte, den ich um diese Nachtzeit draußen auf dem Moor zu sehen erwartet hätte! Aber …mein Gott, was ist denn dies? Jemand verunglückt? Doch nicht …um Gottes willen, sagen Sie mir nicht, daß es Sir Henry ist!«
Er sprang an mir vorbei und beugte sich über den Toten. Ich hörte, wie er einen gepreßten Atemzug that, und die Cigarre entfiel seiner Hand.
»Wer — wer ist das?« stammelte er.
»Es ist Selden, der Zuchthäusler, der von Princetown entsprungen war.«
Stapletons Antlitz, das er uns zuwandte, war totenbleich, aber mit einer gewaltigen Willensanstrengung hatte er seine Bestürzung und Enttäuschung niedergekämpft. Er sah mit einem scharfen Blick erst Holmes und dann mich an und sagte endlich:
»Donnerwetter! Das ist ja ’ne ganz fürchterliche Geschichte! Wie kam er zu Tode?«
»Er scheint das Genick gebrochen zu haben, indem er von dem Felsen da abstürzte. Mein Freund und ich schlenderten über das Moor, als wir einen Schrei hörten.«
»Ich hörte ebenfalls einen Schrei. Und deshalb eben ging ich aus. Ich war in Besorgnis wegen Sir Henrys.«
»Warum denn gerade wegen Sir Henrys?« fragte ich unwillkürlich.
»Weil ich ihm vorgeschlagen hatte, zu uns herüberzukommen. Als er nicht kam, war ich überrascht, und natürlich hatte ich seinetwegen Angst, als ich Schreie auf dem Moor hörte. Uebrigens« — und damit wanderten wieder seine stechenden Augen von meinem Gesicht zu Holmes — »hörten Sie nichts außer einem Schrei?«
»Nein,« ankwortete Holmes »Hörten Sie was?«
»Nein.«
»Was wollen Sie denn mit Ihrer Frage bezwecken?«
»O, wissen Sie, das Landvolk erzählt sich allerlei Geschichten von einem Geisterhunde. Er soll sich nachts aus dem Moor hören lassen. Ich dachte bei mir selber, ob wohl heute nacht etwas von einem solchen Hund zu sehen oder zu hören gewesen wäre.«
»Wir hörten nichts Derartiges,« antwortete ich.
»Und welcher Ansicht sind Sie in bezug auf den Tod dieses armen Kerls?«
»Ich bezweifle nicht, daß Angst und Gefahr ihn um seinen Verstand gebracht hatten. Er ist in einem Anfall von Verfolgungswahnsinn über das Moor gerannt, ist schließlich hier abgestürzt und hat sich das Genick gebrochen.«
»Das scheint die einleuchtendste Erklärung,« sagte Stapleton mit einem Seufzer, der nach meiner Ansicht ein Seufzer der Erleichterung war. »Was ist Ihre Ansicht darüber, Herr Sherlock Holmes?«
»Ich sehe, Sie sind schnell im Erkennen!« sagte mein Freund mit einer Verbeugung.
»Wir haben seit Doktor Watsons Ankunft erwartet, daß auch Sie in diese Gegend kommen würden. Sie kommen gerade recht, um eine Tragödie zu sehen.«
»Ja, da haben Sie recht. Ich bezweifle nicht, daß meines Freundes Erklärung sich mit den Thatsachen deckt. Ich werde morgen eine unangenehme Erinnerung mit mir nach London zurücknehmen.«
»O, Sie fahren morgen zurück?«
»Das ist meine Absicht.«
»Ich hoffe, Ihr Besuch hat einiges Licht in jene Begebenheiten hineingebracht, deren Rätselhaftigkeit uns so sehr in Sorgen gesetzt hat.«
Holmes zuckte die Achseln und erwiderte:
»Man kann nicht jedesmal den erhofften Erfolg haben. Zu einer Nachforschung braucht man Thatsachen und nicht Märchen oder Gerüchte. Der Fall hat sich nicht als ein zufriedenstellender erwiesen.«
Mein Freund sprach in seiner offensten und freimütigsten Weise. Stapleton sah ihn mit einem scharfen Blick an; dann wandte er sich zu mir:
»Ich würde vorschlagen, daß wir den armen Mann nach meinem Hause schafften, aber das würde meine Schwester so in Angst setzen, daß ich mich nicht dazu berechtigt glaube. Ich glaube, wenn wir ihm etwas über sein Gesicht decken, wird er bis morgen unversehrt liegen bleiben.«
Dieser Vorschlag wurde ausgeführt. Stapletons Einladung, die Gastfreundschaft seines Hauses zu benutzen, lehnten wir ab, und Holmes und ich machten uns auf den Weg nach Baskerville Hall, während der Naturforscher allein nach seinem Hause zurückging. Als wir uns einmal umwandten, sahen wir seine Gestalt langsam über das weite Moor hingehen, und hinter ihm auf dem mondhellen Abhang lag der schwarze Fleck — die Todesstätte des Mannes, der ein so grausiges Ende gefunden.
»Endlich ringen wir also Leib an Leib!« sagte Holmes, als wir zusammen quer über das Moor gingen. »Was für Nerven der Bursche hat! Wie er sich zusammenraffte trotz dem lähmenden Schreck, den er empfunden haben muß, als er plötzlich sah, daß der verkehrte Mann seinem Anschlag zum Opfer gefallen war. Ich sagte dir in London schon, Watson, und ich sag’s dir hier noch einmal: Niemals haben wir einen Gegner gehabt, der unserer Klinge würdiger war.«
»Es thut mir leid, daß er dich gesehen hat.«
»Mir war es anfangs ebenfalls unangenehm. Aber dagegen ließ sich nun mal nichts machen.«
»Da er nun also weiß, daß du hier bist — welchen Einfluß wird das deiner Meinung nach auf seine Pläne haben?«
»Vielleicht veranlaßt es ihn zu größerer Vorsicht — vielleicht treibt es ihn aber auch sofort zu verzweifelten Maßnahmen. Wie die meisten klugen Verbrecher vertraut er möglicherweise zu sehr auf seine eigene Klugheit und bildet sich ein, daß er uns vollständig hinters Licht geführt hat.«
»Warum sollen wir ihn denn nicht auf der Stelle festnehmen?«
»Mein lieber Watson, du bist ein gebotener Mann der That! Dein Instinkt treibt dich stets dazu, irgend was Energisches zu thun. Aber setzen wir einmal — nur beispielsweise — den Fall, wir ließen ihn noch in dieser Nacht festnehmen — was in aller Welt würde uns das nützen? Wir könnten nichts gegen ihn beweisen! Das ist eben die teuflische Schlauheit seines Verbrechens! Wenn er sich eines Menschen als Werkzeug bediente, so könnten wir auf ein Zeugnis von diesem rechnen, aber wenn wir diesen großen Hund ans Tageslicht ziehen, so genügt das noch lange nicht, um seinem Herrn den Strick um den Hals zu legen.«
»Aber es liegt doch ganz ohne Frage ein Fall vor, der reif fürs Gericht ist!«
»Keine Ahnung! Alles ist nur Voraussetzung und Mutmaßung. Wir würden vom Gericht ausgelacht werden, wenn wir mit einer solchen Geschichte und mit derartigen Beweisen zum Vorschein kämen.«
»Aber Sir Charles’ Tod?«
»Tot aufgefunden ohne Zeichen von Gewaltthat an seinem Körper. Du und ich, wir wissen, daß er durch Angst starb, und wir wissen, was ihm solche Angst einjagte. Aber wie sollen wir unsere Ueberzeugung zwölf beschränkten Geschworenen beibringen? Was für Spuren sind vorhanden, die auf einen Hund deuten? Wo sind die Spuren seiner Fangzähne? Wir natürlich, wir wissen, daß ein Hund keinen Leichnam beißt, und daß Sir Charles tot war, ehe die Bestie ihn einholte. Aber wir müssen dies alles beweisen, und wir sind nicht in der Lage, dies zu thun.«
»Dann aber der Vorfall von heute abend?«
»Der nützt uns auch nicht viel mehr. Wiederum war kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Hund und dem Tod des Mannes vorhanden. Wir haben den Hund niemals gesehen. Wir hörten ihn; aber wir könnten nicht beweisen, daß er den Mann verfolgte. Beweggründe des Verbrechens fehlen gänzlich. Nein, mein guter Junge — wir müssen uns mit der Thatsache aussöhnen, daß wir augenblicklich noch keine Sache haben, die fürs Gericht reif ist, und daß wir daher alles wagen müssen, um uns das Beweismaterial zu beschaffen.«
»Und was gedenkst du zu diesem Zweck zu thun?«
»Ich setze große Hoffnungen darauf, daß Frau Laura Lyons uns ihren Beistand leiht, wenn der Stand der Dinge ihr klar gemacht wird. Und außerdem habe ich noch meinen eigenen Plan. Für morgen haben wir also genug Wichtiges vor; aber ich hoffe, ehe der Tag zur Rüste geht, wird der Sieg endlich mein sein!«
Ich konnte nichts weiter aus ihm herausbringen; und er wanderte, in Gedanken versunken, an meiner Seite bis ans Thor von Baskerville Hall.
»Kommst du mit herauf?«
»Ja; ich sehe keinen Grund, warum ich mich noch länger verstecken sollte. Aber noch ein Wort, Watson! Sage zu Sir Henry nichts von dem Hund. Laß ihn Seldens Tod der Ursache zuschreiben, die Stapleton uns einreden wollte. Er wird stärkere Nerven haben für die Probe, die ihm morgen bevorsteht — denn wenn ich mich deines Berichtes entsinne, so soll er ja morgen bei den Leuten speisen.«
»Ja; und ich ebenfalls.«
»Dann mußt du dich entschuldigen, und er muß allein gehen. Das wird sich ja leicht machen lassen. Und nun — wir sind zwar um unser Mittagessen gekommen, aber das Nachtessen wollen wir uns jetzt recht schmecken lassen.«
13
Sir Henry war sehr erstaunt, als er plötzlich in dunkler Nacht Sherlock Holmes sein Haus betreten sah. An und für sich überraschte ihn dessen Ankunft keineswegs, denn er hatte bereits seit einigen Tagen erwartet, daß die letzten Ereignisse ihn veranlassen würden, von London abzureisen. Nur machte er ein ziemlich verwundertes Gesicht, als er bemerkte, daß Holmes ohne jedes Gepäck ankam und nicht einmal versuchte, diesen eigentümlichen Umstand zu erklären. Sir Henry und ich halfen meinem Freunde mit unseren Sachen aus, so daß er im Gesellschaftsanzug im Speisesaal ers cheinen konnte. Während des Essens teilten wir dem Baronet von den Ereignissen des Tages so viel mit, wie uns gut schien. Vorher aber hatte ich noch die peinliche Pflicht zu erfüllen gehabt, Barrymore und seiner Frau die Nachricht von Seldens plötzlichem Tode beizubringen. Der Mann empfand dabei gewiß nichts als Erleichterung, die Frau aber weinte bitterlich in ihre Schürze hinein — für alle anderen war Selden der gesetzlose Totschläger und Mörder, aber für sie blieb er immer der lustige kleine Junge, der mit seinen Kinderfäustchen sich an die Hand der großen Schwester angeklammert hatte.
»Ich habe mich seit Watsons zeitiger Abfahrt den ganzen Tag im Hause herumgemopst,« bemerkte der Baronet, »und ich verdiene wohl ein großes Lob dafür, denn ich habe mein Versprechen gehalten. Hätte ich nicht mein Wort gegeben, daß ich nicht allein ausgehen würde, so hätte ich wohl einen interessanten Abend haben können, denn Stapleton schickte mir eine Einladung zu, ich möchte doch ein bißchen herüberkommen.«
»Ich zweifle nicht im geringsten, daß Sie sogar einen sehr interessanten Abend gehabt haben würden,« sagte Holmes trocken. »Doch was ich sagen wollte — Sie haben wohl keine Ahnung, daß wir Sie bereits als Leiche mit gebrochenem Genick betrauerten?«
Sir Henry riß vor Erstaunen die Augen auf und rief:
»Wieso denn?«
»Der arme Ker! hatte Ihre Kleider an. Ich fürchte, Ihr Diener, der sie ihm geschenkt hat, kann deshalb Ungelegenheiten mit der Polizei kriegen.«
»Doch wohl kaum. Soviel ich weiß, war kein einziges von den Kleidungsstücken gezeichnet.«
»Das ist ein Glück für ihn — und nicht nur für ihn allein, sondern für Sie alle; denn Sie alle haben sich bei dieser Angelegenheit gegen Recht und Gesetz vergangen. Ich weiß nicht, ob ich nicht als gewissenhafter Detektiv vor allen Dingen die Pflicht hätte, sämtliche Hausbewohner zu verhaften. Watsons Berichte sind im höchsten Grade belastend.«
»Aber wie steht’s denn mit unserem Fall?« fragte Sir Henry. »Haben Sie die Fäden einigermaßen entwirren können? Watson und ich sind durch unseren Aufenthalt hier nicht viel klüger geworden.«
»Ich werde vermutlich binnen sehr kurzer Zeit imstande sein, Ihnen die Situation ziemlich klar zu machen. Der Fall war außerordentlich schwierig und sehr verwickelt. Auch jetzt noch sind verschiedene Punkte da, die der Aufklärung bedürfen, — indessen auch diese werden wir erhalten.«
»Wie Watson Ihnen ohne Zweifel mitgeteilt hat, hatten wir zum mindesten ein sehr wichtiges Erlebnis. Wir hörten den Hund auf dem Moor; ich kann also darauf schwören, daß nicht alles leere Einbildung ist. Na, ich habe drüben im wilden Westen ziemlich viel mit Hunden zu thun gehabt und kann einen beurteilen, wenn ich ihn bellen höre. Und wenn Sie dem da einen Maulkorb und ’ne Kette anlegen können, so will ich vor aller Welt laut erklären, daß Sie der größte Detektiv aller Zeiten sind!«
»Nun, ich glaube, ich werde dem Hunde nach allen Regeln der Kunst Maulkorb und Kette anlegen können, wenn Sie mir dabei helfen wollen.«
»Ich will alles thun, was Sie mir auch sagen mögen.«
»Vortrefflich! Und ich möchte Sie zugleich bitten, es blindlings zu thun, ohne auch nur eine Frage zu stellen.«
»Ganz, wie Sie wünschen.«
»Wenn Sie das thun wollen, so haben wir, glaube ich, alle Aussicht, unser kleines Problem gelöst zu sehen. Ich zweifele keinen Augen …«
Plötzlich schwieg Holmes und starrte über mich hinweg vor sich hin. Das volle Lampenlicht fiel auf sein scharfgeschnittenes Gesicht, dessen zu höchster Aufmerksamkeik angespannte Züge an ein klassisches Bildwerk, eine Verkörperung wachsamer Erwartung erinnerten.
»Was giebt’s?« riefen Sir Henry und ich wie aus einem Munde.
Ich konnte sehen, daß Holmes, als er seine Augen wieder senkte, eine innere Aufregung niederkämpfte. Seine Züge behielten ihren ruhigen Ausdruck, aber aus seinen Augen funkelte eine wilde Freude.
»Entschuldigen Sie, wenn ein Kunstliebhaber sich von seiner Bewunderung hinreißen ließ,« sagte er, mit einer Handbewegung auf die an der gegenüberliegenden Wand hängende Reihe von Bildnissen hindeutend. »Watson behauptet allerdings, ich verstünde von Kunst nicht das allergeringste, aber das ist die reine Eifersucht, weil meine Ansichten darüber von den seinigen abweichen. Dies hier ist aber wirklich eine ganze Sammlung von sehr schönen Bildnissen.«
»So? Na, das höre ich mit Vergnügen,« sagte Sir Henry, indem er meinen Freund mit einiger Ueberraschung ansah. »Ich kann mich nicht für einen großen Kenner in diesen Dingen ausgeben und verstehe jedenfalls mehr von einem Pferd oder Stier als von einem Gemälde. Ich dachte nicht, daß Sie auch für die Beschäftigung mit Kunstsachen Zeit gefunden hätten!«
»Wenn ich ein Bild sehe, so weiß ich, ob es gut ist oder nicht, und diese hier sind gut! Ich will wetten, die Dame da in der Ecke in dem blauen Seidenkleid ist ein Kneller und der dicke Herr mit der Perücke muß von Reynolds gemalt sein. Es sind wohl lauter Familienbilder?«
»Ohne Ausnahme.«
»Wissen Sie die Namen der gemalten Personen?«
»Barrymore hat mich darauf eingepaukt, und ich glaube, ich kann meine Lektion ziemlich gut hersagen.«
»Wer ist der alte Herr mit dem Fernrohr?«
»Das ist Kontreadmiral Baskerville, der unter Rodney in Westindien diente. Der Mann im blauen Frack mit der Papierrolle ist Sir William Baskerville, zu Pitts Zeiten eines der hervorragendsten Mitglieder des Unterhauses.«
»Und der Kavalier gerade meinem Platz gegenüber — der in dem schwarzen Sammetrock mit Spitzenkragen?«
»Ah! Ich glaube wohl, daß der Sie interessiert! Das ist der Urheber alles Unheils, der verruchte Hugo, dem die Baskervilles ihren Geisterhund verdanken. Den Mann werden wir wohl schwerlich je wieder vergessen.«
Ich drehte mich neugierig und ziemlich überrascht nach dem Bilde um.
»Ei sieh!« rief Holmes »Er sieht ja ganz ruhig und sanftmütig aus, aber in den Augen scheint allerdings etwas Teuflisches zu lauern. Ich hatte mir unter Sir Hugo einen kräftigeren Mann und wilderen Burschen vorgestellt!«
»Daß das Bild ihn wirklich darstellt, unterliegt keinem Zweifel, denn die Rückseite der Leinwand trägt seinen vollen Namen und die Jahreszahl 1647.«
Holmes sagte nicht viel mehr während des Essens, aber das Bild des Wüstlings schien eine merkwürdige Anziehungskraft auf ihn auszuüben, und er hielt beständig seine Augen darauf geheftet. Erst später, nachdem Sir Henry sich auf sein Zimmer begeben hatte, wurde meines Freundes Gedankengang mir klar. Er führte mich, die Kerze in der Hand haltend, noch einmal in den Speisesaal zurück und beleuchtete das vom Alter dunkel gewordene Porträt an der Wand.
»Sieh dir mal das Bild an. Fällt dir nicht etwas daran auf?«
Ich betrachtete genau den breitkrämpigen Federhut, die langen Locken, den Spitzenkragen und das dazwischen eingeschlossene, langgezogene ernste Antlitz. Der Gesichtsausdruck war nicht brutal, aber spöttisch, hart und grausam; die dünnen Lippen waren fest aufeinandergepreßt, die Augen blickten kalt und herrschsüchtig.
»Erinnert das Bild dich an einen, den du kennst?« fragte Holmes mich.
»Die Kinnlade erinnert etwas an Sir Henry.«
»Hm — ein ganz kleines bißchen vielleicht. Aber warte mal einen Augenblick.« Er stieg auf einen Stuhl und verdeckte mit dem gekrümmten rechten Arm den Schlapphut und die Ringellocken, während er mit der Linken die Kerze näher an das Bild hielt.
»Himmlische Güte!« rief ich erstaunt. Aus der Leinwand starrte mir Stapletons Antlitz entgegen!
»Aha, jetzt siehst du es auch! Ich habe meine Augen darauf geübt, bei einem Gesicht die Züge zu sehen und nicht das Drum und Dran. Wer Verbrechen ausspüren will, muß vor allen Dingen eine Verkleidung durchschauen können.«
»Aber dies ist ja eine geradezu wunderbare Aehnlichkeit! Man könnte meinen, es sei Stapletons Porträt!«
»Ja, es ist ein interessantes Beispiel der Wiederholungen, die die Natur zuweilen liebt — und in diesem Fall scheinen nicht nur die körperlichen, sondern auch die Charaktereigenschaften jenes alten Baskerville wiedererstanden zu sein. Man braucht nur eine Sammlung von Familienbildnissen zu studieren, um sich sofort zur Vererbungstheorie zu bekehren. Der Bursche ist ein Baskerville — so viel ist klar und deutlich!«
»Und hat Absichten auf die Erbschaft?«
»Natürlich. Der zufällige Anblick dieses Bildes hat mir eines der wichtigsten, in der Kette meiner Beweise noch fehlenden Glieder geliefert. Wir haben ihn, Watson, wir haben ihn — und ich kann darauf schwören, daß er vor morgen abend so hilflos in unserem Netz zappeln wird, wie einer von seinen geliebten Schmetterlingen! Eine Nadel, ein Stück Kork, ein Zettelchen — und da haben wir ihn in unserer Sammlung in der Bakerstraße!«
Mit diesen Worten wandte Holmes dem Bilde den Rücken und brach in ein Gelächter aus; ich habe ihn selten laut lachen hören — und wenn er’s that, so bedeutete es für den, welchem sein Lachen galt, nichts Gutes…
Am anderen Morgen stand ich früh auf, aber Holmes war doch noch zeitiger aufgewesen, denn als ich mich ankleidete, sah ich ihn den Fahrweg entlang auf das Schloß zukommen.
»Ja, ja, wir werden ein tüchtiges Tagewerk vor uns haben,« bemerkte er und rieb sich dabei voll Entzücken über diese Aussicht die Hände.
»Die Netze sind alle ausgespannt — der letzte Akt kann beginnen. Ehe der Tag zu Ende ist, werden wir wissen, ob wir unseren großen spitzschnäuzigen Hecht gefangen haben, oder ob er uns durch die Maschen gegangen ist.«
»Bist du schon draußen aus dem Moor gewesen?«
»Ich habe von Grimpen einen Bericht über Seldens Tod nach Princetown geschickt. Ich glaube versprechen zu können, daß keiner von euch in dieser Angelegenheit behelligt werden wird. Auch habe ich meinem treuen Cartwright Bescheid gegeben; der gute Junge hätte sich sonst gewiß auf die Schwelle meiner leeren Hütte gelegt, wie ein Hund, der aus dem Grabe seines Herrn den Tod erwartet; deshalb mußte ich ihn darüber beruhigen, daß ich gesund und munter bin.«
»Was haben wir jetzt zunächst zu thun?«
»Sir Henry aufzusuchen — ah, da ist er ja.«
»Guten Morgen, Holmes!« rief der Baronet »Sie sehen ja aus wie ein General, der mit seinem Generalstabschef den Plan einer Schlacht bespricht.«
»Der Vergleich ist sehr richtig. Watson wollte meine Befehle einholen.«
»Ich auch.«
»Sehr angenehm. Wenn ich Sie recht verstanden habe, sind Sie für heute abend bei Ihren Freunden, den Stapletons, zu Tisch geladen?«
»Ich hoffe, Sie kommen auch mit. Es sind sehr nette Leute, und ich weiß bestimmt, daß es ihnen sehr lieb wäre, Sie ebenfalls zu sehen.«
»Ich fürchte, Watson und ich müssen nach London fahren.«
»Nach London?«
»Ja; ich glaube, so wie die Sachen fest liegen, können wir dort mehr von Nutzen sein.«
Des Baronets Gesicht wurde merklich länger.
»Ich hoffte,« sagte er nach einer kleinen Pause, »Sie würden mir zur Seite bleiben, bis der ganze Fall aufgeklärt ist. Baskerville Hall und das Moor sind nicht gerade ein angenehmer Aufenthalt, wenn man allein ist.«
»Mein lieber junger Freund, Sie müssen mir ohne Bedenken Vertrauen schenken und genau thun, was ich Ihnen sage. Erzählen Sie nur Ihren Freunden, wir wären sehr glücklich gewesen, wenn wir hätten mitkommen können, aber eine dringliche Angelegenheit hätte unsere Anwesenheit in der Stadt erfordert. Wir hofften sehr bald nach Devonshire zurückzukehren. Wollen Sie nicht vergessen, dies auszurichten?«
»Wenn Sie es durchaus wünschen —«
»Ich versichere Ihnen, es ist unbedingt notwendig.«
Ich sah an des Baronets finster zusammengezogenen Brauen, daß er unsere Abreise als Desertion ansah, und daß ihn dies tief verletzte.
»Wann gedenken Sie zu reisen?« fragte er endlich in kaltem Tone.
»Unmittelbar nach dem Frühstück. Wir fahren nach Coombe Tracey, aber Watson läßt seine Sachen hier; da haben Sie ein Pfand, daß er wiederkommt! Watson, du wirst Stapleton eine Zeile schreiben, daß du zu deinem Bedauern nicht kommen kannst«
»Ich habe große Lust, mit Ihnen nach London zu fahren,« sagte der Baronet. »Warum sollte ich eigentlich hier bleiben?«
»Weil hier Ihr Posten ist! Weil Sie mir Ihr Wort gaben, Sie würden thun, was ich Ihnen sagte. Und ich sage Ihnen, Sie müssen hier bleiben.«
»Also gut, ich bleibe.«
»Noch eins. Ich wünsche, daß Sie nach Merripit House fahren. Schicken Sie aber Ihr Wägelchen zurück, und sagen Sie den Stapletons, daß Sie beabsichtigen, zu Fuß nach Hause zu gehen.«
»Zu Fuß über das Moor?«
»Ja.«
»Aber gerade davor warnten Sie mich ja so oft!«
»Diesmal können Sie es in aller Sicherheit thun. Wenn ich nicht volles Vertrauen zu Ihren Nerven und zu Ihrem Mute hätte, so würde ich Ihnen den Vorschlag nicht machen; aber es kommt alles darauf an, daß Sie zu Fuß übers Moor gehen.«
»Dann will ich’s thun!«
»Und wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist — gehen Sie keinen anderen Weg als den Fußpfad, der von Merripit House nach der Grimpener Landstraße führt. Uebrigens ist das der nächste Weg nach Baskerville Hall und darum auch der natürlichste.«
»Ich werde genau thun, was Sie mir sagen.«
»Sehr gut! Es wäre mir angenehm, so bald wie möglich nach dem Frühstück abzufahren, damit ich am Nachmittag in London sein kann.«
Ich, war über Holmes Anordnungen sehr erstaunt, obwohl ich mich erinnerte, daß er am Abend vorher zu Stapleton gesagt hatte, sein Besuch würde nur bis zum Morgen dauern. Ich hatte aber nicht gedacht, daß er mich mit nach London nehmen würde, und vor allen Dingen konnte ich nicht begreifen, daß gerade in diesem Augenblick — dem kritischen, wie er selber sagte — wir uns alle beide entfernen sollten! Natürlich war aber nichts anderes zu thun, als ihm blindlings zu gehorchen; wir verabschiedeten uns also von unserem sehr verstimmten Freunde, Sir Henry, und waren ein paar Stunden später auf dem Bahnhof von Coombe Tracey, von wo wir den Wagen nach Baskerville Hall zurückschickten. Ein kleiner Junge stand wartend auf dem Bahnhof und kam sofort auf Holmes zu, als er uns erblickte.
»Haben Sie was zu befehlen, Herr?«
»Du nimmst diesen Zug, Cartwright, und fährst nach London. Unmittelbar nach der Ankunft schickst du vom Bahnhof aus ein mit meinem Namen unterzeichnetes Telegramm an Sir Henry Baskerville: wenn er das von mir verlorene Taschenbuch fände, so möchte er es mit der Post eingeschrieben nach meiner Wohnung in der Bakerstraße schicken.«
»Jawohl, Herr!«
»Und frage hier auf dem Stationsbureau, ob nichts für mich, angekommen sei.«
Der Junge kam mit einem Telegramm zurück, das Holmes mir hinreichte. Es lautete:
»Telegramm erhalten. Komme mit unausgefülltem Verhaftsbefehl; treffe 4,45 ein. Lestrade.«
»Das ist die Antwort auf mein Telegramm von heute früh,« sagte Holmes »Lestrade ist meiner Meinung nach der Beste von den Beamten der Geheimpolizei, und wir werden vielleicht seinen Beistand nötig haben. Und nun, Watson, können wir unsere Zeit wohl nicht besser anwenden, als wenn wir bei deiner Bekannten, Frau Laura Lyons, einen Besuch machen.«
Sein Feldzugsplan begann mir jetzt klar zu werden. Durch den Baronet wollte er die Stapletons überzeugen, daß wir abgereist wären; in Wirklichkeit dagegen würden wir im Augenblick, wo unsere Anwesenheit notwendig wäre, zur Hand sein. Wenn Sir Henry den Stapletons gegenüber das aus London erhaltene Telegramm erwähnte, so mußte ihnen das den letzten etwa noch vorhandenen Verdacht benehmen. Mir war’s, als sähe ich bereits unsere Netze sich immer dichter um den spitzköpfigen Hecht zusammenschließen! …
Frau Laura Lyons war in ihrem Arbeitszimmer, und Sherlock Holmes eröffnete das Gespräch mit einer Geradheit und Freimütigkeit, die sie ganz verblüfft machte.
»Ich beschäftige mich,« sagte er, »mit einer Untersuchung der Umstände, unter denen der Tod des seligen Sir Charles Baskerville erfolgt ist. Mein Freund hier, Herr Doktor Watson, hat mir mitgeteilt, welche Umstände Sie ihm erzählten, und welche Sie ihm verschwiegen haben.«
»Was soll ich ihm verschwiegen haben?« fragte sie herausfordernd.
»Sie haben eingeräumt, Sir Charles gebeten zu haben, er möchte Sie um zehn Uhr an der Pforte erwarten. Wir wissen, daß er um diese Stunde und an diesem Ort den Tod fand. Sie haben verschwiegen, welche Verbindung zwischen den beiden Umständen besteht.«
»Es besteht gar keine Verbindung.«
»In diesem Fall muß allerdings das Zusammentreffen ein ganz außerordentliches genannt werden. Aber ich glaube, wir werden den Zusammenhang doch noch feststellen. Ichs möchte ganz offen gegen Sie sein, Frau Lyons. Nach unserer Ansicht handelt es sich um einen Mord, und in die Untersuchung wird wahrscheinlich nicht nur Ihr Freund Herr Stapleton verwickelt werden, sondern vielleicht auch seine Frau.«
Die Dame sprang von ihrem Stuhl auf und rief:
»Seine Frau?«
»Diese Thatsache ist kein Geheimnis mehr. Die Person, die für seine Schwester galt, ist in Wirklichkeit seine Frau.«
Frau Lyons hatte sich wieder gesetzt. Ihre Hände umfaßten krampfhaft die Armlehnen des Stuhles — so krampfhaft, daß von dem Druck die rosigen Fingernägel weiß wurden.
»Seine Frau!« wiederholte sie. »Seine Frau! Er war ja niemals verheiratet!«
Sherlock Holmes zuckte nur stumm die Achseln.
»Beweisen Sie’s mir! Beweisen Sie’s mir! Und wenn Sie das können …«
Der Blitz, der aus ihren Augen sprühte, sprach deutlicher als Worte.
»Ich war auf Ihr Verlangen gefaßt und hatte mich deshalb zu diesem Besuch vorbereitet,« sagte Holmes. Dabei zog er mehrere Papiere aus der Tasche. »Hier ist eine Photographie des Paares; sie ist vor vier Jahren in York aufgenommen worden. Auf der Rückseite steht: Herr und Frau Bandeleur, aber Sie werden ihn ohne Schwierigkeiten erkennen, und sie ebenfalls, wenn Sie sie von Ansehen kennen. Hier sind als Aussagen glaubwürdiger Zeugen die Beschreibungen des Aussehens von Herrn und Frau Bandeleur, die damals die Privatschule von St. Oliver leiteten. Lesen Sie sie und sagen Sie mir dann, ob Sie noch die Identität des Paares bezweifeln.«
Sie überflog die Schriftstücke und sah uns dann mit dem starren Gesicht eines verzweifelten Weibes an.
»Herr Holmes!« rief sie endlich. »Dieser Mann hatte mir die Ehe versprochen, unter der Bedingung, daß ich meine Scheidung durchsetzen könnte. Er hat mich belogen, der Schurke — hat mich auf jede erdenkliche Weise belogen! Kein wahres Wort hat er mir gesagt. Und warum — warum? Ich bildete mir ein, alles geschehe um meinetwillen. Und nun sehe ich, daß ich immer nur ein Werkzeug in seiner Hand war. Warum sollte ich ihm Treue bewahren — er hat mich stets betrogen! Warum sollte ich von ihm die Folgen seiner verruchten Thaten abzuwenden suchen? Fragen Sie mich nach allem, was Sie zu wissen wünschen — ich werde nichts, gar nichts verschweigen. Und eins schwöre ich Ihnen: als ich jenen Brief schrieb, dachte ich nicht daran, dem alten Herrn, der stets mein großmütigster Freund gewesen war, irgend etwas zu leide thun zu wollen!«
»Davon bin ich vollkommen überzeugt, Madame,« antwortete Sherlock Holmes. »Die Erzählung der ganzen Vorgänge möchte sehr peinlich für Sie sein; vielleicht ist es Ihnen angenehmer, wenn ich die verschiedenen Punkte angebe. Wenn ich dabei einen Irrtum begehe, so können Sie mich berichtigen. Die Absendung des Briefes war Ihnen von Stapleton vorgeschlagen?«
»Er diktierte ihn mir.«
»Als Grund gab er vermutlich an, Sir Charles würde Ihnen mit einem Darlehen beistehen, um die Gerichtskosten Ihres Scheidungsprozesses decken zu können.«
»Ganz recht.«
»Als Sie dann den Brief abgesandt hatten, redete er Ihnen zu, Sie sollten lieber nicht hingehen?«
»Er sagte mir, es verwunde seinen Stolz, daß ein anderer das Geld zu einem solchen Zweck hergebe; er sei zwar selber ein armer Mann, aber er wolle den letzten Schilling hergeben, um die Hindernisse zu beseitigen, die uns trennten.«
»Er ist augenscheinlich ein sehr zielbewußter Charakter …Und dann hörten Sie nichts mehr, als bis Sie den Bericht über Sir Charles’ Tod in der Zeitung lasen?«
»Nein.«
»Und er ließ Sie schwören, daß Sie nichts von Ihrer Verabredung mit Sir Charles sagen wollten?«
»Ja. Er sagte, der Tod sei ein sehr geheimnisvoller, und ich würde sicherlich in Verdacht geraten, wenn von der Verabredung etwas bekannt würde. Er machte mir furchtbar bange — und ich blieb still.«
»So dachte ich’s mir. Aber Sie hatten einen gewissen Verdacht?«
Sie zögerte und schlug die Augen nieder. Nach einer Pause aber antwortete sie:
»Ich kannte ihn. Aber wenn er mir sein Wort gehalten hätte, so würde ich ihm das meinige nie und nimmer gebrochen haben.«
»Ich glaube, Sie können von Glück sagen, daß Sie so davongekommen sind!« rief Sherlock Holmes. »Sie haben ihn in Ihrer Gewalt gehabt; er wußte das — und Sie sind trotzdem noch am Leben. Sie sind monatelang dicht am Rande des Abgrundes entlang gegangen …Wir müssen nun gehen, Frau Lyons. Wahrscheinlich werden Sie binnen ganz kurzer Zeit wieder von uns hören. Guten Morgen…«
»Unser Fall rundet sich immer mehr ab, und eine Schwierigkeit nach der anderen verschwindet vor uns,« sagte Holmes, als wir auf dem Bahnhof standen und den von London kommenden Schnellzug erwarteten. »Bald werde ich in der Lage sein, eine einfache, zusammenhängende Darstellung eines der seltsamsten und sensationellsten Verbrechen der Gegenwart zu geben. Wer sich speziell für Kriminalistik interessiert, wird sich des ähnlichen Falles erinnern, der sich im Jahre 1866 in Grodno in Klein-Rußland zutrug. Außerdem natürlich der Andersonschen Mordthaten in Nord-Carolina; aber unser Fall hier weist einige Züge aus, die in ihrer Art ganz einzig dastehen. Selbst jetzt haben wir noch keinen ganz klaren Beweis gegen diesen überaus verschlagenen Mann. Aber es sollte mich außerordentlich wundern, wenn nicht alles vollkommen aufgeklärt wäre, ehe wir heute nacht zu Bette gehen.«
In diesem Augenblick kam der Londoner Schnellzug mit betäubendem Lärm herangebraust. Er hielt, und ein kleiner, handfester Mann mit einem Bulldoggengesicht sprang aus einem Abteil erster Klasse aus den Bahnsteig. Wir schüttelten uns alle drei die Hand, und ich sah sofort an der ehrerbietigen Art, wie Lestrade meinen Freund ansah, daß er seit unserem ersten Zusammenarbeiten mancherlei gelernt hatte. Ich erinnerte mich noch sehr gut des verächtlichen Spottes, womit der Mann der Praxis die Theorien des Grüblers abgethan hatte.
»Haben Sie was Gutes für mich?« fragte der Beamte.
»Den großartigsten Fall, der seit Jahren vorgekommen ist!« antwortete Holmes »Wir haben zwei Stunden zu unserer freien Verfügung. Ich glaube, wir können sie nicht besser anwenden, als indem wir einen Bissen essen; und dann, Lestrade, sollen Sie den Londoner Nebel aus Ihrer Kehle los werden und dafür ein bißchen reine Nachtluft von Dartmoor einatmen. Sie waren noch niemals hier? Na, ich denke, Sie werden Ihren ersten Besuch schwerlich vergessen.«
14
Zu Sherlock Holmes’ Fehlern — vorausgesetzt, daß es überhaupt ein Fehler genannt werden kann — gehörte es, daß er eine große Abneigung dagegen hatte, von seinen Plänen etwas mitzuteilen, bevor der Augenblick der Ausführung dazu da war. Zum Teil beruhte dies unzweifelhaft auf der Ueberlegenheit seiner Natur: er liebte es, sich als Herrn und Meister zu zeigen und seine Umgebung zu überraschen. Zum anderen Teil aber lag es in der ihm angeborenen und in seinem Beruf noch mehr ausgebildeten Vorsicht; er wollte nichts auf unvorhergesehene Zufälle ankommen lassen. Sei dem wie ihm wolle — das Ergebnis war eine harte Geduldsprobe für seine Helfer und Mitarbeiter. Ich hatte schon oft darunter gelitten, aber niemals so sehr wie während unserer langen Fahrt in der Dunkelheit Der große Schlag stand unmittelbar bevor, endlich sollte die Entscheidung fallen — und doch hatte Holmes noch kein Wort gesagt, und ich konnte mich nur in Vermutungen oüber das von uns einzuschlagende Verfahren ergehen. Meine Nerven waren fast bis zur Unerträglichkeit angespannt, als ich rechts und links von unserem schmalen Landweg düstere weite Flächen bemerkte und an dem mir ins Gesicht schlagenden kalten Wind erkannte, daß wir wieder auf dem Moor angelangt waren. Jeder Sprung der Pferde, jede Umdrehung der Räder brachte uns dem Ende unseres Abenteuers näher.
Da der Kutscher auf dem Bock unseres Mietwagens jedes Wort hören konnte, so mußten wir uns in unserem Gespräch großen Zwang anthun und durften uns nur über gleichgültige Gegenstände unterhalten; das fiel uns in unserer begreiflichen Aufregung nicht leicht. Ich atmete daher erleichtert aus, als wir bei Franklands Haus vorbeikamen; endlich näherten wir uns Baskerville Hall und damit dem Schauplatz der Handlung. Wir fuhren nicht beim Haupteingang vor, sondern ließen den Wagen in der Allee halten und stiegen aus. Der Kutscher wurde abgelohnt, und wir machten uns zu Fuß auf den Weg nach Merripit House.
»Sind Sie bewaffnet, Lestrade?«
Lächelnd antwortete der Detektiv:
»So lange ich meine Hosen anhabe, habe ich eine Hüfttasche, und so lange ich meine Hüfttasche habe, ist auch was drin.«
»Gut! Mein Freund und ich haben uns ebenfalls für alle Eventualitäten vorgesehen.«
»Sie sind sehr verschlossen, Herr Holmes. Mit was für ’ner Art von Spiel haben wir’s denn eigentlich zu thun?«
»Mit ’nem Geduldsspiel.«
»Wahrhaftig, das scheint hier keine sehr nette Gegend zu sein!« bemerkte der Detektiv, indem er fröstelnd seinen Ueberrock dichter zuzog und dabei einen Blick auf die düstere Hügelkette warf und auf den riesigen Nebelsee, der über dem Grimpener Moor lag. »Gerade vor uns sehe ich die Lichter eines Hauses.«
»Das ist Merripit House, das Ziel unserer Wanderung. Ich muß Sie jetzt ersuchen, auf den Fußspitzen zu gehen und im Flüsterton zu sprechen, wenn Sie etwas zu sagen haben.«
Vorsichtig gingen wir den Fußweg entlang auf das Haus zu, aber als wir noch ungefähr zweihundert Schritte davon entfernt waren, ließ Holmes uns Halt machen und sagte:
»Weiter brauchen wir nicht zu gehen. Die Felsen hier zur Rechten geben ein ausgezeichnetes Versteck ab.«
»Müssen wir hier warten?«
»Ja, hier wollen wir uns in Hinterhalt legen. Gehen Sie in diese Höhlung hinein, Lestrade! Du warst drinnen im Hause, nicht wahr, Watson? Kannst du die Lage der verschiedenen Zimmer angeben? Was sind das für Gitterfenster an unserem Ende hier?«
»Ich glaube, es sind die Küchenfenster.«
»Und das Fenster weiter weg, aus dem der helle Lichtschein herausfällt?«
»Das gehört ganz bestimmt zum Speisezimmer.«
»Die Vorhänge sind zurückgezogen. Du weißt am besten hier Bescheid. Krieche sachte heran und sieh mal zu, was drinnen vorgeht — aber laß sie um Gottes willen nicht merken, daß sie beobachtet werden!«
Ich ging auf den Zehen den Fußpfad entlang und duckte mich dann hinter die niedrige Mauer, die den verwahrlosten Obstgarten umgab. An dieser hinkriechend, kam ich zu einer Stelle, wo ich ungehindert in das gardinenlose Fenster hineinsehen konnte.
In dem Zimmer befanden sich nur Sir Henry und Stapleton. Sie saßen an dem runden Tisch einander so gegenüber, daß ich ihre Gesichter von der Seite sehen konnte. Beide rauchten; vor ihnen aus dem Tisch standen Kaffeetassen und Weingläser. Stapleton sprach
lebhaft, aber der Baronet sah bleich und zerstreut aus. Vielleicht lag der Gedanke an den ihm bevorstehenden Gang über das einsame, übelberufene Moor ihm schwer auf der Seele.
Nachdem ich sie eine Weile beobachtet hatte, stand Stapleton auf und verließ das Zimmer; Sir Henry schänkte sich sein Glas voll, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blies den Cigarrendampf in dicken Wolken von sich. Ich hörte eine Thür knarren; dann knirschten Schritte auf dem Kies an der anderen Seite der Mauer, hinter der ich mich zusammengekauert hatte. Als sie bei mir vorbei waren, blickte ich vorsichtig über die Mauer hinweg und sah den Naturforscher vor der Thür eines Nebengebäudes stehen, das sich in der Ecke des Baumgartens befand. Er öffnete die Thür mit einem Schlüssel, und als er eingetreten war, hörte ich ein eigentümlich raschelndes Geräusch in dem Gebäude. Er verweilte höchstens ein paar Minuten, dann hörte ich den Schlüssel sich abermals im Schloß drehen, die knirschenden Schritte kamen wieder bei mir vorüber, und Stapleton betrat sein Haus. Ich sah noch, wie er im Zimmer erschien, wo Sir Henry auf ihn wartete, dann kroch ich vorsichtig nach dem Versteck meiner Freunde zurück und berichtete, was ich gesehen hatte.
»Und sage, Watson, die Dame saßÂů nicht bei ihnen?« fragte Holmes, als ich mit meiner Erzählung fertig war.
»Nein.«
»Wo kann sie denn nur sein! Es ist ja in keinem anderen Raum Licht als nur im Speisezimmer und in der Küche!«
»Ich habe keine Ahnung!«
Ueber dem großen Grimpener Sumpf lagerte, wie ich vorhin bereits erwähnte, ein dichter, weißer Nebel. Er wälzte sich langsam auf uns zu und stand jetzt in einiger Entfernung wie eine niedrige, scharf abgeschnittene Wand vor uns. Der Mond beschien sie, und sie glich einer weiten schimmernden Eisfläche; die Felsspitzen, die daraus hervorragten, sahen aus wie riesige Granitblöcke, die von diesem Eis getragen wurden. Holmes beobachtete unverwandt diese Nebelfläche, und ich hörte ihn unwillig brummen, als sie allmählich sich immer näher an uns heranschob.
»Es kommt auf uns zu, Watson!«
»Ist das von irgendwelcher Bedeutung?«
»Von sehr großer Bedeutung sogar! Es ist die einzige Möglichkeit, die auf meine Pläne irgendwelchen Einfluß haben könnte! Er kann jetzt nicht lange mehr bleiben, denn es ist bereits zehn Uhr. Unser Erfolg und vielleicht sogar sein Leben hängt möglicherweise davon ab, daß er das Haus verläßt, ehe der Nebel den Weg bedeckt.«
Der Nachthimmel stand in klarer Schönheit über uns; die Sterne funkelten in der Kälte mit hellem Schein, und der Halbmond übergoß die Landschaft mit einem sanften ungewissen Lichte. Vor uns lag die dunkle Masse des Hauses, das Giebeldach und die hohen Kamine scharf vom silberbestreuten Nachthimmel sich abhebend Breite Lichtstreifen ergossen sich goldig aus den Fenstern des Erdgeschosses über den Garten und das Moor. Mit einemmale verschwand einer von diesen Streifen — die Dienstboten hatten die Küche verlassen. Nur noch das Speisezimmer blieb hell; dort saßen die beiden Männer, der mordsinnende Wirt und der ahnungslose Gast, und plauderten bei Wein und Cigarren.
Mit jeder Minute schob die weiße, wolkige Fläche, die bereits die Hälfte des Moores bedeckte, sich näher und näher an das Haus heran. Schon kräuselten sich die ersten feinen Ausläufer des Nebels vor dem goldenen Viereck des erleuchteten Fensters. Die rückseitige Mauer des Baumgartens war bereits unsichtbar, und die Bäume erhoben sich aus einem brodelnden weißen Dampf in die Luft. Und schon wälzten sich Nebelstreifen um die Ecke des Hauses herum und vereinigten sich allmählich zu einer dichten, glatt abgeschnittenen Wolke, über welcher das obere Stockwerk und das Dach des Hauses wie ein Gespensterschiff auf seltsamem Meere schwamm. Holmes schlug aufgeregt mit der Faust auf den Felsen, hinter welchem wir uns versteckt hatten und stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß.
»Wenn er nicht binnen einer Viertelstunde draußen ist, so wird der Fußweg bedeckt sein. In einer halben Stunde können wir keine Hand mehr vor Augen sehen.«
»Sollen wir uns nicht ein Stück Weges zurückziehen? Hinter uns steigt der Grund an.«
»Ja, das wird wohl das beste sein.«
Wir gingen also, vor der Nebelbank allmählich zurückweichend, weiter aufs Moor hinaus, bis wir etwa tausend Schritte vom Hause entfernt waren — und immer noch kroch die weiße Masse mit der mondbeglänzten Oberfläche näher an uns heran, unerbittlich immer näher!
»Wir gehen zu weit!« sagte Holmes. »Wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen, daß er eingeholt wird, bevor er an unseren Versteck heran ist. Hier, wo wir jetzt sind, müssen wir auf alle Fälle bleiben.« Er ließ sich auf die Kniee nieder und hielt das eine Ohr an den Erdboden. »Gott sei Dank! Ich glaube, ich höre ihn kommen!«
Wirklich wurden jetzt schnelle Schritte in der Stille des Moors hörbar. Uns an die Felsblöcke anschmiegend, beobachteten wir mit gespanntester Erwartung die schimmernde Nebelbank, die vor uns lag. Und jetzt trat, wie wenn er einen Vorhang zerteilte, aus dem weißen Nebel heraus der Mann, auf den wir warteten. Er blickte sich überrascht um, als er plötzlich die klare, sternenbeglänzte Nachtlandschaft vor sich sah. Dann eilte er schnellen Schrittes auf dem Pfad dahin, an unserem Versteck vorbei, und den Hügel hinauf, der sich sanft ansteigend hinter uns erstreckte. Während er vorwärts eilte, sah er beständig bald über die eine, bald über die andere Schulter nach hinten. Augenscheinlich war ihm unbehaglich zu Mute.
»Sst!« rief plötzlich Holmes, und ich hörte ein scharfes Knacken; er hatte den Hahn seines Revolvers gespannt. »Aufgepaßt! Es kommt!«
Mitten in der heranschleichenden Nebelmasse hörten wir ein scharfes, schnelles Getrappel. Die Wolke lag fünfzig Schritte vor uns und wir starrten alle drei auf die weiße Fläche. Was für ein Greuel würde aus ihr hervorbrechen? Ich lag an Holmes’ Ellbogen und warf einen schnellen Blick auf sein Gesicht Er war bleich, aber offenbar frohlockte er innerlich; seine Augen funkelten hell im Mondenschein. Plötzlich aber stierte er entsetzt vorwärts und seine Lippen öffneten sich in maßlosem Erstaunen. Im selben Augenblick stieß Lestrade einen Schrei des Entsetzens aus und fiel mit dem Gesicht auf die Erde. Ich sprang auf; meine zitternde Hand umklammerte den Revolver, aber ich konnte nicht schießen, mein Geist war gelähmt von dem Anblick des grausigen Geschöpfes, das aus dem Nebel hervorgesprungen kam.
Es war ein Hund, ein riesiger kohlschwarzer Hund, aber ein Hund, wie keines Menschen Augen ihn jemals gesehen haben. Feuer sprühte aus dem offenen Rachen hervor, die Augen glühten, Lefzen und Wampe waren von hellem Glast umloht. Ein Wahnsinniger könnte in seinen Fieberträumen kein wilderes, grausigeres Ungeheuer sich vorstellen; wie ein Geschöpf der Hölle brach die schwarze Bestie aus dem weißen Dampf hervor.
In langen Sätzen sprang der riesige schwarze Hund den schmalen Weg entlang; die Nase dicht über dem Erdboden haltend, folgte er den Fußspuren unseres Freundes. Wir waren durch diese Erscheinung wie gelähmt, und ehe wir unsere Besinnung wiedererlangt hatten, war die Bestie schon an unserem Versteck vorübergesprungen. Dann feuerten Holmes und ich gleichzeitig, und ein schauerliches Geheul bewies uns, daß wenigstens einer von uns getroffen haben mußte. Doch ließ der Hund sich durch die Verwundung nicht aufhalten, sondern jagte mit unverminderter Schnelligkeit weiter. In ziemlich weiter Entfernung sahen wir Sir Henry aus dem Wege stehen; er sah mit kreideweißem Antlitz, dessen Blässe durch den voll darauffallenden Mondschein noch mehr hervorgehoben wurde, sich um; die Hände hatte er voller Entsetzen emporgeworfen und hilflos starrte er auf das grausige Ungeheuer, das aus ihn losgesprungen kam.
Aber das Schmerzgeheul des Hundes benahm uns alle Furcht. Wenn er verwundbar war, so war er ein Erdengeschöpf, und wenn wir ihn verwunden konnten, so konnten wir ihn auch töten. Niemals habe ich einen Menschen rennen sehen, wie Sherlock Holmes in diesem entscheidenden Augenblick rannte. Ich gelte für einen schnellen Läufer, aber ich blieb weit hinter meinem Freunde zurück, und in gleicher Entfernung hinter mir folgte erst der kleine Londoner Detektiv. Vor uns hörten wir Schrei auf Schrei, die gellenden Angstrufe des Baronets und dazwischen das tiefe Gebell des Hundes. Ich sah, wie die Bestie auf ihr Opfer lossprang, Sir Henry zu Boden warf und ihm an die Kehle fuhr. Im nächsten Augenblick aber hatte Holmes fünf Kugeln seines Revolvers dem Tier in die Flanke gejagt. Mit einem letzten Todesgeheul und noch einmal wild um sich beißend rollte der Hund auf den Rücken; die vier Beine fuhren noch ein paarmal durch die Luft, dann fiel er auf die Seite und lag regungslos da. Keuchend sprang ich an das Tier heran und hielt den Lauf meines Revolvers an den fürchterlichen feuerumlohten Kopf; aber ich brauchte nicht mehr abzudrücken. Der Riesenhund war tot.
Sir Henry lag bewußtlos auf der Stelle, wo er umgesunken war. Wir rissen ihm den Kragen auf, und Holmes gab ein Stoßgebet der Dankbarkeit von sich, als wir sahen, daß keine Wunde vorhanden, und daß unsere Hilfe noch zur rechten Zeit gekommen war. Bald bewegten sich zuckend die Augenlider unseres Freundes, und er machte einen schwachen Versuch, sich zu bewegen. Lestrade schob dem Baronet seine Branntweinflasche zwischen die Zähne — und dann sahen zwei ängstliche Augen unsÂů an.
»Mein Gott!« flüsterte Sir Henry. »Was war das? Um des Himmels willen — was war es?«
»Was es auch gewesen sein mag, es ist tot,« antwortete Holmes. »Wir haben
dem Familiengespenst für ewige Zeiten den Garaus gemacht!«
Das Tier, das da zu unseren Füßen hingestreckt lag, war schon durch seine Größe und Stärke eine fürchterliche Bestie. Es war kein reinrassiger Bluthund und auch keine reine Dogge, sondern schien aus einer Kreuzung hervorgegangen zu sein — ein zottiges, dürres Geschöpf von der Größe einer kleinen Löwin. Noch jetzt, wo es tot war, schien von den gewaltigen Kinnladen ein bläuliches Feuer zu triefen, und die tiefliegenden, grausamen kleinen Augen waren von Flammenringen umgeben. Und als ich mit meinen Händen das furchtbare Maul auseinanderriß, da schimmerten auch meine Finger feurig in der Dunkelheit
»Phosphor!« rief ich.
»Ja, ein Phosphorpräparat — und ein sehr geschickt hergerichtetes!«Âů sagte Holmes, der sic niedergebeugt hatte und den Kopf des toten Tieres beroch. »Es ist eine geruchlose Lösung, durch die der Spürsinn des Tieres nicht beeinträchtigt werden konnte. — Wir müssen Sie von ganzem Herzen um Verzeihung bitten, Sir Henry, daß wir Sie der Gefahr eines so furchtbaren Schrecks ausgesetzt haben. Ich war auf einen Hund gefaßt — aber nicht auf eine Bestie wie diese hier. Und infolge des Nebels hatten wir nur einen ganz geringen Augenblick Zeit, um sie mit mehreren Schüssen zu empfangen.«
»Sie haben mir das Leben gerettet!«
»Nachdem ich es erst in Gefahr gebracht hatte. Sind Sie kräftig genug, um sich auf Ihren Füßen halten zu können?«
»Lassen Sie mich noch einen Schluck Branntwein zu mir nehmen, und ich bin zu allem bereit. — So! Wollen Sie mir jetzt, bitte, aufhelfen? Was gedenken Sie jetzt zunächst zu thun?«
»Sie hier zu lassen. Sie sind nicht imstande, in dieser Nacht noch mehr Abenteuer durchzumachen. Wenn Sie aus unsere Rückkunft warten wollen, so kann einer von uns Sie nach dem Schloß bringen.«
Sir Henry versuchte sich aufrecht zu halten; aber er war noch immer leichenblaß und zitterte an allen Gliedern. Wir führten ihn zu einem Granitblock; auf diesen setzte er sich und vergrub zusammenschauernd das Gesicht in seine Hände.
»Wir müssen Sie jetzt hier allein lassen,« sagte Holmes. »Es bleibt uns noch anderes zu thun, und jeder Augenblick ist von Wichtigkeit. Das Verbrechen ist völlig aufgeklärt — jetzt brauchen wir nur noch den Verbrecher!«
»Es ist tausend gegen eins zu wetten, daß wir ihn nicht in seinem Hause finden,« fuhr Holmes fort, als wir schnell den Fußweg entlang auf Merripit House zueilten. »Die Schüsse müssen ihm gesagt haben, daß er die Partie verloren hat.«
»Wir waren ein ziemliches Stück vom Hause entfernt, und der Nebel hat vielleicht den Schall gedämpft,« bemerkte Lestrade.
»Er folgte dem Hund auf dem Fuße, um ihn sofort abzurufen — darauf können Sie sich verlassen! Nein, nein — er ist jetzt längst fort. Aber wir wollen zur Sicherheit das Haus durchsuchen.«
Die Hausthür stand offen; wir stürmten daher hinein und eilten von Zimmer zu Zimmer, zum größten Erstaunen des vor Angst an allen Gliedern bebenden alten Dieners, der uns im Flur entgegenkam. Nur im Speisezimmer brannte Licht, aber Holmes nahm die Lampe vom Tisch und ließ keinen Winkel des Hauses undurchsucht. Nirgends war von dem Manne, den wir verfolgten, auch nur das geringste Zeichen zu sehen. Im obersten Stock jedoch war die Thür zu einem der Zimmer verschlossen.
»Es ist jemand drinnen!« rief Lestrade. »Ich höre etwas sich bewegen. Machen Sie die Thür auf!«
Wir hörten drinnen ein schwaches Stöhnen und ein Rauschen wie von Kleidern. Holmes sprengte die Thür mit einem Fußtritt, und mit dem Revolver in der Hand stürzten wir alle drei ins Zimmer.
Aber wir fanden keine Spur von dem verzweifelten Schurken, den wir zu sehen erwarteten. Statt dessen aber hatten wir einen so seltsamen und unerwarteten Anblick, daß wir zuerst sprachlos und wie an den Fleck gebannt dastanden.
Das Zimmer war zu einer Art von kleinem Museum hergerichtet; an den Wänden hingen eine Anzahl Glaskasten, deren Anfüllung mit Schmetterlingen und Käfern der gefährlichste Verbrecher der Gegenwart zu seiner Erholung betrieben hatte. Mitten im Raum stand ein Holzpfeiler, der den alten wurmzerfressenen Deckbalken stützen mußte. An diesen Pfeiler war eine menschliche Gestalt festgebunden, aber ob es ein Mann oder ein Weib war, konnten wir für den Augenblick nicht sagen, denn diese Gestalt war vollständig von Bett- und Handtüchern vermummt. Ein Handtuch war um die Kehle geschlungen und hinter dem Pfosten zusammengeknotet; ein zweites bedeckte den unteren Teil des Gesichtes und über diesem starrten zwei dunkle Augen uns entgegen — Augen voll Schmerz und Scham und Angst. In einem Augenblick hatten wir den Knebel hinweggerissen, die Bande gelöst — und Beryl Stapleton sank vor uns ohnmächtig auf den Fußboden nieder. Ihr schönes Haupt neigte sich auf ihre Brust, und da sah ich auf ihrem Halse klar und scharf die rote Strieme vom Hiebe einer Reitpeitsche.
»Der rohe Schuft!« rief Holmes. »Hier, Lestrade, geben Sie schnell Ihre Whiskyflasche! Helfen Sie mir, sie auf einen Stuhl setzen. Die erlittenen Mißhandlungen und die Erschöpfung haben sie ohnmächtig gemacht.«
Nach einer kurzen Weile schlug sie die Augen wieder auf und fragte:
»Ist er gerettet? Hat er sich in Sicherheit bringen können?«
»Er kann uns nicht entkommen.«
»Nein, nein — ich meinte nicht meinen Mann! Aber Sir Henry — ist er in Sicherheit?«
»Ja.«
»Und der Hund?«
»Der ist tot.«
»Gott sei Dank! Gott sei Dank!« rief sie nach einem tiefen Seufzer der Erleichterung. »O dieser Schurke! Sehen Sie, wie er mich behandelt hat!«
Sie streifte ihre Aermel zurück, und wir sahen voll Entsetzen, daß beide Arme mit blutigen Striemen bedeckt waren.
»Aber das ist nichts — gar nichts!« fuhr sie fort. »Wie hat er erst meine Seele gequält und gefoltert! Und das alles habe ich ertragen können — Mißhandlungen, Einsamkeit, ein Leben voller Enttäuschung, alles! — so lange ich mich noch an die Hoffnung anklammern durfte, daß seine Liebe mir gehörte. Aber jetzt weiß ich, daß er auch hierin mich hintergangen hat, daß ich nur sein Werkzeug war!«
Bei diesen Worten brach sie in ein leidenschaftliches Schluchzen aus.
»Sie sind ihm nicht freundlich gesinnt, gnädige Frau!« sagte Holmes »Nun, so sagen Sie uns, wo wir ihn finden werden. Wenn Sie ihm je bei seinem bösen Werk beigestanden haben, so helfen Sie dafür jetzt uns, und machen Sie damit alles wett.«
»Es giebt nur einen Platz, wohin er geflohen sein kann,« antwortete sie. »Auf einer Insel mitten im großen Sumpf ist eine alte Zinngrube. Dort hielt er seinen Hund und dort hatte er auch allerhand Vorkehrungen getroffen, um für alle Fälle eine Zuflucht zu haben. Dorthin muß er geflohen sein.«
Der Nebel lag dick wie weiße Wolle an den Fensterscheiben. Holmes streckte die Lampe nach dem Fenster aus und sagte:
»Sehen Sie! Niemand könnte in dieser Nacht einen Weg durch den Grimpener Sumpf finden.«
Sie schlug lachend die Hände zusammen; ihre weißen Zähne blitzten und ihre Augen funkelten in wilder Freude, als sie rief:
»Den Weg hinein findet er vielleicht, aber nie und nimmer den Weg heraus! Wie kann er heute nacht die Stecken finden, die wir beide, er und ich, zusammen einpflanzten, um den schmalen Fußpfad durch den Morast zu bezeichnen! O, hätte ich sie nur heute herausreißen können! Dann allerdings hätte er rettungslos in Ihre Hände fallen müssen.«
Wir sahen ein, daß an eine Verfolgung nicht zu denken war, so lange der Nebel über dem Moor lag. Wir ließen daher Lestrade in Merripit House zurück und Holmes und ich gingen mit dem Baronet nach Baskerville Hall. Wir konnten ihm die Wahrheit über die Stapletons nicht länger verschweigen, aber er benahm sich tapfer wie ein Mann, als er erfuhr, daß das Weib, das er geliebt, die Gattin eines Mörders war.
Die Abenteuer dieser Nacht waren jedoch zu viel für seine Nerven gewesen, und ehe der Morgen anbrach, lag er im Delirium eines hohen Fiebers und wir mußten ihn der Pflege des Dr. Mortimer anvertrauen.
* * *
Und nun komme ich schnell zum Schluß dieser gewiß nicht alltäglichen Geschichte.
Die Morgensonne des nächsten Tages hatte den dichten Nebel aufgesogen und Frau Stapleton führte uns nach der Stelle, wo der vom Naturforscher entdeckte schmale Fußweg durch den Sumpf begann. Was für ein Höllenleben die Frau an der Seite des Verbrechers geführt haben mußte, das erkannten wir an der freudigen Bereitwilligkeit, womit sie uns auf ihres Gatten Spur brachte. Sie brachte uns bis an den letzten Ausläufer festen Bodens, der sich in Gestalt einer schmalen Halbinsel in den Sumpf hinein erstreckte; von dieser Stelle aus gingen wir allein weiter. Von Zeit zu Zeit bezeichnete ein dünnes Stückchen die Zickzackwindungen des Pfades. Nur ein einzigesmal bemerkten wir eine Spur, daß vor uns ein Mensch den gefährlichen Weg gegangen war. Auf einem Büschel Riedgras, der das Untersinken verhindert hatte, lag ein dunkler Gegenstand. Holmes sank bis an den Leib in den Morast, als er, um sich des Gegenstandes zu bemächtigen, abseits des Weges trat; und wären wir nicht da gewesen, so hätte sein Fuß niemals wieder festen Grund betreten. Er hielt einen alten schwarzen Schuh empor. Auf dem Innenleder desselben fanden wir den Stempel: ‘Meyers, Toronto, Canada.’
»Der Fund ist schon ein Moorbad wert!« rief Holmes »Es ist der abhanden gekommene Schuh unseres Freundes Sir Henry.«
»Und Stapleton hat ihn auf seiner Flucht an dieser Stelle weggeworfen!«
»Ganz recht. Er behielt ihn in der Hand, nachdem er ihn benutzt hatte, den Hund auf die Fährte zu bringen. Auf der Flucht, als er wußte, daß das Spiel verloren war, hielt er unbewußt den Schuh noch immer in der Hand. Und an dieser Stelle warf er ihn von sich. Wir wissen also wenigstens so viel, daß er bis hierher gekommen ist.«
Aber mehr sollten wir über Stapletons Schicksal überhaupt nicht erfahren; wir waren nur auf Vermutungen angewiesen — Gewißheit erlangten wir nicht. Wir konnten nicht erwarten, Fußspuren im Sumpf zu finden, denn jede Höhlung wurde sofort von dem aus der Tiefe aufsteigenden Morastwasser ausgefüllt und war in wenigen Augenblicken wieder der Oberfläche gleichgemacht Aber als wir endlich auf festeren Grund kamen, sahen wir uns alle drei eifrig suchend und erwartungsvoll nach Spuren um. Wir fanden keine. Wenn der spurenlose Erdboden uns die Wahrheit sagte, so hat Stapleton niemals die Rettungsinsel im Sumpf erreicht, nach der er sich durch Nacht und Nebel hinzutasten versuchte. Irgendwo mitten im großen Grimpener Sumpf, tief in den Morast hinuntergezogen, liegt für immer der Mann mit dem kältesten Mörderherzen begraben.
Daß er auf dem morastumgürteten Eiland oft geweilt haben mußte, ergab sich aus mancherlei Anzeichen. Von der verlassenen Zinngrube war noch ein großes Triebrad und ein halbzugeschütteter Schacht übrig; daneben standen verfallende Mauerreste von den Hütten der Bergleute, die ohne Zweifel von den Fieberdünsten des Sumpfes vertrieben worden waren. In einer dieser Hütten hatte das wilde Tier gehaust, das Stapleton zu seinem Verbündeten ausersehen hatte; wir fanden seine Kette und einen großen Haufen abgenagter Knochen. In einer Ecke lag eine Dose, die eine leuchtende Masse enthielt — ohne Zweifel das Phosphorpräparat, das dem schlauen Schurken dazu gedient hatte, aus seinem Hund einen Höllenhund zu machen.
»Und nun,« sagte Holmes, »wo wir alle Ecken und Winkel durchsucht haben, können wir sagen, daß der Fall kaum noch ein unaufgeklärtes Geheimnis enthält.«
»Hm,« antwortete ich, »immerhin haben wir über Stapletons Persönlichkeit doch nur Vermutungen. War er wirklich ein Baskerville? Das wird wohl kein Mensch je erfahren, und damit bleibt auch der Beweggrund des Verbrechens für immer im Bereich der bloßen Mutmaßungen.«
»O nein, mein lieber Watson. Der Beweggrund ist völlig klar: Stapleton war ein Baskerville. Du weißt, ich hatte heute früh eine kleine Unterredung mit seiner armen Frau, und wenige Fragen genügten, um in dieser Hinsicht alles aufzuklären. Er war ein Sohn des jüngeren Bruders von Sir Charles, Rodger Baskerville, der infolge anrüchiger Geschichten nach Südamerika hatte fliehen müssen. Es hieß, er sei dort unverheiratet gestorben. Das war aber ein Irrtum. Er hatte geheiratet, und dieser Ehe entstammte ein Sohn, der, wie sein Vater, Rodger hieß. Es ist unser Verbrecher. Dieser heiratete eines der schönsten Mädchen von Costarica, Beryl Garcia. Nachdem er eine bedeutende Summe Geldes veruntreut hatte, floh er mit seiner Frau nach England, wo er unter dem Namen Bandeleur eine Schule in Yorkshire hielt. Bald fand er es aber angezeigt, seinen Namen abermals zu ändern, und er kam als Stapleton mit den Resten seines Vermögens und mit seinen Zukunftsplänen nach Südengland.
Offenbar hatte er sich nach den Verhältnissen seiner Familie erkundigt und natürlich bald herausgefunden, daß nur zwei Männer zwischen ihm und einer großen Erbschaft standen; vielleicht hat er sogar im Anfang von dem Vorhandensein des jetzigen Baronets gar nichts gewußt, sondern geglaubt, er habe es nur mit Sir Charles zu thun. Als er nach Devonshire kam, waren überhaupt seine Pläne, glaube ich, noch außerordentlich unbestimmt. Aber daß er von Anfang an auf Böses sann, geht daraus hervor, daß er seine Frau für seine Schwester ausgab. Offenbar gedachte er sie als Lockvogel zu benutzen, wenn er auch noch nicht wußte, in welcher Weise dies geschehen könnte. Zunächst ließ er sich möglichst nahe bei dem Hause seiner Väter nieder, alsdann trug er Sorge, mit Sir Charles und den anderen Nachbarn in ein freundschaftliches Verhältnis zu treten. Der Baronet erzählte ihm von dem Familienhund und sprach sich damit selber das Todesurteil.
Nachdem Stapleton einmal seinen bestimmten Plan gefaßt hatte, führte er ihn mit außerordentlicher Schlauheit durch. Auf den zur Bereicherung seiner Schmetterlingssammlung unternommenen Streifzügen hatte er das Moor in allen Richtungen kennen gelernt; er hatte den Weg nach dieser alten Zinngrube gefunden und hatte damit das unumgänglich nötige Versteck für seinen grimmigen Hund, den er sich in London gekauft und in dunkler Nacht von einer entfernten Bahnstation hierher gebracht hatte. Er wartete nun seine Gelegenheit ab. Aber diese wollte nicht kommen. Er hatte gehofft, seine Frau würde bereit sein, Sir Charles ins Verderben zu locken, aber hier stieß er auf einen unerwarteten Widerstand. Wie er schließlich durch Benutzung seiner Freundin, Frau Laura Lyons, seinen Zweck erreichte, wissen Sie bereits. Aber beide Frauen, die er in sein Spiel gezogen hatte, Frau Stapleton und Frau Lyons, hatten einen bösen Verdacht gegen ihn gefaßt. Seine Frau kannte seine Zukunftspläne und wußte außerdem um die Anwesenheit des Hundes. Frau Lyons wußte von diesen beiden Umständen nichts, aber es hatte einen starken Eindruck auf sie gemacht, daß der Baronet gerade zu der Stunde gestorben war, wo sie eine Zusammenkunft mit ihm haben sollte, und daß sie auf Stapletons ausdrücklichen Wunsch dieser Zusammenkunft hatte fern bleiben müssen. Indessen beide Frauen standen unter dem Einfluß seines starken Willens, und er hatte von ihnen nichts zu fürchten. Die erste Hälfte seiner Aufgabe war erfüllt, aber der schwierigere zweite Teil blieb noch zu thun.
Wenn Stapleton von dem Vorhandensein des in Kanada lebenden Erben nichts gewußt hatte, so mußte er es jedenfalls sehr bald vom Doktor Mortimer erfahren, und von diesem hörte er denn auch jede Einzelheit über die bevorstehende Ankunft Sir Henrys. Zunächst dachte er nun, der junge Fremde aus Kanada könnte vielleicht in London ins Jenseits befördert werden, ehe er überhaupt nach Devonshire käme. Gegen seine Frau hegte er Mißtrauen, seitdem sie sich geweigert hatte, ihm in seinem Anschlag gegen den alten Baronet beizustehen; er wagte deshalb nicht, sie für längere Zeit aus den Augen zu lassen, weil er seinen Einfluß auf sie zu verlieren fürchtete. Deshalb nahm er sie mit nach London. Sie wohnten dort im Mexborough-Hotel in Craven Street — einem von den Gasthöfen, deren Papierkörbe ich durch Cartwright durchsuchen ließ. Wie du weißt, war die Nachforschung vergeblich. Hier schloß er seine Frau in ihr Zimmer ein, während er selbst, unter der Verkleidung eines falschen Bartes, dem Dr. Mortimer auf seinen Gängen nach meiner Wohnung und später nach dem Bahnhof und dem Northumberland-Hotel unbemerkt folgte.
Seine Frau hatte eine ziemlich bestimmte Ahnung, mit welchen Plänen er sich trüge, aber sie hatte zugleich auch — und zwar infolge brutaler Mißhandlungen — eine solche Angst vor ihrem Mann, daß sie es nicht wagte, dem in Gefahr schwebenden, ahnungslosen Baronet ein Warnungszeichen zu geben. Wäre der Brief in Stapletons Hände gefallen, so wäre sie selber ihres Lebens nicht mehr sicher gewesen. Schließlich fiel ihr, wie wir wissen, ein Aushilfsmittel ein: sie schnitt die Worte ihrer Warnung aus einer Zeitung aus und adressierte den Brief mit verstellter Handschrift. Der Baronet erhielt ihn und damit zugleich die erste Warnung vor der Gefahr.
Von Stapletons Gewandtheit erhielten wir selber an jenem Morgen einen Begriff, als er uns so plötzlich entkam. Er wußte von dem Augenblick an, daß ich den Fall in meine Hände genommen hätte, daß also in London sich schwerlich für ihn eine Gelegenheit ergeben würde, seine Mordpläne zur Ausführung zu bringen. Er kehrte daher nach Devonshire zurück und wartete des Baronets Ankunft ab.«
»Einen Augenblick, bitte!« rief ich. »Du hast ohne Zweifel die Reihenfolge der Ereignisse richtig angegeben, aber es bleibt noch ein Punkt unaufgeklärt: Was wurde aus dem Hund, während der Herr in London war?«
»Ich habe mich selbst ernstlich mit diesem ohne Frage wichtigen Punkt beschäftigt Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß Stapleton einen Vertrauten hatte, obwohl er ihn wahrscheinlich nicht so weit ins Geheimnis zog, daß seine eigene Sicherheit dadurch gefährdet werden konnte. In Merripit Hause war ein alter Diener, Namens Anton. Er ist mit den Stapletons hierhergekommen und soll schon früher bei ihnen gewesen sein. Dann müßte er aber auch gewußt haben, daß die Stapletons nicht Bruder und Schwester, sondern Mann und Frau waren. Der Mann ist heute nacht verschwunden und nicht wiedergekommen. Auffällig ist auch sein Name: Anton heißen in England nur wenig Leute, dagegen ist Antonio in Spanien und im spanischen Amerika ein sehr gewöhnlicher Name. Er sprach, wie auch Frau Stapleton, gut englisch, aber mit einem etwas lispelnden Accent. Ich selbst habe den alten Mann über den Grimpener Morast gehen sehen; er benutzte diesen von Stapleton kenntlich gemachten Pfad. Höchstwahrscheinlich also hat er in Abwesenheit seines Herrn den Hund gefüttert, obwohl er vielleicht den Zweck, zu welchem die Bestie gehalten wurde, nicht gekannt hat.
Ich selbst hatte vom ersten Anfang an auf Stapleton Verdacht. Und das kam so: Vielleicht erinnerst du dich, daß ich das Papier des Warnungsbriefes genau untersuchte, um eine Wassermarke zu entdecken. Als ich es nun für ein paar Zoll weit von meinen Augen entfernt hielt, bemerkte ich den schwachen Dust eines Parfüms. Es war weißer Jasmin. Es giebt fünfundsiebzig verschiedene Parfüms, und wer sich berufsmäßig mit der Entdeckung von Verbrechen beschäftigt, der muß sie alle von einander unterscheiden können; mehr als einmal ist es mir passiert, ein scheinbar unerklärliches Rätsel mit Hilfe des Geruchssinnes sofort zu lösen. Das Parfüm brachte mich darauf, daß eine Dame im Spiele sein müßte und so war es ganz natürlich, daßÂů ich meine Aufmerksamkeit dem Ehepaar Stapleton zuwandte. Ich wußte also, daß ein Hund benutzt war und ich hatte erraten, wer der Verbrecher war, ehe ich London verlassen hatte.
Was ich hier that, während du mich zu Hause in der Bakerstraße wähntest, das ist dir ja bekannt. Es bleibt nur noch die Rolle näher zu bestimmen, die die Dame gespielt hat. Ohne Zweifel übte Stapleton eine ungeheure Macht über sie aus. Beruhte diese auf Liebe, beruhte sie aus Furcht? Das weiß ich nicht. Vielleicht war es beides; denn diese beiden Gefühle sind durchaus nicht unvereinbar miteinander. Jedenfalls war die Macht vorhanden und wirksam. Auf seinen Befehl willigte sie ein, für seine Schwester zu gelten; nur als er sie zu unmittelbarer Mitwirkung an einem Mord heranziehen wollte, da fand er die Grenzen seiner Macht. Sie versuchte Sir Henry zu warnen, so weit es geschehen konnte, ohne ihren Gatten zu gefährden; sie versuchte es nicht nur das einemal, sondern wiederholt. Stapleton selbst scheint eifersüchtig gewesen zu sein; denn als er sah, wie der Baronet der Dame den Hof machte, da brach seine Leidenschaft wild hervor, obwohl doch, Sir Henrys Liebe zu den Faktoren des Mordplanes gehörte. Indem er später das Verhältnis gut hieß, erlangte er die Gewißheit, daß Sir Henry häufig nach Merripit House zum Besuch kommen, und daß er selbst dadurch früher oder später die Gelegenheit erhalten wurde, auf die erÂů es abgesehen hatte.
Am Entscheidungstage jedoch erklärte seine Frau sich plötzlich gegen ihn. Sie hatte etwas von dem Tode des entsprungenen Sträflings gehört und sie erfuhr, daß an demselben Tage, wo Sir Henry zu Tisch kommen sollte, der Hund in das Nebengebäude von Merripit House gebracht worden war. Sie sagte ihrem Manne das beabsichtigte Verbrechen gerade auf den Kopf zu, und es folgte ein heftiger Auftritt, wobei Stapleton in seiner Wut ihr verriet, daß sie eine Nebenbuhlerin hatte. Augenblicklich schlug ihre treue Liebe in bitteren Haß um, und er sah, daß sie ihn verraten würde. Deshalb fesselte und knebelte er sie, damit sie nicht imstande wäre, den Baron zu warnen. Ohne Zweifel hoffte er, wenn die ganze Gegend den Tod des Baronets dem Familienfluch zuschreiben würde — und daran brauchte er nicht zu zweifeln — so würde sie sich ihm wieder zuwenden, mit der vollendeten Thatsache sich abfinden und über das, was sie wußte, Stillschweigen bewahren. Hierin hatte er sich allerdings meiner Meinung nach auf jeden Fall verrechnet; er wäre verloren gewesen, selbst wenn wir nicht dazwischen gekommen wären. Ein Weib, in deren Adern spanisches Blut glüht, vergiebt nicht so leicht eine so grausame Beschimpfung …Und das wäre wohl alles, was über den Fall zu sagen ist.«
»Aber Stapleton konnte doch nicht erwarten, daß der junge, kräftige Sir Henry aus reiner Angst vor dem Hunde sterben würde, wie es ihm bei dem alten, herzkranken Baronet geglückt war?«
»Nein, das nicht. Aber die Bestie war blutgierig und halb verhungert. Und der Anblick des wilden Tieres mit dem feurigen Schlund mußte jedenfalls dazu beitragen, die Widerstandskraft zu lähmen. Uebrigens war ja die Wirkung auf Sir Henrys Nerven schwer genug. Doktor Mortimer sagte mir, es sei ein wahres Wunder, daß Sir Henry die Nacht so gut überstanden habe. Er habe anfangs Schlimmeres befürchtet. Es würden Monate nötig sein, um ihm die volle Gesundheit wiederzugeben. Sir Henry hat, um die grauenhaften Eindrücke los zu werden, beschlossen, eine Reise um die Welt zu machen, und Doktor Mortimer wird ihn begleiten.«
»Noch eins. Wenn Stapleton die Erbschaft antrat — wie konnte er’s glaubhaft machen, daß er, der Erbe, jahrelang unter angenommenem Namen hier in unmittelbarer Nähe seines Eigentums gelebt hatte? Mußte das nicht Verdacht erregen und dadurch Nachforschungen veranlassen?«
»Diese Schwierigkeit ist allerdings sehr beträchtlich und ich fürchte, ich kann sie dir nicht erklären. Vergangenheit und Gegenwart sind das Gebiet meiner Berufsthätigkeit — aber was jemand in Zukunft thun werde, diese Frage läßt sich schwer beantworten. Frau Stapleton — die ich natürlich darüber befragt habe — hat ihren Mann zu verschiedenen Malen diese Frage diskutieren hören. Es waren drei Möglichkeiten vorhanden: Er konnte seine Ansprüche von Südamerika aus geltend machen, seine Identität vor einem britischen Konsul nachweisen und auf diese Weise sich in Besitz des Vermögens setzen, ohne überhaupt nach England zu kommen. Oder er konnte für die kurze Zeit, die er zur Erledigung des Geschäftes in London hätte sein müssen, sich einer geschickten Verkleidung bedienen. Oder er konnte einem Helfershelfer die nötigen Dokumente und Papiere ausliefern; dieser hätte die Erbschaft angetreten und ihm natürlich den größeren Teil des Einkommens überlassen müssen. Nach dem, was wir von ihm gesehen haben, können wir wohl annehmen, daß er schon einen Ausweg aus der Schwierigkeit gefunden haben würde. Denn, mein lieber Watson, ich sagte es schon in London und wiederhole es hier: Niemals haben wir einen gefährlicheren Verbrecher zu verfolgen gehabt als den Mann, der jetzt hier unter der trügerischen grünen Decke des Sumpfes liegt.«
Und damit deutete Sherlock Holmes’ langer Arm auf die Miasmen aushauchende weite Fläche des Morastes, der sich in der Ferne in dem melancholischen Braun des Heidemoors verlor.