Der Beobachter
Charlotte Link
2012
PROLOG
Er fragte sich, ob seine Frau wohl schon etwas gemerkt hatte … Manchmal sah sie ihn so seltsam an. Misstrauisch. Forschend. Sie sagte nichts, aber das bedeutete nicht, dass sie ihn nicht sehr genau beobachtete. Und sich ihre Gedanken machte.
Sie hatten im April geheiratet, jetzt war September, und sie befanden sich noch in der Phase, in der man vorsichtig miteinander umging und versuchte, die eigenen Macken nicht allzu deutlich zu offenbaren. Dennoch war ihm jetzt schon klar, dass sich seine Frau irgendwann als Nörglerin entpuppen würde. Sie war nicht der Typ, der lautstark stritt, mit Tellern um sich warf oder gar damit drohte, ihn aus dem Haus zu schmeißen. Sie war der Typ, der leise und unaufhörlich und nervenzersetzend lamentierte.
Aber noch beherrschte sie sich. Versuchte, ihm alles recht zu machen. Sie kochte das Essen, das er mochte, stellte das Bier rechtzeitig in den Kühlschrank, bügelte seine Hosen und Hemden und sah sich mit ihm zusammen die Sportsendungen im Fernsehen an, obwohl sie eigentlich auf Liebesfilme stand.
Und dabei belauerte sie ihn. Das glaubte er jedenfalls zu spüren.
Sie hatte ihn geheiratet, weil sie nicht ohne Mann sein konnte, weil sie sich umsorgt, beschützt und aufgehoben fühlen musste. Er hatte sie geheiratet, weil er kurz davor gestanden hatte, ins Abseits zu kippen. Kein fester Job, wenig Geld. Irgendwann würde er den Halt verlieren, das hatte er gespürt. Er hatte bereits begonnen, zu viel zu trinken. Noch schaffte er es, die eine oder andere Gelegenheitsarbeit zu ergattern und von dem Lohn die Miete der trostlosen Wohnung zu bezahlen, in der er lebte. Aber sein Lebensmut sank. Er sah keine Perspektive mehr.
Und dann war Lucy gekommen und mit ihr die kleine Fahrradwerkstatt, die sie von ihrem verstorbenen Mann geerbt hatte, und er hatte zugegriffen. Er hatte immer einen Blick für Chancen gehabt, und er war stolz, kein Mensch zu sein, der lange zögerte.
Jetzt war er verheiratet. Er hatte ein Dach über dem Kopf. Er hatte Arbeit.
Sein Leben funktionierte wieder.
Und nun das. Diese Gefühle, diese Besessenheit, die Unfähigkeit, an etwas anderes zu denken. An etwas anderes als an sie.
Obwohl er das im Grunde vorher gewusst hatte.
Und sie war nicht Lucy.
Sie war blond. Nicht schlecht gefärbt wie Lucy, die schon hier und da graue Haare bekam, sondern echt blond. Die Haare reichten ihr bis zur Taille hinunter und schimmerten in der Sonne wie ein Tuch aus goldfarbener Seide. Sie hatte blaugrüne Augen: Je nachdem, wie hell es draußen war, aber auch abhängig von den Farben ihrer Kleidung oder des Hintergrundes, vor dem sie sich bewegte, schienen sie manchmal blau zu sein wie Vergissmeinnicht oder grün wie ein tiefer See. Dieses intensive Farbenspiel ihrer Augen faszinierte ihn. Er hatte so etwas vorher noch bei niemandem wahrgenommen.
Er mochte auch ihre Hände. Sie waren sehr feingliedrig, sehr schmal. Lange, schlanke Finger.
Er mochte ihre Beine. Zart. Fast zerbrechlich. Alles an ihr war so. Wie aus einem ganz feinen, hellen Holz geschnitzt, von jemandem, der sich viel Zeit genommen, der sich große Mühe gegeben hatte. Nichts an ihr war plump, dick oder grob. Sie war die vollendete Anmut.
Wenn er an sie dachte, brach ihm der Schweiß aus. Wenn er sie sah, konnte er den Blick nicht mehr abwenden, und das war es wahrscheinlich auch, was Lucy aufgefallen war. Er versuchte, am Hoftor zu stehen, wenn sie die Straße hinunterkam. Meistens probierte er irgendein gerade repariertes Fahrrad auf dem Gehweg aus, um einen Vorwand zu haben, sich dort herumzutreiben. Er liebte ihre Bewegungen. Diese federnden Schritte. Sie trippelte nicht, sie schritt weit aus. Es war so viel Kraft in allem, was sie tat. Ob sie lief oder redete oder lachte: ja, unbändige Kraft. Energie.
Schönheit. Ein solches Übermaß an Schönheit und Vollkommenheit, dass er es manchmal fast nicht zu glauben wagte.
War es Liebe, was er empfand? Es musste Liebe sein, nicht bloß Gier, Erregung, all das, was dazugehörte, was aber nur deshalb entstehen konnte, weil er sie liebte. Die Liebe war der Anfang, der Boden, auf dem die Sehnsucht gedieh. Diese Sehnsucht, die er für Lucy nicht aufbrachte. Lucy war eine Notlösung gewesen, und zwar eine, die er nicht aufgeben konnte, weil jenseits von Lucy nach wie vor der soziale Absturz drohte. Lucy stellte eine bittere Notwendigkeit dar. In bittere Notwendigkeiten musste man sich fügen, manchmal verlangte das Leben es so. Er hatte längst gelernt, dass es nichts brachte, sich dagegen zu wehren.
Und dennoch war alles in ihm Auflehnung. Auflehnung und dazwischen immer wieder niederschmetternde Hoffnungslosigkeit. Denn welche Chance hatte er? Er war kein attraktiver Mann, das sah er ohne jede Illusion. Früher ja, aber heute … Den dicken Bauch verdankte er seiner Vorliebe für Bier und fettes Essen. Er hatte schlaffe, aufgeschwemmte Gesichtszüge. Er war achtundvierzig Jahre alt und sah zehn Jahre älter aus, besonders dann, wenn er abends zu viel getrunken hatte, und leider schaffte er es nicht, damit aufzuhören. Er müsste Sport treiben und mehr Gemüse essen, dazu Wasser oder Tee trinken, aber Herrgott noch mal, wenn man dreißig Jahre lang anders gelebt hatte, dann ging das nicht so einfach mit der Umgewöhnung. Er fragte sich, ob ihn diese Elfe, diese Fee, dieses wunderbare Wesen trotzdem würde lieben können. Trotz Bauch und Tränensäcken und obwohl er bei der kleinsten Anstrengung keuchte und schwitzte. Er hatte innere Werte, und vielleicht würde es ihm gelingen, ihr diese zu vermitteln. Denn er hatte längst begriffen, dass er nicht auf sie würde verzichten können. Trotz Lucy und ihrer Eifersucht und trotz des Risikos, das er einging.
Er war ein achtundvierzigjähriger Fettsack mit einem Körper und einer Seele, die in Flammen standen.
Das Problem war: Sie, die Fee, das Wesen, nach dem er sich Tag und Nacht verzehrte, war so viel jünger. So sehr viel jünger.
Sie war neun.
Teil I
I
SAMSTAG, 31. OKTOBER 2009
Es gelang Liza, den Ort der Veranstaltung ungesehen zu verlassen, als der Sohn des Jubilars zu einer Rede ansetzte. Er hatte mehrfach mit einer Gabel gegen sein Glas geschlagen, und endlich hatten die rund einhundert geladenen Gäste begriffen. Das Reden und Lachen, das den Raum mit einem Dröhnen zu erfüllen schien, war verstummt, und alle Blicke wandten sich dem nervösen Mann zu, der in diesem Moment nichts so sehr zu bereuen schien wie seinen Entschluss, dem Vater zu dessen fünfundsiebzigstem Geburtstag eine Laudatio zu halten.
Ein paar Männer witzelten, weil der Redner abwechselnd rot und blass wurde und sich dann so verhaspelte, dass er dreimal neu ansetzen musste, ehe er wirklich beginnen konnte. Auf jeden Fall zog er mit seinem ungekonnten Auftritt die gesamte Aufmerksamkeit auf sich.
Der Moment konnte günstiger nicht sein.
Liza hatte sich während der letzten Viertelstunde bereits in die Nähe des Ausgangs vorgearbeitet, und so hatte sie nun nur noch zwei Schritte zu gehen, ehe sie draußen war. Sie schloss die schwere Tür hinter sich, lehnte sich für einen Moment tief atmend gegen die Wand. Wie ruhig es hier draußen war. Wie kühl! Der Raum hatte sich durch die vielen Menschen unnatürlich aufgeheizt. Obwohl sie den Eindruck gehabt hatte, dass niemand so sehr unter der Hitze litt wie sie. Aber überhaupt schien jeder den Abend aus tiefstem Herzen zu genießen. Schöne Kleider, Schmuck, Parfüm, ausgelassenes Lachen. Und sie inmitten des Geschehens und doch getrennt von allen anderen wie durch eine unsichtbare Wand. Sie hatte mechanisch gelächelt, hatte geantwortet, wenn sie etwas gefragt wurde, hatte genickt oder den Kopf geschüttelt und von ihrem Champagner getrunken, aber die ganze Zeit war sie wie betäubt gewesen, hatte das Gefühl gehabt, zu funktionieren wie eine Marionette, die an Fäden hing und von irgendjemandem geführt wurde, ohne zu einer einzigen eigenständigen Bewegung fähig zu sein. Und genau so war es eigentlich seit Jahren: Sie lebte nicht mehr nach ihrem eigenen Willen. Wenn man das, was sie tat, überhaupt noch leben nennen konnte.
Eine junge Angestellte des eleganten Kensington-Hotels, in dem der Geburtstag standesgemäß gefeiert wurde, kam vorbei und verharrte einen Moment, unschlüssig, ob die an der Wand lehnende Frau vielleicht Hilfe brauchte. Liza vermutete, dass sie ziemlich mitgenommen wirkte, jedenfalls dann, wenn sie auch nur ungefähr so aussah, wie sie sich fühlte. Sie richtete sich auf und versuchte zu lächeln.
»Alles in Ordnung?«, fragte die Angestellte.
Sie nickte. »Ja. Es ist nur … es ist ziemlich heiß da drinnen!« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der Tür. Die junge Frau sah sie mitleidig an, ging dann weiter. Liza begriff, dass sie unbedingt die Toilette aufsuchen und sich herrichten musste. So, wie die gerade geschaut hatte, schien sie ziemlich derangiert auszusehen.
Der marmorgeflieste Raum empfing sie mit sanftem Licht und einer leisen, beruhigenden Musik, die aus verborgenen Lautsprechern erklang. Sie hatte Angst gehabt, jemandem zu begegnen, aber offensichtlich war sie allein. Auch in den Toilettenkabinen schien sich niemand aufzuhalten. Aber bei allein hundert Geladenen auf der Geburtstagsfeier und jeder Menge zusätzlicher Gäste, die sich im Hotel aufhielten, konnte dieser Zustand nicht von langer Dauer sein, das war Liza klar. Jede Sekunde konnte jemand hereinkommen. Ihr blieb nicht viel Zeit.
Sie stützte sich auf eines der luxuriösen Waschbecken und schaute in den hohen Spiegel darüber.
Wie so häufig, wenn sie in einen Spiegel blickte, hatte sie den Eindruck, die Frau nicht zu kennen, die sie sah. Auch dann, wenn sie nicht so gestresst wirkte wie jetzt. Ihre schönen hellblonden Haare, die sie zu Beginn des Abends aufgesteckt hatte, hingen inzwischen wirr an den Seiten hinunter. Ihr Lippenstift klebte wahrscheinlich am Rand ihres Champagnerglases, jedenfalls war nichts mehr davon auf ihrem Mund zu sehen, was ihre Lippen sehr bleich machte. Sie hatte stark geschwitzt. Ihre Nase glänzte, und ihr Make-up war verschmiert.
Sie hatte es gespürt. Geahnt. Deshalb hatte sie seit zwanzig Minuten nichts so sehr ersehnt, wie diesen furchtbaren Raum mit den erstickend vielen Menschen darin verlassen zu können. Sie musste sich jetzt schnell wieder in Form bringen, und dann musste sie versuchen, irgendwie diesen Abend zu überstehen. Er konnte nicht ewig dauern. Der Champagnerempfang war praktisch vorüber. Als Nächstes würde das Buffet eröffnet werden. Gott sei Dank, das war besser als ein gesetztes Essen mit fünf Gängen, das sich über Stunden hinziehen konnte und bei dem jeder, der sich zwischendurch abseilte, sofort auffiel — zumindest seinen beiden Tischnachbarn. Ein Buffet erlaubte viel mehr Möglichkeiten des raschen, diskreten Aufbruchs.
Sie stellte ihre Handtasche vor sich auf die Marmorplatte, nestelte nervös und ungeschickt am Verschluss herum, schaffte es schließlich, Make-up-Tube und Puderdose herauszuangeln. Wenn nur ihre Hände nicht so zitterten! Sie musste aufpassen, dass sie nicht ihr Kleid bekleckerte. Das wäre dann der Höhepunkt dieses furchtbaren Abends und genau das, was ihr noch gefehlt hatte.
Während sie versuchte, die Puderdose zu öffnen, was ihr nicht gelingen wollte, fing sie plötzlich an zu weinen. Es geschah ziemlich unspektakulär: Die Tränen kullerten einfach aus ihren Augen, und sie konnte nichts dagegen machen. Entsetzt hob sie den Kopf, sah dieses fremde Gesicht an, das sich nun auch noch in ein verheultes Gesicht verwandelte. Was das Drama perfekt machte. Wie sollte sie in den Saal zurückkehren mit dicken, roten, verschwollenen Augen?
Fast panisch riss sie ein ganzes Bündel seidenweicher Kosmetiktücher aus dem silbernen Behälter an der Wand und versuchte, die Flut zu stoppen. Aber es hatte beinahe den Anschein, als werde es dadurch, dass sie es zu verhindern suchte, nur heftiger. Ihre Augen liefen einfach über.
Ich muss nach Hause, dachte sie, es hat keinen Sinn, ich muss hier weg!
Und als ob nicht alles schon schlimm genug wäre, vernahm sie nun auch noch hinter sich ein Geräusch. Die Tür, die zum Gang führte, wurde geöffnet. Spitze Absätze klapperten auf dem Marmor. Schemenhaft, verschwommen durch den Tränenschleier, nahm Liza eine Gestalt hinter sich wahr, eine Frau, die den Raum in Richtung der Toiletten durchquerte. Sie presste die Kosmetiktücher gegen ihr Gesicht und versuchte den Anschein zu wecken, als putze sie sich die Nase.
Beeil dich, dachte sie, verschwinde!
Die Schritte hielten plötzlich inne. Einen kurzen Augenblick lang herrschte völlige Stille in dem Raum. Dann drehte die Fremde sich um und kam auf Liza zu. Eine Hand legte sich auf ihre leise bebende Schulter. Sie hob den Blick und sah die andere hinter sich im Spiegel. Ein besorgtes Gesicht. Fragende Augen. Sie kannte die Frau nicht, aber nach ihrer Garderobe zu schließen, gehörte sie ebenfalls zu der Geburtstagsgesellschaft.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber …«
Die Freundlichkeit, die Sorge, die aus der ruhigen Stimme sprach, waren mehr, als Liza ertragen konnte. Sie ließ die Tücher sinken.
Dann ergab sie sich ihrem Schmerz und versuchte nicht mehr, den Strom ihrer Tränen aufzuhalten.
SONNTAG, 22. NOVEMBER
Es war am späteren Sonntagabend, als Carla die Eigentümlichkeit des Aufzuges und der Aufzugtüren bewusst wahrnahm. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lange zu leben, aber ihre Vorstellungskraft hätte nicht ausgereicht, sich auszumalen, was ihr in dieser Nacht passieren würde.
Sie saß in ihrer Wohnung, etwas verwundert, denn sie hatte plötzlich den sicheren Eindruck, dass es schon seit einigen Tagen so ging: Der Fahrstuhl kam bis zu ihr hinauf in den achten Stock gefahren, hielt an, die Türen öffneten sich automatisch, aber dann passierte nichts weiter. Niemand stieg aus, denn dann hätte sie die Schritte im Gang hören müssen. Es stieg aber offensichtlich auch niemand ein, denn dann hätte man zuvor Schritte gehört. Sie war aber sicher, dass da keine gewesen waren. Sie hätte sie sonst auf irgendeiner Ebene ihres Bewusstseins realisiert. Dieses Haus verschluckte kaum Geräusche. Ein Hochhaus aus den Siebzigerjahren, ein ziemlich schmuckloser Kasten mit langen Gängen im Inneren und einer Vielzahl an Wohnungen. In den größeren wohnten Familien mit Kindern, in etlichen kleineren Wohnungen lebten Singles, die ganz in ihren Berufen aufgingen und praktisch nie zu Hause waren. Hackney gehörte zu den ärmeren Stadtteilen Londons, aber die Gegend, in der Carla wohnte, war nicht allzu schlecht.
Sie überlegte, wann genau sie erstmals den Aufzug hatte ankommen hören, ohne dass jemand ausstieg. Natürlich kam das manchmal vor, war von Anfang an vorgekommen. Es musste nur jemand auf die falsche Taste drücken, seinen Irrtum bemerken und doch früher aussteigen, dann fuhr der Fahrstuhl dennoch bis nach ganz oben, öffnete seine Türen, schloss sie dann wieder und wartete, bis er in ein anderes Stockwerk gerufen wurde. Aber in der letzten Zeit hatte es sich gehäuft. Ungewöhnlich gehäuft.
Vielleicht seit einer Woche? Vielleicht seit vierzehn Tagen?
Sie schaltete den Fernseher aus, die Talkshow, die gerade lief, interessierte sie ohnehin nicht.
Sie ging zur Wohnungstür, schloss auf, öffnete sie. Betätigte den Lichtschalter gleich neben der Klingel und tauchte damit den Gang in ein grelles, weißes Licht. Wer hatte hier nur diese Lampen eingebaut? Man hatte die Gesichtsfarbe einer Leiche in ihrem Schein.
Sie blickte den langen, stillen Gang entlang. Nichts und niemand war zu sehen. Die Aufzugtüren hatten sich wieder geschlossen.
Vielleicht irgendein Scherzkeks. Irgendein Halbwüchsiger, der hier im Haus wohnte und grundsätzlich auf die Acht drückte, ehe er ausstieg. Was er davon hatte, war Carla allerdings schleierhaft. Aber vieles von dem, was Menschen bewegte, was Menschen taten oder anstrebten, war ihr schleierhaft. Am Ende, dachte sie mitunter, befand sie sich doch schon ein ziemlich großes Stück außerhalb der Gesellschaft. Allein, verlassen und seit fünf Jahren in Rente. Wenn man morgens allein aufstand und allein frühstückte, den Tag lesend oder fernsehend in einer kleinen Wohnung verbrachte und sich nur gelegentlich zu einem Spaziergang aufraffte, abends wieder allein aß und dann erneut vor dem Fernseher saß, dann entfernte man sich aus der Normalität. Man verlor den Kontakt zu den Menschen, deren Alltag aus Beruf, Kollegen, Ehepartnern, Kindern und allen damit verbundenen Sorgen, Anstrengungen und natürlich auch Freuden bestand. Womöglich wirkte sie auf andere schon viel wunderlicher, als ihr das selbst klar war.
Sie schloss die Wohnungstür wieder, lehnte sich von innen dagegen, atmete tief. Als sie in das Hochhaus eingezogen war — eines der wenigen in Hackney, wo es sonst eher viktorianische, größtenteils ziemlich heruntergekommene Bauten gab —, hatte sie zunächst geglaubt, hier werde alles besser. Sie hatte gehofft, sich in einem Haus voller Menschen weniger einsam zu fühlen, aber nun war das Gegenteil der Fall. Jeder hier strampelte sich durch seinen Alltag, keiner schien den anderen wirklich zu kennen, man lebte in größtmöglicher Anonymität. Einige Wohnungen standen zudem leer. Oben, im achten Stock, wohnte seit einiger Zeit außer Carla überhaupt niemand mehr.
Sie ging ins Wohnzimmer zurück, überlegte, ob sie den Fernseher wieder einschalten sollte. Sie unterließ es, schenkte sich stattdessen noch etwas Wein nach. Sie trank jeden Abend, aber sie hatte sich selbst die Regel auferlegt, es nie vor acht Uhr zu tun. Bislang glückte es ihr, sich daran zu halten.
Sie zuckte zusammen, als sie das Geräusch des Aufzuges wieder vernahm. Er fuhr nach unten. Jemand hatte ihn offenbar herangerufen. Das war immerhin ein Zeichen von Normalität. Menschen im Haus kamen und gingen. Sie war nicht allein.
Vielleicht sollte ich mir aber doch eine andere Wohnung suchen, dachte sie.
Viel Spielraum ließ ihr Geldbeutel nicht zu. Ihre Rente war bescheiden, große Sprünge konnte sie nicht machen. Außerdem war fraglich, ob sie woanders weniger einsam sein würde. Vielleicht lag es nicht an dem Haus. Vielleicht lag es an ihr selbst.
Da sie die Stille plötzlich nicht mehr zu ertragen glaubte, zog sie sich das Telefon heran und tippte hastig die Nummer ihrer Tochter ein, schnell genug, ehe Furcht oder Schüchternheit ihr Vorhaben im Keim ersticken konnten. Sie hatte eigentlich immer ein gutes Verhältnis zu Keira gehabt, aber seitdem diese verheiratet war und nun auch noch ein Baby hatte, bröckelte der Kontakt immer stärker. Den jungen Leuten fehlte es an Zeit, sie waren vollauf mit sich und ihrem Leben beschäftigt.
Woher noch die Energie nehmen, sich um die Mutter mit dem gescheiterten Lebensentwurf zu kümmern?
Carla konnte es manchmal selbst nicht glauben: die Ehe nach achtundzwanzig Jahren geschieden. Ihr Mann finanziell vollkommen verschuldet, da er auf zu großem Fuß gelebt und sein Leben über Jahre nur noch auf Schulden aufgebaut hatte. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, ehe ihn seine Gläubiger zur Rechenschaft ziehen konnten; seit Jahren gab es kein Lebenszeichen mehr von ihm. Carla selbst war verstört, häufig am Jammern. Ihre Tochter Keira hatte sich aus dem ganzen Schlamassel, in den die berufliche Pleite ihres Vaters die Familie gestürzt hatte, immerhin in eine gesicherte bürgerliche Existenz und bis in eine der zahllosen Reihenhaussiedlungen von Bracknell, eine knappe Dreiviertelstunde südwestlich vom Londoner Stadtzentrum gelegen, gerettet, indem sie nach einem Mathematikstudium eine Ausbildung zur Bankkauffrau gemacht und einen Mann mit sicherer Stelle in der Verwaltung geheiratet hatte. Carla wusste, dass sie sich eigentlich für sie freuen müsste.
Keira meldete sich beim zweiten Klingeln. Sie klang gestresst, im Hintergrund schrie ihr kleiner Sohn.
»Hallo, Keira, ich bin es, Mummie. Ich wollte nur mal hören, wie es so geht.«
»Oh, hallo, Mum«, sagte Keira. Sie wirkte nicht begeistert. »Ja, es ist alles okay. Der Kleine schläft nur wieder mal nicht ein. Er schreit wirklich ständig. Ich bin ziemlich zermürbt inzwischen.«
»Sicher bekommt er Zähne.«
»Ja, so ist es.« Keira schwieg einen Moment, dann fragte sie pflichtschuldig: »Und wie geht es dir?«
Eine Sekunde lang war Carla versucht, einfach die Wahrheit zu sagen: dass es ihr schlecht ging, dass sie sich völlig vereinsamt vorkam. Aber sie wusste, dass ihre Tochter das nicht hören wollte, dass sie sich überfordert gefühlt und sofort gereizt reagiert hätte.
»Ach, na ja, ich bin eben oft ziemlich allein«, sagte sie daher nur. »Seit ich in Rente bin …« Sie ließ den Rest des Satzes ungesagt. Die Dinge ließen sich eben nicht ändern.
Keira seufzte. »Du müsstest dir irgendeine sinnvolle Freizeitbeschäftigung suchen. Ein Hobby, das dich mit Gleichgesinnten zusammenbringt. Und wenn es ein Kochkurs ist, den du belegst, oder ein Sport, den du anfängst! Hauptsache, du kommst unter Menschen.«
»Ach, zwischen lauter alten Frauen beim Seniorenturnen herumzuhüpfen …«
Keira seufzte erneut, diesmal deutlich ungeduldig. »Es muss ja nicht das Seniorenturnen sein. Meine Güte, es wird so vieles angeboten. Da wirst du doch etwas finden, das selbst deinen Ansprüchen gerecht wird!«
Carla fühlte sich für einen Moment versucht, ihrer Tochter anzuvertrauen, dass sie es einige Zeit zuvor schon einmal bei einer Selbsthilfegruppe für allein lebende Frauen probiert hatte, dass es ihr aber auch dort nicht gelungen war, dauerhafte Freundschaften zu schließen. Wahrscheinlich jammerte sie zu viel. Niemand hielt es lange mit ihr aus. Besser, Keira erfuhr von diesem Projekt erst gar nichts.
»Ich glaube, mich deprimiert eben alles«, sagte sie. »Wenn ich mitten am Tag schwimmen gehe oder koche, dann wird mir nur noch bewusster, dass ich kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft mehr bin. Dass ich nicht mehr arbeite und auch keine Familie mehr zu versorgen habe. Und wenn ich wieder nach Hause komme, wartet sowieso niemand auf mich.«
»Du würdest aber bestimmt nette Frauen kennenlernen, mit denen du hin und wieder etwas unternehmen könntest.«
»Die meisten haben dann wahrscheinlich eine Familie und überhaupt keine Zeit für mich.«
»Ja, natürlich, weil du die einzige geschiedene, allein lebende Rentnerin in ganz England bist«, erklärte Keira schroff. »Willst du für den Rest deines Lebens jeden Abend vor dem Fernseher in deiner Wohnung sitzen und Trübsal blasen?«
»Und meiner Tochter auf die Nerven gehen?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Das Haus ist bedrückend«, sagte Carla. »Keiner kümmert sich hier um den anderen. Und dauernd fährt der Aufzug hier hoch zu mir, und dann steigt niemand aus.«
Keira schien irritiert. »Wie?«
Carla wünschte, sie hätte das nicht gesagt. »Na ja, es ist mir einfach aufgefallen. Dass es ziemlich häufig geschieht, meine ich. Außer mir wohnt hier oben ja niemand. Aber dauernd kommt der Aufzug.«
»Dann schickt ihn irgendjemand nach oben. Oder das System ist einfach so ausgelegt. Dass er zwischendurch automatisch alle Stockwerke abklappert.«
»Bis vor ein oder zwei Wochen war das aber nicht so.«
»Mum …«
»Ja, ich weiß. Ich werde langsam wunderlich, das denkst du doch. Mach dir keine Sorgen. Irgendwie kriege ich mein Leben schon in den Griff.«
»Ganz bestimmt. Mum, der Kleine schreit ständig, und …«
»Ich mache schon Schluss! Es wäre schön, wenn ihr mich mal wieder besuchen würdet, du und der Kleine. Vielleicht an irgendeinem Wochenende?«
»Ich schau mal, ob das klappt«, sagte Keira unverbindlich, dann verabschiedete sie sich rasch und ließ Carla mit dem Gefühl zurück, gestört zu haben, lästig gewesen zu sein.
Sie ist meine Tochter, dachte sie trotzig, es ist normal, dass ich sie gelegentlich anrufe. Und dass ich es ihr sage, wenn es mir nicht besonders gut geht.
Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Es war erst kurz nach zehn.
Dennoch beschloss sie, ins Bett zu gehen. Vielleicht noch ein bisschen zu lesen. Und zu hoffen, dass sie rasch einschlief.
Sie wollte gerade ins Bad gehen, um sich die Zähne zu putzen, als sie den Aufzug wieder vernahm. Er kam nach oben.
Sie blieb mitten im Flur stehen. Lauschte.
Ich wünschte wirklich, irgendjemand würde hier oben außer mir noch wohnen, dachte sie.
Der Aufzug hielt, die Türen öffneten sich.
Carla wartete. Darauf, dass nichts sein würde. Kein Laut, nichts.
Aber diesmal hörte sie etwas. Diesmal verließ jemand den Aufzug. Da waren Schritte. Sie vernahm sie ganz deutlich. Schritte draußen in dem vermutlich hell erleuchteten Gang.
Carla schluckte trocken. Sie spürte ein Kribbeln auf der Haut.
Jetzt mach dich bloß nicht verrückt! Erst hast du dich aufgeregt, weil niemand ausstieg, und jetzt regst du dich auf, weil es offenbar doch jemand tut.
Die Schritte kamen näher.
Zu mir, dachte Carla, da kommt jemand zu mir.
Wie paralysiert stand sie vor ihrer Wohnungstür.
Jemand befand sich auf der anderen Seite.
Als die Klingel schrillte, löste sich der Bann. Die Klingel war Normalität.
Einbrecher klingeln nicht, dachte Carla.
Dennoch spähte sie vorsichtshalber durch den Türspion.
Sie zögerte.
Dann öffnete sie.
MITTWOCH, 2. DEZEMBER
1
Gillian ging in die Küche zurück. »Das war Darcys Mutter«, erklärte sie. »Darcy kommt heute nicht in die Schule. Sie hat eine Halsentzündung.«
Das Läuten des Telefons hatte Becky nicht aus der Lethargie reißen können, mit der sie über ihrer Müslischüssel hing und missmutig auf Obst und Flocken starrte, die sich dort in der Milch mischten.
Gerade eben erst zwölf Jahre alt geworden, dachte Gillian, und schon muffig und lustlos wie ein Teenager auf dem Höhepunkt der Pubertät. Waren wir nicht früher anders?
»Hm«, machte Becky uninteressiert. Auf dem Stuhl neben ihr saß Chuck, ihr schwarzer Kater. Die Familie hatte ihn während eines Urlaubs in Griechenland als ein halb verhungertes Bündel Elend am Straßenrand gefunden und in ihr Hotel geschmuggelt. Die restlichen Ferien hatten im Wesentlichen aus dem Problem bestanden, Chuck täglich ungesehen aus dem Hotel hinaus und zum Tierarzt zu bringen und ihn hinterher wieder ebenso heimlich auf das Zimmer zu schaffen. Gillian und Becky hatten ihm stundenlang mit einer Pipette flüssige Nahrung eingeflößt, und zwischendurch schien alles dagegenzusprechen, dass er überlebte. Becky hatte nur noch geweint, aber obwohl alles so schwierig und nervenzehrend gewesen war, waren sie und ihre Mutter einander sehr nah gewesen in der gemeinsamen Sorge.
Am Ende hatte Chucks Lebenswillen gesiegt. Er war mit seiner neuen Familie nach England gereist.
Gillian setzte sich ihrer Tochter gegenüber an den Tisch. Nun musste sie Becky zur Schule fahren. Gemeinsam mit Darcys Mutter bildeten sie eine Fahrgemeinschaft, und diese Woche war Darcys Mutter an der Reihe. Aber natürlich nicht an einem Tag, an dem ihre eigene Tochter gar nicht zur Schule ging.
»Ich habe bei der Gelegenheit etwas Interessantes erfahren«, sagte Gillian, »nämlich dass ihr heute eine Mathearbeit schreibt!«
»Kann sein.«
»Nein, das kann nicht sein, das ist so! Ihr schreibt heute eine Arbeit, und ich hatte keine Ahnung davon.«
Becky zuckte mit den Schultern. Sie hatte einen Kakaobart auf der Oberlippe. Sie trug schwarze Jeans, die so eng waren, dass sich Gillian fragte, wie sie es geschafft hatte, in sie hineinzukommen, dazu einen ebenfalls schwarzen hautengen Pullover und ein schwarzes Tuch mehrfach um den Hals geschlungen. Sie tat alles, um cool zu wirken, aber mit dem Kakao am Mund sah sie einfach aus wie ein kleines Mädchen in einer seltsamen Maskerade. Natürlich hütete sich Gillian, ihr das zu sagen.
»Warum hast du nichts davon erwähnt? Ich habe dich jeden Tag gefragt, ob ihr irgendwann einen Test schreibt. Du hast behauptet, dass nichts ansteht. Weshalb?«
Becky zuckte erneut mit den Schultern.
»Könntest du mir bitte eine Antwort geben?«, fragte Gillian scharf.
»Weiß nicht«, nuschelte Becky.
»Du weißt was nicht?«
»Warum ich es nicht gesagt habe.«
»Ich vermute, du hattest keine Lust zu üben«, stellte Gillian resigniert fest.
Becky schaute sie böse an.
Was mache ich bloß falsch, fragte sich Gillian, was mache ich falsch, dass sie mich manchmal fast hasserfüllt ansieht? Warum wusste Darcys Mutter Bescheid? Warum wussten wahrscheinlich alle Mütter Bescheid?
»Putz deine Zähne«, sagte sie, »und dann komm. Wir müssen los.«
Auf der Fahrt zur Schule sprach Becky kein einziges Wort, sah nur zum Fenster hinaus. Gillian lag es auf der Zunge, sie zu fragen, ob sie sich die Arbeit zutraute, ob sie sich einigermaßen in dem Stoff auskannte, aber sie wagte es nicht. Sie fürchtete die patzige Antwort und hatte das ungute Gefühl, dann möglicherweise in Tränen auszubrechen. Das passierte ihr immer öfter in der letzten Zeit, und sie fand keinen rechten Weg, sich dagegen zu wehren. Sie war drauf und dran, zu einer Heulsuse zu mutieren, die mit ihren Lebensumständen haderte und sich vor dem provozierenden Verhalten ihrer zwölfjährigen Tochter fürchtete. Wie konnte man als Frau von zweiundvierzig Jahren so unsouverän sein?
Becky verabschiedete sich vor der Schule mit ein paar unfreundlichen Worten und stakste dann auf ihren mageren Beinen über die Straße. Ihre langen Haare wehten hinter ihr her, der Rucksack (»Man trägt heute keine Schulranzen mehr, Mum!«) schaukelte auf ihrem Rücken. Sie drehte sich nicht zu ihrer Mutter um. In der Vorschule hatte sie ihr immer noch Kusshände zugeworfen und dabei über das ganze Gesicht gestrahlt. Wie hatte sie sich innerhalb weniger Jahre so sehr verändern können? Natürlich fühlte sie sich an diesem Morgen in der Defensive. Sie wusste, dass die Mathearbeit völlig danebengehen würde und dass es ein Fehler von ihr gewesen war, sich um das Üben zu drücken. Sie musste irgendwohin mit ihrem Ärger über sich selbst.
Gillian fragte sich, ob sie alle so waren. So aggressiv. So uneinsichtig. So mitleidslos.
Sie startete das Auto, fuhr aber nur eine Straße weiter und parkte dort am Bordstein. Öffnete das Fenster ein Stück weit und zündete sich eine Zigarette an. In den Gärten ringsum lag Raureif über den Gräsern. In der Ferne sah sie den Fluss wie ein Band aus Blei dahingleiten, die Themse, die hier schon sehr breit und dem Rhythmus von Ebbe und Flut unterworfen war und dem Meer zustrebte. Der Wind roch nach Algen und die Möwen schrien. Es war kalt. Ein unwirtlicher, grauer Wintermorgen.
Sie hatte einmal mit Tom darüber gesprochen. Fast zwei Jahre war das jetzt her. Genauer, sie hatte versucht, mit ihm darüber zu sprechen. Über die Frage, ob sie als Mutter etwas falsch machte. Oder ob die anderen Kinder genauso waren. Er hatte keine Antwort darauf gewusst.
»Wenn du etwas mehr Kontakt zu den anderen Müttern hättest«, hatte er schließlich gesagt, »dann wüsstest du es vielleicht. Du wüsstest, ob du etwas falsch machst. Du wüsstest vielleicht sogar, wie man es richtig machen könnte. Aber aus irgendeinem Grund weigerst du dich, dir ein Netzwerk aufzubauen.«
»Ich weigere mich nicht. Ich komme einfach nicht richtig klar mit den anderen Müttern.«
»Das sind aber ganz normale Frauen. Die tun dir doch nichts!«
Natürlich hatte er recht. Das war nicht der Punkt. »Aber sie akzeptieren mich auch nicht. Es ist immer so, als ob … ich irgendwie eine andere Sprache sprechen würde. Alles, was ich sage, scheint verkehrt zu sein. Es passt nicht zu dem, was sie sagen …« Ihr war klar gewesen, wie sich das für Tom, den großen Rationalisten, anhören musste. Wie Unfug. Kompletter Unfug.
»Unfug!«, hatte er dann auch prompt gesagt. »Ich glaube, du bildest dir das alles nur ein. Du bist eine intelligente Frau. Du bist attraktiv. Du bist beruflich erfolgreich. Du hast einen einigermaßen gut aussehenden Mann, der ebenfalls nicht ganz erfolglos ist in seinem Beruf. Du hast ein hübsches, gescheites und gesundes Kind. Woher rühren bloß deine Komplexe?«
Hatte sie Komplexe?
Gedankenverloren schnippte sie die Asche ihrer Zigarette aus dem Wagenfenster.
Es gab keinen Grund, Komplexe zu haben. Zusammen mit Tom hatte sie vor fünfzehn Jahren eine Firma in London aufgebaut, die auf Steuer- und Wirtschaftsberatung spezialisiert war. Sie hatten ungeheuer schuften müssen, um das Unternehmen in Schwung zu bringen, aber die Arbeit hatte sich gelohnt: Inzwischen beschäftigten sie sechzehn Mitarbeiter. Tom hatte immer wieder betont, dass er das alles ohne Gillian nie geschafft hätte. Seit Beckys Geburt arbeitete Gillian nicht mehr täglich im Büro, hatte aber immer noch ihre eigenen Kunden, die sie betreute. Drei- oder viermal in der Woche fuhr sie mit dem Zug nach London und erledigte ihren Job. Sie besaß die Freiheit, sich ihre Zeit völlig selbstständig einzuteilen. Wenn Becky sie brauchte, ging sie einfach einen Tag lang nicht ins Büro, holte liegengebliebene Arbeit dafür am darauffolgenden Wochenende nach.
Alles war gut. Sie hätte zufrieden sein können.
Sie blickte in den Rückspiegel und sah ihre dunkelblauen Augen und über ihrer Stirn die rotblonden Locken. Ihre wilden, langen Haare ließen es nicht zu, dass sie jemals wirklich ordentlich aussah, und sie konnte sich nur zu gut erinnern, wie sehr sie als Kind darunter gelitten hatte: unter den Locken. Der rötlichen Farbe. Den unvermeidlich damit einhergehenden Sommersprossen im Gesicht. Dann war sie an die Universität gekommen und hatte Thomas Ward kennengelernt, ihren ersten Freund, der dann auch der Mann ihres Lebens werden sollte, die große Liebe. Er hatte ihre Haarfarbe bewundert und ihre Sommersprossen einzeln gezählt, und plötzlich hatte sie angefangen, sich selbst schön zu finden und das Besondere an ihrem Aussehen zu schätzen.
Daran solltest du auch manchmal denken, dachte sie, an all das Gute, das durch Tom in dein Leben gekommen ist. Du bist mit einem wunderbaren Mann verheiratet.
Sie hatte ihre Zigarette zu Ende geraucht und überlegte, ob sie ins Büro fahren sollte. Es wartete eine Menge Arbeit auf sie, und aus Erfahrung wusste sie, dass Arbeit am besten gegen das Grübeln half. Sie beschloss, zu Hause noch eine letzte Tasse Kaffee zu trinken, sich dann umzuziehen und auf den Weg nach London zu machen.
Sie startete ihren Wagen.
Vielleicht sollte sie sich wieder einmal mit Tara Caine treffen. Ihre Freundin arbeitete als Staatsanwältin in London und war — laut Tom, der sie nicht besonders mochte — eine radikale Feministin. Auf jeden Fall taten Gillian die Gespräche mit ihr gut.
Bei ihrem letzten Treffen hatte Tara ihr auf den Kopf zugesagt, dass sie in einer handfesten Depression steckte.
Vielleicht hatte sie recht.
2
Samson hatte lange nach unten gelauscht, und erst als er ganz sicher war, dass sich niemand im Treppenhaus aufhielt, huschte er auf Strümpfen hinunter. Er wollte möglichst schnell und ungesehen in seine Schuhe und in seinen Anorak kommen und dann nach draußen entschwinden, aber als er gerade vornübergebeugt dastand und sich die Schnürsenkel zuband, ging die Küchentür auf und seine Schwägerin Millie erschien. Die Art, wie sie sich auf ihn zubewegte, erinnerte Samson an einen Raubvogel, der eine Beute erspäht hat.
Er richtete sich auf.
»Hallo, Millie«, sagte er unsicher.
Millie Segal gehörte zu den Frauen, denen, noch ehe sie überhaupt die vierzig erreicht haben, bereits die zweischneidige Beschreibung Sie ist sicher einmal hübsch gewesen anhaftete. Sie war blond, hatte eine gute Figur und gleichmäßige Gesichtszüge, aber es hatten sich so tiefe Kerben und Falten in ihre Haut eingegraben, Folgen exzessiven Bräunens und zu vieler Zigaretten, dass sie älter aussah, als sie tatsächlich war, und außerdem verhärmt und seltsam verbittert wirkte. Letzteres lag weniger an dem ungesunden Lebenswandel als an der Tatsache, dass sie eine zutiefst unzufriedene Frau war. Frustriert. Samson hatte manchmal mit seinem Bruder darüber gesprochen. Dieser hatte ihm erklärt, dass Millie in der festen Überzeugung lebte, vom Schicksal benachteiligt zu sein, und zwar nicht, weil ihr jemals irgendetwas Tragisches zugestoßen war, sondern weil sie in der Summe unzähliger kleiner täglicher Ungerechtigkeiten und Enttäuschungen die gesamte große Benachteiligung ihrer Person sah.
Wenn Gavin, ihr Mann, sie fragte, was es denn genau sei, was ihr so sehr das Leben vergälle, dann antwortete sie immer: »Alles. Einfach alles zusammen.«
Unglücklicherweise wusste Samson, dass er selbst in diesem Alles zusammen keine kleine Rolle spielte.
»Dachte ich mir doch, dass ich dich gehört habe«, sagte Millie. Sie war noch nicht angezogen. Wenn sie erst später arbeiten musste, schlüpfte sie morgens rasch in einen Jogginganzug und machte ihrem Mann das Frühstück, ehe dieser zu seiner Frühschicht aufbrach. Gavin arbeitete als Busfahrer. Oft musste er schon um fünf Uhr aus dem Bett. Millie kochte ihm dann Kaffee, briet Speck mit Rühreiern, schob Weißbrot in den Toaster und schmierte die Sandwiches, die er mit zur Arbeit nahm. Sie konnte eine recht angenehme Fürsorglichkeit an den Tag legen, aber Samson war überzeugt, dass sie dabei nicht von echter Warmherzigkeit getrieben wurde. Gavin zahlte für das üppige Frühstück nämlich einen hohen Preis: Er musste sich die ganze Zeit über ihr Nörgeln und Jammern und ihre Vorwürfe anhören, und Samson hatte schon manchmal überlegt, ob sein Bruder sich nicht viel lieber allein mit einer Tasse Kaffee und einem selbstgestrichenen Marmeladentoast zu dieser frühen Stunde in die Küche setzen und friedlich seine Zeitung lesen würde.
»Ich bin gleich weg«, sagte Samson und schlüpfte in seinen Anorak.
»Hat sich etwas wegen einer Arbeit ergeben?«, fragte Millie.
»Noch nicht.«
»Bemühst du dich überhaupt?«
»Natürlich. Aber die Zeiten sind schwierig.«
»Du hast diese Woche noch nichts zum Haushaltsgeld dazugegeben. Ich muss schließlich einkaufen. Und beim Essen bist du dann weniger zurückhaltend.«
Samson kramte seinen Geldbeutel aus der Hosentasche, zog einen Schein hervor. »Reicht das erst einmal?«
»Viel ist es nicht«, sagte Millie, nahm aber natürlich das Geld. »Besser als nichts.«
Was will sie eigentlich?, fragte sich Samson. Nur wegen des Geldes hat sie mich nicht abgefangen.
Er sah sie fragend an.
Millie sagte jedoch nur: »Gavin kommt heute Mittag. Wir essen um zwei. Ich habe erst nachmittags Dienst.«
»Ich komme nicht zum Essen«, sagte Samson.
Sie zuckte mit den Schultern. »Musst du wissen.«
Da ganz offensichtlich nichts weiter anstand, nickte er ihr kurz zu, dann öffnete er die Haustür und trat hinaus in den kalten Tag.
Eine Begegnung mit Millie machte ihn immer nervös, unsicher und beklommen. Er bekam schlecht Luft in ihrer Gegenwart. Hier draußen ging es ihm sogleich besser.
Er hatte einmal ein Gespräch zwischen Millie und seinem Bruder angehört, und seitdem wusste er, dass Millie nichts so ersehnte wie seinen Auszug aus dem gemeinsamen Haus. Nicht, dass ihm das vorher nicht klar gewesen wäre, Millie hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie ihn als Störenfried empfand, aber es fühlte sich noch einmal anders an, wenn man sie so unverblümt darüber reden hörte. Zudem hatte er nicht gewusst, dass sie auch seinen Bruder deswegen massiv unter Druck setzte.
»Ich wollte mit dir in einer Ehe leben, in einer ganz normalen Ehe«, hatte sie gezischt. »Und was ist das hier jetzt? Eine Art Wohngemeinschaft?«
»So kannst du das nicht bezeichnen«, hatte Gavin geantwortet, unbehaglich und mit der Erschöpfung eines Menschen, der ein unerquickliches Thema schon viel zu oft hat abhandeln müssen. »Er ist mein Bruder. Er ist ja nicht irgendein Untermieter!«
»Wäre er das bloß! Dann würden wir wenigstens noch Miete bekommen. Aber so …«
»Es ist auch sein Haus, Millie. Wir haben es beide von unseren Eltern geerbt. Er hat dasselbe Recht, hier zu wohnen, wie wir.«
»Das ist keine Frage des Rechts!«
»Sondern?«
»Des Taktgefühls. Des Anstands. Ich meine, wir beide, wir sind verheiratet. Wir werden vielleicht irgendwann einmal Kinder haben. Eine richtige Familie sein. Er ist allein. Er ist das fünfte Rad am Wagen. Jeder andere Mensch würde doch merken, dass er stört, und würde sich etwas anderes suchen.«
»Wir können ihn nicht zwingen. Wenn er geht, dann müsste ich ihn entweder auszahlen, was ich nicht kann, oder wir müssten ihm Miete zahlen, wenigstens anteilig. Meine Güte, Millie, du weißt doch, was ich verdiene! Es würde verdammt eng für uns.«
»Als dein Bruder dürfte er gar kein Geld von dir nehmen.«
»Aber er müsste ja dann irgendwo Miete zahlen. Er ist arbeitslos. Wie soll er das machen?«
»Dann lass uns ausziehen!«
»Willst du das wirklich? Ein Häuschen mit Garten kannst du dir dann aber abschminken. Nichts gegen eine Etagenwohnung, aber bist du sicher, dass du damit zurechtkommst?«
Samson, der draußen vor der Tür gestanden, gelauscht und geschwitzt hatte, hatte ein wenig verächtlich sein Gesicht verzogen. Damit würde sie natürlich nicht zurechtkommen. Millie ging das Prestige über alles, womöglich sogar über die Befreiung aus der gemeinsamen Wohnsituation mit dem ungeliebten Schwager. Millie stammte aus einfachen Verhältnissen. Die Ehe mit einem Hauseigentümer in einem gutbürgerlichen Stadtteil war der große soziale Aufstieg in ihrem Leben — auch wenn es sich nur um ein schmales Reihenhaus an einer viel befahrenen Straße handelte. Sie liebte es, ihre Freundinnen einzuladen und mit dem tatsächlich von ihr sehr schön angelegten und gut gepflegten Garten zu protzen. Sie würde es nicht fertigbringen, diese Welt zu verlassen. Nein, Millie wollte nicht ausziehen. Sie wollte, dass Samson auszog.
Auf den letzten Satz ihres Mannes hatte sie dann auch nichts erwidert, aber das Schweigen war äußerst beredt gewesen.
Samson schüttelte den Gedanken an jenes bedrückende Gespräch ab und machte sich auf seinen Weg durch die Straßen. Er folgte dabei einem ganz bestimmten System und einem genauen Zeitplan, und heute lag er bereits fünf Minuten zurück — weil er so lange gezögert hatte, sich durch das Treppenhaus nach unten zu wagen, und weil er dann auch noch von Millie aufgehalten worden war.
Er hatte seine Arbeit im Juni verloren. Er hatte als Fahrer eines Heimservices für Tiefkühlkost gearbeitet, aber Tiefkühlgerichte waren teuer, die Wirtschaftskrise verunsicherte die Menschen, die Aufträge waren dramatisch zurückgegangen. Schließlich hatte die Firma die Anzahl ihrer Fahrer reduzieren müssen. Samson hatte es kommen sehen, und er war der Mitarbeiter, der zuletzt eingestellt worden war. Es hatte ihn als Ersten getroffen.
Er schritt zügig voran. Das Haus, das er und Gavin von den Eltern geerbt hatten, lag an jenem Ende der Straße, das auf eine viel befahrene Durchgangsstraße mündete, daher lauter war und weniger vornehm. Schmalbrüstige Häuser, handtuchschmale Gärten. Dieselbe Straße bot in der entgegengesetzten Richtung, die zum Thorpe Bay Golfclub hin führte, ein ganz anderes Bild: größere Häuser, verziert mit Türmchen und Erkern, großzügige Grundstücke mit hohen Bäumen, gepflegten Hecken, von schmiedeeisernen Zäunen oder hübschen, niedrigen Steinmauern umgeben. Imposante Autos, die in den Einfahrten parkten. Es herrschte dort eine angenehme, friedliche Ruhe.
Southend-on-Sea lag vierzig Meilen östlich von London und zog sich weitläufig am nördlichen Ufer der Themse entlang, bis hin zum Übergang des großen Flusses in die Nordsee. Die Stadt bot alles, was das Herz begehrte: Einkaufsmöglichkeiten, Schulen und Kindergärten, Theater und Kinos, den obligatorischen Vergnügungspark an der Uferpromenade, lange Sandstrände, Segel- und Surfclubs, Pubs und vornehme Restaurants. Viele Familien, denen London zu teuer war und die es überdies für ihre Kinder als in jeder Hinsicht gesünder empfanden, nicht in der riesigen Metropole aufwachsen zu müssen, zogen hier hinaus. Southend umfasste mehrere Stadtteile, darunter auch Thorpe Bay, wo Samson wohnte. Thorpe Bay bestand zu einem großen Teil aus den weiten, sanft gewellten Wiesen des Golfclubs und aus großzügigen Tennisanlagen, die sich gleich hinter dem Strand, getrennt nur von einer Straße, befanden. Wer hier wohnte, schien mitten in einer Idylle gelandet zu sein: baumbestandene Straßen, liebevoll angelegte Gärten, gepflegte Häuser. Der Wind, der vom Fluss kam, trug den Geruch nach Salz und Meer in sich.
Samson war hier aufgewachsen. Er konnte sich nicht vorstellen, jemals woanders zu leben.
Kurz bevor er die Thorpe Hall Avenue erreichte, begegnete ihm die junge Frau mit dem großen Mischlingshund. Sie führte das Tier jeden Morgen spazieren. Um diese Uhrzeit befand sie sich bereits auf dem Rückweg. Samson hatte sie mehrfach zu ihrem Haus verfolgt und war sich einigermaßen sicher, was ihre Lebensumstände anging: kein Mann, keine Kinder. Ob sie geschieden oder nie verheiratet gewesen war, vermochte er nicht zu sagen. Sie wohnte in einer recht kleinen Doppelhaushälfte, besaß allerdings einen großen Garten. Sie schien von daheim aus zu arbeiten, denn außer zum Einkaufen und zum Hundespaziergang verließ sie ihr Haus tagsüber nicht. Sie erhielt allerdings häufig Lieferungen von Kurierdiensten. Samson schloss daraus, dass sie für eine Firma arbeitete, deren Aufträge sie zu Hause ausführen konnte. Vielleicht hatte sie ein Schreibbüro. Vielleicht erstellte sie Gutachten oder Redaktionen für einen Verlag. Er hatte mehrfach registriert, dass sie für einige Tage verreist war. In dieser Zeit wohnte eine Freundin bei ihr und führte auch den Hund aus. Offensichtlich musste sie sich gelegentlich bei ihrem Arbeitgeber blicken lassen.
Ein Stück weiter kehrte eine ältere Dame den Gehweg vor ihrem Haus. Diese Dame war sehr häufig draußen anzutreffen. Heute fegte sie das Laub zusammen, die allerletzten wenigen Blätter, die von dem Baum in ihrem Garten über den Zaun gesegelt waren. Sie kehrte die Straße oft selbst dann, wenn es nach menschlichem Ermessen absolut nichts zu tun gab. Samson wusste, dass sie alleinstehend war. Selbst einem weniger gründlichen Beobachter als ihm wäre ihr Bedürfnis aufgefallen, irgendetwas zu tun, das sie für eine Weile auf der Straße sein ließ, um wenigstens den einen oder anderen Morgengruß zu erhaschen. Sie erhielt nie Besuch, hatte also entweder keine Kinder oder zumindest nur solche, die sich nicht um sie kümmerten. Auch waren ihm nie Freunde aufgefallen, irgendwelche Bekannte, die sie aufgesucht hätten.
»Guten Morgen«, sagte sie atemlos, kaum dass sie ihn erblickt hatte.
»Guten Morgen«, murmelte Samson. Er hatte es sich zum eisernen Grundsatz gemacht, in keinerlei Kontakt mit den Menschen zu treten, die er beschattete, denn es war wichtig für ihn, nicht aufzufallen. Aber bei dieser Frau brachte er es nicht fertig, grußlos vorüberzugehen. Zudem hätte er sich damit vielleicht noch nachdrücklicher in ihr Gedächtnis gebohrt. Der unfreundliche Mann, der hier jeden Morgen vorbeiläuft … So war er in ihrer Erinnerung wenigstens positiv besetzt.
Er hatte jetzt die Häuserreihe erreicht, die sich gegenüber einer hübschen, im Sommer dicht belaubten Grünanlage befand. Eines der Häuser gehörte der Familie Ward. Samson wusste über diese Leute mehr als über alle anderen, weil Gavin die Hilfe von Thomas Ward in Anspruch genommen hatte, als es damals nach dem Tod der Eltern Probleme wegen der Nachlasssteuer gab. Ward und seine Frau arbeiteten als Wirtschafts- und Finanzberater in London, und Ward hatte den verzweifelten Gavin seinerzeit zu äußerst kulanten Bedingungen beraten, weshalb dieser bis heute nichts auf ihn kommen ließ. Obwohl Thomas Ward ansonsten genau das Bild abgab, das beiden Brüdern nicht unbedingt sympathisch war: das ziemlich große Auto, die Anzüge aus feinem Zwirn, die dezenten, aber zweifellos teuren Krawatten …
»Man darf Menschen eben nicht nach ihrem Äußeren beurteilen«, sagte Gavin stets, wenn die Rede auf Ward kam. »Ward ist in Ordnung, da gibt es gar nichts!«
Samson wusste, dass Gillian Ward nicht täglich in die Londoner Firma fuhr. Es war ihm nicht gelungen, eine echte Regelmäßigkeit in ihren Arbeitszeiten zu entdecken. Wahrscheinlich gab es keine. Aber natürlich hatte sie ja auch noch die zwölfjährige Tochter, um die sie sich kümmern musste, Becky, die häufig so verschlossen und trotzig wirkte. Samson hatte den Eindruck, dass Becky ziemlich rebellisch sein konnte. Sie machte ihrer Mutter das Leben bestimmt nicht immer leicht.
Er stutzte, als er plötzlich Gillians Wagen sah, der die Straße hinunterkam, in die Garageneinfahrt einbog und dort stehen blieb. Das war ausgesprochen merkwürdig. Er wusste, dass sie und die Mutter einer Klassenkameradin einander wochenweise abwechselnd die Kinder zur Schule fuhren, aber in dieser Woche war die andere dran, da war er völlig sicher. Vielleicht hatte sie die Kinder gar nicht zur Schule gebracht, bloß wo war sie dann gewesen? Zu dieser frühen Stunde?
Er blieb stehen. Ob sie vorhatte, ins Büro zu fahren? Mit dem Auto bis zur Bahnhaltestelle, entweder Thorpe Bay oder Southend Central, dann weiter mit dem Zug bis Fenchurch Station in London. Er war ihr mehrfach gefolgt, daher kannte er ihren Weg genau.
Er beobachtete, wie sie im Haus verschwand. Das Licht in der Diele ging an. Da die hübsche, rot lackierte Haustür der Wards ein rautenförmiges Fenster in der Mitte aufwies, konnte man von der Straße aus durch den Flur hindurch bis in die gegenüberliegende Küche blicken. Einmal hatte er durch dieses praktische Fenster beobachtet, wie sich Gillian morgens erneut an den Frühstückstisch gesetzt hatte, nachdem ihre Familie schon verschwunden war, wie sie sich noch eine Tasse Kaffee eingeschenkt und diese dann in langsamen, kleinen Schlucken leer getrunken hatte. Neben ihr hatte die Zeitung gelegen, aber sie hatte nicht hineingeschaut. Sie hatte nur an die gegenüberliegende Wand gestarrt. Damals hatte er zum ersten Mal gedacht: Sie ist nicht glücklich!
Dieser Gedanke hatte ihn geradezu schmerzhaft getroffen, denn die Wards waren ihm lieb geworden. Sie passten absolut nicht in das Muster der Menschen, die er bevorzugt beschattete, nämlich alleinstehende Frauen, und er hatte sich schon recht beunruhigt gefragt, weshalb er sich trotzdem an ihnen festgebissen hatte. An einem Sommerabend, an dem er sich in den Straßen herumgedrückt und in den Garten der Wards gestarrt, die kleine Familie lachend und plaudernd beim Grillen auf der Terrasse beobachtet hatte, war ihm plötzlich die Erleuchtung gekommen: Sie waren perfekt. Das zog ihn so magisch an. Die absolut perfekte Familie. Der gut aussehende, gut verdienende Vater. Die attraktive, intelligente Mutter. Das hübsche, lebhafte Kind. Der niedliche schwarze Kater. Ein schönes Haus. Ein gepflegter Garten. Zwei Autos. Kein Reichtum, kein Geprotze, aber solider Mittelstand. Eine Welt, die in Ordnung war.
Die Welt, von der er immer geträumt hatte.
Die Welt, in die er nie gelangen würde, aber er hatte festgestellt, dass es ihn tröstete, wenigstens als Zaungast an ihr teilzunehmen.
Er trat näher an das Haus heran, direkt an das Gartentor, und versuchte, in die Küche zu spähen. Tatsächlich konnte er Gillian sehen, die am Tisch lehnte. Aha, sie hatte sich wieder einmal einen Kaffee nachgeschenkt. Hielt den dicken Keramikbecher in den Händen, trank mit diesen kleinen, nachdenklichen Schlucken, die er schon einmal beobachtet hatte.
Worüber dachte sie bloß immerzu nach? Sie schien oft ganz versunken in ihre Gedanken.
Er ging eilig weiter, er konnte es sich nicht leisten, allzu lange an einer Stelle zu verharren, jedenfalls nicht mitten auf der Straße. Zu gern würde er herausfinden, worin Gillians Kummer bestand, und ihm war klar, warum: weil er hoffte, sich dann selbst beruhigen zu können. Es musste etwas Vorübergehendes sein. Nichts, bitte nichts, was mit ihrer Ehe, mit ihrer Familie zu tun hatte. Vielleicht waren ihre Mutter oder ihr Vater krank und sie machte sich Sorgen. Irgendetwas in dieser Art.
Er lief die Thorpe Hall Avenue hinunter, an den langgestreckten Parkanlagen und Tennisplätzen von Thorpe Bay Garden vorbei, überquerte die Thorpe Esplanade, wo der hektische frühmorgendliche Verkehr nur langsam abflaute, und war nun am Strand. Der kalt, verlassen und winterlich vor ihm lag. Keine Menschenseele war zu sehen.
Er atmete tief durch.
Er fühlte sich so erschöpft wie andere nach einem langen und harten Arbeitstag, und er wusste, woran das lag: daran, dass er Gillian gesehen hatte. Dass er ihr fast direkt begegnet wäre. Dieser Umstand, auf den er sich zuvor nicht hatte einstellen können, hatte ihn emotional so sehr gestresst, dass er, wie ihm jetzt nachträglich erst klar wurde, geradezu im Laufschritt an den Strand geeilt war. Nur fort. In die Stille. Dort konnten sich seine Nerven beruhigen.
Er beobachtete so viele Menschen. Prägte sich ihre Tagesabläufe ein, ihre Gewohnheiten, versuchte, ihre genauen Lebensumstände zu ergründen. Er hätte niemandem erklären können, was ihn so sehr daran faszinierte, aber es war wie ein Sog, in den man geriet. Es war unmöglich, aufzuhören, wenn man einmal damit angefangen hatte. Er hatte von Computerfreaks gelesen, die sich im Second Life ein Parallelleben aufgebaut hatten, und tatsächlich schienen diese Menschen und das, was sie antrieb, am stärksten mit ihm selbst verwandt zu sein. Ein Leben neben dem eigentlichen Dasein. Schicksale, in die man sich hineinträumen konnte. Rollen, in die man schlüpfte. Manchmal war er der erfolgreiche Thomas Ward mit dem schönen Haus und dem teuren Auto. Manchmal war er ein cooler Typ, der weder stotterte noch rot wurde und der die hübsche Frau mit dem Hund zu einem Date bat — natürlich ohne sich einen Korb einzuhandeln. Er brachte damit Glanz und Freude in seinen Alltag, und wenn das gefährlich war oder grenzwertig — und ihm schwante, dass ein Psychologe eine Menge bedenklicher Bezeichnungen für sein Hobby gefunden hätte —, so war es doch die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, mit der Tristesse, die ihn umgab, umzugehen.
Aber allmählich veränderte sich etwas, und das beunruhigte ihn.
Er ging ein paar Schritte den Strand entlang. Hier war es windiger als oben in den Straßen, und er war schnell ziemlich durchgefroren. Er hatte seine Handschuhe vergessen und blies sich immer wieder warmen Atem in seine Hände. Natürlich blieb er bei seinen klar abgezirkelten Beobachtungsrundgängen. Er hatte sogar in seinem Computer eine Datei über seine Objekte angelegt, und er vergaß an keinem Abend, pflichtschuldig alles zu notieren, was er gesehen und erlebt hatte. Aber er tat es nicht mehr mit derselben Hingabe wie früher. Und er begriff auch, warum das so war: Es lag an den Wards, besonders an Gillian Ward. Die Wards wurden immer wichtiger für ihn. Sie wurden zu seiner Familie. Sie waren ständig in seinen Tagträumen, es gab nichts, was er nicht über sie wissen, was er nicht mit ihnen zusammen erleben wollte.
Wahrscheinlich war es eine zwangsläufige Entwicklung, dass sein Interesse an den anderen Menschen, die ihn einmal so gefesselt hatten, langsam erlahmte. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass dies nicht gut war. Er verstand jetzt, warum er sich von Anfang an einen größeren Kreis an Objekten, deren Leben er beobachtete und schriftlich festhielt, gesucht hatte: damit nicht der Einzelne zu viel Bedeutung bekam. Damit er teilnehmen konnte an ihrem Leben, sich jedoch nicht darin verlor.
Mit Gillian könnte ihm das passieren.
Der Wind, der von Nordosten blies, war wirklich kalt. Kein Tag, um ihn am Strand zu verbringen. Im Sommer hatte es Spaß gemacht, von morgens bis abends durch die Straßen zu streifen und der bedrückenden Atmosphäre daheim zu entgehen. Jetzt im Winter sah das natürlich anders aus. Der einzige Vorteil war, dass es früh dunkel wurde und er spätestens ab fünf Uhr sehr bequem in die hell erleuchteten Räume der Häuser blicken konnte. Dafür fror man sich jedoch alle möglichen Körperteile ab.
Er hob den Kopf in den Wind, witterte wie ein Tier. Er fand, dass die Luft nach Schnee roch. Sie hatten nicht oft Schnee hier im Südosten Englands, aber er würde wetten, dass sie in diesem Jahr eine weiße Weihnacht bekämen. Obwohl sich bis dahin natürlich noch eine Menge ändern konnte.
Definitiv zu kalt, entschied er, um hier weiterzulaufen.
Er verließ den Strand, und als er oben auf der Uferpromenade an einem Kiosk vorbeikam, blieb er stehen. Leider hatte er praktisch sein ganzes Geld vorhin der raffgierigen Millie in die Hand drücken müssen, aber nach längerem Kramen in sämtlichen Taschen seiner Kleidung brachte er doch zwei Pfund zusammen. Das reichte für einen heißen Kaffee.
Er trank ihn im Stehen im Windschutz der Bretterbude und genoss das Prickeln, das die Hitze der Tasse in seinen Händen erzeugte. Direkt vor seiner Nase befand sich der Ständer mit den Tageszeitungen. Er las die Schlagzeilen, blieb an der besonders reißerisch aufgemachten Titelseite der Daily Mail hängen: Grausamer Mord in London!
Er verrenkte sich, um ein Stück von dem darunter stehenden Text zu erhaschen. Eine ältere Frau war in einem Hochhaus in Hackney ermordet worden. Die Tat zeichnete sich durch extreme Brutalität aus. Die Frau hatte geschätzte zehn Tage in der Wohnung gelegen, ehe sie von ihrer Tochter gefunden wurde. Es gab keinerlei Hinweise auf das mögliche Motiv des Täters.
»Schlimme Sache«, sagte der Kioskbesitzer, der gesehen hatte, wohin Samsons Augen glitten. »Ich meine, vor allem das mit den zehn Tagen. Dass jemand so lange tot ist und niemand merkt es. Was ist nur aus unserer Gesellschaft geworden?«
Samson murmelte etwas Zustimmendes.
»Die Welt wird mit jedem Tag schlechter«, meinte der andere.
»Das ist richtig«, sagte Samson. Er trank seinen Kaffee aus. Das Wechselgeld reichte noch für eine Daily Mail.
Er kaufte die Zeitung und zog nachdenklich weiter.
3
Wenigstens hatte sie endlich aufgehört zu zittern.
Detective Inspector Peter Fielder von der Metropolitan Police London, bekannter unter dem Begriff Scotland Yard, war nicht sicher gewesen, ob sie überhaupt vernehmungsfähig war, aber er wusste, dass die Zeit drängte. Carla Roberts hatte vermutlich bereits seit über einer Woche tot in ihrer Wohnung gelegen, ehe sie nun von ihrer Tochter am Tag zuvor entdeckt worden war, und dieser Umstand hatte ihrem Mörder bereits jede Menge Vorsprung verschafft. Es galt rasch zu handeln, aber zunächst war aus dieser wie Espenlaub zitternden jungen Frau, die ihr Baby an sich gepresst hielt und zu weinen begann, als eine Polizeibeamtin es ihr für einen Moment abnehmen wollte, absolut nichts herauszuholen gewesen. Ein Streifenwagen hatte sie am Abend ins Krankenhaus gefahren, wo sie übernachtet und etliche Medikamente bekommen hatte: An diesem Morgen nun hatte man sie in ihr Haus in Bracknell zurückgebracht.
Die Beamten, die sie begleiteten, hatten Fielder über sein Handy verständigt, dass es Keira Jones besser zu gehen schien. Daher saß er nun in dem hübsch eingerichteten, warmen Wohnzimmer und trank ein Mineralwasser, und ihm gegenüber saß Keira, kreideweiß im Gesicht, aber deutlich gefasster als am Vortag. Ihr Mann, Greg Jones, war daheim. Als Fielder eintraf, hatte er gerade das Baby gefüttert und gewickelt und dann wieder ins Bett gelegt, und nun stand er am Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt, weniger Abwehr als ein gewisses Schutzbedürfnis ausstrahlend. Er war deutlich erschüttert, versuchte aber, einigermaßen ruhig und gefasst zu bleiben.
»Mrs. Jones«, sagte Fielder vorsichtig, »ich weiß, es ist nicht leicht für Sie, jetzt mit mir zu sprechen, und es tut mir wirklich leid, Sie bedrängen zu müssen, aber wir haben leider keine Zeit mehr zu verlieren. Nach der ersten Schätzung des Rechtsmediziners könnte Ihre Mutter bereits seit etwa zehn Tagen tot sein, das heißt, sie ist unglücklicherweise recht spät gefunden worden …«
Keira schloss kurz die Augen und nickte.
»Wir haben einen kleinen Sohn, der gerade eine ziemlich anstrengende Phase durchläuft, Inspector«, sagte ihr Mann, »und meine Frau ist seit Monaten am Ende ihrer Kräfte. Ich arbeite den ganzen Tag und kann ihr nur wenig helfen. Meine Schwiegermutter fühlte sich von ihr vernachlässigt, aber …«
»Greg!«, sagte Keira leise und gequält. »Sie fühlte sich nicht einfach vernachlässigt. Ich habe sie vernachlässigt.«
»Lieber Himmel, Keira, ich arbeite hart. Wir haben ein kleines Kind. Du konntest nicht ständig nach Hackney fahren und deiner Mutter die Hand halten!«
»Ich hätte sie wenigstens öfter anrufen müssen.«
»Wann haben Sie sie denn zuletzt angerufen?«, fragte Fielder. »Oder genauer: Wann hatten Sie überhaupt zum letzten Mal in irgendeiner Form Kontakt mit Ihrer Mutter?«
Keira überlegte einen Moment. »Das war … ja, das war am vorletzten Sonntag. Ist also über eine Woche her. Da rief sie relativ spät abends an, gegen zehn Uhr.«
»Danach haben Sie nicht mehr mit ihr gesprochen?«
»Nein.«
Fielder rechnete nach. »Das muss dann also Sonntag, der 22. November gewesen sein. Heute haben wir den 2. Dezember. Vieles spricht dafür, dass sie ziemlich bald nach dem Gespräch mit Ihnen … überfallen wurde.«
»Ermordet wurde«, flüsterte Keira.
Er nickte. »Ja. Ermordet wurde.«
»Es ist furchtbar«, sagte Greg Jones, »ganz furchtbar. Aber wer konnte so etwas ahnen?«
Fielder blickte zum Fenster hinaus. In dem gepflegten Vorgärtchen standen eine Schaukel, ein Sandkasten und eine Rutschbahn. Bunt und fröhlich, von dem stolzen Vater vermutlich selbst liebevoll und etwas verfrüht für den kleinen Sohn aufgebaut. Die Jones’ schienen eine glückliche Familie zu sein. Weder Keira noch Greg wirkten kaltherzig oder egozentrisch. Es war vieles zusammengekommen: Greg hatte Stress im Beruf, Keira Stress mit dem Baby. Der Weg hinüber nach Hackney war weit und umständlich, mit einem Kleinkind im Schlepptau sicher noch anstrengender. Die alleinstehende Großmutter war bei all dem durch das Raster der jungen Familie gerutscht. Carla hatte besonders ihrer Tochter wahrscheinlich ständig ein schlechtes Gewissen verursacht, aber Keira hatte dennoch keinen Weg gefunden, sie in ihr Leben zu integrieren.
Es war einfach so wie in vielen Familien.
»Ihre Mutter war geschieden?«, fragte Fielder. Keira hatte diese Angabe bereits in der ersten kurzen Vernehmung am Tatort gemacht, aber Fielder wollte Näheres darüber wissen.
»Ja«, sagte Keira. »Seit zehn Jahren.«
»Haben Sie Kontakt zu Ihrem Vater? Hatte Ihre Mutter Kontakt zu ihm?«
»Nein.« Keira schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht einmal, wo er sich aufhält. Er hatte eine Firma, die mit Baustoffen handelte, und wir haben immer gut gelebt und dachten, es sei alles in Ordnung. Aber dann stellte sich heraus, dass er völlig verschuldet war. Alles brach zusammen, und er setzte sich schließlich wohl ins Ausland ab — auf der Flucht vor seinen Gläubigern.«
»Zuvor wurden Ihre Eltern aber noch geschieden?«
»Ja. Als die Pleite offensichtlich wurde, flog auch das Verhältnis meines Vaters mit einer jüngeren Mitarbeiterin auf. Meine Mutter reichte sofort die Scheidung ein.«
»Dass Ihr Vater sich im Ausland aufhält, wissen Sie aber nicht sicher?«
»Nein. Wir haben das nur vermutet.«
»Aber Sie wissen, dass er seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Ihrer Mutter hatte?«
»Ja. Das hätte sie mir sonst sofort erzählt.«
Fielder machte sich eine Notiz. »Wir werden versuchen, Ihren Vater ausfindig zu machen. Kennen Sie Namen und Adresse seiner damaligen Geliebten?«
Keira schüttelte den Kopf. »Mit Vornamen heißt sie, glaube ich, Clarissa. Den Nachnamen weiß ich nicht mehr. Ich wohnte damals nicht mehr bei meinen Eltern, sondern studierte in Swansea. Ich habe nicht allzu viele Details mitbekommen. Ich meine … «, unvermittelt begann sie zu weinen. »Meine Mutter rief mich damals oft an«, schluchzte sie. »Sie war verzweifelt, weil ja ihr Leben zusammenbrach. Mein Vater hatte sie jahrelang mit einer anderen Frau betrogen, und nun war auch noch das ganze Geld weg, und das Haus wurde zwangsversteigert … Es ging ihr sehr schlecht, aber ich habe sie häufig abgewimmelt. Ich wollte … ich wollte irgendwie nichts mit alldem zu tun haben …« Sie weinte heftiger.
Greg trat an sie heran und strich ihr mit einer unbeholfenen Bewegung über die Haare. »Mach dir doch nicht so viele Vorwürfe. Du warst im Studium, du hattest dein eigenes Leben. Du konntest dich nicht um die Probleme deiner Eltern kümmern.«
»Ich hätte mehr für meine Mutter da sein müssen. Damals und auch jetzt. Dass sie tagelang ermordet in ihrer Wohnung liegt, und keiner merkt es! Das hätte nicht passieren dürfen!«
Nebenan begann das Baby zu wimmern. Fast ein wenig erleichtert verließ Greg das Zimmer. Die Situation überforderte ihn, aber schließlich, dachte Fielder, war das kein Wunder. Etwas Unfassbares war in das Leben der Jones’ eingebrochen. Sie würden sich nie wirklich davon erholen.
Keira zog ihre Handtasche zu sich heran, holte ein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase.
»Er war auch nie sehr erpicht darauf, meine Mutter zu besuchen oder einzuladen«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zu der Tür hin, durch die ihr Mann verschwunden war. »Er arbeitet hart, und an den Wochenenden sucht er Entspannung … Wissen Sie, meine Mutter war nicht gerade ein Mensch, der gute Laune um sich verbreitete. Sie jammerte furchtbar viel. Wegen der Scheidung, der Pleite, wegen allem. Sie konnte dadurch sehr … anstrengend sein. Meiner Ansicht nach tat sie sich deshalb auch so schwer, Freunde zu finden. Die meisten Leute … ertrugen sie nach einer Weile einfach nicht mehr. Es klingt furchtbar, was ich sage, oder? Ich will nicht schlecht über sie reden. Außerdem … egal, wie sehr sie anderen auf die Nerven gehen konnte … nie hätte sie einen solchen Tod verdient. Nie!«
Fielder betrachtete sie mitfühlend. Er hatte die tote Carla Roberts gesehen. An Händen und Füßen mit Paketklebeband gefesselt, hatte sie in ihrem Wohnzimmer gelegen. Der Täter hatte ihr ein zusammengeknäultes Stück Stoff in den Rachen gestoßen, ein kariertes Küchengeschirrtuch, wie sich herausstellte. Die erste Untersuchung hatte ergeben, dass sich Carla Roberts daraufhin offenbar hatte erbrechen müssen und mit aller Kraft versucht hatte, das Tuch aus ihrem Mund zu würgen.
»Was ihr hätte gelingen müssen«, hatte der Rechtsmediziner noch am Tatort gesagt. »Für mich sieht es so aus, als habe der Täter das Tuch mit der Faust so lange in ihren Rachen gepresst, bis sie an ihrem Erbrochenen erstickt war. Es muss ein grausamer Todeskampf gewesen sein.«
Fielder hoffte, dass Keira ihn nie nach diesen Details fragen würde.
»Mrs. Jones«, begann er, »Sie sagten gestern bereits, dass Sie, nachdem auf Ihr wiederholtes Klingeln niemand öffnete, mit dem Zweitschlüssel selbst die Wohnung Ihrer Mutter aufgesperrt haben. Wie sind Sie zuvor ins Haus hereingekommen? Haben Sie für die Eingangstür auch einen Schlüssel?«
»Ja, aber unten war sowieso offen. Ich klingelte, wartete aber gar nicht ab, sondern stieg gleich in den Aufzug. Oben klingelte ich dann wieder. Und wieder. Schließlich schloss ich auf.«
»Dachten Sie da schon, dass etwas passiert sein könnte?«
Keira schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte mich ja nicht angekündigt, und ich dachte, meine Mutter sei einfach nicht zu Hause. Einkaufen oder spazieren oder so. Ich wollte in der Wohnung auf sie warten.«
»Besitzt außer Ihnen noch jemand einen Schlüssel zu der Wohnung?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Wie es aussieht«, sagte Fielder, »hat Ihre Mutter den Täter selbst in die Wohnung gelassen. Jedenfalls gibt es keinerlei Einbruchspuren. Natürlich ist es zu früh, endgültige Schlüsse zu ziehen, aber es könnte sein, dass Ihre Mutter den Täter kannte.«
Keira sah ihn entsetzt an. »Dass sie ihn kannte?«
»Wissen Sie etwas über den Bekanntenkreis Ihrer Mutter?«
Er konnte sehen, dass Keira schon wieder Tränen in die Augen stiegen, aber für den Moment gelang es ihr, sie zurückzudrängen.
»Sie hatte eigentlich keinen. Das war ja genau das Problem. Sie lebte völlig isoliert. An dem Abend, an dem … ich zuletzt mit ihr sprach, habe ich ihr ja noch Vorwürfe deswegen gemacht. Dass sie immer nur zu Hause sitzt, dass sie sich keine Freundschaften aufbaut, dass sie nie etwas unternimmt … Sie hörte sich das geduldig an, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sich etwas ändern würde.«
Fielder nickte. Das passte ins Bild. Ein Mensch, der in einem intakten sozialen Umfeld lebt, liegt nicht zehn Tage lang tot in der Wohnung, ohne dass es irgendjemandem auffällt.
»Seit wann arbeitete Ihre Mutter nicht mehr?«
»Seit fast fünf Jahren. Sie hatte nach der Scheidung Arbeit in einer Drogerie gefunden, aber das machte ihr wenig Spaß. Schließlich ist sie mit sechzig Jahren in Rente gegangen. Zum Glück hatte sie noch Ansprüche aus einer Tätigkeit während der ersten Jahre ihrer Ehe, sonst hätte sie finanziell übel dagestanden. Aber so kam sie über die Runden.«
»Gab es in dieser Drogerie jemals Ärger mit Mitarbeitern?«
»Nein. Sie kam mit allen zurecht und die anderen auch mit ihr. Aber der Kontakt brach nach ihrem Fortgang ab. Ich glaube nicht, dass sie noch mit irgendjemandem aus dieser Zeit in Verbindung stand.«
»Und sonst? Gab es nicht irgendein Hobby, das sie vielleicht gelegentlich mit anderen Menschen zusammengebracht hätte?«
»Nein. Nichts.«
»Und im Haus? Stand ihr da jemand näher?«
»Auch nicht. Jeder dort scheint ziemlich anonym und allein vor sich hin zu leben. Und meine Mutter war nicht der Mensch, der auf andere zugehen konnte. Dafür war sie zu schüchtern, zu unsicher. Andererseits hat sie auch niemals jemandem etwas getan. Sie war ein guter Mensch. Ein freundlicher Mensch. Ich verstehe einfach nicht, weshalb ihr irgendjemand so viel Hass entgegengebracht hat. Ich begreife es nicht!«
Fielder dachte an die Brutalität, mit der Carla umgebracht worden war. Möglicherweise hatte der Täter kein Problem speziell mit Carla, der freundlichen, etwas wehleidigen und verhuschten Rentnerin gehabt. Vielleicht hatte er ein generelles Problem mit Frauen. Ein Sadist. Ein Psychopath. Ein tief gestörter Typ. Die Tat sah danach aus.
»Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen müsste?«, fragte er.
Keira überlegte. »Ich glaube nicht«, meinte sie und fügte dann plötzlich hinzu: »Oder doch. Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber an dem Abend, an dem ich zuletzt mit meiner Mutter telefonierte, erwähnte sie etwas Eigentümliches … oder zumindest erschien es ihr eigentümlich. Sie sagte, der Fahrstuhl käme so oft nach oben zu ihr. Aber nie würde jemand aussteigen.«
»Da war sie sicher? Dass niemand ausstieg?«
»Ja, offenbar. Sie hätte das sonst wohl gehört. Und da außer ihr sowieso niemand dort oben wohnte, kam ihr das mit dem Aufzug seltsam vor.«
»Seit wann hatte sie diese Besonderheit registriert? Hat sie dazu etwas gesagt?«
»Sie sprach von ein oder zwei Wochen. Und dass es davor eben nicht so gewesen sei. Weil ich gemeint hatte, vielleicht sei das System so eingerichtet, dass der Aufzug in bestimmten Abständen in jede Etage fährt … Aber sie ließ das Thema dann fallen. Sie merkte, dass ich das Gespräch beenden wollte.« Keira biss sich auf die Lippen.
Fielder neigte sich vor. Er verspürte Mitleid mit der jungen Frau. Die Mutter zu verlieren war schlimm und einschneidend, sie durch ein brutales Verbrechen zu verlieren war geradezu unfassbar. Dann aber auch noch zeitlebens die Gewissheit in sich tragen zu müssen, allzu nachlässig, genervt und abweisend mit ihr umgegangen zu sein, würde sich für Keira Jones, da war er sicher, als fast unerträglich erweisen.
»Mrs. Jones«, sagte er, »hatten Sie den Eindruck, dass sich Ihre Mutter bedroht fühlte?«
Keiras Augen füllten sich erneut mit Tränen. »Ja«, stieß sie hervor, und es klang wie ein Schluchzen. »Ja. Ich glaube, sie hatte Angst. Sie konnte nur nicht sagen, wovor. Sie fühlte sich bedroht, ja. Und ich habe mich keine Sekunde lang darum gekümmert.«
Sie ließ den Kopf auf die Knie sinken und begann zu schreien.
4
Darcys Mutter buk Muffins.
Warum backen heutzutage alle Mütter immerzu Muffins?, fragte sich Gillian und spürte, wie sie bei diesem Gedanken erste, leise nagende Kopfschmerzen bekam. Wer sollte all die Muffins, die täglich von Millionen Müttern gebacken wurden, eigentlich essen?
Diana, Darcys Mutter, löffelte den Teig aus der großen Keramik-Rührschüssel in ihre Förmchen. Die Küche duftete nach Schokolade, nach Butter und Mandeln. Auf dem Tisch standen dicke, rote Kerzen und eine Kanne mit Vanilletee. Daneben ein Schälchen mit Kandiszucker.
»Nimm dir doch noch Tee«, sagte Diana.
Sie war eine attraktive Frau. Blond und schlank. Sie spielte sehr gut Tennis und Golf. Sie konnte fantastisch kochen. Sie verstand es, ein Haus gemütlich einzurichten. Ihre Töchter liebten sie. Bei Klassenfesten meldete sie sich zum Schmücken, und sie kam zu Schulausflügen auch gern als Begleitperson mit. Daher liebten sie auch die Lehrer.
Und sie buk Muffins.
Im Augenblick allerdings hatte sie ein Thema am Wickel, das sich mit der gemütlichen, vorweihnachtlichen Atmosphäre in ihrer Küche nicht recht vertrug: den Mord, der an einer alleinstehenden alten Frau in London verübt worden war. Angeblich sprach man überall davon, nur Gillian hatte bislang nichts mitbekommen. Becky hatte der kranken Darcy die Hausaufgaben bringen wollen, daher waren sie hinübergegangen. Die Mädchen hatten sich in Darcys Zimmer verzogen, und Gillian war zum Tee eingeladen worden. Eigentlich wollte sie ablehnen. Sie hatte, obwohl todmüde gerade erst aus dem Büro zurückgekommen, Becky hinüber zu ihrer Freundin begleitet, weil sie sie im Dunkeln nicht allein herumlaufen lassen wollte, aber sie verspürte nicht die geringste Lust auf eine Unterhaltung. Doch Diana fragte noch in der Tür als Erstes: »Und? Was sagst du zu diesem grässlichen Verbrechen?«, und natürlich fragte Gillian zurück, um was es denn ging, und damit war ihr Schicksal besiegelt. Diana, immer auf der Suche nach jemandem, mit dem sie tratschen konnte, hatte sie in die Küche gezogen und erzählte ihr dann haarklein alles, was sie wusste.
»Sie soll über eine Woche in ihrer Wohnung gelegen haben, und niemand hat etwas bemerkt! Ist das nicht grauenhaft? Ich meine, so einsam zu sein, dass es ewig dauert, bis überhaupt jemandem auffällt, dass man tot ist?«
»Noch grauenhafter finde ich es, in der eigenen Wohnung ermordet zu werden«, sagte Gillian. »Wie ist der Täter hineingekommen? Weiß man da etwas?«
»Also, angeblich gibt es nicht die geringsten Einbruchspuren. Es heißt, sie hat ihn selber eingelassen. Könnte also ein Bekannter von ihr gewesen sein. Denn so unvorsichtig ist ja eigentlich niemand, dass er einfach die Wohnungstür aufreißt, wenn es klingelt, zumal wenn man völlig allein lebt!«
Diana widmete sich eine Weile mit Hingabe ihrem Muffin-Teig, und Gillian trank ihren Tee und machte sich eine Menge Gedanken; über den Mord in London und über perfekte Mütter, und die ganze Zeit über versuchte sie, entspannt zu atmen, weil das manchmal half, wenn sich Kopfschmerzen ankündigten.
Diana hatte alle Förmchen gefüllt, schob sie in den Backofen, schaltete die richtige Temperatur ein, setzte sich dann an den Tisch und nahm sich ebenfalls einen Tee.
»Sie soll eine erwachsene Tochter haben. Die hat sie gefunden.«
»Wie entsetzlich!«, sagte Gillian.
»Na ja, aber zuvor hat diese Tochter nicht einmal bemerkt, dass ihre Mutter seit zehn Tagen nichts mehr von sich hören ließ. Schon seltsam. Das könnte mir mit meinen Töchtern nicht passieren.«
Gillian dachte an das provozierende Verhalten, das Becky ihr gegenüber an den Tag legte. Würde sie dies von ihrer Tochter auch im Brustton der Überzeugung sagen? Das könnte mir nicht passieren?
»Und wie … wurde sie umgebracht?«, fragte sie beklommen.
»Darüber wahrt die Polizei Stillschweigen«, sagte Diana bedauernd. »Täterwissen und so, weißt du. Man will Nachahmungstaten und falsche Geständnisse ausklammern. Schreibt die Zeitung. Sie soll aber auf eine extrem brutale Art getötet worden sein.«
»Es muss jemand sein, der pervers ist«, sagte Gillian angewidert.
Diana zuckte mit den Schultern. »Oder jemand, der einen unbändigen Hass auf diese Frau hatte.«
»Ja, aber so sehr kann man kaum hassen. Das ist jedenfalls absolut nicht normal. Ich hoffe, sie fassen den Täter bald.«
»Das hoffe ich auch«, stimmte Diana inbrünstig zu.
Beide Frauen schwiegen eine Weile bedrückt. Dann wechselte Diana abrupt das Thema.
»Kommst du zur Weihnachtsfeier im Handballclub? Am Freitag?«
»Davon wusste ich gar nichts. Eine Feier?«
»Becky erzählt dir wohl gar nichts!«, meinte Diana in argloser Grausamkeit.
»Vielleicht hat sie es erzählt und ich habe nicht richtig zugehört«, sagte Gillian, aber sie wusste, dass es so nicht gewesen war. Sie hörte zu, wenn Becky etwas erzählte. Aber Becky erzählte kaum je etwas. Das war das Problem.
»Du kommst aber doch?«, vergewisserte sich Diana. »Jeder soll ein paar Kekse mitbringen oder irgendetwas. Wird sicher schön.«
»Ja, bestimmt.« Und du wirst sicher deine blöden Muffins mitbringen!
Ich stehe das durch, dachte sie, irgendwie stehe ich das durch!
Unter dem Hinweis, Tom komme bald nach Hause und sie müsse das Abendessen vorbereiten, gelang es Gillian eine Viertelstunde später, sich loszueisen. Sie fühlte sich wie befreit, als sie und Becky endlich auf der dunklen Straße standen. Der kalte Wind tat ihr gut. Von irgendeinem Moment an hatte sie die weihnachtlich geschmückte Küche, den Duft nach Gebackenem, die perfekte Diana kaum mehr ertragen können.
»Warum hast du mir nicht erzählt, dass ihr übermorgen eine Weihnachtsfeier im Handballclub habt?«, fragte sie, als sie schon beinahe daheim angekommen waren. Wie üblich hatten sie den Weg schweigend zurückgelegt.
»Keine Lust«, murmelte Becky.
»Keine Lust worauf? Es mir zu erzählen? Dorthin zu gehen?«
»Es zu erzählen.«
»Weshalb?«
Becky betrat wortlos die Einfahrt. Toms Wagen parkte vor der Garage. Er fuhr meist morgens früher als Gillian nach London und kehrte später zurück. Gillian musste noch Becky und den Haushalt in ihrem Tagesablauf unterbringen, daher hatten sie sich für getrennte Wege entschieden.
Gillian packte ihre Tochter am Arm. »Ich möchte eine Antwort!«
»Worauf?«, fragte Becky.
»Auf meine Frage. Weshalb hast du es mir nicht erzählt?«
»Ich will endlich einen eigenen Internet-Anschluss!«
»Das ist auch keine Antwort.«
»Alle in meiner Klasse …«
»Blödsinn! Nie im Leben haben alle in deiner Klasse einen eigenen Internet-Anschluss. Das Internet …«
»… ist furchtbar gefährlich, da treiben sich böse Männer herum, die in den Chatrooms versuchen, junge Mädchen anzulocken und dann …«
»Leider gibt es die, ja«, sagte Gillian. »Aber das ist nur eine Gefahr des Internets. Ich finde vor allem, dass du einfach zu jung bist, um unkontrolliert jeden Tag stundenlang vor dem Computer zu hängen. Das ist nicht gut.«
»Warum?«, fragte Becky.
»Weil es wichtiger ist, dass du deine Hausaufgaben erledigst, deine Freunde triffst, Sport treibst«, sagte Gillian und fand selbst, dass sie sich wie eine Gouvernante anhörte.
Becky verdrehte die Augen. »Mum, ich bin zwölf. Du behandelst mich immer, als wäre ich fünf.«
»Das stimmt doch überhaupt nicht.«
»Doch. Sogar wenn ich nur zu Darcy gehen will, kommst du mit, weil du denkst, mir könnte etwas zustoßen auf dem Weg dorthin. Dabei hasst du es wie die Pest, dich mit ihrer Mutter zu unterhalten. Warum lässt du mich nicht alleine gehen?«
»Weil es dunkel ist. Weil …«
»Warum kannst du mir nicht einfach vertrauen?«, fragte Becky. Dann sah sie ihren Vater, der die Haustür geöffnet hatte und im hellen Licht des Eingangs stand. Ohne eine Antwort ihrer Mutter abzuwarten, lief sie auf ihn zu und warf sich in seine Arme.
Gillian folgte ihr langsam und nachdenklich.
5
Sie schrak hoch, als der Lichtkegel über die Wand hinter dem Fernseher glitt, und schon im nächsten Moment fragte sie sich, ob sie ihn sich nicht eingebildet hatte. Oder geträumt hatte. Sie war eingeschlafen, trotz des spannenden Krimis, der gerade lief. Aber das passierte ihr oft. Sie war ein Morgenmensch. Lag ab halb sechs in der Früh wach und fühlte sich voller Tatendrang. Abends hingegen … Manchmal ging sie schon um acht Uhr ins Bett.
Sie richtete sich in ihrem Sessel auf.
Sie lauschte nach draußen. Sie konnte nichts hören.
Es war ihr drei- oder viermal aufgefallen in der letzten Zeit. Dass ein Auto hier herauskam. Am Abend, in der Dunkelheit. Sie hatte den Motor gehört, sie hatte das Licht der Scheinwerfer über die Wände des Wohnzimmers streichen sehen. Und dann — nichts. Kein Laut, kein Licht, gar nichts. Als habe jemand angehalten, den Motor ausgeschaltet, die Scheinwerfer ebenfalls.
Um im Dunkeln dort zu stehen und … was zu tun?
Anne Westley war keine ängstliche Frau. Beim ersten Mal war sie aufgestanden und vor die Haustür getreten, war dann sogar den Plattenweg durch ihren Garten gelaufen bis zum Tor. Hatte versucht, irgendetwas zu erkennen, aber das war hier draußen fast unmöglich. Der Wald wuchs bis direkt an das Grundstück heran. Eine Nacht ist eigentlich nie völlig schwarz, das wusste Anne, aber hier draußen war sie es. Nahezu undurchdringlich schwarz.
Und die Lage ihres Hauses war es auch, was das Auftauchen eines Autos so befremdlich erscheinen ließ. In unmittelbarer Nähe gab es nicht einmal eine Straße. In einiger Entfernung befand sich ein abgelegener Parkplatz, von dem aus verschiedene Wanderwege in die Wälder führten. An den Wochenenden, vor allem im Sommer, herrschte dort ein gewisses Kommen und Gehen, aber im Winter, und schon gar nach Einbruch der frühen Dunkelheit, verirrte sich kaum noch jemand dorthin. Vielleicht mal ein Pärchen zum Knutschen. Aber das würde kaum weiter in den Wald vordringen und dann auch noch sein Auto über den schmalen Pfad quälen, der schließlich an Annes Gartenpforte endete.
Sie stand auf, ging ans Fenster, versuchte hinauszuschauen, sah aber vor allem ihr eigenes Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte. Sie schaltete das kleine Lämpchen in der Ecke sowie auch den Fernseher aus, und das Zimmer lag im Dunkeln. Wieder starrte sie angestrengt in den finsteren Abend. Es war schwierig, irgendetwas zu erkennen. Sie ahnte mehr den Garten mit seinen vielen Büschen, dem hohen Gras, den nun kahlen Obstbäumen. Im Sommer hatte sie Kirschen, Äpfel und Birnen ohne Ende geerntet, hatte wochenlang Marmelade und Gelee eingekocht. Alles in große Gläser gefüllt, die Deckel mit Gummiringen verschlossen, Etiketten aufgeklebt und säuberlich beschriftet.
Und dabei immer an Sean gedacht. Daran, dass er vor allem davon geschwärmt hatte: von den Obstbäumen und von der eigenen Marmelade. Und sie hatte gewusst, dass sie nur seinetwegen erntete und einkochte, denn sie selbst aß Marmelade nicht besonders gern. Im Leben würde sie das alles, was sich dort unten im Keller in den Regalen stapelte, nicht mehr verzehren. Irgendwann würde sie sterben, und dann müssten neben allem anderen tonnenweise Marmeladengläser samt Inhalt entsorgt werden.
Sean und sie hatten das Haus acht Jahre zuvor auf einer Wanderung entdeckt. Sie hatten einen Ausflug nach Tunbridge Wells gemacht, der hübschen Stadt im äußersten Westen der Grafschaft Kent, eingebettet in Wiesen, Felder, Hügel und tiefe Wälder. Die Gegend war berühmt für ihre Obstplantagen und die schier endlosen Hopfenfelder. Es regnete selten hier, die Sommer waren heiß und trocken, und im Frühling lag immer der schwere, süße Geruch der Obstblüten in der Luft. Sean und Anne waren durch einen Wald gestreift, in dem Maiglöckchen und Buschwindröschen blühten, und plötzlich war das Haus vor ihnen aufgetaucht, ein ehemaliges Forst- oder Jagdhaus, wie es schien. Es sah ziemlich verfallen, deutlich unbewohnt und wenig einladend aus. Aber das hatte Sean nicht gestört. Er hatte sich in den Garten verliebt und konnte gar nicht mehr aufhören, davon zu reden.
»Dieses riesige Grundstück! Die vielen Obstbäume. Die Fliederbüsche. Goldregen, Jasmin, was du willst. Der Wald drum herum. Es ist das, wonach ich immer gesucht habe. Ich habe immer darauf gewartet!«
Sie hätte das alles nicht haben müssen. Beide waren sie damals sechzig Jahre alt gewesen, und Anne hätte es vernünftiger gefunden, sich nicht ausgerechnet im Alter mit einem Grundstück zu belasten, das ihnen harte körperliche Arbeit abverlangen würde. Sean hatte natürlich genau andersherum argumentiert. »Gerade wenn wir in ein paar Jahren pensioniert sind, können wir uns das erlauben. Wir haben dann viel Zeit und müssen nichts überstürzen. Was sollen wir in einer Wohnung herumsitzen und aus dem Fenster starren? Komm, lass es uns wagen! Lass uns noch einmal etwas Neues versuchen!«
Es war ihnen tatsächlich gelungen, das Haus zu erwerben. Genau genommen war das auch nicht schwer gewesen, denn es gab niemanden sonst, der es haben wollte. Das Haus gehörte der Gemeinde Tunbridge Wells, und die war froh, es los zu sein.
Und von da an hatten sie ihre gesamte Freizeit, jedes Wochenende und alle Ferien, dort im Wald verbracht und das Haus renoviert, Stück für Stück, in mühevoller Arbeit, die ihnen aber, wie Anne überrascht festgestellt hatte, eine Menge Befriedigung verschaffte. Sie hatten altes Parkett abgeschliffen, Küche und Bäder gefliest, Wände gestrichen, neue Fenster einsetzen lassen, Wände herausgebrochen und großzügige Räume geschaffen, wo vorher eine Vielzahl kleiner verschachtelter Zimmer gewesen waren. Sie hatten eine weitläufige Holzterrasse nach Süden hin angelegt, mit einem Geländer, das sie umschloss, und Stufen, die in den Garten führten. Sie hatten ein paar Bäume gefällt, um mehr Licht und Sonne zu bekommen. Und Anne hatte sich oben unter dem Dach ein Atelier ausgebaut. Einige Jahre zuvor hatte sie das Malen entdeckt. Es war zu einer Leidenschaft geworden.
Sie überlegte, ob sie hinausgehen sollte, aber um wirklich zu sehen, ob dort irgendwo ein Auto parkte, müsste sie bis nach vorne zum Tor laufen. Sie schreckte vor der Kälte zurück, die sie draußen erwartete. Außerdem würde sie wahrscheinlich wieder nichts entdecken. Vielleicht hatte sie sich den Lichtschein diesmal auch wirklich nur eingebildet. Immerhin hatte sie gedöst. Möglicherweise sogar geschlafen.
Aber irgendetwas hatte sie aufgeweckt.
Sie versuchte, das unheimliche Gefühl zu verdrängen, das sie beschlich. Sie war wirklich vollkommen allein hier draußen. Tagsüber kam sie damit ganz gut zurecht, aber abends musste sie sich manchmal zusammenreißen, um sich nicht allerlei beunruhigenden Gedanken hinzugeben.
Sie schaltete das Licht wieder ein, ging in die Küche hinüber — eine wunderschöne Küche aus weißgebeiztem Holz, mit einem Herd in der Mitte des Raumes und einer großen Theke gegenüber der Terrassentür, an der man frühstücken, Zeitung lesen, einen Kaffee zwischendurch trinken konnte. Sie schenkte sich einen Schnaps ein, kippte ihn in einem Schwung hinunter, nahm noch einen. Normalerweise reagierte sie nicht mit Alkohol auf Probleme, aber für den Augenblick schien der Schnaps sie tatsächlich etwas zu beruhigen.
Sie hatte nicht einmal nach Seans Tod versucht, sich mit Alkohol zu trösten. Überhaupt hatte sie keinerlei Hilfe in Anspruch genommen. Ihrer Erfahrung nach half Arbeit am besten über seelische Probleme hinweg, und so hatte sie sich auf den Garten gestürzt, viel gemalt und so das schlimme erste Jahr überstanden. Nun waren weitere zweieinhalb Jahre vergangen, und sie hatte alles im Griff. Sich, ihren Schmerz, das Leben hier draußen in der Abgeschiedenheit.
Sean war gestorben, als alles fertig war. Mitten im Sommer, wenige Wochen nach seinem 65. Geburtstag. Im Juni war er aus dem Berufsleben ausgeschieden, vier Wochen nachdem sich auch Anne aus ihrer Praxis als Kinderärztin verabschiedet und in den Ruhestand zurückgezogen hatte. Anfang Juli wollten sie die Einweihung des neuen Hauses feiern, in ihrem Garten, der im blühenden Jasmin zu versinken schien. Sie hatten fast achtzig Leute eingeladen, beinahe alle hatten zugesagt. Am Tag vor dem Fest war Sean auf das Hausdach geklettert, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, entlang der Regenrinne eine bunte Lichterkette zu befestigen. Beim Abstieg hatte er die oberste Sprosse der Leiter verfehlt und war hinuntergestürzt. Was zunächst nicht allzu dramatisch aussah, denn er hatte sich zwar den Oberschenkelhals gebrochen, aber sonst war nichts passiert. Natürlich war er wütend und enttäuscht darüber, im Krankenhaus zu liegen und sein Fest absagen zu müssen. Aber dann hatte er eine Lungenentzündung bekommen, keinerlei Antibiotika schlugen an, und innerhalb von vier Wochen war er tot, noch ehe Anne wirklich begriff, was eigentlich geschah.
Sie hatte ihn beerdigt, und irgendwann im November war sie ihrerseits auf das Dach geklettert und hatte die Lichterkette abgenommen, die noch immer dort hing, eine blöde, bunte Kette, die bei Gott nicht wert gewesen war, was sie verursacht hatte.
Der zweite Schnaps entspannte Anne endgültig. Sie kam zu dem Schluss, dass sie sich den Lichtschein tatsächlich eingebildet hatte. Und aufgeweckt hatte sie vermutlich irgendetwas im Fernseher. Ein Schrei, ein Schuss. Diese Dinge geschahen schließlich in Krimis.
Dennoch, sie würde die Haustür heute gründlich verriegeln, mit Sicherheitskette, was sie sonst nicht tat. Und in allen Räumen im Erdgeschoss die Läden vor den Fenstern schließen.
Das konnte zumindest nichts schaden.
FREITAG, 4. DEZEMBER
1
»Und? Was machst du jetzt so den ganzen Tag?«, fragte Bartek.
Es war laut in dem Pub. Jeder Tisch besetzt, und alle lachten, redeten, tranken. Grölten. Samson ging nicht so gern hierher, aber Bartek bestand immer darauf, und da Bartek sein einziger Freund war, wollte Samson ihn nicht verärgern. Sie trafen sich manchmal freitags, wenn Bartek frei hatte. Früh, meist gegen sechs oder halb sieben. Bartek bekam Stress mit seiner Freundin, wenn er seinen freien Abend ausschließlich mit einem Freund in einer Kneipe verbrachte, daher gingen sie meist spätestens um halb neun wieder nach Hause. Samson war mit dem Auto gekommen, obwohl das bedeutete, dass er nichts trinken konnte. Aber er war ohnehin nie besonders scharf auf Alkohol, und außerdem war es ihm zu umständlich, den Bus zu nehmen. Er hatte wenig Lust, in der Kälte an der Haltestelle zu warten, und nach einem Fußmarsch war ihm noch weniger zumute. Wie üblich hatte er sich den ganzen Tag im Freien herumgetrieben. Irgendwann reichte es.
Das Auto hatte ihm seine Mutter vererbt. Er wusste, dass Millie deswegen sauer war. Immer noch, nach all den Jahren. Sie konnte es nicht verwinden, wenn andere etwas bekamen, was sie selbst eigentlich haben wollte.
»Also, ich sitze nicht dauernd daheim, wenn du das meinst«, entgegnete Samson nun auf Barteks Frage. »Das wäre mir viel zu langweilig. Und außerdem hatte Millie diese Woche immer erst nachmittags Dienst und war den halben Tag zu Hause, und … na ja, du weißt ja. Auf ihre Gesellschaft kann ich gut verzichten.«
Millie arbeitete in einem Pflegeheim für alte Menschen. Samson wusste, dass sie ihren Beruf hasste. Manchmal hörte er, wie sie über ihre Patienten sprach, und dann gruselte es ihn bei der Vorstellung, einmal alt und jemandem wie ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein.
»Dass dir das nicht stinkt«, sagte Bartek, »immer noch bei deinem Bruder und deiner Schwägerin zu wohnen! Dafür bist du doch viel zu alt!«
»Das Haus gehört mir aber auch!«
»Dann lass dir anteilig eine Miete zahlen, aber such dir etwas Eigenes. Du wirst doch da nur schlecht behandelt!«
»Ich habe Angst zu vereinsamen, wenn ich alleine lebe«, sagte Samson leise.
Bartek zog die Augenbrauen hoch. »Wie alt bist du jetzt? Vierunddreißig! Es wäre wirklich mal Zeit für eine Frau, mit der du zusammenlebst! Hast du nicht vor, irgendwann einmal zu heiraten und eine Familie zu gründen?«
Samson nahm einen Schluck von seinem alkoholfreien Bier.
Bartek hatte den heiklen Punkt erwischt. Sie hatten schon früher manchmal darüber gesprochen: heiraten, Kinder in die Welt setzen, ein normales Leben führen. Bartek, der seit Jahren eine feste Freundin hatte, tat sich schwer mit dem Thema. Seine Freundin wollte seit Langem schon heiraten, er selbst, obwohl fast vierzig Jahre alt, fürchtete die feste Bindung. Samson, der nie hatte zugeben wollen, dass seine Probleme ganz anders gelagert waren, hatte sich ebenfalls hinter einer gewissen Bindungsangst verschanzt, die er in Wahrheit gar nicht hegte. Im Gegenteil, nach nichts sehnte er sich so sehr wie nach einer Frau, die ihn heiraten würde. Ein Haus, ein Garten, Kinder, ein Hund … Er hatte das Bild deutlich vor Augen, und oft dachte er, dass er alles geben würde, es Wirklichkeit werden zu lassen. Aber die peinliche — und wie er fand: geradezu perverse — Tatsache war die, dass er überhaupt noch nie eine Freundin gehabt hatte. Weder in der Schulzeit noch danach. Überhaupt nie. Sodass er bislang nicht einmal in die Nähe des Themas Heiraten gelangt war.
»Na ja«, meinte er ausweichend, »es ist ja nicht so, dass man jeden Tag einer Frau begegnet, die man heiraten würde!«
»Also, meine Freundin hat mich jetzt so weit«, sagte Bartek, und er sah dabei nicht ganz unglücklich aus. »Sie hat mir nun wirklich das Messer auf die Brust gesetzt, und vielleicht war das ganz gut so. Im nächsten Sommer wagen wir es. Großes Fest, jeder kommt. Du bist natürlich auch eingeladen!«
»Wie schön«, sagte Samson und versuchte, nicht allzu neidisch zu klingen. Bartek war einfach ein Glückspilz. Immer, in jeder Hinsicht. Sie hatten einander kennengelernt, als Samson noch nicht Tiefkühlkost ausgefahren, sondern für einen Limousinenservice gearbeitet hatte. Bartek war dort ebenfalls angestellt gewesen, und im Unterschied zu Samson hatte er keine Kündigung bekommen. Einer wie Bartek wurde nicht entlassen. Ihn mochten die Menschen zu sehr, angefangen vom Chef über die Angestellten bis hin zu den Kunden. Bartek hatte immer viele gezielte Anfragen bekommen, wenn ein Wagen gebucht wurde. Können wir Bartek haben? Können wir diesen total netten Polen haben?
Bartek sprach perfekt Englisch, hatte aber einen charmanten osteuropäischen Akzent, der besonders bei Frauen gut ankam. Er verstand es, die Leute zu unterhalten, indem er einfach ein paar — zumeist wild erfundene — Geschichten aus seinem Leben berichtete und damit oft atemlose Spannung erzeugte.
Samson, der nächtelang wach lag und sich mit der Frage herumschlug, weshalb er von den Frauen beharrlich übersehen und bei jeder Kündigungswelle als Erster erfasst wurde, hatte oft überlegt, ob es daran lag: an seiner eigenen geradezu grotesk langweiligen Biografie. Was hatte er Interessantes zu erzählen? Oder an seinem Namen. Wer hieß schon Samson? Wenn er seinen verstorbenen Eltern etwas nicht verzieh, dann den Umstand, dass sie ihm diesen Namen gegeben hatten. Seine Mutter hatte während der Schwangerschaft ein Buch gelesen, in dem ein Samson vorkam, und sie hatte den Namen toll gefunden. Samsons zwei Jahre älterer Bruder hatte mehr Glück gehabt. Gavin konnte man heißen, ohne dass man deswegen die ganze Schulzeit hindurch gehänselt wurde.
»Du musst mehr unter Menschen gehen«, sagte Bartek, »sonst findest du nie die Frau fürs Leben. Was machst du noch mal den ganzen Tag? Wenn du nicht daheim sitzt?«
Ich habe noch gar nicht erwähnt, was ich tagsüber mache, dachte Samson gereizt. Bartek hörte ihm manchmal nicht richtig zu. Na ja, es war ja auch nie sehr beeindruckend, was er zu berichten hatte.
Kurz überlegte er, ob es ratsam war, sich Bartek anzuvertrauen, aber er hätte so gerne mit jemandem gesprochen, und außer Bartek gab es niemanden. »In gewisser Weise«, sagte er geheimnisvoll, »gehe ich den ganzen Tag unter Menschen.«
»Ja? Was machst du?«
»Ich schaue mir das Leben anderer Menschen an.«
»Hä?«, machte Bartek.
»Ich laufe durch die Straßen. Immer zu bestimmten Zeiten. Und es ist sehr interessant… also, man findet eine Menge über die Menschen in der eigenen Umgebung heraus. Wie sie so leben. Ob sie allein sind oder eine Familie haben. Ob sie glücklich oder unglücklich sind. So etwas eben.«
Samson dachte plötzlich, dass er wahrscheinlich einen Fehler begangen hatte. Es war idiotisch gewesen, sich Bartek gegenüber zu öffnen. Er konnte es am Gesichtsausdruck des Freundes erkennen.
»Heißt das, du beschattest andere Leute regelrecht?«, fragte Bartek nach einer Weile, in der er offenbar versucht hatte, das Gehörte zu sortieren.
»Ich analysiere sie«, erklärte Samson.
»Wie — du analysierst sie? Was meinst du damit?«
»Ich versuche Dinge über sie herauszufinden. Warum jemand zum Beispiel alleine ist. Und wie er damit umgeht.«
»Und was bringt dir das?«
»Erkenntnisse.«
»Ja, aber wozu? Ich meine, was genau willst du eigentlich dabei herausfinden?«
Samson erkannte, dass es zwecklos war. Bartek würde ihn nicht verstehen. Vielleicht war das alles aber auch nicht zu verstehen.
»Also, ich bin zum Beispiel ja auch allein«, versuchte er es dennoch zu erklären, »und ich beschäftige mich viel mit der Frage, warum das so ist. Und da versuche ich herauszufinden, weshalb es anderen auch so geht wie mir.«
»Ja, aber sei mir nicht böse, das ist doch eine komplett … ja, irgendwie gestörte Methode! Warum gehst du nicht ins Internet? Da tummeln sich Tausende, die dasselbe Problem haben wie du. Da gibt es unzählige Foren, in denen du dich austauschen kannst.«
»Das mache ich ja auch«, gab Samson zu. »Aber es ist letztlich so anonym. Oft fühle ich mich doppelt einsam, wenn ich einen ganzen Nachmittag lang mit einem Typen gechattet habe, der fünfhundert Meilen von mir entfernt lebt und den ich gar nicht kenne, der aber zufällig auch keine Frau findet.«
»In der Hauptsache geht es bei dir aber schon um den Wunsch, eine Frau zu finden?«
»Ja. Auch darum.«
»Dann denkst du, du findest eine junge alleinstehende Frau, indem du durch die Straßen streunst und in fremde Häuser spähst?«, fragte Bartek, der sich offenbar bemühte, in eine ihn grotesk anmutende Situation eine gewisse Struktur und Logik zu bringen.
»Nicht direkt.«
»Ja, zum Teufel, was bringt es dir denn dann?«
Samson zuckte mit den Schultern. »Ist doch egal.«
»Nein, ist es nicht. Sei mir nicht böse, Samson, aber für mich klingt das ganz schön schräg. Wenn du mich fragst … dir bekommt es nicht, arbeitslos zu sein. Du fängst an, seltsame Marotten zu entwickeln.«
»Ich habe mir meine Arbeitslosigkeit nicht ausgesucht.«
»Nein, natürlich nicht. Aber bemühst du dich denn, etwas Neues zu finden? Du bist doch noch jung! Notfalls fährst du eben Taxi … irgendetwas. Aber den ganzen Tag lang hinter anderen Leuten herzuschleichen, also, das bringt doch nichts!«
»Es ist interessant.«
Bartek schüttelte den Kopf. »Gott, Samson, also wirklich … Hast du denn wenigstens schon eine Frau entdeckt, die zu dir passen könnte? Damit das alles irgendwann einmal zu irgendetwas führt?«
Samson musste zugeben, dass sich seine Ausbeute an jungen, alleinstehenden Frauen in Grenzen hielt. »Die meisten sind natürlich älter. Deutlich älter als ich. Eine gehört zu … zu meinem Programm. Sie hat mein Alter und lebt offensichtlich alleine. Arbeitet freiberuflich von zu Hause aus und hat einen großen Hund.«
»Ja und? Hast du sie mal angesprochen?«
Samson merkte, dass Bartek tatsächlich nichts verstand. Die Frauen, die er beschattete, würde er nicht ansprechen. »Nein.«
»Lade sie doch mal auf einen Kaffee ein.«
»Kann ich machen«, sagte Samson, aber er wollte nur, dass Bartek Ruhe gab.
»Man kann auch über das Internet Frauen finden«, sagte Bartek.
»Ich weiß, aber …«
»Nichts aber. Du darfst nicht immer nur reden. Und träumen. Du musst es machen!«
»Es gibt da eine Familie«, erzählte Samson zögernd. Eigentlich wollte er Bartek nicht noch tiefer ins Vertrauen ziehen, aber er hatte plötzlich das Gefühl, den Eindruck verwischen zu müssen, er habe es ausschließlich auf Frauen abgesehen. Bartek schien doch ziemlich schockiert, und das wollte er so nicht stehen lassen. Er mochte von seinem einzigen Freund nicht für eine Art Triebtäter gehalten werden. »Sie wohnt am anderen Ende unserer Straße … gleich an diesem Grünstreifen, gegenüber vom Golfclub.«
»Aha. Und was ist mit denen?«
»Er ist Wirtschaftsberater. Hat Gavin mal geholfen. Sie ist sehr attraktiv. Und dann haben sie noch eine bezaubernde Tochter. Etwa zwölf Jahre alt.«
Bartek sah nicht weniger perplex drein als zuvor. »Ja, und was willst du mit denen? Die attraktive Mummie für dich abstauben oder was?«
»Nein. Nein, natürlich nicht. Sie sind nur … sie sind so perfekt, weißt du. Eine Traumfamilie. Die Familie, die ich einmal haben möchte!«
Bartek wirkte nun ernsthaft beunruhigt. »Samson, ich habe den Eindruck, dass du dich zu sehr von der Realität entfernst. Du träumst dich in das Leben anderer Menschen hinein, aber so änderst du dein eigenes kein bisschen. Mir kommt das alles wie eine Flucht vor!«
Und wenn, dachte Samson, braucht man das nicht manchmal? Die Möglichkeit zu fliehen?
»Ich komme schon klar«, versicherte er. Warum hatte er bloß von all dem angefangen? Er hatte das sichere Gefühl, dass sich Bartek nun wie ein Terrier in das Thema verbeißen und immer wieder davon anfangen würde.
»Ich werde mal sehen, ob wir etwas für dich arrangieren können«, sagte Bartek. »Irgendwo muss es doch eine Frau für dich geben! Du siehst nicht schlecht aus, dir gehört ein Haus … na ja, immerhin zur Hälfte … du bist nicht dumm und hast keine abstoßenden Eigenschaften. Es wäre doch gelacht, wenn …«
»Ich bin arbeitslos.«
»Deswegen wäre es natürlich auch wichtig, dass du dich ernsthaft um Arbeit kümmerst.«
»Ich suche ja wie verrückt.« Was nicht stimmte. Samson hatte sich diesmal nicht einmal offiziell arbeitslos gemeldet, und er wusste, dass das ein Fehler war. Vor allem würde es nicht ewig so weitergehen können, denn er bekam auf diese Weise keine Unterstützung, und sein Erspartes würde bald aufgebraucht sein. Aber sowie er sich meldete, musste er Berge von Bewerbungen schreiben, musste ständig Nachweise über seine Bemühungen, Arbeit zu finden, bringen — und wie sollte er das mit seiner anderen Tätigkeit vereinbaren? An vielen Tagen schon hatte er gedacht: Morgen fange ich an, mich um meine Zukunft zu kümmern! Morgen melde ich mich arbeitslos, und dann packe ich das Problem an!
Aber nie hatte er es geschafft. Seine Sehnsucht, weiterhin die Menschen zu beobachten, an deren Leben er so intensiv, viel intensiver, als er es Bartek oder irgendjemandem sonst vermitteln konnte, Anteil nahm, war zu groß. Sein eigenes Leben ohne sie weiterzuführen erschien ihm sinnlos.
»Wenn du dich wirklich bemühst, wirst du auch etwas finden«, sagte Bartek optimistisch, und dann wechselte er zu Samsons tiefer Erleichterung das Thema und wandte sich wieder seinen eigenen Zukunftsplänen zu: der geplanten Hochzeit, seinem Wunsch, für sich und seine Braut eine Eigentumswohnung zu kaufen, dem Problem, dafür einen Kredit zu bekommen, und, und, und … Samson ließ das alles an sich vorbeirauschen. Er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, und seine finanzielle Situation ließ es nicht zu, dass er sich auch nur einen Burger bestellte, das billigste Gericht auf der Karte des Pubs. Aber das machte nichts. Ihm war auf eine angenehme Art etwas schwindelig, und alles ringsum erschien ihm ein wenig gedämpft, konturenlos, angenehm verschwommen: die Stimmen der Menschen, ihr Lachen und Plaudern, das Klirren der Gläser, die kalte Luft, die von draußen in den Raum fegte, wenn jemand kam oder ging. Barteks Gelaber. Alles.
Er dachte an Gillian Ward.
2
Wenn ich nur unauffällig verschwinden könnte, dachte Gillian.
Aber natürlich ging das nicht. Sie konnte nicht aufbrechen ohne Becky, und damit entfiel zumindest jede Möglichkeit eines unauffälligen Abgangs. Die Kinder der verschiedenen Handballgruppen tobten unten auf dem Spielfeld herum, Becky in schwarzen Leggins und pinkfarbenem T-Shirt als eine der Wildesten mitten unter ihnen. Unmöglich, sie dort herauszulösen. Die Eltern, vorwiegend Mütter, saßen in dem von der eigentlichen Sporthalle durch eine Glasscheibe abgetrennten Restaurant, das zum Club gehörte und in dem Vereinssitzungen und Feiern stattfanden. Der Raum war weihnachtlich geschmückt, und von einem CD-Player erklangen Weihnachtslieder. An der Bar konnte man Kaffee, Tee oder Sekt bekommen. Das Essen hatten die Eltern selbst mitgebracht und auf einem langen Tisch ein Buffet aufgebaut. Es gab Unmengen an Weihnachtsplätzchen, Plumpudding und verschiedenen Kuchen, aber auch zahlreiche Salate, zwei Käseplatten, Schüsseln mit Knabbergebäck. Niemals würde das alles aufgegessen werden können. Gillian hatte einen Schokoladenkuchen gebacken und zu den anderen Sachen gestellt, aber noch niemand hatte sich etwas davon genommen, wie sie aus den Augenwinkeln erkennen konnte; ein Umstand, der sie zu ihrer eigenen Überraschung in einen fast kindlichen Kummer trieb. Ihr Kuchen sah nicht schlecht aus. Allerdings gab es noch zwei weitere, nahezu identisch anmutende Schokoladenkuchen, und vielleicht war das der Grund.
Diana hatte in letzter Sekunde abgesagt, weil sich Darcys Halsentzündung verschlimmert hatte, und da Gillian zu niemandem sonst hier je in Kontakt getreten war, hatte sie die erste halbe Stunde völlig allein herumgesessen, hatte sich an ihrer Kaffeetasse festgehalten und ohne jeden Appetit ein paar Kekse gegessen; irgendetwas musste sie schließlich tun, wenn sie nicht nur sinnlos an die Wand starren wollte. Alle anderen Mütter schienen miteinander befreundet zu sein, denn es herrschte ein schier undurchdringliches Gewirr aus Rufen, Lachen und Reden. Jeder fühlte sich aufgehoben, jeder war glücklich.
Jeder außer Gillian.
Schließlich hatte sich eine Mutter neben sie gesetzt, aber dies nur deshalb, weil sie später gekommen war und keinen anderen Platz fand. Sie stellte ein Tablett vor sich auf den Tisch, beladen mit verschiedenen Salatsorten, Käse und einem großen Glas Sekt.
»Gott, habe ich Hunger«, sagte sie und fügte mit einem Blick auf Gillians leere Kaffeetasse und den Unterteller mit zwei angenagten Weihnachtsplätzchen darauf hinzu: »Sie nicht?«
»Nicht so richtig«, sagte Gillian.
Die andere musterte sie. »Sie sind Gillian, stimmt’s? Die Mutter von Becky?«
Gillian nickte und fragte sich, weshalb die anderen Frauen das immer wussten. Wie man hieß und wer die Mutter von wem war. Sie selbst hatte keine Ahnung, wem sie welches Kind zuordnen sollte.
Die andere Mutter begann eifrig zu essen und dabei ausgiebig von ihrem Sohn zu erzählen, der sich seit frühester Kindheit mit Neurodermitis herumschlug und auch sonst mit Allergien und jeder Menge Nahrungsmittelunverträglichkeiten zu kämpfen hatte. Sie war mit ihm bei allen nur denkbaren Ärzten gewesen, hatte alles ausprobiert, riet von Cortison aufgrund eigener schlechter Erfahrungen dringend ab, konnte aber Salben und Globuli empfehlen und kannte sich überhaupt auf dem ganzen Gebiet hervorragend aus.
»Hat Becky auch Allergien?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Gillian und schluckte die Antwort hinunter, die ihr eigentlich auf der Zunge lag: Mir scheint, sie ist allergisch gegen mich. In der letzten Zeit gibt es kaum noch ein gutes Wort zwischen uns. Ich wünschte, es wäre etwas anderes, eine Allergie gegen Gräserpollen, Hausstaubmilben oder Lactose. Ich wüsste dann einen Ansatz. So aber habe ich gar keinen.
Sie sagte es nicht, spürte aber, wie dicht sie davor gestanden hatte, den Worten freien Lauf zu lassen, und erschrak darüber. Das hier war eine wildfremde Frau, mit der sie nichts anderes verband als die Tatsache, dass ihre beiden Kinder in derselben Handballmannschaft spielten, und um ein Haar hätte sie ihr den Kummer anvertraut, von dem sie in den letzten Wochen das Gefühl hatte, er werde ihr das Herz brechen.
Reiß dich zusammen, befahl sie sich. Sie beschloss, am späteren Abend ihre Freundin Tara Caine anzurufen. Tara war treu und zuverlässig, und Gillian wusste, dass sie nichts von dem, was sie erfuhr, weitertratschte.
Die andere Mutter — deren Namen Gillian noch immer nicht kannte — nahm einen tiefen Schluck von ihrem Sekt und wechselte endlich das Thema. »Sieht Burton nicht wieder fantastisch aus?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.
Gillian suchte den Raum ab und entdeckte John Burton, den Trainer, der inmitten einer Traube von Müttern am Bartresen lehnte und vermutlich Rede und Antwort zu den Fortschritten der Kinder stehen musste. Wenn ihn die Situation stresste, so war ihm das nicht anzumerken. Allerdings war sie für ihn auch nicht ungewöhnlich. Gillian sah jedes Mal, wenn sie Becky zum Training brachte oder abholte, wie die Frauen ihn umlagerten. Das mochte damit zusammenhängen, dass sie tatsächlich über jedes noch so unbedeutende Vorkommnis in der Mannschaft informiert sein wollten. Zweifellos hatte es aber auch mit Burtons Wirkung auf Frauen zu tun. Er sah gut aus, aber vor allem umgab ihn die Aura einer geheimnisvollen Vergangenheit: Es hieß, er sei bei der Polizei gewesen und habe dort eine Blitzkarriere hingelegt, sei aber bereits im Alter von siebenunddreißig Jahren unter mysteriösen Umständen, deren Hintergrund niemand herausfand, dort ausgeschieden. Er hatte dann eine private Wachgesellschaft gegründet, beschäftigte gut zwei Dutzend Mitarbeiter und organisierte hauptsächlich Gebäudewachdienste und Personenschutz. Er lebte und arbeitete in London, kam jedoch zweimal in der Woche hinaus nach Southend, um zwei Jugendmannschaften im Handball zu trainieren; einige Spieler hatte er sich bewusst aus sozialen Brennpunkten der Stadt zusammengesucht. Er hielt Sport, insbesondere einen Mannschaftssport, für die effektivste präventive Maßnahme, das Abgleiten gefährdeter Jugendlicher in die Kriminalität zu unterbinden. Gillian hatte einmal zufällig gehört, wie er dies einigen Müttern erklärte, die atemlos an seinen Lippen hingen. Besonders für die Frauen aus gutbürgerlichem Milieu war er ein Held, ein Retter, ein Kämpfer. Gillian konnte sich vorstellen, wie sehr sie ihn romantisierten.
Vermutlich, dachte sie, ist er in Wahrheit überhaupt nicht das, was sie in ihm sehen.
Aber sie musste zugeben, dass er attraktiv war. »Ja«, antwortete sie daher schließlich, »er sieht schon ziemlich gut aus.«
»Ziemlich gut? Ich muss immer aufpassen, keine unanständigen Fantasien zu entwickeln, wenn ich ihn sehe. Komisch, dass einer wie er keine Frau hat.«
»Vielleicht hat er jede Menge Verhältnisse.«
»Aber eines seiner Verhältnisse würde dann doch mal hier aufkreuzen. Mal zuschauen oder ihn abholen oder irgendetwas. Es ist schon merkwürdig. Ich habe ihn noch nie mit einer Frau zusammen gesehen.«
»Er will sein Privatleben eben hier nicht ausbreiten«, meinte Gillian. Sie konnte das gut verstehen. Die Weiber hier sind wie die Geier, dachte sie.
»Ich finde das trotzdem seltsam«, beharrte die andere. »Wie so manches an ihm.«
Gillian wollte nicht wissen, was sie damit meinte, und erwiderte nichts, was ihre Nachbarin natürlich nicht davon abhielt, dennoch ihre Ansichten darzulegen.
»Ich wüsste schon gerne, wieso er bei der Polizei gehen musste. Er war bei Scotland Yard! Das ist eine Karriere, die wirft man ja wohl kaum freiwillig hin! Und dann seine Trainerstunden hier bei uns. Er lebt in London. Warum also der Weg bis hierher nach Southend? Vielleicht wollte kein Londoner Sportclub ihn haben. Warum wohl?«
Gillian hatte den Eindruck, dass sie es nicht aushalten würde, nach der Krankengeschichte des Sohnes nun auch die detaillierte Meinung der fremden Frau zum Privatleben des Trainers anzuhören. Sie schaute in das selbstzufriedene Gesicht mit den groben Zügen und stand abrupt auf.
»Entschuldigung. Ich muss unbedingt eine Zigarette rauchen.« Sie versuchte, ihren Ausbruch aus dem Gespräch etwas weniger unhöflich wirken zu lassen. »Es ist ein Fluch mit dieser Sucht …«
Lieber Gott, lass sie bloß nicht auch Raucherin sein und mitkommen …
Die andere lächelte säuerlich. Sie war beleidigt, das war deutlich zu spüren.
Gillian dachte daran, was Tom jetzt sagen würde. Siehst du, deshalb bleibst du immer allein! Wenn mal jemand versucht, sich dir zu nähern, wird er sogleich abgeschmettert.
Sie drängte sich durch den Raum, atmete auf, als sie in der Garderobe stand. Ruhe. Gedämpft klangen die Stimmen durch die Tür. Gillian strich sich über die Stirn. Sie fühlte sich heiß an.
Es dauerte volle fünf Minuten, bis sie ihren Mantel unter den Bergen anderer Mäntel gefunden und angezogen hatte. Dann trat sie hinaus in den dunklen Abend, es war kalt, aber nicht mehr so windig wie in den letzten Tagen. Vom Fluss zog Nebel heran. Wie ein kaltes, feuchtes Tuch legte er sich um ihren Kopf. Sie kramte eine Zigarette hervor, zündete sie an, nahm die ersten Züge hastig hintereinander. Wie immer hatte das Nikotin eine entspannende Wirkung auf sie, obwohl sie natürlich sofort Schuldgefühle empfand. Tom hasste es, wenn sie rauchte, und mit jedem Argument, das er dagegen vorbrachte, hatte er recht. Wie immer würde sie sich zu Silvester vornehmen, endgültig damit aufzuhören.
Wie immer würde sie scheitern.
Mit dem linken Zeigefinger massierte sie sich sanft die Schläfe. Die Luft in dem Raum war fürchterlich gewesen, das fiel ihr jetzt erst richtig auf. Undenkbar, zurückzugehen.
Ich drücke mich eine halbe Stunde hier draußen herum, dann sage ich Becky, dass wir gehen müssen, beschloss sie. Ein weiterer Minuspunkt natürlich für sie. Vielleicht sollte sie sich gar nicht so sehr darüber wundern, dass ihre Tochter nicht mit ihr klarkam. Vielleicht quälte sie Becky mit ihrer seltsamen Art viel mehr, als es ihr bewusst war.
Gerade als sie ihre Zigarette in einem leeren Blumenkübel ausdrückte, sah sie John Burton aus der Tür treten. Er hatte sich eine schwarze Jacke angezogen und einen Schal um den Hals geschlungen. Er lächelte, als er sie sah.
»Tun Sie dasselbe wie ich?«, fragte er. »Ihre Lungen malträtieren?«
Sie nickte. »Ich fürchte, ja. Außerdem …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, weil sie ihn nicht kränken wollte, aber er schien zu verstehen, was sie sagen wollte.
»Außerdem ist es eine gute Gelegenheit, dem allen«, er machte eine Kopfbewegung zu der Sporthalle hin, »zu entkommen. Unerträglich.«
»Das finden Sie auch?«, fragte sie überrascht.
Er kramte ein Zigarettenpäckchen hervor, hielt es ihr hin, und sie nahm sich eine Zigarette. Während er sich selbst eine Zigarette in den Mundwinkel klemmte, versuchte er sein Feuerzeug in Gang zu bringen, aber die winzige Flamme verlosch immer wieder zitternd, noch ehe man mit ihr etwas hätte anfangen können. Burton fluchte. Gillian zog ihr Feuerzeug hervor, gab ihm und sich Feuer.
»Danke«, sagte er.
Sie rauchten schweigend. Schließlich sagte er: »Ich habe Sie hinausgehen sehen. Sie wirkten wie jemand, der auf der Flucht ist.«
»Ich hatte gehofft, dass man das nicht bemerkt«, sagte Gillian.
»Außer mir hat es wahrscheinlich auch niemand bemerkt. Die achten nicht auf andere, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Aber ich hatte die ganze Zeit über den Eindruck, dass Sie sich nicht besonders wohl fühlen.«
Gillian schluckte. Es war erstaunlich, was eine verständnisvolle Bemerkung, ein mitfühlender Tonfall auslösen konnten. Sie hatte das Gefühl, dass plötzlich Tränen in ihr aufstiegen. Was natürlich schrecklich wäre. Sie hätte es furchtbar peinlich gefunden, an diesem nebligen Winterabend neben dem Handballtrainer ihrer Tochter vor der Sporthalle zu stehen und zu heulen.
»Ich bekam die ganze Krankengeschichte eines Jungen erzählt«, sagte sie, »in allen Details. Jede Menge Allergien. Die Frau war sehr eindringlich. Irgendwann hämmerte es nur noch in meinem Kopf. Vielleicht habe ich deshalb einen etwas gequälten Eindruck gemacht.«
»Ja, das war die Mutter von Philip«, erklärte John, »ein sehr netter, aufgeweckter Junge. Meiner Ansicht nach hat er überhaupt keine Allergien. Er hat diese Mutter, und das ist sein ganzes Problem.«
Er sagte das so trocken und sachlich, dass Gillian plötzlich lachen musste. Sie war über sich selbst erstaunt. So komisch waren seine Worte nun auch nicht gewesen. Aber das Lachen kam tief aus ihrem Inneren, entstand irgendwo in ihrem Bauch und drängte sprudelnd nach oben. Sie lachte befreit und lebhaft und dachte, dass sie ewig nicht mehr wirklich gelacht hatte, so ganz aus der Tiefe heraus, aber zugleich war ihr klar, dass etwas nicht stimmte, weil sie heftiger lachte, als es der Situation angemessen war, dass sie dicht davor war, hysterisch zu werden, und es schien ihr auch, als blicke John Burton sie erstaunt an.
»Aber nicht doch, was ist denn?«, fragte er und legte die Hand auf ihren Arm, und da erkannte sie, dass sie nicht mehr lachte, sondern weinte, und dass sie überhaupt nicht bemerkt hatte, wie das eine in das andere übergegangen war. Die Tränen strömten ihr über das Gesicht, dessen Haut sich schon vorher feucht angefühlt hatte vom Nebel und die nun nass und salzig wurde.
»Ich weiß nicht«, stieß sie hervor, »Entschuldigung … ich weiß nicht …«
Entsetzt stellte sie fest, dass sie nicht aufhören konnte zu weinen.
»Oh Gott«, stöhnte sie.
Kurz entschlossen drückte Burton seine Zigarette aus, nahm auch Gillian die Zigarette aus der Hand und versenkte sie im Blumenkübel. Dann umfasste er ihren Arm.
»Kommen Sie. Bevor andere Sie hier draußen sehen … Sie möchten denen sicher nicht das Futter für einen monatelangen Tratsch liefern.«
Sie konnte nichts sagen, nur den Kopf schütteln. Willenlos ließ sie sich von ihm über den Parkplatz führen, stieg in ein Auto, dessen Tür er für sie geöffnet hatte. Sie registrierte, dass er von der anderen Seite einstieg und neben ihr saß. Sie weinte noch immer, aber es gelang ihr zumindest, ihre Handtasche zu öffnen und nach einem Taschentuch zu kramen.
»Es tut mir so leid«, schluchzte sie.
Burton schüttelte den Kopf. »Hören Sie auf, sich zu entschuldigen. Ich habe Sie den Abend über beobachtet und gesehen, wie unglücklich Sie waren, und wissen Sie, was ich dachte?«
»Nein.«
»Ich dachte: Irgendwann fängt sie an zu weinen. Und ich hatte gehofft, dass Ihnen das nicht da drinnen passiert. Letztlich ist es mir jetzt hier in meinem Auto lieber.«
Sie fand endlich ein Taschentuch, schnäuzte sich die Nase. Die Tränen liefen noch, aber der Ausbruch wilder, ungebremster Verzweiflung war vorüber.
»Mir ist das, ehrlich gesagt, auch lieber«, sagte sie, »vielen Dank.«
»Geht’s wieder?«
»So einigermaßen. Aber ich kann da jetzt nicht rein.«
Burton überlegte. »Es gibt hier in der Nähe ein Pub. Wenn Sie mögen, können wir dort einen Schnaps trinken. Das hilft manchmal.«
»Gute Idee. Ich hoffe, ich bin Ihnen nicht zu lästig.«
Er ließ den Motor an und steuerte den Wagen aus der Parklücke. »Glauben Sie, ich habe große Lust auf die Gesellschaft da drinnen?«
»Schwer vorstellbar.«
»Eben.«
Ein paar Minuten später erreichten sie das Halfway House. Es lag an der Eastern Esplanade, gleich am Strand und mit direktem Blick auf den Fluss, den man jetzt in Dunkelheit und Nebel jedoch nur ahnen konnte. Die Fenster waren hell erleuchtet, und es klang Musik nach draußen.
»Nicht das Beste, was die Stadt zu bieten hat«, sagte Burton, als sie ausstiegen, »aber dafür gleich in der Nähe. Und Sie treffen vermutlich niemanden, den Sie kennen.«
Stimmengewirr und lautes Gelächter schlugen ihnen entgegen. Gillian gewahrte einen Raum voller Menschen, eine Bar, etliche Tische und Stühle. Es gab keine Bilder an den weißgekalkten Wänden, keine Pflanzen vor den Fenstern. An Nüchternheit war dieser Ort kaum zu überbieten, was seiner Beliebtheit keinen Abbruch zu tun schien. Im Publikum mischten sich alle Altersgruppen, allerdings erkannte Gillian, dass John recht gehabt hatte: Es war nicht der Ort, den Tom aufgesucht hätte. Oder sonst jemand aus ihrem Bekanntenkreis.
Burton entdeckte einen freien Tisch mit zwei Stühlen und bahnte den Weg durch die Menge. »Was möchten Sie trinken?«
»Irgendeinen Schnaps. Am besten einen doppelten.«
Er nickte und drängte sich in Richtung Bar, während Gillian ihren Mantel auszog, ihn über die Stuhllehne hängte und sich setzte. Es tat gut, hier zu sein. Gut, sich ausgeheult zu haben. Sie nahm ihren Handspiegel aus der Tasche und begutachtete ihr Gesicht. Sie sah ziemlich verweint aus, hatte eine fleckige Haut, geschwollene Augenlider. Eine rote Nase.Das hatte sie wieder einmal gut hinbekommen. Typisch Gillian. Schaffte es, mit einem wirklich begehrenswerten Mann in einer Kneipe zu landen, aber sah dabei aus wie ein verheultes Schulmädchen. Genau genommen wäre das Schulmädchen noch die bessere Variante gewesen.
Ich sehe mindestens zehn Jahre älter aus, als ich bin, dachte sie resigniert, und wirklich nur wie eine Frau, mit der man Mitleid haben kann.
Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen in der Hoffnung, den Eingang zur Toilette zu entdecken. Vielleicht würde ihr ein wenig kaltes Wasser im Gesicht helfen. Wegen der vielen Menschen, die zumeist in Gruppen beieinanderstanden, war es schwierig, die örtlichen Gegebenheiten genau zu erkunden. Ihre Augen blieben plötzlich an einem Mann hängen, der ihr bekannt vorkam. Jünger als sie, höchstens Mitte dreißig. Er saß mit einem anderen Mann vor einem Bierglas und starrte zu ihr hinüber. Gillian war sicher, dass sie ihn kannte, brauchte aber einige Sekunden, um ihn einordnen zu können. Dann fiel es ihr ein: Er wohnte in derselben Straße wie sie, nur ganz am anderen Ende. Zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwägerin. Den Bruder hatte Tom einmal in einer Nachlassgeschichte beraten und nachher gesagt, es handele sich um etwas eigenartige Leute. Unsicher lächelte sie zu ihm hinüber. Na wunderbar! So viel zu dem Thema, dass sie hier bestimmt keine Bekannten treffen würde. So konnte man sich irren. Nun saß sie völlig verweint mit einem Mann, der nicht ihr eigener war, an einem Freitagabend in einer Kneipe und traf prompt auf einen Nachbarn. Manchmal waren die Dinge wirklich wie verhext.
Der junge Mann lächelte schüchtern zurück. Er wirkte erstaunt. Wahrscheinlich konnte man ihm das nicht verdenken.
John Burton kehrte an den Tisch zurück, bewaffnet mit zwei großen Schnapsgläsern. »Ging nicht schneller«, sagte er bedauernd und nahm ihr gegenüber Platz. »Haben Sie sich schon akklimatisiert?«
»Ja. Und festgestellt, dass ich wirklich furchtbar aussehe. Tut mir leid.«
»Wir hatten uns doch geeinigt, dass Sie sich nicht mehr entschuldigen.« Er hob das Glas. »Auf Ihr Wohl!«
Sie nahm einen tiefen Schluck. Und dann gleich noch einen. Der Schnaps brannte in ihrer Kehle, sandte Hitzewellen durch ihren Magen. Wahrscheinlich war es falsch, ihn zu trinken. Vor allem in dieser Menge. Das war kein doppelter Schnaps, das war mindestens ein vierfacher. Und sie hatte den Tag über wenig gegessen. Sie würde nachher ihre Tochter abholen und mit ihr im Auto nach Hause fahren und dabei angetrunken sein, aber sie schob ihre Bedenken zur Seite und nahm den nächsten Schluck. Für den Augenblick wollte sie nur die Entspannung, die der Alkohol ihr gab. Den Abstand zu allen Dingen. Zu den Sorgen und Ängsten und zu ihrer Traurigkeit.
»Möchten Sie… möchten Sie über Ihren Kummer reden?«, fragte John nach einer Weile.
Warum eigentlich nicht?
»In wenigen Worten«, sagte sie, »meine Tochter lehnt mich ab, weil sie sich von mir gegängelt und bevormundet fühlt, und mein Mann nimmt mich nicht mehr wahr. Wahrscheinlich also einfach das Übliche.« Sie versuchte zu lachen.
John Burton stimmte nicht ein, sondern blickte sie nachdenklich an. »Über Ihren Mann kann ich nichts sagen. Aber Ihre Tochter kenne ich zumindest ganz gut. Ich mag Becky. Sie ist sportlich, ehrgeizig und hat Teamgeist. Sie ist stark und unabhängig im Wesen. Klar, sie ist auch eigenwillig und manchmal schwierig. Aber möglicherweise macht sie gerade eine problematische Phase durch und verletzt dabei vor allem den Menschen, der ihr am nächsten steht. Sie sollten sich nicht zu viele Sorgen machen: Das kommt alles wieder in Ordnung.«
Überrascht von der Klarheit, mit der er das sagte, fragte sie: »Sicher?«
Er nickte. »Darauf würde ich wetten.«
»Danke«, sagte sie, fasziniert davon, dass er es tatsächlich geschafft hatte, ihr mit wenigen Sätzen ein Gefühl größerer Leichtigkeit zu verschaffen. Es war nicht so, dass alles schlagartig in Ordnung gekommen wäre, aber es ging ihr zweifellos besser. Er hatte sie ernst genommen und dennoch versucht, sie zu trösten. Anders als Tom, der meistens behauptete, sie bilde sich etwas nur ein. Anders als Tara, die sofort so komplizierte psychologische Zusammenhänge entwarf, dass einem ganz schwindelig wurde. Anders als Diana, die jedes Mal, wenn Gillian klagte, nur beteuerte, wie glücklich sie mit ihren eigenen pflegeleichten Töchtern war.
Zum ersten Mal hatte Gillian den Eindruck, dass ihr jemand wirklich geholfen hatte.
»Sie verstehen eine Menge von Kindern«, meinte sie.
»Ich verstehe etwas von Sport. Und man erfährt viel über Menschen, die man in Ausübung eines Mannschaftssports beobachtet. Egal, ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene. Im Grunde verhalten sie sich alle dabei wie im richtigen Leben.«
Sie sah ihn interessiert an. »Stimmt es eigentlich, dass Sie bei Scotland Yard waren?«
Sein Gesicht verschloss sich. »Ja.«
Es war klar, dass er über seinen Beruf und vor allem über die Umstände, die zu seinem Ausstieg geführt hatten, nicht reden würde. Daher gab Gillian dem Thema eine andere Richtung. »Was sagen Sie zu diesem schrecklichen Verbrechen? Das an der älteren Frau in Hackney?«
»Ich kann wenig dazu sagen. Ich weiß nicht mehr als das, was in den Zeitungen steht.«
»Aber Sie hatten mit so etwas beruflich zu tun.«
»Ja. Aber ich kann diesen Fall nicht beurteilen. Die Polizei lässt nichts darüber verlauten, wie das Opfer umgebracht wurde. Vermutlich also auf eine ungewöhnliche Weise, die man bewusst zurückhält, um es bei der Überführung des Täters leichter zu haben. Ich habe nur gelesen, dass sie weder beraubt noch vergewaltigt wurde. Es ging also nicht um Geld, und es ging, zumindest vordergründig, nicht um Sex.«
»Vordergründig?«
»Sollte sie auf eine besonders sadistische Art getötet worden sein, könnten sexuelle Motive eine Rolle gespielt haben.«
»Glauben Sie, dass es wieder passieren wird? Dass es ein nächstes Opfer gibt?«
»Möglich. Es ist ja nicht klar, worin das Motiv besteht. Vielleicht war es ein persönliches Problem zwischen Täter und Opfer, aber auch dann ist ein Mensch, der so etwas anrichtet, natürlich eine tickende Zeitbombe. Denn es ist zweifellos nicht der übliche Weg, Zerwürfnisse oder Streitigkeiten zu bereinigen.«
»Es macht einem Angst«, sagte Gillian. »Immer, wenn ich solche Dinge lese, denke ich, es ist ein Wunder, wenn man halbwegs unbeschadet durchs Leben kommt.«
»Es wird sich aufklären. Die meisten Verbrechen werden irgendwann aufgeklärt.«
»Aber nicht alle.«
»Nicht alle«, gab er zu.
Sie wagte einen Vorstoß. »Sind Sie deshalb weggegangen? Von der Polizei, meine ich? Weil es unerträglich war, pausenlos mit schrecklichster Gewalt konfrontiert zu werden und hinterher nicht immer für Gerechtigkeit sorgen zu können?«
Wieder bekam sein Gesicht den verschlossenen Ausdruck. »Es gab eine Menge Gründe«, sagte er ausweichend, dann trank er sein Glas leer und blickte auf die Uhr. »Ich fürchte, wir müssen in den Club zurück. Nicht, dass es mich allzu sehr dorthin zieht, aber wenn die merken, dass wir beide fehlen, kommen sie noch auf dumme Gedanken.«
Ihr wurde klar, dass sie ihn anstarrte. Nicht einfach nur anschaute, wie man einen Gesprächspartner anschaut, sondern sich fast an ihm festsaugte. Die vielen Menschen ringsum, die Geräuschkulisse schienen in den Hintergrund getreten; sie waren noch da, aber etwas hatte sich wie eine dünne Wand zwischen Gillian und John und den Rest der Welt geschoben.
Es muss am Schnaps liegen, dachte sie, ich wusste ja, es ist zu viel.
»Welche Gedanken denn?«, fragte sie und erschrak selbst im nächsten Augenblick über den herausfordernden Klang in ihrer Stimme. Es war nicht ihre Art zu flirten. Sie tat das nicht, und sie hatte es nie getan. Sie fand, dass man zu leicht dümmlich dabei wirkte.
»Ich denke, das wissen Sie«, sagte John und stand auf. Er war auf ihren Ton nicht eingegangen, und sie hatte das deutliche Gefühl, dass er verärgert war. Zumindest genervt. Vielleicht empfand er sie als plump. Vielleicht war sie ihm auch zu nahegetreten, als sie ihn nach seinem früheren Beruf gefragt hatte. Auf jeden Fall gab es die Wand nicht mehr, die Wand, die sie beide für kurze Zeit ganz allein hatte sein lassen. Sie waren wieder Teil der überfüllten Kneipe, der gedrängt stehenden Menschen, der unzähligen Stimmen; Teil des Gelächters, des Gläserklirrens, des Geruches nach Alkohol, Schweiß und feuchten Mänteln.
Als sie hinausdrängten, kamen sie dicht an dem Tisch vorbei, an dem der Mann aus Gillians Straße saß, und jetzt fiel ihr sein Name wieder ein: Segal. Samson Segal.
»Auf Wiedersehen«, sagte sie.
Er nickte ihr zu, fixierte sie mit seinem Blick. Genauso wie zu Anfang, als sie ihn entdeckt hatte.
Beklommen fragte sie sich, ob das die ganze Zeit über so gewesen war.
Ob er sie die ganze Zeit über so angestarrt hatte.
SAMSTAG, 5. DEZEMBER
1
Es war Samstag, aber darum scherten sich Ermittlungsarbeiten selten.
Detective Inspector Fielder hatte seiner Frau versprochen, mit ihr in die Stadt zu gehen und ein paar Weihnachtseinkäufe zu erledigen, aber dann war er noch einmal an den Tatort gerufen worden, an dem Carla Roberts auf so schreckliche Weise ihr Leben gelassen hatte, und es wurde ihm klar, dass er seine Frau enttäuschen musste. In diesen Ermittlungen kam es jetzt auf jede Stunde an. Die zusammengepressten Lippen, mit denen seine Frau auf seine Bitte um Verständnis reagierte, ließen nichts Gutes ahnen: Es würde ein schwieriges Wochenende werden. Mit mindestens einer Grundsatzdebatte. Die nichts ändern würde.
Seine Mitarbeiter hatten das Haus durchkämmt, in dem Carla Roberts ermordet worden war. Mit den Bewohnern gesprochen, Fragen gestellt, Telefonnummern hinterlassen für den Fall, dass jemandem etwas einfiel. Es war wenig dabei herausgekommen, eigentlich gar nichts. Niemand hatte Carla persönlich gekannt. Wer sich überhaupt an sie erinnerte, beschrieb sie als stille, völlig zurückgezogen lebende Frau, die man selten einmal im Treppenhaus sah, die immer freundlich grüßte, aber offenkundig zu schüchtern war, mit irgendjemandem in näheren Kontakt zu treten.
»Ich glaube, sie hat ganz selten nur ihre Wohnung verlassen«, sagte ein Mann aus dem sechsten Stock, »die war total gehemmt und in sich gekehrt. Absolut vereinsamt, wenn Sie mich fragen. Nach der hat kein Hahn gekräht.«
Fielder fragte sich, ob es womöglich genau das war, was sie zum Opfer hatte werden lassen. Ob es nichts anderes war als der Umstand, dass sie in einer Isolation lebte, die es einem Täter nicht nur leicht gemacht hatte, sie zu töten, sondern die ihm auch einen Vorsprung einräumte, ehe die polizeilichen Ermittlungsarbeiten begannen. Wer nur ein klein wenig über Carla Roberts’ Lebensumstände Bescheid wusste, hatte sich ausrechnen können, dass ihre Leiche nicht allzu schnell gefunden würde, dass es dauern konnte, ehe jemand sie vermisste. Ein unschätzbarer Vorteil für einen Täter: Jeder Tag, der verstrich, ehe sich die Polizeimaschinerie in Gang setzte, arbeitete für ihn. Und gegen die Polizei.
Wie schon am vergangenen Mittwoch in Keira Jones’ Wohnzimmer dachte Fielder: Er ist ein Täter, der nichts gegen Carla Roberts persönlich hatte. Der einfach ein Problem mit Frauen hat. Und sich diejenigen heraussucht, die es ihm leicht machen.
Und diese Möglichkeit war gewissermaßen die schlimmste. Denn wenn es keinerlei persönliche Verbindung zwischen Carla und ihrem Mörder gab, ganz gleich, wie weit in der Vergangenheit sie liegen mochte, dann wurde die Suche nach dem Täter zu einem Stochern im Nebel.
Blieb ein Punkt: Ganz offenbar hatte sie ihn selbst in ihre Wohnung gelassen. Das war der Hoffnungsschimmer. Der einzige Hinweis darauf, dass sie ihn — wie flüchtig auch immer — gekannt haben mochte.
Detective Sergeant Christy McMarrow trat auf Fielder zu, als er endlich einen Parkplatz gefunden hatte und ausstieg. Fielder mochte Christy, weil sie so engagiert war und ihrem Beruf eine ungeheure Priorität in ihrem Leben einräumte. Christy stand Tag und Nacht zur Verfügung. Sie war ehrgeizig. Und leidenschaftlich. Sie brannte für ihre Arbeit.
Darüber hinaus fand er sie ungeheuer attraktiv, aber er wusste, dass er das eigentlich gar nicht denken durfte.
»Der Hausmeister hat uns angerufen, Sir«, sagte sie, »und ich denke, Sie sollten sich das anschauen.«
Der Hausmeister, ein kleiner, untersetzter Mann mit einer ungesunden roten Gesichtsfarbe, stand vor der Eingangstür und war kurz davor zu hyperventilieren. Fielder kannte ihn bereits. Er hatte ihn direkt nach seinem Gespräch mit Keira Jones nach dem Aufzug im Haus gefragt. Seinen Angaben zufolge konnte es nicht sein, dass der Fahrstuhl in irgendeine Etage fuhr, ohne dass er dorthin geordert worden wäre. Wenn Carla Roberts den Aufzug unnatürlich oft bei sich im obersten Stock wahrgenommen hatte, dann deshalb, weil ihn jemand dorthin geschickt hatte.
Oder mit ihm hinaufgefahren war. Ohne dann auszusteigen, was tatsächlich, wie Fielder fand, sehr seltsam anmutete.
»Ich habe entdeckt, dass mit der Tür hier etwas nicht stimmt, Inspector«, sagte der Hausmeister, kaum dass er des Beamten ansichtig wurde. Er wies auf die gläserne Eingangstür, die in das Wohnhaus führte. »Und ich verstehe nicht, dass mir das nicht schon viel früher aufgefallen ist. Irgendwie … ja, schon die ganze Zeit über konnte man sie einfach aufdrücken. Ein- oder zweimal dachte ich, dass es wirklich eine Schlamperei ist, dass die Leute sie nicht richtig zumachen, aber heute fiel mir ein … es kann gar keine Schlamperei sein. Und da habe ich Ihre Mitarbeiterin angerufen.«
»Das war die richtige Entscheidung«, versicherte Fielder. Er musterte die Tür. Er dachte daran, was Keira Jones erzählt hatte: Die Eingangstür unten sei offen gewesen, als sie gekommen war, um ihre Mutter zu besuchen.
»Weshalb kam Ihnen heute der Gedanke, dass es sich nicht um eine Schlamperei, wie Sie es nannten, handeln könnte?«, fragte er.
Der Hausmeister wirkte peinlich berührt. »Weil ich nachgedacht habe. Ich meine … nach dieser furchtbaren Geschichte fragt man sich ja ständig … Na ja, plötzlich dachte ich, dass es so nicht gewesen sein kann. Mit der Tür. Die hat eine Feder, und wenn man sie aufstößt und hindurchgeht und sie dann hinter sich zufallen lässt, dann fällt sie ins Schloss. Immer. Man muss schon ganz vorsichtig sein, um das zu verhindern. Verstehen Sie? Mir ging auf, wie blöd ich war. Die Tür war nie geschlossen, als ob jeder, der hindurchgegangen war, sie vorsichtig hinter sich angelehnt hätte. Und warum sollten die Leute das tun? Das wäre ja absurd!«
»In der Tat«, sagte Fielder. »Dieser Mechanismus mit der Feder ist also kaputt?«
Der Hausmeister nickte. »Ja. Die Tür fällt nun so langsam zu, dass am Ende das Schloss nicht einschnappt.«
»Seit wann ist das so? Oder besser: Wann ist es Ihnen aufgefallen?«
»Das ist noch nicht lange her. Vielleicht … seit vier Wochen?«
Fielder wandte sich an Christy. »Einer unserer Techniker muss untersuchen, worauf der Defekt zurückzuführen ist. Ob es sich einfach um eine Verschleißerscheinung handelt oder ob nachgeholfen wurde.«
»In Ordnung.«
»Angenommen, jemand präpariert die Haustür. Kann von da an problemlos aus und ein gehen. Beobachtet Carla Roberts. Tyrannisiert sie ein wenig, indem er gelegentlich den Aufzug hinauffahren lässt. Und geht irgendwann zu ihrer Tür, klingelt, wird eingelassen … Hätte sie das getan? Jemandem einfach so die Tür geöffnet? So allein, wie sie da oben war?«
»Es könnte ja sein, dass sie dem Täter vorher ein- oder zweimal im Haus begegnet ist«, meinte Christy. »Ohne zu wissen, dass er sich einfach nur gelegentlich einschlich und hier herumlungerte. Sie hielt ihn vielleicht für einen der anderen Mieter. Jemandem aus dem eigenen Haus würde man schon öffnen, oder? Obwohl das in einem Haus, in dem die Leute einander kaum kennen, natürlich auch eine zweischneidige Sache ist.«
Fielder nickte zerstreut. Es waren zu viele Fragen offen: Noch immer war es ihnen nicht gelungen, Carla Roberts’ geschiedenen Mann aufzutreiben. Und falls er tatsächlich seit Jahren irgendwo im Ausland untergetaucht war, möglicherweise auf der anderen Seite der Erde, dann würde sich die Suche auch sehr schwierig gestalten. Allerdings hatte er dann höchstwahrscheinlich auch nichts mit dem Tod seiner Exfrau zu tun.
Ebenso liefen die Nachforschungen, seine damalige Geliebte betreffend, bislang ins Leere. Ihre Identität war geklärt, aber unter der zuletzt bekannten Adresse lebte sie seit Jahren nicht mehr. Fielder vermutete, dass sie mit ihrem Liebhaber ins Ausland gegangen war.
Er strich sich mit einer müden Bewegung über das Gesicht. »Wir müssen unbedingt versuchen, etwas über das Privatleben von Carla Roberts herauszufinden. Es kann doch nicht sein, dass es absolut niemanden gab, mit dem sie sich unterhielt oder mal traf oder ins Kino ging. Haben Sie da bereits irgendetwas?«
»Noch nicht«, musste Christy bekennen. »Die Tochter weiß so wenig über das Leben ihrer Mutter, dass sie uns auch nicht weiterhelfen konnte. Ich habe aber ein Adressbuch der Toten. Da stehen ein paar Namen drin, die ich abklappern werde. Laut der Tochter handelt es sich hauptsächlich um Mitarbeiter der Drogerie, in der ihre Mutter damals gearbeitet hat. Vielleicht komme ich damit ein Stück voran.«
»Versuchen Sie es«, sagte Fielder.
Aus irgendeinem Grund versprach er sich nicht viel davon. Carlas Kollegen an einem Arbeitsplatz, den sie vor Jahren schon verlassen hatte. Was war dort zu erwarten?
Aber das sagte er nicht.
Er musste den Fall nicht noch komplizierter gestalten, indem er seine fähigste Mitarbeiterin demotivierte.
MONTAG, 7. DEZEMBER
»Hast du denn wirklich einmal versucht, richtig mit Becky zu sprechen?«, fragte Tara. »Ich meine, in einer Art, die ihr zeigt, dass du sie ernst nimmst. Sie fühlt sich offensichtlich von dir eingeengt, wie ein Kind behandelt, und sie rebelliert dagegen. Das wird eher schlimmer werden in den nächsten Jahren. Ihr solltet also irgendeinen Weg für euch finden, bei dem ihr nicht Tag für Tag miteinander streitet.«
»Tara, es mag ja sein, dass ich sie wie ein Kind behandele, aber sie ist ein Kind. Sie ist zwölf! Ich weiß, dass sie glaubt, sie wäre bereits erwachsen, aber leider irrt sie sich da.«
»Heutzutage sind Mädchen mit zwölf weiter, als wir es waren. Ich meine aber auch gar nicht, dass du sie von nun an machen lassen sollst, was immer sie möchte. Du solltest ihre Probleme nur nicht herunterspielen.«
»Das tue ich nicht. Und indem ich dann versuche, ihr meinen Standpunkt zu erklären, setze ich mich ja durchaus mit ihr auseinander«, erklärte Gillian. »Nur leider stoße ich bei ihr nicht auf die geringste Bereitschaft, die Dinge auch einmal aus meiner Sicht zu betrachten. Deshalb hängen wir ständig fest.«
»Konntest du das früher?«, fragte Tara. »Mit zwölf? Dich in deine Mutter, ihre Gefühle und Sorgen und Bedürfnisse hineinversetzen?«
Sie saßen in Gillians Küche. Es war Montag, später Nachmittag. Becky war gleich nach der Schule mit zu Darcy nach Hause gegangen. Gillian hatte bis zum frühen Nachmittag gearbeitet, sich mit einem besonders unangenehmen und unzufriedenen neuen Kunden der Firma herumgeschlagen. Dann war sie zum Einkaufen gefahren und hatte gerade ihre unzähligen Einkaufstüten mit Lebensmitteln, Katzenfutter und Katzenstreu auf den Küchentisch gewuchtet, als Tara anrief. Sie hatte ein Gespräch mit einem Zeugen in Shoeburyness gehabt, der, wie sie erzählte, eine Schlüsselrolle in dem Fall spielte, den sie gerade auf dem Schreibtisch hatte, und da ihr Rückweg sie fast direkt bei Gillian vorbeiführte, wollte sie auf einen Sprung hereinkommen.
Kurz darauf stand sie in der Tür, wie immer zwar gestresst, zugleich aber auch kühl und sehr elegant in einem dunkelblauen Hosenanzug, mit beigefarbenen Wildlederstiefeln und einem dazu passenden Mantel. Gillian, die noch in rasender Eile die Einkäufe ausgepackt und den schon sehr ungehaltenen Chuck gefüttert hatte, kam sich, abgehetzt wie sie war, neben der Freundin wieder einmal unzulänglich vor.
»Wie kommt Becky denn mit Tom zurecht?«, fragte Tara.
»Mit Tom? Ganz großartig«, sagte Gillian. »Aber das ist auch kein Wunder. Er ist selten zu Hause, und in der wenigen Zeit, die er mit ihr verbringt, kann er natürlich der Traumdaddy sein, der ihr alles erlaubt und jeden Unsinn mitmacht. Für mich bleibt der Alltag, und der steckt voller Fallstricke.«
Tara sah sie aufmerksam an. »Wie läuft es zwischen euch? Zwischen dir und Tom, meine ich?«
Gillian atmete ganz tief ein. »Nicht so gut. Das heißt, eigentlich auch nicht schlecht. Es ist nicht so, dass wir streiten. Wir reden eigentlich wenig miteinander. Er ist, wie gesagt, ohnehin kaum da. Er lebt für unsere Firma und für den Tennisclub, und sehr viel mehr Zeit bleibt dann nicht mehr.«
»Ist er immer noch ein so fanatischer Sportler?«
»Es wird eher schlimmer. Er kommt nach Hause, zieht sich um und ist wieder weg. Andere trinken ein paar Gläser Bier, um nach dem Job irgendwie die Spannung abzubauen, er muss sich austoben. Das Bier wäre mir lieber, ehrlich gesagt, da wäre er zu Hause. Aber es bleibt dann nicht nur beim Sport, er muss natürlich auch Networking betreiben. Es gibt Vereinssitzungen und sonstige Treffen und Turniervorbereitungen. Jeden Dienstagabend haben sie ihren Stammtisch. Ich glaube, ich könnte im Sterben liegen, er würde das nicht ausfallen lassen. Ich weiß nicht einmal, ob er wirklich gern dahin geht, aber es gehört einfach dazu, und angeblich wird mit hochgezogenen Augenbrauen registriert, wenn jemand wegbleibt.«
»Du könntest ihn aber doch auch begleiten?«
»Ja, schon. Aber ich spiele nicht Tennis, und die sprechen über nichts anderes. Außerdem lasse ich Becky nicht gern allein. Jedenfalls nicht am Abend.«
Tara lächelte. »Du bist eine Glucke«, sagte sie. Es klang liebevoll. Gillian lächelte zurück.
Tara und Gillian hatten einander in einem Französischkurs in London kennengelernt, an dem beide fünf Jahre zuvor teilgenommen hatten. Gillian hatte damals ihr Schulfranzösisch aufpolieren wollen und sich daher in der Sprachschule angemeldet. Tara hatte sich, nachdem sie etliche Jahre als Rechtsanwältin in Manchester gearbeitet hatte, kurz zuvor bei der Londoner Staatsanwaltschaft beworben und war eingestellt worden. Ausgerechnet in dem ersten Fall, der dann auf ihrem Schreibtisch gelandet war, hätte es ihr geholfen, etwas besser Französisch zu sprechen, als sie es tatsächlich tat. Es war typisch für sie, dass sie nach dieser Erfahrung sofort einen entsprechenden Kurs belegte. Die beiden Frauen hatten nebeneinander gesessen und einander auf Anhieb gemocht. Seitdem waren sie befreundet.
»Es kann aber nicht sein, dass Tom … Sei mir nicht böse, ja? … Es kann nicht sein, dass er ein Verhältnis hat?«
»Tom? Nie im Leben«, erwiderte Gillian entsetzt, und genau in diesem Moment geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Das Telefon klingelte, und die im Küchenfenster befestigte weihnachtliche Lichterkette, die an eine Zeitschaltuhr gekoppelt war, sprang an.
»Ach, du liebe Güte«, sagte Tara, die Weihnachten ziemlich schrecklich fand, grinsend.
»Entschuldige«, sagte Gillian und ging ans Telefon, das im Gang stand. Sie meldete sich. »Gillian Ward.«
»John Burton. Störe ich?«
Sie fragte sich, weshalb sie beim Klang seiner Stimme ein seltsames Kribbeln im Bauch bekam. Irgendetwas zog sich in ihrem Inneren zusammen, auf eine Art, wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Unvermittelt fielen ihr die Worte der anderen Frau auf der Weihnachtsfeier ein: Ich muss immer aufpassen, keine unanständigen Phantasien zu entwickeln, wenn ich ihn sehe …
Wieso denke ich gerade das jetzt?, fragte sich Gillian im nächsten Moment.
»Nein«, sagte sie, »nein, Sie stören überhaupt nicht.«
»Ich wollte mich erkundigen, ob Sie am Freitag gut nach Hause gekommen sind.«
»Oh, danke, ja. Ja, das bin ich.« Sie wartete. Sie fand, dass ihre Stimme unnatürlich klang. Und sie war sich bewusst, dass Tara genau zuhörte.
»Und dann«, fuhr Burton fort, »wollte ich Ihnen sagen, dass ich am Mittwochabend wieder im Halfway House bin. Falls Sie Lust haben, mich dort zu treffen, würde ich mich freuen.«
Sie war überrascht. Am Freitag hatte sie zu viel getrunken und einen beschämenden Versuch unternommen, mit ihm zu flirten. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass sie ihn verärgert hatte, aber über das Wochenende war sie zu dem beruhigenden Schluss gekommen, dass sie nie wieder Näheres mit ihm zu tun haben würde. Obwohl Becky von ihm trainiert wurde. Bislang hatte sie jedes persönliche Gespräch vermieden, das sich beim Bringen oder Abholen ihrer Tochter hätte ergeben können, und das war nie ein Problem gewesen, da Burton derart von den anderen Müttern belagert wurde, dass man ohnehin kaum hätte zu ihm vordringen können. Und so würde es auch in Zukunft sein. Der Freitag war ein Ausrutscher gewesen, der in Vergessenheit geraten würde. Sie hatte geheult, sie hatte zu viel getrunken, sie hatte mit ihm geflirtet. Es hing alles miteinander zusammen. Burton würde das sicher einzuordnen wissen. Und wenn nicht, konnte es ihr auch egal sein.
»Am Mittwoch«, wiederholte sie.
»Ja. Ich bin gegen neunzehn Uhr dort. Nach dem Training der Jugendgruppe.«
Becky gehörte gerade noch zur Kindergruppe. Sie war mittwochs nicht dabei.
»Ich … bin nicht sicher …«
»Sie können es sich überlegen«, sagte Burton, »ich gehe sowieso hin, und Sie sind völlig frei, sich bis zur letzten Minute zu entscheiden.«
Ihr fiel nur eine Frage ein. »Weshalb?«
»Weshalb was?«
Es war schwierig, in Taras Gegenwart zu sprechen, aber Gillian mochte auch nicht länger in abgehackten Worten herumstottern. John Burton musste denken, dass sie nicht in der Lage war, auch nur einen vollständigen Satz zu bilden. »Weshalb wollen Sie mich treffen?«
»Ich finde Sie interessant«, sagte Burton.
Sie schwieg. Wie, verdammt noch mal, ging man mit einer solchen Situation um?
»Ich überlege es mir«, sagte sie schließlich.
»Okay«, stimmte Burton zu. Sie hatte den Eindruck, dass er ziemlich sicher war, dass sie kommen würde.
»Also, bis dann vielleicht«, sagte sie, und er erwiderte: »Bis dann!« und legte gleich darauf auf. Das Vielleicht hatte er weggelassen.
Du bist ganz schön überzeugt von dir, dachte Gillian.
»Wer war das denn?«, fragte Tara natürlich prompt. »Ich will dich ja nicht in Verlegenheit bringen, Gillian, aber du hattest eine etwas schrille Stimme, und du hast ziemlich rote Wangen bekommen. Was ist los?«
»Das war der Handballtrainer von Becky. John Burton.«
»Und?«
»Er möchte sich Mittwochabend mit mir treffen.«
Tara musterte sie aufmerksam. »Gibt es etwas, das du mir erzählen möchtest?«
Gillian blieb stehen. Sie spürte selbst, dass ihr Gesicht glühte. »Noch nicht. Es gibt noch nichts, was ich erzählen könnte. Ob es irgendwann etwas geben wird … keine Ahnung.«
»Hm«, machte Tara. Sie wirkte absolut nicht von der Harmlosigkeit, die Gillian der ganzen Geschichte verleihen wollte, überzeugt, begriff aber wohl, dass sie im Augenblick nicht mehr erfahren würde.
Sie blickte auf ihre Uhr, griff nach ihrer Handtasche und stand auf. »Ich muss leider los. Ich habe noch einen Termin.«
»Schwierig?«
»Es geht.« Sie musterte Gillian eindringlich. »Wirst du hingehen? Am Mittwoch?«
Gillian zuckte mit den Schultern. »Ich weiß noch nicht. Im Zweifelsfalle … könnte ich Tom sagen, dass ich mich mit dir treffe?«
Tara lächelte. Es wirkte ein wenig boshaft. »Klar. Ich gebe dir jederzeit ein Alibi. Sag mir einfach Bescheid.«
Gillian begleitete sie zur Haustür. Sie fragte sich, ob das der erste Schritt zum Betrug war und ob sie ihn eben getan hatte: wenn man die Freundin bat, ein Treffen zu bestätigen, das in Wahrheit nicht stattfand. Weil man stattdessen mit einem anderen Mann ausging.
Draußen war es dunkel. Und kalt. Alle Häuser in der Straße waren weihnachtlich geschmückt, leuchteten und funkelten miteinander um die Wette.
»Wegen Becky«, sagte Tara, »lass dich nicht unterkriegen. Ich bin keine Psychologin, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie auch unter der Situation bei euch leidet. Man spürt sehr deutlich, dass du unglücklich und unzufrieden bist. Sie will das nicht. Kinder wollen fröhliche Mütter.«
»Aber …«
»Aber Mütter können nicht immer fröhlich sein. Und auch damit lernen Kinder zurechtzukommen.«
»Ich hoffe es. Ich glaube, ein wenig Abstand wird uns ganz guttun. Becky fährt nach Weihnachten bis Anfang Januar wieder zu meinen Eltern, und das gibt uns eine Pause voneinander.«
Es war seit Jahren so üblich. Becky war vom 26. Dezember an bei den Großeltern in Norwich. Die Regelung stammte noch aus der Zeit, als Gillian und Tom an Silvesterbällen teilgenommen hatten oder über die Jahreswende selbst verreist waren. Was sie alles schon längst nicht mehr taten.
»Denk nicht nur an sie. Denk auch an dich«, bat Tara. Im Schein der Hauslaterne konnte Gillian das Gesicht der Freundin deutlich erkennen. Sie wirkte aufrichtig besorgt.
Ein Mann ging am Gartenzaun vorbei, schaute nur kurz zu den beiden Frauen hin, ging weiter.
Tara schüttelte den Kopf. »Der schon wieder!«
»Wieso schon wieder?«
»Der lungerte hier schon herum, als ich ankam.«
»Bist du sicher? Es ist immerhin schon dunkel jetzt.«
»Trotzdem. Ich konnte sein Gesicht gerade ganz gut erkennen. Der hing vorhin hier herum.«
Gillian blickte dem Mann nach. »Könnte Samson Segal sein«, meinte sie. Sie traf ihn manchmal, wenn sie ihr Haus verließ, und sie meinte, ihn am Gang zu erkennen. »Der ist nett und harmlos. Wohnt am anderen Ende der Straße.« Und geht in die falschen Kneipen und hat dich mit John Burton gesehen!
»Denk an die vielen Verbrechen, die täglich geschehen«, mahnte Tara. »Es laufen eine Menge durchgeknallter Gestalten auf diesem Planeten herum!«
Gillian musste lachen. »Bei deinem Beruf würde ich das wahrscheinlich auch so sehen.«
»Sei jedenfalls vorsichtig«, bat Tara und schloss die Türen ihres dunkelgrünen Jaguars auf.
Gillian blickte ihr nach, dann zog sie seufzend ihre Winterstiefel an und schlüpfte in ihren Mantel. Sie würde Becky bei ihrer Freundin abholen, auch wenn ihr das wieder den Ärger und die Ablehnung ihrer Tochter einbringen würde. Übertrieb sie es wirklich mit der Fürsorge? In Beckys Augen ganz sicher. Aber die Welt war ein gefährlicher Ort, da hatte Tara recht. Und sie musste es schließlich wissen.
Besser, man ging kein Risiko ein.
Sie machte sich auf den Weg.
DIENSTAG, 8. DEZEMBER
1
Er hatte Würstchen gekauft und ein paar Hundecracker, und es war ihm tatsächlich gelungen, den Hund von seiner normalen Spur abzubringen. Er kannte die Abläufe genau, und er war auch an diesem Morgen nicht enttäuscht worden. Der Hund kam bereits die Wiese hinuntergelaufen, als von seinem Frauchen noch nichts zu sehen war. Samson wusste, dass er nun einen Spielraum von ungefähr einer Minute hatte, dann würde die junge Frau hinter den Bäumen auftauchen. Er kauerte am Rand des Grünstreifens, halbwegs getarnt von entblättertem Gebüsch, hielt ein Stück von der Wurst in der Hand und lockte so gut er konnte. »Komm, Hundchen. Na komm! Hier gibt es etwas Feines zum Fressen!«
Unglücklicherweise kannte er den Namen des Hundes nicht. Nie hatte er gehört, wie die Besitzerin ihn rief. Er musste sich darauf verlassen, dass er die Neugier des Tieres weckte. Und dass der Geruch des Fleisches sein Übriges tat.
Tatsächlich sprang das Tier sofort schwanzwedelnd auf ihn zu und begrüßte ihn wie einen alten Bekannten. Es schluckte die Wurst, ohne sie zu zerkauen, hinunter und folgte dem Fremden sodann voller Erwartungsfreude. Samson schlug einen Bogen und tauchte an einer anderen Stelle wieder in die Anlage ein. Er durfte nicht mit dem Hund gesehen werden.
In der Ferne hörte er sie rufen. »Jazz! He, Jazz, wo bist du?«
Also Jazz. Endlich hatte das große, zottelige Tier einen Namen. Jazz spitzte die Ohren und wandte den Kopf. Samson nahm die nächste Wurst in die Hand.
»Jazz! Feines Würstchen!«
Jazz’ Gier hatte gesiegt, und er trabte weiter hinter Samson her. Irgendwann wagte es Samson, in das Halsband des Hundes zu greifen und ihn mit sich zu führen. Sie erreichten das Ende des Grünstreifens und überquerten die Straße, um am Rande der weiträumigen Golfanlagen in dieselbe Richtung, aus der sie gekommen waren, wieder hinaufzulaufen. Samson rechnete nämlich damit, dass Jazz’ Besitzerin eher unten am Fluss suchen würde, weil sie ihren Hund zuletzt in diese Richtung hatte verschwinden sehen. Sicher fürchtete sie, dass er die Kreuzung unten an der Esplanade überqueren und dabei am Ende noch Opfer des Autoverkehrs werden würde. Samson würde sich daher eine Weile um den Golfclub herumtreiben und erst später den Strand aufsuchen.
Ein langer, kalter Tag stand ihm bevor. Der Dezember war zweifellos nicht der geeignetste Monat für derlei Aktionen, aber sollte er kostbare Zeit verplempern, indem er bis zum Sommer wartete? Er hatte sich das Gespräch mit Bartek durchaus zu Herzen genommen. Er wollte nicht als ein Verrückter dastehen, jemand, der sich vom Leben, von der Realität entfernt hatte und absurden Tagträumen nachhing. Etwas musste er machen. Aktiv werden. Da hatte Bartek schon recht.
Der Einfall mit Jazz war ihm zwei Nächte zuvor gekommen, und er fand ihn geradezu genial. Den Hund entführen, sich einen dreiviertel Tag mit ihm herumtreiben und ihn sodann der verzweifelten Besitzerin zurückbringen. Ihr erklären, dass er ihn irgendwo aufgegriffen hatte. Sie würde dankbar und erleichtert reagieren, ihn vielleicht hineinbitten, ihm einen Kaffee anbieten. Womöglich ergab sich daraus mehr.
Jazz hatte ein zweites Würstchen und sämtliche Cracker verspeist und wurde unruhig. Es war deutlich, dass er umkehren wollte. Samson zog schließlich seinen Gürtel aus der Hose und schob ihn durch das Halsband, um eine Leine zu haben. Er redete beruhigend auf den Hund ein.
»Wir gehen ja wieder zu dir nach Hause. Keine Sorge. Frauchen sucht dich jetzt und regt sich ziemlich auf, und das tut mir genauso leid wie dir. Aber was meinst du, wie sie sich freut, wenn wir schließlich vor ihrer Tür stehen? Vielleicht mag sie mich dann richtig gern. Mich hat noch nie eine Frau richtig gern gemocht, weißt du?«
Jazz hörte ihm aufmerksam zu und wedelte mit dem Schwanz. Es war schön, mit einem Hund zu reden, stellte Samson fest. Er hatte einen so konzentrierten Ausdruck in den Augen, als ob er wirklich begriff, worum es ging. Und man konnte sicher sein, dass er nicht spotten und lachen würde, ganz gleich, was man ihm anvertraute. Und weitererzählen würde er sein Geheimnis auch nicht.
»Ich habe mir immer einen Hund gewünscht«, sagte Samson. »Aber erst waren meine Eltern dagegen. Und jetzt ist es Millie.«
Er konnte den Hass wie eine kleine, heiße Flamme im Bauch spüren, als er ihren Namen aussprach. Millie, die so unzufrieden und so kalt war. Die ihm auf Schritt und Tritt zeigte, was sie von ihm hielt: dass er ein Versager war. Lästig, überflüssig. Einer, der es zu nichts gebracht hatte im Leben.
»Millie bestimmt alles bei uns«, vertraute er Jazz an. »Dabei gehört das Haus meinem Bruder und mir. Aber leider steht er völlig unter ihrem Pantoffel. Ich kann nicht begreifen, wie er eine solche Giftspritze heiraten konnte. Na ja, sie war ganz attraktiv früher …«
Gavin hatte nie Probleme mit Frauen gehabt. Er war kein Mann, auf den sie alle flogen, aber er war auch nicht jemand, um den sie alle einen Bogen machten. Es war irgendwie alles immer ziemlich normal gewesen bei ihm. Unauffällig. Gavin war durchschnittlich, in jeder Hinsicht. Samson wusste, dass die meisten Menschen sich über eine Charakterisierung als Durchschnitt geärgert hätten. Aber die hatten keine Ahnung, wie es sich anfühlte, einer zu sein, dem nichts gelang und auf dem alle herumtrampelten. Einer, der eben unter dem Durchschnitt lag.
»Ich finde dein Frauchen ganz hübsch«, sagte er zu Jazz. »Sie gefällt mir nicht so gut wie Gillian, aber Gillian ist leider schon verheiratet.«
Jazz stieß ein leises Wuff aus.
Er streichelte ihn über den wuscheligen Kopf. »Dein Frauchen nimmt mich bisher gar nicht wahr. Aber vielleicht ändert sich das heute. Du musst wirklich keine Angst haben. Heute Abend siehst du sie wieder.«
Sie hatten den Parkplatz des Golfclubs erreicht. Ein einziges Auto stand dort, sonst war alles völlig leer an diesem kalten, frühen Morgen. Nur deshalb wagte es Samson, eine Runde um das Clubhaus zu drehen. Alle Fenster waren dunkel, niemand war dort. An der Eingangstür hing ein großes Plakat, das einen festlichen Weihnachtsball ankündigte, der am kommenden Samstag im Club stattfinden sollte. Organisiert hatte ihn, wie das Plakat in besonders großer Schrift und in schrillem Rot verriet, der bekannte Londoner Rechtsanwalt Logan Stanford. Höhepunkt würde eine Tombola sein, deren Erlös russischen Straßenkindern zugutekommen sollte.
Samson kannte Logan Stanford. Nicht persönlich natürlich. Aber aus den Klatschzeitungen, die Millie so gerne las und überall zu Hause herumliegen ließ. Stanford war ein überaus erfolgreicher Anwalt, dem erstklassige Verbindungen zu den Reichen und Mächtigen des Landes, sogar bis in die Downing Street hinein nachgesagt wurden. Er verfügte über beides in außerordentlichem Maße: Geld und Einfluss. Und er war bekannt für die ständigen Wohltätigkeitsveranstaltungen, die er überall im Land organisierte. Man hatte ihm den Namen Charity-Stanford gegeben, und er tat alles, dem weiterhin gerecht zu werden. Er brachte große Spenden zusammen und ließ sie den wirklich Hilfsbedürftigen dieser Welt zugutekommen, und doch konnte Samson nie anders, als ihn mit Vorbehalten zu betrachten, wenn er ihn wieder einmal auf den bunten Seiten in der Hello! sah. Er fand, dass Stanford ausgesprochen selbstgerecht dreinblickte. Und auch seine Gäste … Jede Menge geliftete Gesichter, erstarrt von Botox, aufwendige Abendkleider, funkelnder Schmuck. Champagner bis zum Abwinken. Die Society zelebrierte in erster Linie sich selbst, aber unterm Strich kam unbestritten Geld für diejenigen heraus, denen es weit weniger gut ging als der britischen Upperclass.
»Na und?«, hatte Millie gesagt, als er sein Unbehagen einmal zum Ausdruck brachte. »Wo ist das Problem? Die tun wenigstens etwas. Wenn sie dabei ihren Spaß haben — wen stört das?«
Er konnte selbst nicht recht benennen, was ihn störte. Vielleicht war es das Gefühl, dass es diesen Menschen nicht um das Elend in der Welt, sondern vor allem um ihre Selbstdarstellung ging. Vielleicht konnte er die Probleme russischer Straßenkinder nicht in einen Zusammenhang mit den operierten Gattinnen der oberen Zehntausend von England bringen.
Aber vielleicht war das Blödsinn. Vielleicht ging es letztlich wirklich nur um das Ergebnis und nicht darum, ob alle Beteiligten tatsächlich reinen Herzens und mit vollster Überzeugung hinter ihrer Wohltätigkeit standen. In diesem Punkt hatte Millie schon recht: Wenigstens taten sie etwas.
Samson trieb sich eine ganze Weile am Clubhaus und auf dem Parkplatz herum, dann wagte er schließlich den Weg hinunter zum Fluss. Natürlich bestand das Risiko, dass er auf die wahrscheinlich völlig aufgelöste Besitzerin von Jazz traf, aber ihm konnte nichts passieren: Er würde behaupten, den Hund aufgegriffen zu haben und gerade auf dem Weg zurück zu seinem Zuhause zu sein.
Unbehelligt erreichte er den Strand. Der Sand war nass und schwer, und der Nebel hing in dunklen Wolken über dem Wasser. Die Möwenschreie klangen gedämpft. Es war nicht mehr so kalt wie noch vor einigen Tagen, aber Samson fand die Feuchtigkeit fast noch schlimmer. Heimtückisch kroch sie unter die Kleidung und in die Knochen. Sie ließ den Körper nicht nur frieren, sie höhlte ihn förmlich aus.
Sie liefen den Strand entlang, vorbei an den leeren, verschlossenen Badehütten mit ihren bunten Fassaden und den holzgeschnitzten Verzierungen an den Dächern. Keine Menschenseele begegnete ihnen. Jazz schien sich mit der Situation abgefunden zu haben. Er trabte neben Samson her, schnüffelte gelegentlich in dem stinkenden Treibgut, das der Fluss angeschwemmt hatte, hob, wenn es besonders interessant roch, sein Bein. Er schien guter Dinge zu sein.
Samson hätte sich ohrfeigen können, weil er nicht daran gedacht hatte, irgendwo hier in der Gegend sein Auto zu parken, um sich darin gelegentlich aufzuwärmen. Er war ein Idiot. Er hatte sich vorgenommen, bis zum späten Nachmittag zu warten, ehe er Jazz zurückbrachte. Jazz’ Besitzerin musste völlig entnervt und verängstigt sein, umso größer würde ihre Dankbarkeit ausfallen. Aber er, Samson, würde sich bis dahin eine Grippe eingefangen haben.
Habe ich mal wieder schlau angestellt, sehr schlau. Typisch.
Nach einer Zeit, die ihm ewig vorkam, erreichten sie die Landspitze, an der die Themse in die Nordsee überging. Hier, bei Shoeburyness, gab es wunderbare Strände und Wiesen, dazwischen alte Verteidigungsanlagen, mit denen sich England während des Krieges gegen eine mögliche deutsche Invasion zu wappnen versucht hatte. Samson kannte die Gegend. Gavin und er hatten hier als Kinder oft gespielt, obwohl es ein gutes Stück von Thorpe Bay aus zu laufen war. Gavin hatte seine Freunde angeschleppt, Samson hatte mitspielen dürfen. Weil seine Mutter darauf bestand. Die anderen Kinder hatten gemurrt, sich aber widerwillig gefügt. Schon damals hatte Samson gelernt, was es bedeutet, unbeliebt zu sein. Nicht akzeptiert zu werden.
Er dachte darüber nach, was er noch vorhin — es schien ihm Stunden her zu sein — am Golfclub zu Jazz gesagt hatte. Dass er sein Frauchen ganz hübsch fand. Wieso hatte er geglaubt, dies Jazz erklären zu müssen? Weil es in Wahrheit nicht das war, was er empfand?
Na gut, man konnte nicht sagen, dass sie nicht hübsch war. Aber ehrlicherweise hatte sie keineswegs ein Aussehen, das ihm Herzklopfen verursachte. Und sie war nicht die Frau, um die seine Gedanken kreisten, wenn er abends im Bett lag und an die Zimmerdecke starrte, deren Struktur er im Schein der Straßenlaterne vor seinem Fenster schwach erkennen konnte. Sie war nur die einzige Frau in seiner Nachbarschaft, die etwa sein Alter hatte. Und die ganz offensichtlich nicht in einer festen Beziehung lebte. Natürlich würde Bartek jetzt wieder die Augenbrauen hochziehen und ihn fragen, weshalb, zum Teufel, er sich denn derart begrenzte. Weshalb die einzige passende Frau, die er bei seinen Streifzügen entdeckt hatte, für ihn offenbar die einzig denkbare Frau der Welt darstellte? Bartek würde wieder mit dem Internet und seinen Möglichkeiten anfangen. Sehr schlau, als ob Samson darauf nicht schon selbst gekommen wäre. Er hatte sogar schon ein paar Frauen auf diese Weise kennengelernt. Die jeweiligen Treffen hatte er als mühsam, manche von ihnen gar als qualvoll in Erinnerung. Er hatte keine Ahnung, wie man es anstellte, eine Frau zu faszinieren, und bereits nach wenigen Minuten hatte er gemerkt, dass er sein Gegenüber zu langweilen begann. Was ihn dann noch stärker stottern und die unmöglichsten Themen hervorkramen ließ. Und wenn die Frauen erst einmal erfahren hatten, dass er mit Bruder und Schwägerin zusammenlebte, nahmen sie endgültig Reißaus. Seine Arbeitslosigkeit würde nun alles noch schlimmer machen.
Sie hatten den Strand verlassen, den großen Parkplatz überquert, der im Sommer immer gerappelt voll und jetzt vollkommen leer war, hatten sich dem Landesinneren zugewandt und erreichten nun Gunners Park, ein riesiges Gelände, das trotz der vielen Wege, die es durchkreuzten, in seinem ursprünglichen Zustand belassen worden war. Wiesen, Felder, kleine Wäldchen, aber auch ausgedehnte Ebenen, mit Gräsern bestanden, die der Nordseewind flachdrückte. Der Park, in einigen Teilen für die Öffentlichkeit gesperrt, war ein Naturschutzreservat und bot sich als paradiesische Brutstätte für zahllose Vogelarten an. Er galt aber auch als beliebtes Ausflugsziel in der Bevölkerung. Samson entsann sich etlicher Schulwanderungen, die hierher geführt und mit einem gemeinsamen Grillfest geendet hatten. Man spießte ein Würstchen auf einen selbst zurechtgeschnitzten Stecken und hielt es über die Flammen, man öffnete die mitgebrachten Plastikdosen mit Kartoffelsalat und die Trinkflaschen mit Apfelsaft. Und alle amüsierten sich und genossen den Tag, nur Samson hatte immer das Ende herbeigesehnt. Weil er inmitten all der fröhlichen Menschen isoliert gewesen war. Allein mit dem von seiner Mutter liebevoll gepackten Rucksack dasaß. An der Art, wie sie ihn für einen Klassenausflug ausstaffiert hatte, hatte Samson immer gemerkt, wie sehr ihn seine Mutter liebte und wie innig sie wünschte, er möge eine schöne Zeit haben. Aber ihre Macht war immer schwächer geworden. Als er ein kleines Kind gewesen war, hatte sie die anderen Kinder noch verdonnern können, sich um ihn zu kümmern. Spätestens als er in die weiterführende Schule kam, funktionierte das nicht mehr. Als er ein pickliger Teenager wurde, schon überhaupt nicht mehr. Und mit den Mädchen konnte sie ihm kein bisschen helfen.
Er setzte sich auf eine Bank. Jazz kauerte sich zu seinen Füßen hin. Der Nebel umhüllte sie von allen Seiten, nahm ihnen die Sicht. Das Meer war irgendwo in diesen dicken, nassen Schleiern verschwunden.
Samson dachte an Gillian Ward.
Eigentlich dachte er seit einiger Zeit nur noch an Gillian Ward, und zwar in einer Weise, wie sich das gegenüber einer verheirateten Frau absolut nicht gehörte. Am Vortag war er um ihr Haus geschlichen. Er hatte ihre Freundin kommen und gehen sehen und dabei auch jeweils einen Blick auf Gillian selbst erhascht. Inzwischen investierte er fast seine gesamte Zeit nur noch in Gillian.
»Ich würde mich nie um sie als Frau bemühen«, sagte er zu Jazz, »denn sie ist verheiratet und hat ein Kind. Die Wards sind eine Bilderbuchfamilie. Eine solche Familie darf man nicht zerstören.«
Jazz legte den Kopf schief in dem Bemühen, zu verstehen, was Samson ihm mitteilen wollte.
Eine Bilderbuchfamilie …
Samson war fast zu Tode erschrocken, als er Gillian am Freitagabend hatte ins Halfway House hineinkommen sehen. Wieso ging sie dorthin? Ohne ihre Familie? Und wer war der Mann, der sie begleitete? Samson kannte ihn nicht, hatte ihn nie zuvor in der Nähe der Familie Ward gesehen. Er konnte den Kerl auf den ersten Blick nicht ausstehen. Wobei er versuchte, seine Abneigung einigermaßen objektiv zu analysieren. War er einfach eifersüchtig? Oder ging der Neid mit ihm durch, denn dass es sich bei Gillians Begleiter um einen Mann handelte, der nur mit den Fingern schnippen musste, um jede Frau in sein Bett zu bekommen, die er wollte, war auf den allerersten Blick ersichtlich. Oder ging tatsächlich etwas von ihm aus, das Samson zu Recht argwöhnisch werden ließ? Etwas Unlauteres, Unsauberes? Etwas Unaufrichtiges? So hätte Samson den Mann bezeichnet, aber er wollte ihm nicht Unrecht tun. Er ging mit der Frau in ein Pub, mit der er gar zu gern selbst ausgegangen wäre — zumindest in seiner Fantasie. Was die Realität anging, starb er tausend Tode allein bei der Vorstellung. Denn mit ihr an einem Tisch zu sitzen, zu plaudern, ein Glas Wein zu trinken, das ginge nicht, ohne dass sie merkte, wie armselig er war. Dass er weder unterhaltsam noch witzig noch anregend sein konnte. Dass er häufig über seine eigene Zunge stolperte, stotterte und jede Pointe — sollte er überhaupt in die Nähe einer solchen kommen — vermasselte. Er hatte bei etlichen Frauen bemerkt, wie sie unauffällig auf ihre Uhren zu schielen und mehr oder weniger erfolgreich ein Gähnen zu unterdrücken versucht hatten, wenn sie mit ihm zusammensaßen. Es hatte ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben und Verzweiflung in ihm ausgelöst. Bei Gillian durfte ihm das nicht passieren. Er hatte die Ahnung, dass ihn dies dann über Selbstmord würde nachdenken lassen.
Also musste er sich zunächst das Frauchen von Jazz vornehmen. Mal sehen, ob etwas daraus wurde. Wenn es nur nicht so lange dauern würde! Er schaute auf die Uhr. Neun Uhr am Morgen. Vor Einbruch der Dunkelheit wollte er bei ihr nicht aufkreuzen.
Er verfluchte seine Idee. Bei der am Ende vermutlich ohnehin nichts herauskam.
2
Millie hatte um zwölf Uhr Dienstschluss und machte sich sofort auf den Heimweg. Sie blieb nie eine Sekunde länger in dem Pflegeheim, in dem sie arbeitete, als sie unbedingt musste. Sie konnte den Geruch dort kaum ertragen. Den Anblick der alten, gebrechlichen Menschen. Die unzusammenhängenden Sätze, das sinnlose Geplapper der Demenzkranken. Die langen Gänge, das hässliche Linoleum auf dem Fußboden. Den Anblick der großen Rollwagen, auf denen schon am Vormittag das Mittagessen zu den Zimmern geschoben wurde. Millie fand das Essen im Heim so grauenhaft, dass sie oftmals für den Rest des Tages auch zu Hause nichts mehr essen konnte, so sehr schlug ihr der Inhalt von Plastiktellern und Schnabeltassen auf den Magen. Das half ihr zumindest, schlank zu bleiben, und war vielleicht das einzig Gute an ihrem Beruf. Sie alterte im Zeitraffer, wie ihr schien, aber sie hatte wenigstens eine hübsche Figur. Manchmal drehte sie sich über eine Stunde lang vor ihrem Spiegel im Schlafzimmer hin und her, um sich davor zu bewahren, in eine Depression abzugleiten. Ihr Körper in engen Jeans und tief ausgeschnittenen Tops konnte ihr durchaus ein wenig gute Laune vermitteln.
Sie musste den Zug von Tilbury nach Thorpe Bay nehmen. Gavin und sie konnten sich nur ein Auto leisten, und meistens fuhr Gavin damit, weil er sonst noch früher hätte aufstehen müssen, um pünktlich seine Frühschicht zu beginnen. Millie ärgerte sich zutiefst über die Tatsache, dass Samson ein eigenes Auto besaß und dies auch noch meistens herumstehen ließ. Sie fragte sich, welcher Teufel ihre verstorbene Schwiegermutter geritten hatte, dass sie ihren Wagen an den Versager vererbt hatte. Gavin hatte ihr erklärt, dass seine Mutter eine sehr innige Beziehung zu Samson gehabt, dass sie immer geglaubt hatte, ihn ganz besonders umsorgen und beschützen zu müssen.
»Er war das Sorgenkind. Stets allein, stets in sich zurückgezogen. Egal was er anfing, es lief irgendwie nie richtig gut. Er war ein Tollpatsch und total kontaktgestört. Immer. Schon im Kindergarten. Als unsere Mutter starb, war es ihr quälendster Gedanke, was nun aus Samson werden sollte.«
In der Erinnerung an dieses Gespräch verzog Millie auch jetzt noch das Gesicht. Es war so ungerecht! Gavin hatte einen Beruf. Gavin hatte eine Frau. Gavin tickte ganz einfach normal. Und wer bekam das Auto? Sein kleiner Bruder, der jedem in seinem Umfeld nur auf die Nerven ging.
Die Bahn brauchte mal wieder ewig, und Millie musste den Gedanken daran, wie schnell sie mit einem Auto hätte zu Hause sein können, mit aller Gewalt zurückdrängen. Sie wäre sonst noch wütender geworden, und sie wusste, dass es diese Wut war, die ihr die tiefen Linien in das Gesicht grub und ihr diesen verbitterten Ausdruck verlieh.
Die Wut machte sie alt.
Sie trottete durch die Straßen zu ihrem Haus. Es war ein gutes Stück zu laufen vom Bahnhof aus. Abends und frühmorgens glitzerte und funkelte hier überall die Weihnachtsbeleuchtung in den Häusern, aber jetzt am Mittag herrschte die trostlose Atmosphäre eines bleiernen, nebligen Dezembertages. Im Herbst hatte das bunte Laub in den dicht bewachsenen Gärten rot und golden geglüht, aber inzwischen waren alle Äste kahl und hoben sich spitz und schwarz vor dem grauen Himmel ab. Der Nebel lastete jedoch nicht mehr so tief über dem Boden, vielleicht würde er sich bis zum Nachmittag lichten und tatsächlich noch ein paar Sonnenstrahlen Raum geben. Aber da es jetzt schon so früh dunkel wurde, hatte man nichts mehr davon. Millie zog die Schultern zusammen. Wenn sie Geld hätte, richtig Geld, dann würde sie auswandern. Irgendwohin, wo es immer warm und sonnig war.
Sie hatte die Frau, die ihr entgegenkam, nur unbewusst registriert, obwohl sie der einzige Mensch war, der sich außer ihr noch auf der Straße aufhielt, und so zuckte sie zusammen, als diese sie plötzlich ansprach.
»Entschuldigen Sie!« Eine helle Stimme. Ein wenig schrill. Verzweifelt.
»Ja?« Millie blieb stehen.
»Ich suche meinen Hund.« Die Frau hatte weit aufgerissene Augen, wirre Haare. Schweiß glänzte auf ihrer Nase, was darauf hindeutete, dass sie wohl schon lange in der Siedlung herumrannte. Ihr war warm. Sie wirkte aufgelöst. »Jazz. Ein Schäferhundmischling. Ziemlich groß und langhaarig. Haben Sie ihn vielleicht gesehen?«
Millie mochte Hunde nicht besonders. »Nein. Ich bin eben erst mit dem Zug von Tilbury gekommen.«
»Er ist mir heute früh weggelaufen. Es war noch ziemlich dunkel, und … ich verstehe das nicht, er hat so etwas noch nie gemacht.«
Millie registrierte missvergnügt, dass die andere etwa ihr eigenes Alter hatte, dass sie aber selbst im Zustand der Verzweiflung wesentlich glatter, frischer und jünger aussah. Vermutlich hatte sie einen Beruf, der ihr Spaß machte.
»Ich habe keinen Hund gesehen. Wenn mir etwas auffällt, kann ich mich ja bei Ihnen melden, Mrs …?«
»Miss Brown. Michelle Brown.« Die junge Frau holte ein Stück Papier und einen Stift aus ihrer Manteltasche, kritzelte ein paar Zahlen darauf. »Meine Telefonnummer. Bitte, wenn Sie … Er ist alles für mich, wissen Sie.«
Doch kein so ganz glückliches Leben, dachte Millie. Sie verstaute den Zettel, nickte Michelle zu und setzte ihren Weg fort. Unwahrscheinlich, dass ihr der Hund begegnen würde.
Samsons Auto stand in der Einfahrt. Er war morgens aus dem Haus gegangen, hatte aber wieder einmal seinen Wagen stehen gelassen. Sie hatte ihn einmal darauf angesprochen, und er hatte gesagt, ihm sei das Benzin zu teuer. Das war natürlich ein Argument. Besonders bei einem Arbeitslosen.
Sie schloss die Haustür auf. Sie vermutete, dass ihr Schwager nicht daheim war. Seit einigen Monaten ging er früh und kam spät, und im Grunde war ihr das nur recht. Aber zugleich stimmte es sie misstrauisch. Was, zum Teufel, tat er den ganzen Tag über?
Sie glaubte ihm nicht, dass er Arbeit suchte. Zumal dies nicht erforderlich gemacht hätte, sich von morgens bis abends außerhalb des Hauses aufzuhalten. Nach allem, was sie wusste, bedeutete Arbeitssuche vor allem, dass man sich die Finger an Bewerbungen wund schrieb. Samson saß zwar oft noch spät an seinem Computer, aber warum sollte er etwas in der Nacht erledigen, was er genauso gut am Tag hätte tun können? Und der nächste Punkt war: Wenn jemand Arbeit suchte und keine fand, dann ging das mit Absagen einher, die er kassierte. Schriftliche Absagen, die per Post zugestellt wurden. Manches mochte auch über E-Mail abgewickelt werden, aber nie im Leben alles. Und Millie war oft diejenige, die den Briefkasten leerte. Nichts, seit Monaten kam absolut nichts für Samson. Die eine oder andere Reklame vielleicht von irgendeiner Firma, bei der er in besseren Zeiten etwas bestellt hatte. Aber kein Brief, der auch nur im Entferntesten als ein Absageschreiben zu identifizieren gewesen wäre.
Sie schaute auf die Uhr. Viertel nach eins. In einer halben Stunde kam Gavin, dessen Schicht heute auch früh endete, zum Mittagessen. Aber sie hatte Zeit, sie konnte rasch etwas auftauen. Eine der wenigen positiven Begleiterscheinungen von Samsons Anwesenheit im Haus war die, dass sie seit seiner Zeit als Angestellter bei dem Heimservice für Tiefkühlkost Rabatt auf Produkte der Firma bekamen.
Kurz entschlossen stieg sie die Treppe hinauf. Sie hatte schon einige Male in Samsons Zimmer herumgeschnüffelt, wenn er nicht da war, und sie hatte ihr Gewissen damit beruhigt, dass sie sich sagte, er sei schließlich eindeutig verrückt und es sei wichtig für Gavin und sie, ein paar nähere Informationen über ihn zu bekommen. Gavin war mit Samson zusammen aufgewachsen, sein Bruder war ihm vertraut. Er kannte es nicht anders und sah nicht, dass bei ihm eine riesige Schraube locker saß. Aber sie, Millie, hatte es vom ersten Moment an gespürt. Als Gavin ihr Samson vorgestellt hatte, war ihr erster instinktiver Gedanke gewesen: Bei dem Typ stimmt etwas nicht.
Und ihre Überzeugung, dass sie recht hatte, war seitdem mit jedem Jahr nur gewachsen.
Sie rief seinen Namen, aber als sie keine Antwort bekam, betrat sie entschlossen sein Zimmer. Obwohl sie den Raum seit Jahren kannte, schüttelte sie missmutig den Kopf. Es war das Zimmer eines Teenagers. Nicht das eines Mannes von Mitte dreißig.
Das schmale Bett, in dem er schon als kleiner Junge geschlafen hatte. Der Wimpel eines Fußballclubs darüber — obwohl Samson Millies Wissen nach niemals Fußball gespielt hatte. Im Regal Abenteuerbücher. Die geblümten Vorhänge am Fenster hatte seine Mutter genäht.
Das Zimmer war akribisch aufgeräumt. Nirgends ein Staubkorn. Die Überdecke des Bettes lag Kante auf Kante. Millie fragte sich, wie er das hinbekam. Sie hatte das bei ihrem und Gavins Bett versucht, aber nie war es ihr gelungen, diese Perfektion zu erreichen.
Sie schaute in die Regale, warf zwischendurch immer wieder einen prüfenden Blick aus dem Fenster. Das Zimmer ging nach vorn zur Straße hinaus, sodass sie Samson sehen konnte, wenn er unerwartet zurückkehren sollte. Es stand jedoch zu erwarten, dass er wieder erst am Abend auftauchen würde.
Sie öffnete die Tür des Kleiderschranks. Der klassische Jugendzimmerschrank aus hellem Holz. Darin sauber gefaltet etliche Pullover, ein paar Hemden, Jeans. Alles brav und solide. Millie wunderte sich überhaupt nicht, dass es ihm nie gelang, eine Frau zu erobern. Abgesehen von seiner Art, seiner Schüchternheit und seiner Neigung zum Stottern und Erröten, lag es auch einfach an seiner Kleidung. Er sah aus wie ein kleiner Junge. Es hätte Millie nicht erstaunt zu erfahren, dass die meisten seiner Kleidungsstücke ihm noch von seiner Mutter gekauft oder geschneidert worden waren.
Was sie jedoch am meisten interessierte, war der Computer, der auf dem Schreibtisch stand. Samson hatte ihn sich gekauft, als er noch für den Limousinenservice arbeitete und gar nicht so schlecht verdiente. Flachbildschirm, noch dazu ein ziemlich großer. Der Computer war das Einzige, was diesem altmodischen Zimmer einen kleinen modernen Anstrich verlieh.
Samson saß täglich Stunden an dem Computer. Es war Millie nie gelungen, herauszufinden, was er dabei genau tat. Ein paar Mal war sie überraschend und ohne anzuklopfen hineingekommen, aber sie hatte festgestellt, dass er zumindest dann ausgesprochen reaktionsschnell sein konnte: Womit auch immer er sich beschäftigte, er hatte es jedes Mal weggeklickt, noch ehe Millie etwas hatte erkennen können.
Sie wusste, dass es unmöglich war, was sie tat, aber sie beschwichtigte sich damit, dass es wichtig für Gavin und sie war, herauszufinden, womit sich Samson die Zeit vertrieb. Schließlich lebten sie mit ihm unter einem Dach. Man durfte nicht leichtsinnig sein. Vielleicht surfte er auf Internetseiten herum, die Kinderpornografie anboten. Sie und Gavin wollten irgendwann auch ein Kind haben. Es war ihre Pflicht, diese Gefahr abzuklären.
Sie schaltete den Computer an, vernahm das leise Rauschen, mit dem er hochfuhr. Ein rascher Blick aus dem Fenster, immer noch keine Spur von Samson. Der Bildschirm wurde blau. Wie sie gefürchtet hatte, fragte ein geöffnetes Fenster nach einem Passwort.
Klar, ganz blöd war er nicht. Millie überlegte hektisch. Die meisten Leute benutzten als Passwort die Namen von Personen, die ihnen nahestanden. Kinder, Ehepartner, Haustiere. Unglücklicherweise gab es in Samsons Leben nichts dergleichen. Sein einziger lebender Verwandter war sein Bruder. Probehalber gab sie Gavin ein, aber der Computer reagierte nicht.
Meinen Namen wird er kaum verwendet haben, dachte sie, verdammt, wen kennt er denn noch?
Bei einer derart kontaktgestörten Persönlichkeit wie der ihres Schwagers war das eine ausgesprochen schwierige Frage. Auf der anderen Seite schränkte das auch die Zahl der möglichen Personen erheblich ein.
Es gab da diesen Freund aus der Zeit des Limousinenservice, mit dem er sich freitags manchmal in dem Pub am Fluss traf. Wie hieß der noch gleich? Bartek. Sie tippte Bartek ein, aber wieder geschah nichts. Fehlanzeige.
Sie mochte jetzt nicht aufgeben. Es war das erste Mal, dass sie sich so weit vorgewagt hatte. Bis an seinen Schreibtisch. Bis hin zu einem direkten Zugriff auf seinen Computer. Sie musste nachdenken. Sie musste logisch vorgehen. Wenn er nicht ein Fantasiewort benutzte oder irgendeine Zahlenkombination, müsste es ihr möglich sein, hinter seine verflixte Absicherung zu kommen.
Sie schaute sich im Zimmer um, als könnten ihr die weißen Wände, der saubere graue Teppichboden irgendeinen Hinweis geben. Der Kleiderschrank, gefüllt mit den Pullovern, die Mum gestrickt hatte. Die Vorhänge am Fenster, die Mum genäht hatte. Die Abenteuerbücher im Regal, die Mum gekauft hatte und die er nicht wegwarf, obwohl er solches Zeug längst nicht mehr las. Das war es, was das Zimmer erzählte: von der gewaltigen Liebe zwischen Samson und seiner Mutter. Einer Liebe, die ihren Tod überdauert hatte. Es erzählte von der grenzenlosen Fürsorge einer Frau gegenüber ihrem schwierigen, leidgeprüften Kind. Und von dem Schmerz, den das Kind bis heute in sich trug, weil es die einzige Bezugsperson in seinem Leben verloren hatte.
Der Vorname von Millies Schwiegermutter war Hannah.
Sie tippte den Namen ein. Mit einer melodischen Tonfolge öffnete sich der Computer.
»Was, um Himmels willen, tust du denn da?«, fragte eine Stimme hinter ihr.
Millie fuhr herum. Gavin stand in der geöffneten Tür und sah sie entsetzt an.
Sie schaltete sofort den Computer aus und stand auf. Da sie immer nach dem Grundsatz vorging, dass Angriff die beste Verteidigung ist, fuhr sie ihn an: »Musst du dich so anschleichen?«
»Wie kannst du im Computer meines Bruders stöbern?«, fragte Gavin verstört.
Sie zuckte mit den Schultern. »Im Interesse unserer Sicherheit hielt ich es für notwendig.«
»Sicherheit? Wieso Sicherheit? Samson tut doch keiner Fliege etwas zuleide!«
»Woher willst du das wissen? Hast du irgendeine Ahnung, womit er sich jeden Abend stundenlang in seinem Computer beschäftigt? Vielleicht lädt er sich Gewaltspiele herunter. Oder schaut sich Pornos an.«
»Er ist ein erwachsener Mann. Er darf sich anschauen, was er will.«
Sie drängte sich an ihm vorbei zur Tür hinaus und ging die Treppe hinunter. Notgedrungen musste Gavin ihr folgen.
»Das sehe ich anders«, erklärte sie. »Er ist gestört, und solche Menschen muss man im Auge behalten. Und das, was sie so treiben. Oder willst du, dass dein Bruder eines Tages als Amokläufer an einer Schule auftaucht oder etwas Ähnliches?«
»Warum sollte er das denn tun?«
Sie waren in der Küche angelangt. Millie öffnete den Gefrierschrank, nahm eine Packung mit einem Fertiggericht heraus und knallte sie auf den Tisch. Gavin zuckte zusammen.
»Du liest entweder keine Zeitung, oder du verstehst nicht, was darin steht. Bei den meisten Typen, die plötzlich durchdrehen und andere niedermetzeln, erklären die Verwandten hinterher erstaunt, dass man das dieser Person nie zugetraut hätte. Aber wenn dann ein bisschen nachgebohrt wird, stellt man fest, dass der Betreffende sich schon immer etwas eigenartig verhielt, und hätten sich die anderen rechtzeitig gekümmert, wäre vieles nicht passiert.«
»Aber Samson …«
»Es geht nur um etwas Vorsorge«, sagte Millie, »sonst nichts.«
Sie hätte sich ohrfeigen können, weil sie so blöd gewesen war, sich von Gavin erwischen zu lassen. Wenn er Samson etwas davon erzählte, würde dieser sofort sein Passwort ändern, und diesmal würde er eines wählen, auf das sie beim besten Willen nicht käme. Allerdings wusste sie instinktiv, dass Gavin höchstwahrscheinlich die Klappe halten würde. Er war der konfliktscheuste Mensch, den sie kannte, und er würde es sich sehr genau überlegen, ob er Öl in die ohnehin gestörte Beziehung zwischen seiner Frau und seinem Bruder kippen sollte.
»Also, willst du nun weiter lamentieren, oder möchtest du, dass ich dir etwas zu essen koche?«, fragte sie kalt.
Er schien ansetzen zu wollen, noch etwas zu dem Problem zu sagen, aber er überlegte es sich anders. Er sah müde aus. Sein Tag hatte morgens um fünf begonnen. Er hatte schreiende Kinder und grölende Jugendliche in seinem Bus zur Schule transportiert. Er fühlte sich erschlagen, und sie konnte an seinem Gesicht förmlich ablesen, wie er das Thema abhakte, weil ihm die Energie fehlte, sich in eine Auseinandersetzung zu stürzen.
»Essen«, sagte er folgsam.
3
Dienstag, 8. Dezember, 22.10 Uhr
Sie ist nicht besser als andere Frauen. Kein bisschen. Michelle Brown. Ich kenne jetzt ihren Namen, und ich kenne nun ihren Charakter. Sie ist arrogant, selbstbezogen, undankbar. Sie ist übrigens nicht einmal besonders hübsch, jedenfalls nicht, wenn man direkt vor ihr steht. Aus der Ferne sieht sie besser aus. Sie war ziemlich verheult und dadurch fleckig im Gesicht, und ihre Schminke an den Augen war total verschmiert. Wenn ich das vergleiche mit Gillian Ward! Neulich im Halfway House hatte sie auch unverkennbar zuvor geweint, aber das konnte ihr nichts von ihrer Schönheit nehmen. Es machte sie ätherisch, zart, man wollte sie in den Arm nehmen und beschützen. Michelle Brown hingegen würde ich nie in den Arm nehmen wollen. Sie ist überhaupt nicht mein Fall. Trotzdem gab es nicht den geringsten Grund für sie, mich dermaßen herablassend zu behandeln.
Ich sitze jetzt hier und habe mir einen Wollschal um den Hals gewickelt, und vor mir steht ein großer Becher mit heißem Zitronensaft und Honig. Ich spüre, dass ich eine Erkältung bekomme. Ich werde überhaupt nicht mehr warm in den Knochen. Das Abenteuer Michelle Brown werde ich allem Anschein nach mit einer Grippe bezahlen müssen.
Ich war gegen halb sechs bei ihr. Um halb fünf hatte ich den Rückweg angetreten, länger hätte ich es beim besten Willen da draußen in Shoeburyness nicht ausgehalten. Die Kälte war mir in alle Glieder gekrochen, ich hatte das Gefühl, mich nur noch wie ein alter Mann bewegen zu können. Ich hatte brüllenden Hunger, aber es war zu weit bis nach Shoeburyness hinein, und ich weiß auch nicht, wo sich dort ein Supermarkt befindet. Im Sommer kann man am Strand Sandwiches kaufen, aber natürlich nicht im Dezember. Ich hätte daran denken sollen, mir morgens ein Brot mitzunehmen, aber Millie sagt ja immer, dass ich so dumm bin, dass es wehtut, und wahrscheinlich hat sie recht. Ich hatte noch ein kleines Stück Wurst übrig, aber das war ja für Jazz gedacht, und obwohl mir schon ganz schlecht war, habe ich es nicht über mich gebracht, ihm diesen Happen wegzuessen. Zumal er so lieb und geduldig war und das alles so rührend über sich ergehen ließ, dabei fror er auch, und vielleicht hatte er Angst, er würde sein Frauchen nie wiedersehen. Ich hatte ein richtig schlechtes Gewissen ihm gegenüber. Daher bekam er die Wurst. Vom Geruch wurde mir schwindelig. Ich hatte vor Aufregung kaum gefrühstückt.
Eine Weile trieb ich mich noch am Strand herum. Ich war völlig allein dort. Wäre es nicht so kalt gewesen, ich hätte es genossen. Es wurde dunkel, und die Wellen brandeten schwarz und geheimnisvoll heran. Der Nebel hatte sich gelichtet und man sah, dass hinter der wabernden Feuchtigkeit ein schöner Tag gelauert hatte. Ich erlebte sogar noch den Rest eines Sonnenuntergangs. Eine feuerrote Wintersonne versank im Westen, im gelb-grauen Smog über London. Davor der Fluss mit seinem dunklen Wasser, und ein Schleppkahn glitt langsam auf die Mündung zu. Wenn ich mich umdrehte, konnte ich im letzten Licht des Tages das hohe, fahle Strandgras im leisen Wind schaukeln sehen. Es war eine wundervolle, melancholische Atmosphäre. Ich wünschte mir so sehr, Gillian wäre bei mir. Ich wünschte, ich könnte diese Stimmung, dieses Besondere, mit ihr teilen.
Um halb sechs klingelte ich also bei der Brown, nachdem ich mich mit meinen steifen Knochen den ganzen Strand entlang wieder zurück nach Thorpe Bay geschleppt hatte. Sie riss die Tür auf und stand mir direkt gegenüber, sie sah Jazz an, der wie wild mit dem Schwanz wedelte, und dann lagen die beiden sich in den Armen, das heißt, sie kauerte auf dem Boden, und er winselte und zappelte und leckte ihr verheultes Gesicht, und um mich kümmerte sich erst einmal überhaupt niemand. Endlich kam sie wieder auf die Füße. Sie sah noch zerzauster aus als vorher und wirkte irgendwie … verlegen.
Ich weiß nicht, was ich gehofft hatte. Ich glaube, in der letzten Nacht hatte ich mir manchmal ausgemalt, sie würde mich spontan umarmen. Strahlend. Überfließend vor Dankbarkeit. Stattdessen war sie gehemmt. Vielleicht hätte sie mir, nun da sie ihr Goldstück wiederhatte, am liebsten die Tür vor der Nase zugeknallt, aber dafür war sie natürlich zu höflich.
»Wo haben Sie ihn denn gefunden?«, fragte sie.
Ich machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung Fluss. »Ich war spazieren. Ganz weit Richtung Meer, fast schon Shoeburyness, da kam er plötzlich auf mich zu.« Während ich sprach, spürte ich, wie die Röte langsam meinen Hals hinaufkroch. Ich hoffte, dass Michelle meine Verlegenheit nicht bemerkte.
Sie schaute mich ganz ratlos an. »Was wollte er denn dort? Ich verstehe das nicht… Ich verstehe nicht, weshalb er weggelaufen ist. Er hat das noch nie getan!«
»Vielleicht hat er irgendwo einen anderen Hund gerochen oder gesehen und ist ihm nachgelaufen«, mutmaßte ich.
Sie wirkte nicht überzeugt, aber natürlich dämmerte es ihr nicht im Geringsten, wie sich die Dinge tatsächlich abgespielt haben könnten.
»Wie gut, dass er ein Schild mit meiner Adresse und Telefonnummer am Halsband hat«, sagte Michelle, »sonst hätten Sie mich ja gar nicht so leicht ausfindig machen können. Obwohl ich ihn sowohl bei der Polizei als auch im Tierheim bereits als vermisst gemeldet habe. Spätestens da hätten Sie erfahren, wem er gehört.«
Sie hatte keine Ahnung, wie gut ich sie schon kannte. Ihre Bemerkung tat mir weh: Seit einem guten halben Jahr gingen wir jeden Morgen in der Früh, wenn sie ihren Hund spazieren führte, in einigem Abstand aneinander vorbei, und offensichtlich hatte sie mich überhaupt nicht wahrgenommen. Kein Wort in der Art: Ach, sind Sie das nicht, den wir immer morgens treffen?
Stattdessen hielt sie mich für einen Wildfremden. Es war so typisch: Frauen registrieren mich nicht. Und wenn sie mich registrieren, dann vergessen sie mich in der nächsten Sekunde schon wieder. Ich bin ein Mann, an den sie keinen zweiten Blick und keinen anderen als höchstens einen spöttischen Gedanken verschwenden. Es ist so. In meinen hoffnungslosen Momenten weiß ich auch immer, dass sich daran nie etwas ändern wird.
»Ja, also«, sagte ich, »ich bin froh, dass ich ihn entdeckt habe und Ihnen zurückbringen konnte. Er ist ein sehr lieber Hund!«
»Er ist für mich wie ein Baby«, sagte Michelle mit weicher Stimme.
Ich war so kalt, so durchfroren, und ich dachte, du könntest mich jetzt wirklich mal auf einen Kaffee hineinbitten. Natürlich wusste sie nicht, was ich hinter mir hatte, aber schließlich hatte ich ihr »ihr Baby« zurückgebracht! War ihr das nicht einmal einen Kaffee wert?
Wir standen einander ziemlich verlegen gegenüber, dann sagte Michelle: »Also, nochmals vielen Dank, Mr. …?«
»Segal. Samson Segal.«
»Mr. Segal. Ich bin Michelle Brown. Ich bin unendlich erleichtert. Der Tag war furchtbar. Ich sah Jazz schon überfahren oder eingefangen für Tierversuche, ich hatte fürchterliche Bilder vor Augen …«
»Dann wünsche ich Ihnen beiden jetzt noch einen schönen Abend«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. Sie hielt mich nicht zurück.
Sie rief mir ein weiteres Danke hinterher, als ich am Gartentor war.
Und das war’s. Als ich mich auf der Straße noch einmal zum Haus umdrehte, war die Tür schon geschlossen.
Und ich stand da. Frierend. Hungrig. Total erschöpft. Für nichts.
Das Schlimme ist, dass ich in solchen Situationen immer denke, dass sie nur mir passieren. Dass es an mir liegt, nicht an den anderen. Ich stelle mir vor, Bartek zum Beispiel hätte den Hund abgeliefert. Bartek mit seinen schwarzen Haaren, den tiefdunklen Augen, dem herausfordernden Blick, dem leichten Akzent beim Sprechen. Bartek, der zu großer Form auflaufen kann, wenn er sich einer Frau gegenübersieht. Der witzig sein kann und charmant und dem sofort alle Sympathien zufliegen. Ihn hätte sie hereingebeten. Wahrscheinlich hätten sie mit einem Prosecco auf die glückliche Heimkehr des Hundes angestoßen, vielleicht hätte Michelle sogar ein paar Kerzen angezündet oder den Kamin, falls sie einen hat. Bartek hätte sich nicht wie ein begossener Pudel nach Hause schleppen müssen.
Natürlich sagt ihr Verhalten eine Menge über Michelle Brown aus. Einem Mann wie Bartek würde sie sich an den Hals werfen, mich wimmelt sie ab wie einen lästigen Vertreter. Als hätte ich versucht, ihr ein Zeitschriftenabonnement anzudrehen. Es sagt etwas über Frauen im Allgemeinen aus. Die meisten von ihnen sind leider ziemlich billig. Eine schwarze Haarsträhne, die gekonnt in die Stirn fällt, ein osteuropäischer Akzent, und schon kann man von ihnen bekommen, was man will. Bartek ist kein schlechter Kerl, aber er ist ziemlich oberflächlich und verfolgt immer nur seine eigenen Interessen. Ich hingegen habe Tiefgang. Ich könnte einer Frau viel mehr Gefühl und Wärme entgegenbringen, als er das tut, aber die Frauen müssten mir eine Chance geben, ihnen das zu beweisen. Auch Mum hat das immer gesagt. Samson ist ein Mann auf den zweiten Blick, hat sie immer gesagt. Mit einem großen Herzen, aber das muss man erst entdecken.
Aber die Zeit nehmen sich Frauen nicht. Sie sehen einen schüchternen Mann, der leicht errötet und dem keine witzigen Bemerkungen einfallen. Wenn sie hören, dass man arbeitslos ist, dann ist es endgültig vorbei. Frauen sind scharf auf Geld. Michelle bestimmt auch. Sie hat mich taxiert. Sie hat bemerkt, dass meine Kleidung nicht teuer ist und ziemlich abgetragen. Damit war ich erledigt. Gerade gut genug, ihr den Hund einzufangen und zurückzubringen. Aber schon mich nur für einen Moment hineinzubitten, hat sie nicht über sich gebracht.
Sie ist wie all die anderen. All diese verdammten Frauen, die dir als Mann zeigen, was du bist in ihren Augen: ein Stück Dreck. Ein Niemand.
Ich glaube, ich hasse Michelle.
Ich hasse jeden, der mir wehtut.
MITTWOCH, 9. DEZEMBER
1
Auch die längste Nacht, dachte Anne, geht irgendwann zu Ende.
Es war sechs Uhr morgens, als ihre Anspannung endlich nachließ. Noch immer herrschte tiefschwarze Finsternis draußen, und das würde auch für die nächsten zwei Stunden noch so sein, aber Anne war schon immer um sechs Uhr aufgestanden; an den Wochentagen, um in die Praxis zu gehen, an den Wochenenden, um ungestört zwei Stunden lang zu malen, ehe sie das Frühstück zubereitete. Ganz gleich, ob es hell oder dunkel war, für sie begann der Tag um sechs Uhr. Sie war gern wach, während andere noch schliefen. Wobei jetzt, da sie mutterseelenallein in diesem Haus im Wald lebte, das Gefühl, sich in einer wohligen Stille durch eine schlafende Welt zu bewegen, kaum mehr vorhanden war. Die Geräusche, die Stimmen, das Flüstern des Waldes hörten sich in der Nacht anders an als am Tag, und dennoch war es nicht dasselbe, wie auf schweigende, dunkle Häuser zu blicken. In der Einsamkeit hier draußen bestand die Gefahr, dass Tag und Nacht, Schlafen und Wachen miteinander verschmolzen. Besonders in dieser dunklen Zeit vor Weihnachten.
Die vergangene Nacht hatte Anne im Wohnzimmer verbracht. In eine warme Decke eingewickelt, hatte sie in kleinen Schlucken eine heiße Milch getrunken und versucht, ihre aufgewühlten Nerven zu beruhigen. Sie war am Vorabend gegen halb elf ins Bett gegangen, hatte noch eine halbe Stunde lang gelesen und war dann rasch eingeschlafen, aber irgendwann war sie hochgeschreckt und hatte noch für den Bruchteil einer Sekunde einen Lichtschein über die Wände ihres Schlafzimmers gleiten sehen und das Brummen eines Automotors gehört; im nächsten Augenblick erstarb der Motor, verlosch das Licht.
Irgendwo da draußen in der kalten Winternacht stand ein Auto. Saß ein Mensch und … ja, was? Was sollte jemand tun auf dieser Lichtung weitab jeder menschlichen Siedlung? Ein einziges, in einer völligen Einöde befindliches Haus in einem Garten voller kahler Obstbäume beobachten? Warum?
Sie lag herzklopfend im Bett und hoffte, sie habe nur geträumt, aber sie wusste, dass es kein Traum gewesen war. Und auch keine Einbildung. Es war zu oft in der letzten Zeit geschehen. Sie musste anfangen, es ernst zu nehmen. Ohne die geringste Ahnung zu haben, worum es sich bei diesem Es handelte.
Die Leuchtziffern auf ihrem Radiowecker neben dem Bett hatten ihr gezeigt, dass es fast halb eins war.
Sie hatte sich schließlich aufgerafft und war ans Fenster getreten. Auch hier oben gab es Läden, aber die verschloss sie nie. Sie bewegte sich vorsichtig, um nicht gesehen zu werden, spähte hinaus. Ein schwacher Mondschein hinter den Wolken. Sie konnte nichts erkennen, kein Auto, keinen Menschen. Aber sie wusste, dass da jemand war. Atmete, wartete.
Für einen Moment hatte sie überlegt, die Polizei anzurufen. Ich wohne mitten im Wald. In einem ehemaligen Forsthaus. Mit dem Wagen vielleicht zehn Minuten entfernt von Tunbridge Wells. Draußen steht ein Auto. Ich glaube, dass jemand mein Haus beobachtet. Das geht seit einigen Wochen so. Ich sehe den Lichtschein, wenn sich das Auto nähert. Über einen holprigen Waldweg, denn etwas anderes gibt es hier nicht. Dann geht das Licht aus. Das Auto muss irgendwo stehen. Und ich weiß nicht, was der Fahrer will. Was er von mir will.
Ihre Hand hatte zweimal zum Telefonhörer gegriffen, war zweimal wieder zurückgezuckt. Sie fand, dass sich das alles wie die Spinnereien einer schrulligen alten Frau anhörte. Sie konnte sich den Eindruck vorstellen, den sie vermittelte: ältere Frau, kurz vor siebzig, wunderlich genug, um sich in eine gottverlassene Einöde zurückzuziehen. Verwitwet. Menschenscheu. Malt wilde, bunte Bilder. Und nun bildet sie sich Lichter ein. Und Motorengeräusche.
Sie hatte sich schließlich einen Jogginganzug angezogen und war nach unten gegangen. Im Erdgeschoss waren alle Läden fest verschlossen. Früher hatte Anne sie meist offen gelassen. Aber seitdem sich diese seltsamen Dinge ereigneten, wagte sie es nicht mehr.
Zumindest konnte sie von draußen niemand sehen. Sie knipste alle Lichter an, schaltete den Fernseher ein. Stimmen. Jemanden hören. Sich vergewissern, dass sie nicht allein war auf der Welt.
Sie machte sich die Milch heiß, wunderte sich, dass sie so heftig fror, und wickelte sich in eine Wolldecke. Schlafen würde sie nicht mehr können in dieser Nacht, das war ihr klar. Sie war wach und schaute abwechselnd an die Wand und in den Fernseher, während da draußen jemand saß und vermutlich ihr Haus anstarrte. Sie wusste, dass Lichtstreifen durch die Ritzen der Läden nach draußen fielen. Wer immer der geheimnisvolle Fremde war, er konnte sehen, dass sie wach war. Ob diese Tatsache allerdings irgendeine Bedeutung für ihn hatte, vermochte sie nicht zu sagen.
Am Morgen verlor der Albtraum seine scharfen Konturen. Anne hatte vor, in die Stadt zu fahren und ein paar Weihnachtspäckchen für alte Freunde zur Post zu bringen, und sie wusste, dass spätestens dann die tägliche Normalität die Schrecken der Nacht aufheben, sie fast irreal erscheinen lassen würde. Sie war jetzt froh, dass sie nicht die Polizei angerufen und sich lächerlich gemacht hatte. Und sie war sogar froh, dass es diese endlose Nacht gegeben hatte, denn sie hatte zu einer Entscheidung geführt: Anne würde das Haus verkaufen und nach London zurückkehren. Dorthin, wo sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. Und wo die Menschen lebten, die sie noch von früher kannte.
Sie hatte hin und her überlegt, in diesen Stunden, die nicht verstreichen wollten. Den ganzen Schmerz noch einmal durchlebt, in den sie unmittelbar nach Seans Tod gestürzt war. Die Entschlossenheit, mit der sie Einsamkeit und Angst niedergekämpft hatte. Sie hatte sich auch und vor allem des Versprechens entsonnen, das sie ihm und sich gegeben hatte in den ersten Minuten, nachdem er im Krankenhaus für immer eingeschlafen war: Ich mache weiter mit deinem Traum. Mit dem Haus, das du so geliebt hast. Mit den Obstbäumen und den verwunschenen Sommerabenden auf der Veranda und den schweigenden Nächten im Winter, wenn sich der ganze Wald mit Raureif überzieht. Ich lebe das alles für dich mit.
An diesem Morgen gab sie sich die Erlaubnis, ihr Versprechen zurückzuziehen.
Nicht nur, weil irgendein Irrer hier im Wald herumzog und für sie vielleicht zur Gefahr werden würde. Wer immer das war und was immer ihn umtrieb, er war nur der Auslöser für ihre Entscheidung.
Sie hatte eines begriffen in dieser Nacht: Sie lebte tatsächlich Seans Traum. Aber der hatte mit ihr nichts zu tun, nichts mit ihren Wünschen, Sehnsüchten, Lebensvorstellungen. Zu zweit hatte das Leben in diesem Haus seinen Reiz gehabt. Für einen alleinstehenden Menschen konnte es zu einem Albtraum werden.
Sie war müde, aber zugleich elektrisiert. Freudig. Erlöst.
Sie ging in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein, setzte ein Ei in den Eierkocher, nahm Toastbrot aus der Packung. Sie summte leise vor sich hin. Wenn sie in der Post gewesen war, würde sie einen Makler aufsuchen. Vielleicht konnte er sich schon in den nächsten Tagen alles hier ansehen und ihr sagen, mit welchem Kaufpreis sie etwa rechnen durfte. Und dann würde sie sich selbst in die Suche stürzen. Eine hübsche Drei-Zimmer-Wohnung mit einem großen Balkon, den sie bepflanzen konnte. In einem Haus mit anderen Menschen, mit denen man sich vielleicht anfreunden würde. Abends die Lichter der Stadt um sie herum. Sie merkte, dass ihr fast die Tränen kamen bei dem Gedanken daran, und ihr ging auf, wie schwer es ihr in Wahrheit geworden war, die Isolation, in der sie lebte, zu ertragen. Jetzt, da sie diesen Gedanken zum ersten Mal zuließ, begriff sie, wie unglücklich sie gewesen war. Wie sehr sie entgegen ihrer Träume gelebt hatte.
Sie summte leise vor sich hin.
Das Schönste war: Sie hatte den festen Eindruck, dass Sean ihr wohlwollend zunickte.
2
»Und?«, fragte Peter Fielder, als Christy in sein Zimmer trat. Es war noch früh am Morgen, und in den Büros und auf den Fluren der Met war noch nichts los. Peter kam gern vor Tau und Tag in das Präsidium. Er wurde dann nicht andauernd angesprochen und gestört und konnte eine Menge erledigen, ehe die übliche Hektik losging, die aus hin und her eilenden Mitarbeitern, pausenlos klingelnden Telefonen und unvermittelt angesetzten Konferenzen entstand.
Christy McMarrow war ähnlich gelagert, und wahrscheinlich, dachte Peter, machte sie diese Übereinstimmung in beruflichen Fragen zu einem so gut funktionierenden Team.
Sein »Und?« bezog sich auf die Gewissheit, dass Christy mit neuen Informationen zu ihm kam. Sie schaute niemals bloß auf einen Kaffee oder einen gemütlichen Plausch bei ihm vorbei.
Allerdings wirkte sie nicht gerade erfreut. Was immer sie herausgefunden hatte, es schien sie nicht in die Nähe eines Durchbruchs gebracht zu haben.
»Ich habe gestern mit zwei ehemaligen Kolleginnen von Carla Roberts gesprochen, die mit ihr in der Drogerie gearbeitet haben«, berichtete Christy. »Beide schildern Carla als eine nette, freundliche, allerdings auch äußerst zurückhaltende Frau. Sie soll ein eher verschlossener Mensch gewesen sein, jedoch immer hilfsbereit und warmherzig. Die beiden schließen aus, dass sie Feinde am Arbeitsplatz gehabt haben könnte. Ich werde trotzdem noch einmal mit dem Filialleiter sprechen, aber mein Instinkt sagt mir, dass wir an dieser Stelle nichts finden werden.«
»Hm«, machte Peter. »Noch etwas?«
»Ich bin das Adressbuch von Carla Roberts durchgegangen, aber es gibt kaum Einträge darin. Hauptsächlich sind die Kolleginnen aus der Drogerie notiert. Nach ihrem Fortgang dort scheint sie niemanden mehr aufgeschrieben zu haben. Entweder gab es keine neuen Bekanntschaften, oder sie hat sie zumindest nicht festgehalten. Ich habe noch eine Bekannte von früher ausfindig gemacht, aus der Zeit, als Carla noch verheiratet war. Eleanor Sullivan. Sie war mit den Roberts’ locker befreundet. Ich habe auch sie aufgesucht.«
»Und wie reagierte dabei Ihr Instinkt?« Peter fragte das keineswegs spöttisch. Er hatte während der letzten Jahre gelernt, eine Menge auf Christys Instinkt zu geben. Was damit zusammenhängen mochte, dass er sie als Frau bewunderte und verehrte.
»Er schlug nicht wirklich in den hellsten Tönen an«, musste Christy bedauernd zugeben. »Eher gar nicht. Unwahrscheinlich, nach meiner Ansicht, dass der Mörder aus Carlas früherem Leben kommt — es sei denn, es gab Abgründe, die niemandem bekannt waren. Mrs. Sullivan erinnert sich noch gut an Carla und beschreibt sie genauso wie jeder andere: schüchtern, zurückhaltend, sympathisch, sehr freundlich. Sie sagt, Carla habe ihres Wissens nie mit anderen Menschen Probleme gehabt. Sie formulierte es so: Carla sei viel zu still und zu unauffällig gewesen, als dass sie mit jemandem habe in Streit geraten können. Sie muss ein ausgesprochen bescheidener Mensch gewesen sein, der Konflikten aus dem Weg ging und wohl kaum jemanden je provozierte.«
»Hm«, machte Peter erneut. »Es ist zum Verzweifeln: Sie besaß nicht einmal einen Computer. Es gibt keine E-Mail-Kontakte, keine Foren, keine Websites, die uns Aufschluss geben könnten. Wir tappen so jämmerlich im Dunkeln!«
Was Carla Roberts das Leben schwer gemacht hatte, ihre Scheu und ihre Unscheinbarkeit, erschwerte nun auch die Aufklärung der Umstände ihres gewaltsamen Todes. Eine Frau ohne Ecken und Kanten, die nie mit einem anderen Menschen zusammengestoßen war. Die dann trotzdem auf grausame Weise sterben musste. In irgendjemandem musste dieser Ausbund an Unauffälligkeit entsetzliche Aggressionen ausgelöst haben.
»Es muss etwas gegeben haben in ihrem Leben«, sagte er, »es muss etwas gegeben haben, was den Täter zu dieser Brutalität getrieben hat. Es ist eine Sache, ob man jemanden aus sicherer Entfernung einfach abknallt. Eine andere ist es, jemanden zu fesseln und ihm ein Tuch so tief in den Rachen zu stoßen, dass er erbrechen muss. Es dann noch tiefer zu drücken und es auszuhalten, dass der andere in einem grauenhaften Todeskampf an seinem eigenen Erbrochenen erstickt. Meiner Ansicht nach gehört eine Menge Hass dazu. Wodurch hat Carla Roberts ihn ausgelöst? Sie kann nicht nur wie ein freundlicher, kaum wahrnehmbarer Schatten durch den Alltag gehuscht sein.«
»Es sei denn, ihre Ermordung hat überhaupt nichts mit ihr als Person zu tun«, gab Christy zu bedenken, »sondern hängt ausschließlich damit zusammen, dass sie in ihrer Einsamkeit ein passendes Opfer abgab. Für einen Mann, der grundsätzlich ein Problem mit Frauen hat. Immerhin war das gleich der erste Gedanke, der uns allen durch den Kopf schoss, als wir sahen, was man ihr angetan hatte.«
»Trotzdem, wir müssen uns an ihr Leben halten, weil wir keine sonstigen Anhaltspunkte haben.« Er unterdrückte ein Gähnen. Er war so müde. »Hat diese Mrs. Sullivan etwas über die Ehe der Roberts’ gesagt?«
»Ja. Es war wohl eine ziemlich normale Ehe. Ohne Höhen und Tiefen. Der Mann hat viel gearbeitet, war ständig in seiner Firma. Carla fiel aus allen Wolken, als sie von dem finanziellen Desaster erfuhr und von der Tatsache, dass er sie jahrelang betrogen hatte. Am meisten erschütterte es sie wohl, dass sie nie etwas mitbekommen hatte. Mrs. Sullivan telefonierte damals mit ihr, und sie soll am Telefon geradezu stereotyp nur immer wieder den Satz wiederholt haben: Wieso habe ich es nicht gemerkt? Wieso habe ich es nicht gemerkt? Damit kam sie nicht klar.«
»Ist ihr Mann ihr gegenüber jemals gewalttätig gewesen? Oder überhaupt durch einen Hang zu Gewalt auffällig geworden?«
»Nein. Es muss auf eine etwas langweilige, unspektakuläre Art durchaus eine glückliche Ehe gewesen sein. Auch sonst galt er als ruhiger, eher biederer Zeitgenosse. Die Scheidung ging laut Eleanor Sullivan glatt über die Bühne. Finanziell ausgenommen hat sie ihn dabei nicht, es war ja auch absolut nichts mehr zu holen. Außerdem verschwand er dann sehr schnell auf Nimmerwiedersehen.«
Fielder hätte bei sich selbst nicht von einem Instinkt gesprochen, wenn es um die Arbeit ging, aber er hatte doch das deutliche Gefühl, dass sie ihre Zeit verschwendeten, wenn sie dem verschollenen Exehemann hinterherspürten. Er glaubte nicht, dass dieser etwas mit dem Mord an Carla zu tun hatte.
Er wechselte das Thema. »Was ist mit der Eingangstür des Hochhauses? Gibt es dazu etwas Neues?«
Diesmal hatte Christy zumindest ein Ergebnis vorzuweisen.
»Ja. Unser Techniker sagt, sie wurde eindeutig manipuliert. Die Feder, die dafür sorgt, dass die Tür automatisch wieder zufällt, wurde wohl mit einer Zange aus ihrer Verankerung gezogen. Damit konnte jeder kommen und gehen, wann er wollte, ohne einen Schlüssel zu besitzen.«
»Könnte der Mörder gewesen sein.«
»Ja. Muss aber nicht. Der Hausmeister sagt, sie haben immer mal wieder mit Vandalismus zu tun. Hackney ist nicht gerade der bürgerlichste Stadtteil. Es kann sich auch irgendein Jugendlicher einen Spaß erlaubt haben, und unserem Täter kam das dann höchst gelegen.«
Peter Fielder rieb sich die müden Augen. Er hätte jetzt irgendetwas gebraucht, einen winzig kleinen roten Faden, der aus dem Nebel dieses undurchsichtigen Falles hervorblitzte. Den Hauch eines Anhaltspunktes. Irgendetwas, das ihm einen Adrenalinstoß versetzte, die Müdigkeit schlagartig verfliegen ließ. Aber da war nichts. Nichts als das Gefühl, durch wabernden Dunst zu schleichen und dabei nicht einen Schritt wirklich voranzukommen.
Christy bemerkte seine Niedergeschlagenheit. »He, Chef! Nicht so traurig! Bald ist Weihnachten!«
Er machte sich nicht einmal die Mühe zu lächeln.
»Ja. Bald ist Weihnachten. Aber da draußen läuft ein Irrer herum. Daran ändert auch Weihnachten nichts.«
»Meinen Sie, er tut es wieder?«
»Möglich. Unter Umständen hat er ein Problem, das allein mit Carla Roberts’ Ermordung noch nicht gelöst ist.«
»Ein Typ, der Frauen hasst? Und einfach auf günstige Gelegenheiten lauert, seinen Hass auszuleben? Das würde die Theorie des Zufallsopfers stärken.«
»Bedingt. Nichts ist nur Zufall. Irgendwo in Carla Roberts’ Leben muss es einen Schnittpunkt mit dem Leben ihres Mörders gegeben haben. Er mag winzig sein und so unbedeutend erscheinen, dass wir die größten Schwierigkeiten haben werden, ihn zu entdecken. Aber ich glaube nicht, dass jemand einfach in den obersten Stock eines Hochhauses hinauffährt, dort an der nächstbesten Wohnungstür klingelt und die Frau, die dort zufällig alleine lebt, ermordet, ohne vorher von ihrer Existenz und ihren Lebensumständen Kenntnis gehabt zu haben.« Fielder stand auf, entschlossen, sich von seiner Erschöpfung und seiner deprimierten Stimmung nicht niederringen zu lassen. »Nein, ich denke, der Mörder kannte Carla Roberts. Wusste ganz gut über sie Bescheid. Und deswegen müssen wir ihr Leben auseinandernehmen. Bis in die kleinste Verästelung. Wahrscheinlich müssen wir an Stellen suchen, die sich uns keineswegs als Erstes aufdrängen. Und wir sollten uns dabei klarmachen, dass wir vielleicht nicht viel Zeit haben.«
Christy schwieg.
Sie wusste, er dachte an das nächste Opfer.
3
Im Halfway House war es nicht so voll wie am Freitag zuvor. Dennoch herrschte ein reges Stimmengewirr, und an der Bar stand eine Traube von Menschen. Der Fußboden war nass und schmutzig, weil jeder das feuchte Schmuddelwetter an den Schuhen mit hereinbrachte. Irgendwo im Hintergrund dudelte ein Radio Weihnachtsmusik.
Noch in der Tür stehend, vergewisserte sich Gillian, dass der Typ aus ihrer Straße, Samson Segal, diesmal nicht anwesend war. Sonst hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Er brauchte sie nicht zum zweiten Mal in trauter Zweisamkeit mit einem Fremden zu beobachten. Er schien jedoch nicht da zu sein, soweit sie das auf den ersten Blick zu erkennen vermochte, und sie konnte nicht länger herumspähen, denn die Ersten begannen sich schon zu beschweren.
»Tür zu! Ist nicht gerade eine laue Sommernacht draußen, junge Frau!«
John Burton kam auf sie zu, als sie schon glaubte, ihr Mut werde sie verlassen. Sie hatte fast gehofft, er sei bereits wieder gegangen, denn sie war beinahe eine Dreiviertelstunde zu spät. Es schmeichelte ihr, dass er gewartet hatte, aber zugleich zog sich ihr Magen nervös zusammen.
»Schön, dass Sie gekommen sind«, sagte er. Er nahm ihr den Mantel ab und legte seine Hand auf ihren Arm, während er sie zu einem kleinen Ecktischchen führte, auf dem eine Karaffe mit Wein und zwei Gläser standen. »Ich hoffe, der Tisch hier ist in Ordnung?«
»Ja, natürlich. Es tut mir leid, dass ich so spät bin. Wir lassen Becky abends noch nicht allein, und deshalb musste ich warten, bis mein Mann nach Hause kam.«
In Wahrheit war Tom recht früh an diesem Tag zu Hause gewesen. Sie hatte ihm am Morgen gesagt, dass sie abends mit Tara verabredet war, und er hatte sich ohne Murren an die Abmachung gehalten, die für derartige Fälle zwischen ihnen bestand: Er kam so früh wie möglich nach Hause, damit Gillian rechtzeitig weg konnte.
Aber sie hatte gezögert und gezaudert. Und sich dabei immer wieder gefragt, weshalb sie sich eigentlich so unsicher fühlte. John Burton war der Handballtrainer ihrer Tochter. Er hatte sie auf ein Glas Wein eingeladen. Nicht zu sich nach Hause, sondern in ein öffentliches Pub. Es war nichts dabei. Es war lächerlich, deswegen so durcheinanderzugeraten.
Tara, mit der sie während der Mittagspause telefoniert hatte, um ihr Alibi abzusichern, brachte die Angelegenheit allerdings auf den Punkt. »Wenn überhaupt nichts dabei ist, warum sagst du dann deinem Mann nicht einfach die Wahrheit? Warum brauchst du dann mich?«
»Tom könnte auf falsche Gedanken kommen.«
»Welche Gedanken hast du denn?«
»Tara …«
Tara hatte gelacht. »Hör mal, Schatz, du musst dich vor mir kein bisschen rechtfertigen. Und du kannst mich gern bei Tom vorschieben. Ich habe auch keinerlei Probleme damit, wenn du gleich heute Abend mit diesem aufregenden Traummann ins Bett gehst. Nur erwarte dir davon nicht die Lösung deiner Probleme. Von einer Affäre. Es könnte ein schöner Kick sein. Mehr nicht.«
»Ich gehe doch nicht mit ihm ins Bett!«
Tara hatte nichts darauf erwidert, aber Gillian bekam eine deutliche Vorstellung davon, was der Begriff beredtes Schweigen zu bedeuten hatte.
Sie war schließlich doch losgezogen, sie wollte nicht als Feigling dastehen. Sie hatte sich für Jeans und Pullover entschieden, die Haare sorgfältig gebürstet und etwas Lippenstift aufgelegt, aber ansonsten blieb sie ungeschminkt. Burton sollte bloß nicht denken, dass sie sich seinetwegen besonders ins Zeug legte. Abgesehen davon musste sie vor Tom glaubwürdig bleiben: Sie takelte sich ja auch sonst nicht auf, wenn sie sich mit Tara traf.
Als sie saßen, schenkte John den Rotwein aus. »Sie haben hier erstaunlich guten Wein. Und wenn Sie Hunger haben, könnten wir …«
Sie unterbrach ihn sofort. An Essen konnte sie im Moment nicht einmal denken. »Nein danke. Ich möchte nur etwas trinken.«
Sie nahm einen Schluck. Der Wein schmeckte ihr, vor allem aber hatte er eine entspannende Wirkung auf ihre Nerven. Sie fühlte sich gleich ein wenig gelassener.
»Wie geht es mit Becky?«, erkundigte sich John.
Gillian schüttelte den Kopf. »Nichts Neues. Sie kommt mit mir im Moment einfach nicht besonders gut zurecht. Als ich ihr heute früh sagte, dass ich abends weg sein würde, hat sie ausgesprochen gut gelaunt reagiert. Sie liebt es, mit ihrem Vater allein zu Abend zu essen und noch ein wenig fernzusehen. Ich versuche mir nichts daraus zu machen, aber es tut schon weh.«
»Ich glaube, dass viele Mädchen das in bestimmten Lebensphasen haben: eine sehr starke Vaterbeziehung. Die Mutter stört dann. Aber das ändert sich wieder. Auf einmal sind Sie ihre engste Vertraute, und der Vater weiß überhaupt nicht mehr, was eigentlich vor sich geht. Er stößt dann irgendwann morgens im Bad auf den Jungen, der gerade bei seiner Tochter übernachtet hat, und fragt sich, was ihm wohl sonst noch alles entgangen ist.«
»Bei Ihnen klingt das sehr unkompliziert. «
John zuckte mit den Schultern. »Meiner Ansicht nach wird heutzutage gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen vieles viel zu dramatisch gesehen. Manchmal muss man sie einfach nur in Ruhe lassen.«
»Manchmal kann genau das aber fatal sein.«
»Es gibt kein Patentrezept«, räumte John ein.
Gillian wechselte das Thema. »Offiziell«, sagte sie, »bin ich übrigens gerade mit meiner Freundin Tara zusammen. Ich habe meinem Mann gesagt, dass ich mich mit ihr treffe.«
»Sie haben ihn angeschwindelt?«
»Ja.«
»Sie sehen nicht so aus, als ob Sie das oft tun.«
Gillian nahm rasch noch einen Schluck Rotwein und fragte sich, wieso sie sich so weit vorgewagt hatte. Fang bloß nicht wieder an, ihn herauszufordern. Oder mit ihm zu flirten oder etwas ähnlich Blödes zu tun. Das ist nicht deine Art!
»Nein. Natürlich nicht. Aber ich … wollte einfach keine Probleme.«
»Er hätte etwas dagegen gehabt, dass Sie sich mit mir treffen, das ist klar.«
»Hätten Sie an seiner Stelle nichts dagegen?«
»Ich bin nicht verheiratet. Absichtlich nicht. Um mich mit solchen Schwierigkeiten gar nicht erst abgeben zu müssen.«
»Es war jedenfalls einfacher zu sagen, ich gehe mit Tara weg«, sagte Gillian.
Er nickte, so als sei er plötzlich von ihrer schlichten Antwort überzeugt. »Ich verstehe.«
Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas, und schließlich fragte Gillian: »Weshalb wollten Sie mich treffen? Ich meine … unsere letzte Begegnung kann nicht besonders anregend für Sie gewesen sein.«
»Wieso nicht?«
»Im Wesentlichen habe ich Ihnen etwas vorgeheult. Und Ihnen ein paar gewöhnliche und banale Sorgen geschildert. Nicht gerade aufregend.«
Er sah sie nachdenklich an. »Ich habe Sie nicht als eine Frau mit banalen Sorgen empfunden.«
»Als was dann?«
»Als eine sehr attraktive Frau, die ein paar Probleme hat. Und wer hat die nicht?«
»Ich hatte am Ende den Eindruck, dass Sie verärgert waren.«
»Ich war nicht verärgert. Abweisend vielleicht. Sie haben ein Thema angesprochen, über das ich nicht reden wollte.«
»Ihr Ausscheiden aus dem Polizeidienst.«
»Richtig«, sagte er, und seine Miene verschloss sich.
Diesmal war Gillian klug genug, nicht zu insistieren. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet«, sagte sie. »Weshalb dieses Treffen heute?«
Er lächelte. »Doch. Eigentlich habe ich geantwortet.«
Sie wartete.
»Ich habe gerade gesagt, dass Sie eine sehr attraktive Frau sind«, erklärte er.
»Das ist der Grund?«
»Um ehrlich zu sein — ja.«
Seine Direktheit hatte etwas Entwaffnendes. Gillian musste lachen. »Ich bin verheiratet.«
»Ich weiß.«
»Und wohin soll das alles führen?«
»Das entscheiden Sie«, sagte John. »Schließlich sind Sie diejenige, die verheiratet ist. Sie haben eine Familie. Sie müssen einen Besuch bei Ihrer Freundin vortäuschen, wenn Sie mich treffen wollen. Sie müssen wissen, wie weit Sie gehen möchten.«
»Vielleicht will ich jetzt bloß meinen Wein zu Ende trinken und dann nach Hause gehen.«
»Vielleicht«, sagte John und lächelte wieder.
Sein Lächeln wirkte von oben herab, und er schien nicht zu glauben, dass sie das wirklich tun würde: nach Hause gehen. Sie merkte, dass sie ärgerlich wurde. John Burton wirkte auf einmal ausgesprochen routiniert und vermittelte ihr das Gefühl, manipuliert zu werden. Wahrscheinlich zog er gerade eine vielfach erprobte Masche ab, die aus einer geschickten Abfolge von Entgegenkommen und Rückzügen bestand, von gleichmütig hervorgebrachten Statements und der Verlockung eines im richtigen Moment aufgesetzten, etwas zynischen Lächelns. Sie dachte an die Weihnachtsfeier im Handballclub, als die andere Mutter neben ihr über das Liebesleben des gut aussehenden Trainers gerätselt hatte. Wahrscheinlich gab es tatsächlich keine beständige Partnerin in seinem Leben, und es war auch nicht das, was er anstrebte. Er verführte, was ihm gefiel und was ihm über den Weg lief, lebte kurze Affären und wandte sich dann dem nächsten Objekt seiner Begierde zu.
Gillian war sich bewusst, dass sie manchmal keine genaue Vorstellung davon hatte, was sie wollte, aber für den Moment war ihr zumindest klar, was sie nicht wollte: eine weitere Trophäe inmitten der langen Kette von Eroberungen eines attraktiven Frauenhelden zu sein. Sie trank den letzten Schluck in ihrem Glas und wehrte ab, als John nach der Karaffe griff.
»Für mich nichts mehr, danke. Es war nett mit Ihnen, John. Ich denke, ich fahre jetzt nach Hause.«
Er wirkte überrascht. »Jetzt schon?«
Sie stand auf. »Ja. Ich habe mich entschieden, wissen Sie.«
Er erhob sich ebenfalls, aber sie lief bereits zur Garderobe, schnappte sich ihren Mantel und war durch die Tür, noch ehe sie ihn angezogen hatte. Nach der verbrauchten, stickigen Luft drinnen war es wunderbar, den feuchtkalten Abend draußen zu spüren. Gillian genoss die Kühle und die Stille. Direkt vor ihr lagen der Strand und der Fluss. Sie sah die abgrundtiefe nächtliche Dunkelheit des Wassers, hörte das leise Gurgeln der Wellen. Roch Salzwasser und Tang. Sie schlüpfte in ihren Mantel. Ihr fiel plötzlich ein riesiges Gewicht von der Seele. Was hatte sie sich bloß gedacht, als sie beschloss, hierherzukommen?
Sie hatte ihr Auto, das an der Straße parkte, fast erreicht, als John Burton hinter ihr auftauchte. Er war ein wenig außer Atem. »Nun warten Sie doch«, sagte er. »Meine Güte, haben Sie ein Tempo drauf! Ich musste schließlich noch bezahlen …«
»Mir lag ja auch nicht daran, auf Sie zu warten«, sagte Gillian und öffnete mit der Fernbedienung ihre Wagentüren. Sie wollte einsteigen, aber John hielt sie am Arm fest.
»Was habe ich falsch gemacht?«, fragte er.
»Im Prinzip wahrscheinlich gar nichts«, erklärte Gillian. »Nur — ich will einfach nicht.«
»Was wollen Sie nicht? Mit mir etwas trinken? Mit mir reden?«
»Ich will meinen Mann und meine Tochter nicht belügen. Ich will mich in nichts verstricken, was das notwendig machen würde.«
»Sie haben Ihren Mann heute bereits belogen.«
»Schlimm genug. Ich muss das ja nicht wiederholen.«
»Warten Sie«, bat er, »bitte. Steigen Sie jetzt nicht einfach ein und fahren davon. Es tut mir leid, wenn ich gerade eben ein ziemlich blasiertes und dummes Verhalten an den Tag gelegt habe.« Er wehrte ab, als sie etwas erwidern wollte. »Nein, es war so. Ich wollte als der große Verführer auftreten, und wahrscheinlich hat Sie genau das verärgert, und ich kann das verstehen. Es tut mir leid. Mehr kann ich nicht sagen. Wirklich. Es tut mir leid.«
»Es ist schon in Ordnung. Nur …«
»… nur Sie geben mir keine zweite Chance.«
»John, verstehen Sie doch …«
»Können wir uns nicht kurz in Ihr Auto setzen?«, fragte er. »Es ist ziemlich kalt, und man weiß hier auf der Straße nie, wer zuhört.«
»Okay«, willigte Gillian ein. Sie setzte sich hinter das Steuer, John rutschte auf den Beifahrersitz.
»Sie faszinieren mich«, sagte er. »Und ich möchte Sie wiedersehen. Ich nehme an, das haben Sie schon begriffen. Ich weiß, die Umstände sind äußerst ungünstig. Trotzdem. Ich kann Sie mir nicht einfach aus dem Kopf schlagen. Ich habe es über das Wochenende versucht. Es gelingt mir nicht.«
»Es gibt bestimmt genügend Frauen, mit denen Sie sich trösten können«, sagte Gillian.
Er sah ihr direkt in die Augen. Sein Gesichtsausdruck wirkte sehr ernsthaft. Und aufrichtig. »Nein«, sagte er, »die gibt es nicht. Vielleicht passt das nicht zu den Gerüchten, die sich um mich gebildet haben, aber es ist tatsächlich so: Es gibt sie nicht.«
»Unter den Müttern im Club gelten Sie als pausenloser Verführer.«
»Großartig. Aber es stimmt nicht. Das Ende meiner letzten Beziehung liegt über ein Jahr zurück. In der Zwischenzeit habe ich wie ein Mönch gelebt.«
»Dafür legen Sie ein ziemlich geübtes Verhalten an den Tag, wenn es darum geht, eine Frau für sich zu gewinnen.«
»Wäre ich wirklich geübt, hätte ich rechtzeitig gemerkt, dass ich bei Ihnen mit meinem Verhalten völlig auf dem Holzweg bin. Ich habe mich entschuldigt, Gillian. Ich wollte einfach besonders cool rüberkommen. Es war idiotisch.«
»Sie versuchen, sehr geheimnisvoll zu wirken.«
»Was wollen Sie wissen? Ich erzähle es Ihnen!« Er sah sie fast flehentlich an. »Ich möchte nichts vor Ihnen verbergen, Gillian!«
»Weshalb sind Sie aus dem Polizeidienst ausgeschieden?«
Er schien förmlich in sich zusammenzufallen. Er hob beide Hände, eine Geste der Hilflosigkeit. »Oh Gott. In der Frage lassen Sie nicht locker, oder?«
»Es interessiert mich eben«, sagte Gillian.
»In Ordnung«, sagte er resigniert, »obwohl Sie mich wahrscheinlich jetzt gleich aus dem Auto werfen, wenn ich es Ihnen sage. Und Ihre Tochter im Club abmelden.«
»Klingt nicht gut.«
»Nein. Vor acht Jahren bekam ich eine Anzeige wegen sexueller Nötigung. Die junge Frau war Praktikantin bei mir. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren mangels Beweisen eingestellt, es kam nicht zur Anklageerhebung. Dennoch konnte ich danach nicht bleiben, es ging einfach nicht mehr. Zufrieden?«
Sie sah ihn erschrocken an.
4
Als sie daheim in die Garageneinfahrt bog, bewegte sich ein Schatten auf dem Weg, der zur Haustür führte. Tom.
»Ich habe dein Auto gehört«, erklärte er, »und da dachte ich …«
Sie schloss den Wagen ab. »Was dachtest du?«
»Ich dachte, ich gehe dir einfach entgegen«, sagte er und lächelte.
Toms Fürsorge rührte Gillian. Sie hatte oft den Eindruck, er sei eher mit ihrer beider Firma verheiratet als mit ihr und in zweiter Linie mit seinem Tennisclub, aber es gab Augenblicke, da spürte sie die Wärme, die es vor Jahren zwischen ihnen gegeben hatte und die verborgen und vom Alltag überlagert noch immer da war. Gerade heute Abend hätte sie allerdings lieber darauf verzichtet.
Sie spürte, dass Tom sie von der Seite musterte.
Was sieht er?, fragte sie sich beklommen. Was denkt er?
Tom gingen ähnliche Gedanken durch den Kopf. Er sah Gillian mit ihren langen, immer etwas chaotischen Haaren und dem feinen Profil. Er sah die Frau, die er seit über zwanzig Jahren kannte, die er als Student kennengelernt hatte und ohne die er sich schon nach kürzester Zeit sein Leben nicht mehr hätte vorstellen können. Er hatte sie lange nicht mehr so intensiv wahrgenommen wie an diesem Abend. Es war eine plötzliche Unruhe gewesen, die ihn hinausgetrieben hatte, die ihn dazu gebracht hatte, das warme Wohnzimmer zu verlassen und sich in die Kälte zu stellen, als er meinte, in der Ferne den Motor ihres Wagens zu vernehmen.
Besorgt fragte er sich nun, worin der Grund für seine Unruhe bestand.
Gillian war neunzehn gewesen, als sie an die Uni kam, und sie hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert. Sie war anders als die anderen Studentinnen, und das hing nicht nur mit ihren auffälligen wilden Haaren zusammen. Es lag etwas Altmodisches in ihrem Wesen, das sie von den anderen abhob. Gillian war das einzige Kind übermäßig besorgter, fürsorglicher Eltern, die sie von klein auf praktisch bei jedem Schritt, den sie tat, vor den Gefahren einer bösartigen, gefährlichen Welt gewarnt hatten, und der Besuch der Universität verlieh ihr zum ersten Mal ein Gefühl von Freiheit. Sie hatte Glasgow gewählt, obwohl sie aus Norwich in East Anglia stammte, und dabei hatte ein einziger Gedanke den Ausschlag gegeben, wie sie Tom später einmal anvertraute: genügend räumlichen Abstand zwischen sich und ihren Eltern zu schaffen, sodass ihre Mutter nicht an jedem Wochenende anrauschen und nach ihr sehen konnte.
Gillian hatte unsicher gewirkt, oft zögernd und unerfahren, aber ihre Lebensfreude war hinter dieser Scheu spürbar gewesen. Ihre Mutter hatte es bis zu jenem Zeitpunkt geschafft, sie so lückenlos zu bewachen, dass es keinem Mann geglückt war, jemals mit ihr allein zu sein, und auch dieser Umstand hatte dazu beigetragen, Gillians Selbstsicherheit zu untergraben. Die meisten Mädchen hatten seit ihrem sechzehnten Lebensjahr einen festen Freund. Sie selbst hatte keine Ahnung, ob und wie sie überhaupt auf Männer wirkte.
Aber dann war Tom gekommen, hatte sie geradezu belagert, und im Handumdrehen waren sie ein Liebespaar gewesen, und plötzlich war Gillian aufgeblüht, nicht nur wegen dieses gut aussehenden jungen Mannes, der als der Tennisstar der Universität galt, sondern auch deshalb, weil sie ihre Kraft und ihre Fähigkeiten entdeckte und feststellte, dass das Leben entgegen den Warnungen ihrer Mutter nicht in erster Linie bedrohlich, sondern vor allem aufregend und herausfordernd war. Sie war bei Kommilitonen und Professoren beliebt, schrieb gute Noten und durchtanzte die Nächte an den Wochenenden. Als sie nach ihrem Abschluss für ein paar Monate bei einer Filmproduktion jobbte, um sich etwas Geld zu verdienen, hatte man sie dort überhaupt nicht mehr gehen lassen, sondern ihr sogleich eine feste Stelle angeboten und erste Kompetenzen übertragen. Schon nach kurzer Zeit hatte sie völlig selbstständig die finanziellen Kalkulationen für die Projekte erstellt. Gillian schien in dieser Zeit von innen heraus zu leuchten.
Das hat sich geändert, dachte Tom nun, und vielleicht macht mir das plötzlich Sorgen. Sie leuchtet nicht mehr. Sie strahlt nicht mehr.
»Und wie war es mit Tara?«, fragte er, als sie die Haustür erreicht hatten und eintraten. »Ihr wart in einer Kneipe, oder?«
»Ja. Wieso?«
»Du riechst danach. Übrigens bist du ganz schön früh zurück!«
Sie war nach ihrem überstürzten Abschied von John Burton auf einen Parkplatz in der Nähe von Beckys Schule gefahren und hatte dort eine ganze Weile gewartet, um nicht allzu rasch nach ihrem Aufbruch wieder daheim aufzukreuzen. Einen Moment war sie versucht gewesen, tatsächlich noch zu Tara zu fahren und die verstörenden Neuigkeiten mit ihr zu diskutieren, obwohl sie dafür bis nach London hinein gemusst hätte, aber sie hatte sich klargemacht, dass die Freundin dafür der falsche Gesprächspartner war. John Burton wäre für alle Zeiten bei ihr erledigt gewesen, und sie hätte keine Ruhe gegeben, ehe Gillian nicht Becky im Handballclub abgemeldet hätte. Sie war Juristin. Die Tatsache, dass das Verfahren gegen John eingestellt und keine Anklage erhoben worden war, hätte sie vermutlich wenig beeindruckt. Dafür kannte sie die Situation Aus Mangel an Beweisen nur zu gut.
Irgendwann war es Gillian auf dem Parkplatz zu kalt geworden und sie hatte den Heimweg angetreten, aber für einen Abend mit Tara war sie noch immer ungewöhnlich zeitig zurück.
»Tara hatte noch einen Termin«, erklärte sie nun rasch auf Toms Bemerkung hin. »Du weißt ja, im Prinzip hat sie eigentlich nie wirklich Zeit. Wir konnten uns nur ziemlich kurz auf halbem Weg zwischen hier und London sehen.«
»Ich verstehe«, sagte Tom. Er betrachtete Gillian im hellen Licht des Eingangsflures. »Du wirkst so angespannt. Ist alles in Ordnung?«
»Natürlich. Aber … na ja, Taras berufliche Geschichten gehen einem manchmal ein bisschen an die Nieren.«
»Ich verstehe ja auch nicht, weshalb du dich ausgerechnet mit …«, setzte Tom an, aber sie unterbrach ihn, ehe er sich wieder auf ihre Freundschaft mit Tara einschießen konnte:
»Becky schläft schon?«
»Sie ist vor zwanzig Minuten ins Bett gegangen, und als ich eben nach ihr gesehen habe, schlief sie bereits. Mit Chuck im Arm natürlich. Es gab keinerlei Probleme mit ihr.«
Klar. Die gab es nie zwischen ihm und Becky. Die Probleme schienen alle für Gillian reserviert zu sein.
»Wir haben Pizza bestellt«, fuhr Tom fort, »und sie dann vor dem Fernseher gegessen. Du weißt ja, wie sie das liebt — direkt aus der Pappschachtel und auf dem Fußboden sitzend.«
»Ich kann das nur nicht jeden Abend machen«, sagte Gillian. »Sie muss auch gesunde Dinge essen und gelegentlich Messer und Gabel benutzen. Und ich muss sie früher ins Bett schicken, als du das offenbar tust, sonst schläft sie am nächsten Tag in der Schule ein!«
Sie merkte, dass sie viel schärfer als beabsichtigt geklungen hatte. Tom wirkte betroffen. »Das war doch keine Kritik an dir, Gillian! Natürlich muss so etwas eine Ausnahme bleiben. Aber ich bin nicht allzu oft mit Becky allein, und da können wir ja dann irgendetwas Besonderes veranstalten.«
Sie wusste selbst nicht, was sie geritten hatte. Tom hatte recht, und es war auch nicht so, dass sie ihm und Becky einen ausgedehnten Fernseh- und Pizzaabend nicht jederzeit von Herzen gegönnt hätte. Sie war eine erwachsene Frau, und vermutlich war es lächerlich, dass sie Eifersucht empfand und sich schlecht behandelt fühlte. Es war ungerecht und doch wahrscheinlich die Normalität in vielen Familien: Tom war der Vater, der kaum Zeit hatte, der aber, wenn er dann doch einmal mit seiner Tochter zusammen war, fünf gerade sein ließ und irgendetwas Unvernünftiges mit ihr anstellte, was ihr einen Riesenspaß machte. Gillian als Mutter, die sich viel häufiger um das Kind kümmerte, musste sich unbeliebt machen, indem sie Salat und Gemüse auf den Tisch brachte, auf das Erledigen der Hausaufgaben bestand und schimpfte, weil sich das Zimmer langsam in ein undurchdringliches Chaos verwandelte. Sie zog sich den Ärger ihrer Tochter zu, Tom die heillose Bewunderung.
»Ich sollte vielleicht jeden Tag nach London kommen«, sagte sie unvermittelt. »Und wieder mehr arbeiten. Vielleicht täte mir das gut.«
Tom sah sie überrascht an. »Ich habe bestimmt nichts dagegen. Du machst einen ausgezeichneten Job, und es wäre wunderbar, dich öfter in der Firma zu haben. Allerdings wird es mit Becky …«
»Becky könnte ruhig etwas öfter allein bleiben. Sie fühlt sich ohnehin von mir zu sehr bemuttert. Ich sollte sie etwas mehr loslassen. Ich habe es meinen Eltern immer vorgeworfen, dass sie mich mit ihrer beschützenden Art so eingeengt haben, und vielleicht bin ich längst dabei, ihre Fehler zu wiederholen.«
»Becky ist erst zwölf«, erinnerte Tom. »In dem Alter überschätzen sie sich auch gern.«
Er ging ins Wohnzimmer, blieb am Fenster stehen und blickte in die Dunkelheit, in der er im Wesentlichen nur das gespiegelte Zimmer sehen konnte. »Vielleicht sollten wir es einfach ausprobieren«, meinte er.
Sie folgte ihm, nachdem sie ihre Stiefel abgestreift hatte. »Sie wünscht sich mehr Vertrauen von mir. Und ich will das nicht einfach ignorieren.«
Er drehte sich zu ihr um. Sie konnte sehen, wie müde er war, wie abgekämpft. Zugleich vibrierte er vor Tatendrang, und wahrscheinlich wäre er am liebsten schon wieder durch die Tennishalle getobt und hätte seinem Gegner unhaltbare Bälle über das Netz geschmettert. Es war sein zunehmendes Problem in den letzten Jahren, dass er seinen auf zu hohen Touren laufenden inneren Motor auch nach Büroschluss nicht hinunterfahren konnte. Er schien rund um die Uhr unter Adrenalin zu stehen. Die Selbstständigkeit hatte diese Entwicklung in ihm ausgelöst. Er bekam seine Drehzahl nicht in den Griff, er wirkte wie jemand, der beständig Aufputschmittel nahm — was er nicht tat, wie Gillian wusste. Er geriet ganz von selbst immer wieder in diesen Zustand. In regelmäßigen Abständen beschwor Gillian ihn, einen Arzt aufzusuchen. Sie hatte Angst, dass er direkt auf einen Infarkt zusteuerte, denn er erfüllte auf geradezu klassische Weise sämtliche Voraussetzungen.
»Mein Herz ist völlig in Ordnung«, sagte er dann.
Als ob er das wissen konnte — schließlich machte er, seit sie ihn kannte, einen riesigen Bogen um alles, was auch nur entfernt an eine Arztpraxis erinnerte.
Sie trat an ihn heran, legte ihm sacht ihre Hand auf den Arm. »Es kommt schon alles wieder in Ordnung«, sagte sie.
»Natürlich«, sagte Tom.
Er wusste nicht genau, wovon sie sprach, hatte aber den Eindruck, dass sie das Thema Becky verlassen hatte, dass es um etwas anderes ging. Es hatte etwas mit ihrer beider Distanz zu tun, damit, dass das Strahlen aus Gillians Augen verschwunden war. Damit, dass er zu viel arbeitete und fanatisch Tennis spielte und viel zu wenig Zeit mit seiner Frau verbrachte. Gillian machte ihm nie Vorwürfe wegen seiner zahllosen Überstunden, sein Unternehmen war auch ihr Unternehmen, sie sah die Schwierigkeiten, in denen sie alle steckten, seitdem die Welt in die härteste Rezession seit den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gerauscht war. Sie war nicht die Frau, die lamentierte, weil ihr Mann mit aller Kraft um das kämpfte, was sie gemeinsam aufgebaut hatten. Auf irgendeiner Ebene verstand sie vielleicht sogar, weshalb er so exzessiv Sport trieb, begriff, dass hier ein Ventil für ihn lag, ohne das er seine mörderische Überlastung nicht hätte aushalten können.
Aber sie verstand nicht, weshalb er nicht mehr wirklich bei ihr war. Auch dann nicht bei ihr war, wenn er nachts neben ihr im Bett lag. Und sie litt darunter.
Er verstand es selbst nicht. Er liebte Gillian. Er wusste noch genau, wann ihm klar geworden war, dass er sie heiraten wollte und dass es nie wieder eine andere für ihn geben konnte: Während ihres Studiums hatten sie an einem Herbstwochenende eine Wanderung in den schottischen Highlands unternommen, mit Zelt und Kochgeschirr, bei wunderbarem, sonnigem Wetter. Um sie herum war die überwältigende Einsamkeit und Weite der Hochmoore gewesen, und die Hügel hatten im satten Lila des Heidekrauts geleuchtet. Abends hatten sie ein Lagerfeuer angezündet und sich später im Zelt zusammen in einen Schlafsack gekuschelt und einander in der plötzlich hereinbrechenden Kälte gewärmt. Als sie am nächsten Morgen hinauskrochen, war das Wetter umgeschlagen: Vor lauter Nebel konnten sie kaum noch die eigene Hand vor den Augen sehen. Sie traten den Rückweg an, aber an einem felsigen Steilhang, den sie hinaufklettern mussten, war Tom plötzlich ausgerutscht und so unglücklich gestürzt, dass er sich, wie sich später herausstellte, den Fuß gebrochen hatte. Er lag zwischen den Steinen im nasskalten Nebel, halb ohnmächtig vor Schmerzen, er musste sich übergeben und ihm war schwindelig, er hatte keine Ahnung, wie sie nun aus dieser verdammten Weltabgeschiedenheit hinauskommen und zu dem Parkplatz gelangen sollten, an dem er seine altersschwache Rostlaube von einem Auto abgestellt hatte. Gillian war zu Tode erschrocken gewesen, aber sie hatte sich schnell gefangen, war weder in Tränen ausgebrochen noch in entsetzte Hilflosigkeit versunken. Aus Zweigen und Mullbinden baute sie eine Schiene, die seinen Knöchel fixierte, sie schulterte das schwere Zelt und half Tom beim Aufstehen, und dann stützte sie ihn, den ein Meter neunzig großen Mann, über schmale Trampelpfade, durch Täler, in denen die Feuchtigkeit waberte, über felsige Höhen, auf denen die Kälte ihnen durch Mark und Bein ging. Sie munterte ihn auf, wenn ihn die Schmerzen quälten, sprach ihm Mut zu, und obwohl sie sich irgendwann vor Erschöpfung und unter dem Gewicht, das sie zu tragen hatte, kaum mehr auf den Beinen halten konnte, war sie unbeirrt weitergegangen, mit zusammengebissenen Zähnen und auf unerschütterliche Weise entschlossen.
Damals dachte er: Ich lasse sie nie wieder los.
Es hing nicht nur damit zusammen, dass er sie in diesen Momenten als seine Retterin empfand. Sie hatte ihm auch ihr ganzes Wesen offenbart: ihre Kraft. Ihren Willen, die Dinge zu tun, die getan werden mussten.
Sie hatten noch während des Studiums geheiratet.
An seinen Gefühlen hatte sich bis heute nichts geändert, jedenfalls nicht in seinem tiefsten Inneren, das wusste er. Noch immer war Gillian die Frau, die er liebte, die Frau, auf die er sich blind verließ. Seine Stütze, seine Kameradin. Aber um ihr das zu zeigen, hätte er innehalten müssen, und das gelang ihm nicht mehr. Er konnte nicht stehenbleiben und Luft holen und der Thomas von früher sein. Das Leben hatte einen Getriebenen aus ihm gemacht. Er schaffte es nicht, sein eigenes Tempo zu verringern.
Er wusste buchstäblich nicht, wie er das hätte anstellen sollen.
»Ich liebe dich, Gillian«, sagte er leise.
Die Verwunderung, mit der sie ihn ansah, tat fast weh. War es wirklich so lange her, dass er diesen Satz über die Lippen gebracht hatte?
»Ich liebe dich auch«, sagte sie.
Er forschte in ihrem Gesicht. Sie schien ihm verändert. Irgendetwas geschah in ihr, geschah in ihrem Leben, und er wusste nicht, was es war.
»Ich muss dir etwas sagen«, begann sie unvermittelt. »Ich war heute …«
Sie stockte.
Tom sah sie fragend an. »Ja?«
»Ach nichts«, sagte Gillian. »Es spielt eigentlich keine Rolle.«
Anderthalb Stunden zuvor, im Auto mit John Burton, war ihr nach seinem Geständnis zunächst einmal nichts mehr eingefallen, es hatte ihr minutenlang die Sprache verschlagen. John hatte einen alten Kassenzettel, der zusammengerollt in der Ablage lag, gegriffen, einen Bleistift aus seiner Jackentasche gezogen und eine Nummer auf den Papierfetzen gekritzelt.
»Hier. Meine Handynummer. Ich werde dich nicht weiter belästigen, aber falls du mich sprechen möchtest, kannst du mich jederzeit anrufen. Ich habe dir jetzt gesagt, was du wissen wolltest, und vielleicht möchtest du manches genauer erfahren oder vielleicht auch über etwas anderes reden, egal, melde dich einfach, wenn dir danach ist!«
Mit diesen Worten war er ausgestiegen und in der Dunkelheit verschwunden, und erst später hatte Gillian realisiert, dass sie es jetzt war, die die Fäden in der Hand hielt. Sie konnte ihn anrufen. Sie konnte auch versuchen, die ganze Episode zu vergessen.
»Sicher?«, fragte Tom. »Bist du sicher, dass es keine Rolle spielt?«
Sie nickte.
»Lass uns schlafen gehen«, sagte sie.
DONNERSTAG, 10. DEZEMBER
»Es wird nicht ganz leicht, einen Käufer für das Anwesen zu finden«, erklärte der Makler. Er hieß Luke Palm und lebte eigentlich in London, aber Anne hatte ihn auf Empfehlung einer Freundin kontaktiert, und er war sofort nach Tunbridge Wells und bis hinaus in den Wald gekommen. Der Immobilienmarkt florierte nicht gerade. Als Makler nahm man, was zu ergattern war, auch wenn man ein gutes Stück dafür fahren musste.
Nun stand er in Annes Küche, und die Blicke, mit denen er sich umsah, verrieten, dass er beeindruckt war. Vermutlich hatte er nicht erwartet, das alte Haus so schön und komfortabel hergerichtet vorzufinden. Wie immer, wenn Gäste staunend durch die Räume streiften, spürte Anne einen fast kindlichen Stolz, eine tiefe Freude. Sean und sie hatten viel geleistet. Ihrer beider Arbeit, ihr Fleiß, ihre Ideen wurden gewürdigt. Die Anerkennung tat ihr gut, und sie wünschte nur, auch Sean hätte diese Lorbeeren noch ernten dürfen.
»Aber ich muss schon sagen«, fuhr er fort, »Sie haben hier ein echtes Juwel geschaffen!«
»Mein Mann hat sich einen Lebenstraum mit dem Kauf und dem Ausbau dieses Hauses erfüllt«, erklärte Anne. »Wir haben viel Liebe und Energie investiert.«
»Das sieht man. Dennoch … die Lage des Hauses …«
»Ich weiß«, sagte Anne. Es hatte schließlich einen Grund, dass sie dieses kleine Stück Paradies hergeben wollte. »Es liegt sehr weitab. Das ist es ja auch, was mich zum Verkauf bewegt. Mein Mann und ich wollten unser Alter hier verbringen, aber nun bin ich eben allein und … habe das Gefühl zu vereinsamen.« Noch immer hatte sie das Bedürfnis, ihren Schritt zu rechtfertigen, selbst diesem im Grunde fremden Mann gegenüber, aber wahrscheinlich sprach sie in Wahrheit zu sich selbst. Ihr Entschluss war seit der vorletzten Nacht nicht ins Wanken geraten, auch nicht ihre Überzeugung, dass sie das Richtige tat. Aber es war nicht das Gleiche, etwas theoretisch zu planen oder tatsächlich erste Schritte zur Umsetzung des Planes zu unternehmen.
»Allein könnte ich hier auch nicht leben«, stimmte Luke Palm ihr sofort zu. »Ich denke, Sie tun absolut das Richtige. Es ist ja auch nicht ganz ungefährlich … so völlig allein draußen im Wald …«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Anne. Von den Scheinwerfern in der Nacht, von dem Auto, von ihrem Gefühl, beobachtet und belauert zu werden, hatte sie nichts erwähnt.
»Na ja, es merkt hier so schnell niemand, wenn Ihnen etwas zustößt. Sie könnten stürzen, mit gebrochenem Bein auf der Treppe liegen, das Telefon nicht erreichen … Es gibt hier ja keine Nachbarn, die Ihre Rufe hören.«
»Ach, das meinen Sie«, sagte Anne und entspannte sich.
»Ganz abgesehen davon, dass sich auf dieser Welt leider auch jede Menge zwielichtige Gestalten herumtreiben«, fuhr er fort. »Selbst ich würde mich hier dann und wann ängstigen, glaube ich.«
Anne fühlte sich sogleich wieder unwohler. Solange sie hier noch wohnte, hätte sie lieber von jedem gehört, es sei völliger Unsinn, sich Sorgen zu machen. Dass die Wahrscheinlichkeit, nach der hier ein Krimineller sein Unwesen trieb, der es auf schutzlose Frauen abgesehen hatte, eins zu einer Millionen stand, und dass Hysterie fehl am Platz war. Sie fand es unangenehm, dass jeder ihre Furcht zu verstehen schien. Auch die Freundin, die sie wegen des Maklers angerufen hatte, war sofort mit diesem Argument gekommen. »Ich finde es sehr beruhigend, Anne, dass du nun bald nicht mehr wie auf einem Präsentierteller allein im Wald sitzt und ein gefundenes Fressen für jeden Raubmörder darstellst!«
Danke, hätte Anne am liebsten gesagt, bis ich etwas anderes gefunden habe, werden deine Worte sicher jede Nacht für einen ausgesprochen friedlichen und entspannten Schlaf bei mir sorgen.
»Das hier ist etwas für eine große Familie«, meinte Luke Palm, »oder für Leute, die viele Tiere haben. Eine alternative Lebensform suchen oder etwas Ähnliches. Für einen Aussteiger ist es ein Traum!«
Er hatte sich bei seinem Rundgang eine Menge Notizen und einige Fotos gemacht und sagte, er werde ein Exposé anfertigen. »Sowie sich Interessenten melden, sage ich Ihnen Bescheid. Es wird natürlich ein paar Besichtigungen geben …«
»Kein Problem«, sagte Anne, »ich bin meistens zu Hause. Rufen Sie mich einfach vorher an.«
Sie verabschiedeten sich voneinander, der Makler höchst zufrieden und zuversichtlich. Er hatte befürchtet, eine verwahrloste Absteige mitten im Wald vorzufinden, und hielt nun ein Juwel in den Händen. Als er vor die Haustür trat, wirbelten Schneeflocken durch die Dunkelheit. Der Abend war hereingebrochen. In den Wipfeln der Bäume seufzte der Wind.
»Sie sind eine mutige Frau«, sagte er zum Abschied. »Verschließen Sie bloß gut alle Türen.«
»Mach ich. Aber Unkraut vergeht nicht.« Sie sah ihm nach, wie er zwischen den Büschen, die den Gartenweg einfassten, verschwand. Sie hatte sich munterer gegeben, als ihr zumute war. In der vergangenen Nacht hatte sie weder Lichter gesehen noch Motorengeräusche gehört, aber seltsamerweise ließ sie dieser Umstand keineswegs leichter atmen. Fast fühlte sie sich noch unruhiger. Weder glaubte sie, dass sie sich alles nur eingebildet hatte, noch ging sie davon aus, dass sich die Dinge von selbst erledigen würden. Eher schien es ihr, als warte etwas da draußen. Sie konnte dieses Etwas nicht im mindesten definieren, und sie hatte keine Ahnung, welchem Ziel das Warten diente. Aber sie spürte sich im Fokus einer Gefahr, und dieses Bewusstsein ließ sie die ganze vertraute Umgebung verändert wahrnehmen: Es war, als seien die Bäume näher gerückt. Als habe das Ächzen der kahlen Zweige im Wind einen bedrohlichen Klang angenommen. Als knarrten Fußböden im Haus, die sie vorher gar nicht gehört hatte. Als habe sich die Welt, die voller Menschen war, noch weiter von ihr entfernt.
Sie verriegelte die Haustür sorgfältig und ging in die Küche zurück, die hell erleuchtet war. Auf dem Tisch standen Kerzen, um die Fenster hatte sie Lichterketten befestigt. Von draußen musste ihr Haus mit den hellen Lampen und dem Weihnachtsschmuck sehr warm und anheimelnd erscheinen, aber wer sollte das eigentlich sehen?
Sie drängte den Gedanken beiseite. Genau darüber wollte sie eigentlich nicht nachdenken: darüber, wer das sehen konnte.
Sie setzte Wasser auf, um sich einen Tee zu machen, und wandte sich dann den Broschüren zu, die ihr Luke Palm dagelassen hatte. Wohnungsangebote in London. Sie war aufgeregt.
»Ich habe da ein paar richtig tolle Sachen für Sie«, hatte er gesagt. »Helle, geräumige Wohnungen. Mit schönen, sonnigen Balkons. Schauen Sie sich die Exposés in Ruhe an. Wir können uns schon nächste Woche zum Besichtigen treffen.«
Mein erster wirklich selbstständiger Schritt, dachte sie nun und blickte versonnen auf die Hochglanzpapiere, die vor ihr lagen. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt gewesen, als sie Sean geheiratet hatte. Von da an hatten sie jedes Vorhaben gemeinsam beschlossen. Sie kannte ihr Leben nicht anders als in der Notwendigkeit, stets einen Kompromiss mit einem anderen Menschen finden zu müssen. Und nun würde sie eine Wohnung mieten, die ihre persönliche Traumwohnung war. In ihrer Traumgegend. Und sie würde sie ausschließlich nach ihren eigenen Vorstellungen einrichten.
Auf einmal fühlte sie sich so beschwingt wie schon lange nicht mehr. Zum ersten Mal seit Seans Tod wurde sie von einer schon fast vergessenen Aufbruchstimmung ergriffen. Von einer freudigen Erregung. Erwartung.
Sie goss den Tee auf und zündete Kerzen an. Es würde ein wunderbarer Abend werden. Sie würde sich mit ihrer Zukunft beschäftigen, Fotos betrachten, Grundrisse studieren, Tee trinken und später vielleicht, zur Feier des Tages, noch ein Glas Sekt.
Sie setzte sich an den Tisch.
Und in diesem Moment vernahm sie das Geräusch.
Der Wald draußen und auch das Haus waren ständig voller Geräusche, aber die hatte Anne längst auf irgendeiner Ebene ihres Bewusstseins abgespeichert. Sie kannte das Ächzen im Dachgebälk, das Gluckern in den Heizungsrohren, das Rauschen des Windes in den Bäumen und die Stimmen der Tiere, die um sie herum lebten. Doch dieses Geräusch nun war anders und ließ sie jäh den Kopf heben.
Es klang, als sei jemand auf der Veranda vor der Küche.
Ihr erster Gedanke war, dass Mr. Palm womöglich etwas vergessen hatte und noch einmal zurückgekommen war, aber es gab keinen Grund, weshalb er dann nicht vorn an der Haustür hätte läuten sollen.
Angestrengt blickte sie durch die Scheiben, aber es war stockdunkel draußen und hell erleuchtet drinnen; sie konnte nichts anderes sehen als ihre Küche, die Kerzen, die Teekanne und eine Frau, die mit weit aufgerissenen Augen am Tisch saß.
Wieso hatte sie nicht vorhin, als der Makler noch in der Nähe war, als sie noch nicht wieder so jämmerlich allein hier draußen gewesen war, die Fensterläden geschlossen?
Weshalb hatte sie überhaupt nicht längst ihre Sachen gepackt und sich bei einer Freundin in der Stadt oder in einem Hotel einquartiert?
Sie erhob sich, hielt den Atem an, lauschte nach draußen. Nichts war mehr zu hören, was sich von den üblichen Lauten unterschied.
Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet, dachte sie, meine Nerven sind langsam ziemlich angeschlagen.
Es war wichtig, dass sie die Fensterläden schloss. Sie konnte sich dann sicher fühlen. Die Läden aufzubrechen würde jeden, der hinein wollte, eine Menge Kraft und Zeit kosten und dazu erheblichen Lärm verursachen. Das Schlimme war nur, dass Anne die Terrassentür würde öffnen und hinaustreten müssen, um die Läden aus der Halterung an der Hauswand zu lösen und nach vorne zu klappen.
Benimm dich nicht wie eine hysterische alte Frau, sagte sie streng zu sich. Du hast ein ungewöhnliches Geräusch gehört, zumindest bildest du dir das ein. Vielleicht war da gar nichts. Du könntest es ja jetzt schon nicht einmal mehr beschwören. Du drehst langsam durch, und das kannst du dir nicht leisten. Also schließ jetzt die verdammten Läden!
Du hast nicht nur ein Geräusch gehört. Da war ein Auto. Mehrmals. Mitten in der Nacht. Hier stimmt etwas nicht, und das hat nichts mit Hysterie und Einbildung zu tun!
Sie ignorierte ihre innere Stimme.
Sie musste die Läden schließen. Danach konnte sie an all das Ungewöhnliche denken, das sich ereignet hatte in der letzten Zeit. Sie konnte sich ihrer Angst und allen möglichen grauenhaften Vorstellungen hingeben, sowie sie sich in Sicherheit gebracht hatte. Im Augenblick durfte sie sich nicht paralysieren lassen.
Entschlossen öffnete sie die Tür. Das Schneetreiben war heftiger geworden. Schon lag eine dünne, weiße Decke über dem Gras im Garten.
Und über den Stufen, die von der Veranda hinunterführten.
Sie starrte die Stufen an.
Ihr Gehirn arbeitete so seltsam langsam. Fußabdrücke im Schnee. Dicke Profilsohlen. Jemand in klobigen Winterstiefeln war hier hinaufgestapft. Sie selbst war es nicht gewesen, sie hatte die Treppe den ganzen Tag über nicht benutzt. Mit Luke Palm war sie im Garten gewesen, aber sie waren von vorn um das Haus herumgegangen. Und der Schnee begann ja gerade erst, liegen zu bleiben.
Jemand musste vor Kurzem erst hier hinaufgekommen sein.
Irgendwann innerhalb der letzten zehn Minuten.
Ein Schatten löste sich von der Hauswand. Anne gewahrte ihn aus den Augenwinkeln. Fast zeitlupenartig, wie es ihr selbst vorkam, drehte sie sich um. Sie erkannte einen dicken Anorak, eine Strickmütze, die tief in die Stirn gezogen war.
Noch immer seltsam analytisch dachte sie: Es gibt keinen erklärbaren Grund, weshalb jemand hier im Dunkeln auf meiner Veranda steht.
Es gab zumindest keinen Grund, der ihr harmlos erschienen wäre.
Sie begriff, dass sie um keinen Preis hätte nach draußen gehen dürfen.
SAMSTAG, 12. DEZEMBER
1
Samstag, 12. Dezember, 19.05 Uhr
Millie und Gavin schauen unten Nachrichten. Millie hat sich schon angezogen, Mantel, Stiefel. Sie hat Nachtdienst im Altenheim, muss in einer halben Stunde los. Entsprechend miserabel gelaunt ist sie, und das Abendessen war schier nicht auszuhalten. Sie ist gereizt wie ein gefährlicher Hund, wenn sie zur Arbeit muss, aber am Wochenende ist es noch schlimmer.
Beim Essen war ich natürlich wieder der Blitzableiter.
Als ich mir zum zweiten Mal von den Bratkartoffeln nahm, fragte sie, wann ich vorhätte, wieder einmal etwas in die Haushaltskasse einzuzahlen, die paar Kröten von letzter Woche seien längst aufgebraucht. Sie hatte einen lauernden Gesichtsausdruck, als sie mich fixierte, und meinte, schließlich bekäme ich ja »Stütze«.
»Du schreibst doch regelmäßig Bewerbungen, nicht wahr?«, fragte sie. »Und bemühst dich um einen Job? Denn dann bekommst du ja auch Geld!«
»Natürlich«, log ich. Ich wurde rot dabei, aber da mir das immer passiert, wenn ich etwas sage, ist es wohl nicht aufgefallen.
Ich fürchte, sie ahnt etwas. Millie ist ein Miststück, aber blöd ist sie nicht. Ich bin zu viel unterwegs, sie fragt sich längst, was ich da draußen mache. Sie wird kaum glauben, dass ich von Tür zu Tür gehe und um Arbeit bitte. Es wäre gut, wenn ich ein paar Tage daheim herumgammeln würde — so, wie Millie sich das bei einem Arbeitslosen eben vorstellt.
Aber das kann ich nicht. Ich würde durchdrehen.
Mit dem Geld wird es langsam eng. Ich kaufe ja nie etwas für mich, aber ich muss für Essen, Heizung, Strom, Wasser meinen Anteil zahlen, und das bisschen Ersparte schmilzt. Habe gestern Abend sogar Bartek im Halfway House angeschnorrt. Er hat ziemlich gejammert — er ist auch etwas klamm, seine Verlobte scheint recht anspruchsvoll und teuer zu sein —, aber er hat mir fünfzig Pfund gegeben. Die habe ich dann vorhin beim Essen mit großer Geste aus der Hosentasche gezogen und Millie über den Tisch gereicht.
»Ist das erst mal genug?«, fragte ich, und sie nickte, ziemlich perplex. Ihr Misstrauen war dadurch nicht weniger geworden, aber ich hatte ihr die Angriffsfläche genommen und so rasch fiel ihr keine neue ein.
Gavin sagte wie immer nichts. Mümmelte sein Essen und hoffte, dass die Situation nicht eskaliert.
Habe heute Mittag Gillian, Tom und Becky gesehen. Sie brachen, wie es schien, zu einem Spaziergang auf. Ich stand direkt vor ihrem Haus, als sie hinauskamen, musste also grüßen. Das war nicht gerade unauffällig, aber ich hoffe, sie haben sich nichts weiter dabei gedacht. Vielleicht hatten sie gar nicht registriert, dass ich schon eine ganze Weile dort herumlungerte, vielleicht meinten sie, ich sei zufällig gerade vorbeigekommen. Sie reagierten jedenfalls so zerstreut auf mich, dass ich mir wohl keine Sorgen machen muss — dennoch, ich habe mir vorgenommen, vorsichtiger zu sein. Diese kurzen, dunklen Tage jetzt im Dezember verführen zum Leichtsinn, weil man sich immer im Schutz der Dämmerung verborgen fühlt. Aber man ist sichtbarer, als man denkt, und außerdem ist es zwischendurch ja durchaus auch hell. Tageslicht jedenfalls, wenn auch ein trübes. Der Sommer ist so weit weg wie nie.
Auf den ersten Blick schienen die Wards genau die intakte, gesunde Familie zu sein, die ich in ihnen am Anfang gesehen hatte. Sie trugen Anoraks, Stiefel und bunte Mützen, und man hätte meinen können, sie freuten sich alle auf den bevorstehenden Ausflug. Aber inzwischen habe ich gelernt, genauer hinzusehen. Irgendetwas stimmt nicht ganz in der Familie. Thomas Ward sieht richtig schlecht aus. Er ist grau im Gesicht, wirkt völlig erschöpft und zugleich auf eine ungesunde Art hellwach. Überwach. Der ganze Mann vibriert ständig. Das kann auf die Dauer nicht gesund sein.
Becky sieht schon aus wie eine missmutige Pubertierende. Sie wirkt nicht gerade glücklich, aber instinktiv würde ich sagen, dass sich dahinter kein wirklich ernstzunehmendes dramatisches Unglück verbirgt. Die Zeit des Erwachsenwerdens ist eben schwierig. Ich weiß das nur zu gut.
Gillian hingegen macht mir richtige Sorgen. Nicht, dass sie so abgekämpft wie ihr Mann aussähe und man um ihre Gesundheit fürchten müsste. Sie ist auch nicht einfach schlecht gelaunt wie ihre Tochter. Sie ist … ja, vielleicht könnte man am ehesten sagen: unruhig, obwohl auch das es nicht wirklich trifft. Unruhig klingt fast zu schwach. Sie ist hochgradig angespannt, nervös, erregt. Sie kommt mir vor wie ein Mensch, der in sich ziemlich zerrissen ist, und ich frage mich: Weshalb? Was in ihrem Leben löst diese Zerrissenheit in ihr aus?
Sie lächelte mir kurz zu, aber ohne echte Wärme. Sie kennt mich ja auch eigentlich nicht. Sie weiß nicht, wie tief sie schon in meinen Gedanken ist, in meinen Tagträumen und nachts in meinem Unterbewusstsein. Wie sehr ich mir wünsche, ihr nahe zu sein. Nicht, dass ich die Familie zerstören will! Jede Familie ist mir heilig. Ich finde es schrecklich, wie schnell sich die Menschen heutzutage trennen, scheiden lassen, sich in die nächste Beziehung stürzen. Als wäre eine Ehe irgendeine hübsche Zwischenstation, aus der man sich ganz rasch verabschiedet, wenn die Dinge einmal nicht so toll laufen. Deshalb würde ich nie versuchen, die Gunst einer verheirateten Frau zu gewinnen. Ich würde mich allein für die Vorstellung verachten.
Ich will nur teilhaben. An Gillians Leben. An ihrer Familie. Es ist die Sehnsucht, etwas mitzuerleben, das ich selbst nie haben werde. Es wird mir nie gelingen, eine Familie zu gründen, ich werde nie heiraten, nie Vater sein. Ich weiß das längst, auch wenn mein Freund Bartek die Hoffnung nicht aufgibt und gestern wieder mit Internet-Dating anfing. Es wird einfach nichts bringen. Ich kann nicht mehr, als Zuschauer bei anderen zu sein.
Ich sah ihnen nach, als sie wegfuhren. Ich stand da in der Kälte des Tages, in die gelegentlich Schneeschauer fielen, und spürte, wie mir auch innerlich ganz kalt wurde. Das hatte mit den Wards zu tun. Es wird etwas passieren, das spürte ich nur zu genau, und ich spüre es auch jetzt noch.
Ich habe dann meine Runde fortgesetzt, aber ich war unkonzentriert, irgendwie nicht bei der Sache. Dieses intensive Gefühl nahenden Unheils … Ich bin kein Hellseher, aber ich habe wache Sensoren. Ich musste plötzlich auch wieder an den Typen denken, mit dem Gillian im Pub saß. Noch bringe ich das alles nicht zusammen, aber der Kerl hat mir nicht gefallen, und das passt zu der gesamten unglücklichen Situation, die über dieser Familie zu lasten scheint.
Unten fällt die Haustür ins Schloss. Ich höre Millies Schritte auf dem Gartenweg. Wütende, energische Schritte, und die Tür hätte sie auch leiser schließen können. Ich vermute, sie hatte wieder Streit mit Gavin.
Zudem vermute ich, dass ich der Grund war.
Vielleicht sollte ich wirklich ausziehen. Ich mache Gavin das Leben schwer und mir auch. Es ist schrecklich, so unerwünscht zu sein. Am Ende wäre Alleinsein besser.
Am besten wäre, ich wäre nicht ich. Sondern ein ganz anderer.
2
Sie wählte seine Nummer, ehe der Mut sie verlassen konnte. Es war nach zehn Uhr am Abend, aber wie sie John einschätzte, gehörte er nicht zu den Menschen, die früh ins Bett gehen. Zudem war die Frage der Uhrzeit auch nicht das größte Problem in dieser ganzen Angelegenheit. Sondern die Tatsache, dass sie es überhaupt tat: Dass sie einen Mann anrief, der ihr gesagt hatte, wie fasziniert er von ihr war.
Der ganz klar eine Affäre mit ihr beginnen wollte.
Während sie ganz klar verheiratet war.
Tom hatte sich früh schon ins Schlafzimmer zurückgezogen. Sie konnte hören, dass dort der Fernseher lief, irgendeine Sportsendung. Sie waren alle zusammen über Mittag nach Windsor hinausgefahren, waren dort lange spazieren gegangen und hatten in einem Landgasthof Kaffee getrunken, und als sie zurückkehrten, hatten sie Farbe im Gesicht und waren guter Dinge. Gillian buk Baguettes mit Kräuterbutter im Backofen und aß mit ihrer Familie zu Abend. Becky wollte danach unbedingt Twilight auf DVD sehen, und Gillian setzte sich mit ihr zusammen ins Wohnzimmer und versuchte zu verstehen, weshalb ihre Tochter und alle ihre Freundinnen nach diesem Film regelrecht süchtig waren. Das Wandern in der Kälte am Nachmittag hatte Becky müde gemacht, irgendwann schlief sie ein und kuschelte sich dabei an ihre Mutter. Gillian streichelte ihre Finger, was sie immer gemacht hatte, als Becky noch klein gewesen war, und Becky atmete leise und sah süß und rosig wie ein kleines Mädchen aus.
Gillian, die sich längst von Edward und Bella auf dem Bildschirm abgewandt hatte, betrachtete das friedliche, zarte Gesicht, von dem der trotzige, grimmige Ausdruck, den es so oft in der letzten Zeit trug, völlig abgefallen war.
Wie sehr ich sie liebe, dachte sie.
Ihre innere Unruhe wurde dennoch nicht weniger.
Sie brachte die schlaftrunkene Becky schließlich ins Bett, deckte sie sorgfältig zu, was sie sich tatsächlich gefallen ließ, und ging dann wieder ins Wohnzimmer hinunter. Nach zwei Gläsern Wein fühlte sie sich ein wenig entspannter. Da sie selten Alkohol zu sich nahm, reagierte sie schon auf geringe Mengen sehr intensiv, und zwei Gläser Wein kamen für sie fast einem Besäufnis gleich.
Der Kassenzettel, auf den John seine Handynummer geschrieben hatte, steckte in ihrer Jeanstasche. Sie zog ihn hinaus, nahm das tragbare Telefon von der Ladestation im Flur und ging damit ins Wohnzimmer zurück.
Ein Anruf ist nichts Weltbewegendes, beruhigte sie sich.
Er meldete sich beim dritten Klingeln. Im Hintergrund konnte Gillian Stimmen hören, Reden, Lachen und das Klirren von Gläsern.
»Ich bin es. Gillian.«
»Lieber Gott«, sagte John, »ich hatte schon Angst, du meldest dich nie wieder.«
Er schien tatsächlich auf ihren Anruf gewartet zu haben.
»Bei unserem letzten Treffen«, sagte Gillian, »habe ich, glaube ich, ein wenig überreagiert. Ich wollte … das nicht so stehen lassen.«
»In welcher Hinsicht überreagiert?«
»Ich hätte nicht gleich aufstehen und gehen sollen. Ich fürchte, die Situation hat mich nervlich einfach überfordert.«
Das Gelächter im Hintergrund schwoll an.
»Wo bist du?«, fragte Gillian.
»Im Halfway House. Wir hatten heute ein Turnier im Club, und danach bin ich noch hierher gegangen. Kannst du kommen? Ich sitze mutterseelenallein an einem Tisch und tröste mich mit etwas zu viel Whisky.«
Überrascht registrierte Gillian, wie sehr es sie freute und erleichterte, dies zu hören: dass er allein dort war.
»Ich kann nicht weg. Nicht einfach so heute Abend.«
»Wann kannst du?«, fragte John.
Sie lachte. »Woher weißt du, dass ich das will? Dich treffen?«
Er blieb ernst. »Du sagtest gerade: Nicht einfach so heute Abend. Das klang für mich so, als sei es eine Frage des Zeitpunkts. Nicht ein generelles Nein.«
»Du hast recht.« Sie überlegte. »Ich möchte einfach nur reden. Ich war erschrocken, als du mir gesagt hast, weshalb du aus deinem Beruf ausscheiden musstest. Ich wüsste gerne mehr darüber.«
»Sag einfach wann.«
»Am nächsten Donnerstag ist Becky zu einem Geburtstag mit Übernachtung eingeladen. Mein Mann hat abends eine Versammlung in seinem Tennisclub. Ich bin frei.«
»Nächsten Donnerstag? Es ist fast eine Woche bis dahin.«
»Ich weiß.« Jede Menge Gelegenheit, es mir anders zu überlegen.
»Take it or leave it«, sagte John. »Das ist vermutlich die einzige Wahl, die ich dabei habe. In Ordnung. Nächsten Donnerstag. Kommst du zu mir?«
»Zu dir nach Hause?«
»Warum nicht?«
Sie wollte nicht albern erscheinen. Oder verklemmt und spießig. »Hm … gut, in Ordnung. Du wohnst in London?«
Er diktierte ihr eine Adresse in Paddington, und sie kritzelte sie zu seiner Nummer auf den Kassenzettel.
»Also, bis dann«, sagte sie.
»Ich freue mich«, sagte John.
DONNERSTAG, 17. DEZEMBER
1
Luke Palm war achtunddreißig Jahre alt, arbeitete seit acht Jahren als selbstständiger Makler und hatte es sich zu einem Grundsatz gemacht, seinen Kunden nie zu sehr auf die Pelle zu rücken. Er kannte natürlich das Klischee vom schmierigen, aufdringlichen Makler, der die Menschen so lange bedrängt und beschwatzt, bis sie Objekte kaufen, die sie ursprünglich gar nicht wollten, und deren Fehler und Unzulänglichkeiten sie unter der Beredsamkeit eines skrupellosen Vermittlers glatt übersehen mussten. So jemand hatte er nie sein, sich deutlich dagegen abgrenzen wollen. Der Erfolg gab ihm recht. Er genoss den Ruf großer Anständigkeit und Seriosität. Die Menschen vertrauten sich ihm gern an.
Auch Anne Westley war zu ihm gekommen, weil er ihr von einer Bekannten empfohlen worden war. Eine sehr sympathische, kluge ältere Frau. Er hatte sich auf Anhieb gut mit ihr verstanden. Außerdem war eine Klientin wie sie natürlich ein Glücksfall: Sie wollte nicht nur ein Haus verkaufen, sie suchte zudem nach einer Eigentumswohnung für sich. Er würde doppelt an ihr verdienen. Es war deshalb selbstverständlich, dass er sich besonders große Mühe gab.
Er hatte sie die Woche über mehrfach zu erreichen versucht, war aber immer nur an ihren Anrufbeantworter geraten. Er hatte dringend um Rückruf gebeten, aber vergeblich. Dabei konnte er zwei Erfolge vermelden: Er hatte interessierte mögliche Käufer für das Haus im Wald von Tunbridge Wells gefunden. Und er hatte eine bezaubernde Wohnung in Belgravia völlig neu in sein Programm bekommen, von der er überzeugt war, dass sie perfekt zu Anne Westley passte. In beiden Fällen hätte er gern noch vor Weihnachten Besichtigungen durchgeführt.
Er verstand nicht, weshalb sie nicht reagierte. Sie hatte so interessiert gewirkt, so entschlossen, ihrer zweifelhaften Idylle da draußen im Wald endlich zu entkommen. Was Luke nur zu gut verstehen konnte. Ein bezauberndes Anwesen, aber er hätte es keine drei Tage dort ausgehalten.
Das Ehepaar, das sich dafür interessierte, hatte fünf Kinder und jede Menge Tiere. Auch hier war Luke Palm davon überzeugt, der Familie das perfekte Haus anbieten zu können. Es machte ihn zunehmend nervös, dass es ihm nicht gelang, den Kontakt herzustellen.
Und es bereitete ihm Sorgen.
An diesem Donnerstag hatte er mehrmals angerufen. Wieder nur der Anrufbeantworter. Er hatte nicht mehr darauf gesprochen, weil sein Text schon an die fünf oder sechs Mal darauf gespeichert sein musste. Aber er begann sich zu fragen, ob er jetzt seinem Grundsatz untreu werden würde, einen Kunden niemals zu bedrängen.
Er spielte mit dem Gedanken, genau das eben doch zu tun. Einfach hinauszufahren und Anne Westley aufzusuchen. Und herauszufinden, was eigentlich los war.
Es war am frühen Nachmittag, er hatte keine Termine mehr, nur noch etlichen Papierkram, den er aber auch daheim erledigen konnte. Eigentlich wollte er nach Hause und sich dort noch ein paar Stunden an den Schreibtisch setzen, aber er zögerte. Vielleicht sollte er doch noch nach Tunbridge Wells fahren und nach Anne sehen. Er hatte ein ungutes Gefühl. Sie war verdammt allein da draußen. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sie den Plan umzuziehen hatte fallen lassen, aber wie er sie einschätzte, hätte sie ihm Bescheid gegeben. Sie wäre nicht einfach abgetaucht.
Luke Palm blickte auf seine Armbanduhr. Kurz nach drei. Draußen schneite es. In immer dickeren Flocken. Es hatte in der Vorwoche bereits ein paar Schneeschauer gegeben, aber das war alles ziemlich schnell wieder weggetaut. Jetzt würde der Winter wirklich kommen, und allerorts hoffte man schon auf eine weiße Weihnacht. Die Meteorologen hatten für den Abend äußerst heftigen Schneefall vorausgesagt, aber da Luke nicht vorhatte, sich lange aufzuhalten, würde er bis dahin hoffentlich daheim sein. Er wollte ja nur kurz nach ihr schauen. Sich vergewissern, dass alles in Ordnung war, und ihr sagen, dass es Interessenten gab, die ihr Haus gerne ansehen würden.
Um zwanzig nach drei machte er sich auf den Weg.
Im beginnenden Schneefall und der daraus resultierenden Hysterie der Autofahrer dauerte es noch länger als sonst, bis er die Stadt hinter sich lassen konnte. Es war fast fünf Uhr, als er den kleinen Ausflugsparkplatz am Waldrand hinter Tunbridge erreichte. Kein einziges Auto parkte dort. Nach kurzem Überlegen beschloss Luke, seinen Wagen stehen zu lassen und den Rest der Strecke zu Fuß zu gehen. Das Schneetreiben war dichter geworden, und er misstraute dem unbefestigten Weg, der zum Haus von Anne Westley führte. Er verspürte wenig Lust, an irgendeiner Stelle steckenzubleiben und sich freischaufeln zu müssen.
Es wurde schon dunkel, und in diesem Wald voller hoher Bäume war es noch dunkler. Luke stapfte den schmalen Weg entlang, empfand die Atmosphäre weihnachtlich und romantisch, aber zugleich bedrohlich. Der Schnee ließ die Welt so still sein. Friedlich still oder so, als hielte sie den Atem an? Er vermochte es nicht zu sagen. Er fragte sich erneut, wie es ein Mensch aushalten konnte, so zu leben.
Und plötzlich fast verärgert dachte er: Das hätte er nicht tun dürfen. Westley. Seine Frau hier herausschleppen, um seine eigenen Träume zu verwirklichen. So etwas kann man einem anderen nicht antun!
Nicht, dass Anne geklagt hätte. Aber Luke Palm verfügte über sensible Antennen. Er hatte durchaus herausgehört, dass es vor allem der verstorbene Mann gewesen war, der hier seine Wünsche umgesetzt hatte, und dass es Anne nicht ganz leichtgefallen war, ihm zu folgen. Nur ihre Loyalität über seinen Tod hinaus hatte sie bislang dort festgehalten.
Der Weg öffnete sich zu der Lichtung, auf der das Haus stand. Es sah alles aus wie immer, vielleicht sogar noch verwunschener, weil die Flocken wirbelten und alle Bäume und Sträucher überzuckert schienen. Ein Winterwaldmärchen.
Hoffentlich ist sie nicht verärgert, wenn ich hier einfach aufkreuze, dachte Luke.
Nirgends im Haus brannte Licht, aber er sah Annes Auto im Unterstand, also musste sie wohl daheim sein. Ohne Auto kam sie hier kaum weg.
Er öffnete das Gartentor, ging den Weg zwischen den hohen Büschen entlang. Flieder, wenn er das richtig erkannte, dazwischen Jasmin. Der Garten musste ein Traum sein im Frühling und Sommer. Bloß, dass einem hier Gott weiß was zustoßen konnte, ohne dass es irgendjemand mitbekam.
Er stieg die Stufen zur Haustür hinauf, klingelte. Wartete.
Nichts rührte sich.
Natürlich konnte sie auch spazieren gegangen sein. Ein wenig frische Luft schnappen. Dazu brauchte sie ihr Auto nicht. Eigentlich durchaus im Bereich des Möglichen. Luke hätte selbst nicht sagen können, weshalb er das nicht glaubte. Warum er sich stattdessen einem Gefühl wachsender Bedrohung ausgesetzt sah. Mensch, war das einsam hier! Er selbst hätte sich mindestens zwei scharfe Dobermänner gehalten, wenn er je so wahnsinnig gewesen wäre, in eine solche Abgeschiedenheit zu ziehen. Eine Frau, bald siebzig Jahre alt, mutterseelenallein … Irgendwie hieß das fast, das Schicksal herauszufordern.
Blödsinn. Wahrscheinlich bauschte er die ganze Angelegenheit übermäßig auf. Am Ende war sie mit einer Axt in den Wald gezogen und schlug sich gerade einen kleinen Weihnachtsbaum, während er sich grässliche Bilder ausmalte, in denen sie das Opfer mindestens eines Raubmörders geworden war.
Dennoch beschloss er, sein Glück noch einmal auf der Rückseite des Hauses zu versuchen. Von der Besichtigung her wusste er, dass es dort eine Veranda und einen zweiten Eingang gab, der direkt in die Küche führte.
Er umrundete das Haus. Trotz des rasch schwindenden Tageslichts erkannte er sofort, dass die Verandatür weit geöffnet war. Auf den Stufen davor und auf dem nicht überdachten Teil der Terrasse begann sich der Schnee zu häufen. Jungfräulicher Schnee. Obwohl die Tür offen stand, war hier niemand während der letzten Stunden herausgekommen.
Er blieb stehen und konnte sein eigenes Atmen hören. Das sah einfach nicht gut aus. Anne musste daheim sein, und weshalb brannte dann nirgends im Haus ein Licht? Er entsann sich der Lichterketten, die bei seinem Besuch eine Woche zuvor in den Küchenfenstern für weihnachtlichen Glanz gesorgt hatten. Nicht eine einzige leuchtete jetzt.
Und nun war er auch sicher: Die Stille um ihn herum war nicht friedlich. Sie barg ein furchtbares Geheimnis, war lauernd und böse.
Er suchte nach seinem Handy, stellte aber fest, dass er es offenbar im Auto gelassen hatte. Am liebsten wäre er umgekehrt und sofort zum Parkplatz zurückgelaufen, aber er zwang sich, innezuhalten. Er musste nachsehen, was geschehen war. Vielleicht war Anne Westley gestürzt. Lag irgendwo im Haus, unfähig, sich zu rühren, und es ging für sie um Leben und Tod.
Und weshalb ist dann die Tür offen?
Langsam stieg er die Stufen hinauf. Er wünschte, es würde länger hell bleiben. Die einfallende Dunkelheit machte alles noch schlimmer.
Leise rief er: »Hallo? Ist jemand zu Hause? Ich bin es, Luke Palm!«
Er bekam keine Antwort.
Er betrat die Küche, in der es um nichts wärmer war als draußen. Die Tür musste schon eine halbe Ewigkeit offen stehen. Er tastete nach einem Lichtschalter, fand ihn, schaltete das Licht ein, zuckte zurück unter dem hellen Schein, der so unvermittelt die Dämmerung durchbrach.
Er sah sich um.
Bis auf die Tatsache, dass die Wände völlig ausgekühlt waren, sah die Küche so aus, als sei sie Minuten zuvor erst verlassen worden. Eine Teekanne, noch halb gefüllt, stand auf dem Tisch. Ein Becher davor. Er sah die Wohnungsexposés, die er Anne bei seinem letzten Besuch ausgehändigt hatte, aufgeschlagen herumliegen. Daneben standen Kerzen, die bis auf die Halter abgebrannt waren. In der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr. Lukes Blick fiel auf den Abreißkalender neben der Spüle. Er zeigte den 10. Dezember an. Das war der Donnerstag der vergangenen Woche gewesen, als er sich das Haus angeschaut hatte. Seitdem hatte niemand mehr ein Blatt abgerissen.
Beklommen musterte er die Lichterketten. Ihre Kabelenden waren aus den Steckdosen gezogen worden, ziemlich ruckartig, wie es ihm schien, denn eine der Ketten war vom Fenster gerutscht und wickelte sich als lebloses Band um die darunter befindliche Kaffeemaschine.
»Hier stimmt etwas ganz und gar nicht«, sagte Luke. Es tat ihm gut, wenigstens seine eigene Stimme zu hören.
Er durchquerte die Küche, trat in den Flur, schaltete auch hier das Licht ein.
»Mrs. Westley?«, rief er im Flüsterton und fragte sich gleich darauf, weshalb er sich eigentlich so leise verhielt. Er kannte die Antwort: Er hatte Angst, dass hier nicht einfach ein Unfall passiert war, sondern dass sich etwas viel Schlimmeres und Bedrohlicheres in dieser Einöde abgespielt hatte. Dass hinter all dem jemand steckte, der vielleicht noch gar nicht das Weite gesucht hatte. Der noch da war, entweder irgendwo in diesem alten, dunklen Haus oder in den Wäldern, die es so dicht umschlossen.
Es wäre besser, er würde verschwinden. Aber zuerst musste er Anne finden. Wenn er jetzt einfach wegrannte, würde er sich nie mehr selbst im Spiegel ansehen können.
Er fragte sich, ob es ein Fehler war, überall das Licht einzuschalten. Weithin sichtbar signalisierte er damit seine Anwesenheit. Aber wie sollte er sonst irgendetwas erkennen können? Er verfluchte seinen Einfall, hierherzukommen. Er könnte längst daheim sein, am Schreibtisch sitzen, eine schöne Tasse Kaffee neben sich. Stattdessen …
Ein kurzer Blick aus dem Wohnzimmerfenster zeigte ihm, dass sich der Schneefall weiter verstärkt hatte. Er würde zu allem Überfluss Probleme bekommen, sein Auto von dem Parkplatz zu manövrieren.
Er stieg die Treppe hinauf. Auf halbem Weg fiel ihm zum ersten Mal der eigentümliche Geruch auf.
»Verdammter Mist«, sagte er laut.
Er machte sich keine Illusionen: Es war Verwesung, was er roch.
Er fand Anne Westley im Bad, das sich direkt neben ihrem Schlafzimmer befand. Die alte Frau lag vor der Dusche quer über dem Frotteevorleger und richtete den Blick aus weit aufgerissenen, starren Augen an die Decke über sich. In ihrem unnatürlich weit aufgesperrten Mund steckte etwas, irgendetwas Kariertes, ein Tuch, ein Schal, Luke konnte es nicht genau erkennen. Ihre Nase war zugekleistert mit Paketklebeband. Auch ihre Handgelenke und Fußknöchel waren mit dem Band gefesselt. Es war nur allzu ersichtlich, dass Anne keinen Unfall gehabt hatte. Sie war auf brutalste Art ermordet worden. Ihr Mörder hatte sie erstickt, indem er alle Atemwege blockierte. Wie sehr mochte sie gegen den Stoff in ihrem Rachen gekämpft haben. Wie verzweifelt — und wie hoffnungslos.
Es konnte am 10. Dezember geschehen sein, jedenfalls stellte der Kalender in der Küche einen Hinweis darauf dar. Nachdem er gegangen war. Nachdem er ihr noch geraten hatte, die Haustür gut zu verschließen.
Luke Palm sank auf den Badewannenrand, denn seine Knie wurden plötzlich weich und er drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, sein Kreislauf werde schlappmachen und er würde gleich neben Anne auf dem Fußboden liegen. Er hatte Schweißausbrüche am ganzen Körper und im Gesicht. Er stützte den Kopf in die Hände, bemühte sich, die Tote nicht anzusehen, den Geruch nicht wahrzunehmen. Trotzdem tief durchzuatmen.
Die Schwäche verebbte.
Er hob den Kopf. Er sah, dass die Klinke der Badezimmertür seltsam schief herunterhing und dass der Beschlag um das Schloss herum völlig verrutscht war. Es sah aus, als habe jemand das Schloss aufgebrochen.
Er stöhnte leise, als ihm aufging, welches Drama sich hier vermutlich abgespielt hatte: Wie auch immer Annes Mörder ins Haus gelangt war, offensichtlich war es Anne gelungen, ihm zunächst zu entkommen. Sie war ins Bad geflüchtet, einen Raum, den sie abschließen konnte, hatte sich dort verbarrikadiert. Aber ihr Verfolger hatte nicht aufgegeben. Er hatte das Schloss zerstört und war in das Badezimmer eingedrungen.
Anne musste entsetzliche Todesangst ausgestanden haben. Eingeschlossen in diesem kleinen Raum, keine Möglichkeit, Hilfe herbeizutelefonieren, keine Chance auch, durch das Fenster nach Hilfe zu schreien. Wer hätte sie hören sollen? Und irgendwann begreifend, dass der andere gewinnen würde. Dass die Tür nicht standhalten konnte.
Luke stand auf, hoffte, dass ihn seine zittrigen Beine tragen würden. Er musste jetzt die Polizei anrufen. Hoffentlich funktionierte das Telefon, das, wie er sich erinnerte, im Wohnzimmer unten stand. Er hatte noch immer Angst, aber er sagte sich, dass Anne allem Anschein nach seit einer Woche tot war und es