25 Izzy gelang es gerade noch, den Arm der Königin zu packen. Sie lag auf dem Bauch und hielt Annwyl mit aller Kraft fest. Leider spürte sie, wie der Boden auch unter ihr allmählich nachgab.
»Mist«, zischte sie unterdrückt. Sie wollte keine Soldaten alarmieren, die sich vielleicht in der Nähe befanden, doch das hier konnte kein gutes Ende nehmen. Vor allem nicht, da sie unter Annwyl nichts als Schwärze sah. Eine abgrundtiefe Schwärze. »Mist.«
»Keine Panik«, befahl Annwyl kaltblütig von unten.
»Ich hab dich«, flüsterte Brannie, als sie Izzys Beine ergriff. »Ich hab dich!«
Izzy war kurz davor aufzuatmen, doch da gab der Boden unter ihnen beiden nach, und sie stürzten der Finsternis entgegen. Alle drei schrien auf, bis sich Arme, die sie in der Dunkelheit nicht sehen konnten, um Izzy und Annwyl schlangen und sie packten.
»Haltet euch fest«, sagte Vigholf zu ihnen und schoss in Drachengestalt senkrecht mit ihnen nach unten. Sie wusste nicht warum, bis sie Warnrufe von oben hörte und spürte, wie Pfeile an ihrem Kopf vorbeiflogen.
Soldaten aus den Hoheitsgebieten. Und sie klangen aufgebracht.
Aber hier war es stockfinster. Konnte der Nordländer überhaupt noch etwas sehen? Sie hoffte es. Bei der Geschwindigkeit, mit der er sich bewegte, würden sie und Annwyl zerquetscht werden, wenn er irgendwo gegen eine Wand prallen sollte.
Es hatte den Anschein, als würde sie meilenweit nach unten segeln. Vigholf bewegte sich mit äußerstem Geschick, daher nahm sie an, dass er etwas sehen konnte. Nach einer halben Ewigkeit landete Vigholf. Jemand stieß eine Flamme aus, und eine Reihe von Fackeln wurde entzündet. Sie beleuchteten einen Vorsprung, der über einen weiteren ungeheuren Abgrund ragte.
Vigholf setzte sie und Annwyl auf dem Vorsprung ab. »Alles in Ordnung mit euch?«, fragte er.
»Prima, ja.« Izzy lächelte schwach. »Vielen Dank.«
Er nickte und zwinkerte ihr zu.
Wenige Minuten später erschien Rhona und setzte Brannie, die noch in ihrer menschlichen Gestalt war, neben Izzy ab. »Du bist ein Dummkopf!«, schimpfte Rhona ihre Cousine und Izzy überlegte kurz, Rhona einen Hieb auf ihre Drachenschnauze zu verpassen. Gute Götter, heute war sie wirklich unerträglich.
»Ich hab’s vergessen! Kein Grund, so bösartig zu werden«, sagte Brannie zu ihr.
»Wie konntest du vergessen, dass du Flügel hast? Wer vergisst denn so etwas?«
»Ich war zu überrascht.«
»Diesen Sturz hättest du niemals überlebt, wenn ich dich nicht aufgefangen hätte, Cousine. Ist dir das klar?«
»Nun ja …«
»Du hättest ihn nicht überlebt!« Sie flog näher an Brannie heran. Rhona und Vigholf waren nicht auf dem Sims gelandet, sondern schwebten davor. »Ich hoffe wirklich, dass du dich in einer Schlacht klüger verhältst!«
»Das tue ich! Es ist alles so schnell passiert!«
»Es passiert immer schnell. Darum geht es ja gerade!«
Brannie senkte den Kopf. »Es tut mir leid, Rhona.«
»Ich brauche deine Entschuldigungen nicht.« Mit ihrer Schwanzspitze hob sie Brannies Kinn an, sodass sie sich in die Augen sehen konnten. »Ich will, dass du in Zukunft vorsichtiger bist. Du kannst nicht immer davon ausgehen, dass einer von uns dich auffängt, bevor du in den Tod stürzt, oder?« Nun begriff Izzy, dass sich Rhona bloß Sorgen um ihre Cousine machte. Izzys Mum hatte ihre älteste Tochter oft genauso angebrüllt, wenn sie Hunderte Fuß über der Erde von einem Drachenrücken zum nächsten gehüpft war.
»Vergiss nie, wer du bist, egal in welcher Gestalt du dich befindest. Verstanden?«
»Ja.«
»Gut.« Rhona flog hinüber zu Annwyl, und als sie dabei an Izzy vorbeikam, konnte sie es sich offenbar nicht verkneifen, dieser mit dem Flügel ins Gesicht zu schlagen.
Brannie zuckte zusammen und sagte stumm: Entschuldigung.
»Ich hoffe wirklich, das hier ist der Ort, der dein Ziel war, Annwyl«, sagte Rhona, während sie neben der Königin schwebte.
»Ich glaube schon. Das ist eine unterirdische Abkürzung zu den Septima-Bergen.«
»Woher weißt du das?«
»Es ist so. Vertraue mir einfach.«
Wie konnte Rhona dieser Frau vertrauen, wenn sie davon überzeugt war, dass Annwyl vollkommen verrückt war?
»Hinaus mit euch«, befahl Annwyl, ergriff eine der Fackeln und beleuchtete den Weg. Iseabail und Brannie folgten ihr, nahmen sich ebenfalls Fackeln und gaben nicht das geringste Widerwort. Das verwirrte Rhona. Gute Götter, war sie wirklich so schrecklich? War es das, was Vigholf andauernd gemeint hatte? Natürlich hatte sie noch nie eine vollkommen verrückte Person als Kommandanten gehabt, aber selbst wenn sie in der Armee Ihrer Majestät dienen würde, nähme sie sich die Freiheit heraus, die Anordnungen einer eindeutig wahnsinnigen Königin zu hinterfragen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Vigholf und strich ihr die Haare aus den Augen. Nun, da sie keine Zöpfe mehr trug, waren ihre Haare oft widerspenstig.
»Es geht mir gut. Ich bin nicht glücklich, aber im Großen und Ganzen ist alles klar.« Sie stieß ihn ein Stück zurück und drängte: »Was sollen wir tun? Sie ist …« Sie tippte sich mit der Kralle gegen die Schläfe.
»Aber was ist, wenn Annwyl recht hat? Was ist, wenn das hier wirklich der Weg zu Gaius Domitus ist?«
»Dann werden wir vom Rebellenkönig umgebracht, statt in diesen Höhlen zu sterben. Keine der beiden Möglichkeiten macht mich übermäßig glücklich, Vigholf.«
Er trat näher an sie heran. »Was sollen wir denn deiner Meinung nach unternehmen? Selbst wenn du keine Skrupel hättest, eine Königin von ihrem Leiden zu erlösen – und wir beide wissen, dass du durchaus Skrupel hättest –, wären da immer noch Iseabail und Branwen, die es verhindern würden.«
»Aber …«
»Von allen Drachensoldaten solltest gerade du das verstehen, Rhona.«
»Aaargh! Ich wusste, dass du mir das um die Ohren hauen würdest.«
»Branwen ist Annwyl treu ergeben. Du weißt, dass deine Cousine die Königin mit ihrem Leben verteidigen würde. Willst du etwa auch deine eigene Cousine umbringen?«
»Natürlich nicht.«
»Dann sollten wir weitergehen und hoffen, dass Annwyl mit alldem recht hat. Du könntest darum beten. Vielleicht werden die Götter des Krieges ihr Licht heute Nacht über uns leuchten lassen.«
»Und warum sollten sie gerade jetzt damit anfangen?«
Austell der Rote war nicht überrascht, als er feststellte, dass Éibhear nicht in den Tunneln war, obwohl er dort den größten Teil seiner Zeit verbrachte. Er war ein großer, stämmiger Drache und wirklich gut darin, große, sperrige Dinge zu bewegen. Und er wäre viel schneller im Rang aufgestiegen, wenn er vernünftig wäre und nicht so viel Zeit auf Celyn und die Vergangenheit verwenden würde.
Aber es war sinnlos, ihm oder Celyn das klarmachen zu wollen. Diese beiden Drachen gehörten zu den stursten, die Austell kannte. Trotzdem waren sie gute Freunde. Loyal … zumindest Austell gegenüber.
Aber all dieser Ärger – und nur wegen einer Frau! Einer Menschenfrau! Sie hätten sich eine Frau kaufen können für all den Ärger, den sie bereits wegen dieser … nun ja, dieser Streunerin gehabt hatten. Letztendlich war sie nichts anderes als ein Hund, der sich vor der Kälte in Sicherheit brachte. Aber das bedeutete nicht, dass man diesen Hund zum Schoßhündchen machen musste.
Endlich fand Austell seinen Freund in einer kleinen Ausbuchtung weit weg von dem Aufruhr der größeren Höhlen. Er setzte sich neben Éibhear.
»Ist alles o.k.?«
»Nein. Sie sagen es nicht, Austell, aber sie glauben nicht daran, dass Briec es schaffen wird.«
»Das kannst du nicht wissen.«
»Ich kenne meine Brüder. Als Fearghus das letzte Mal so aussah, ging es um Annwyl … und jetzt sieht er wieder so aus.«
»Und was willst du tun, Éibhear? Hier sitzen und dir Sorgen um etwas machen, das du nicht ändern kannst? Oder den Hintern bewegen und uns anderen einfachen Soldaten helfen, diesen verdammten Tunnel zu graben? Je eher wir damit fertig werden, desto schneller sind wir in der Lage, deinen Bruder zu seiner Mutter zu bringen. Ich wette, dass sie ihn heilen kann.«
»Annwyl konnte sie nicht retten.«
Austell runzelte die Stirn. »Aber … irgendjemand hat sie schließlich doch gerettet, oder?«
»Das ist eine lange und komplizierte Geschichte.« Als Austell noch stärker die Stirn runzelte, beeilte sich Éibhear zu erklären: »Sie ist keine Untote!«
»Schon gut, schon gut. Du musst mich nicht anbrüllen.«
Éibhear seufzte. »Entschuldigung. Das war echt grob von mir.«
Beinahe hätte Austell gelacht. Dieses Verhalten hielt Éibhear schon für grob, dabei wäre es für den Rest der Drachen auf dieser Welt gar nicht einmal erwähnenswert gewesen. Gute Götter, würde Éibhear denn sein ganzes Leben lang so ein Gutdrache sein? Wie sollte er beim Militär durchkommen, wenn er immer so verdammt nett und entgegenkommend war? Nur Celyn gegenüber war er anders. Ihm schlug er andauernd ins Gesicht und haute ihm Schimpfworte um die Ohren, die Austell von Éibhear niemals erwartet hätte.
Austell wünschte sich, Éibhears und Celyns Cadwaladr-Cousine wäre noch hier. Diese Sergeantin. Sie hatte die beiden im Zaum gehalten, aber nun, da sie irgendwohin unterwegs war, wurde es mit den beiden beständig schlimmer. Die süßen Drillinge hatten versucht, sie auseinanderzubringen, aber sie übten nicht die gleiche einschüchternde Wirkung wie ihre Schwester aus.
Was konnte er tun? Er versuchte, die beiden getrennt zu halten. Und wenn sie einmal zusammen arbeiten mussten, versuchte er sie davon abzuhalten, alle fünf Minuten gegeneinander zu kämpfen.
Er wünschte sich wirklich, die beiden würden sich auf ihre jeweiligen Aufgaben konzentrieren. Austell hasste diesen Tunnel. Er hasste es, sich an einem so engen Ort aufzuhalten. Natürlich war der Tunnel nicht eng, wenn man den Maßstab anderer Wesen zugrunde legte, aber für Drachen war er es durchaus. Durch ihn würden jeweils zwei von ihnen hinaus in die Polycarp-Berge gelangen. Von dort aus würden sie hoffentlich den Weg zu den Eisendrachen finden und in der Lage sein, diese zu vernichten. Zumindest war das der Plan, aber Austell war lieber draußen als hier drinnen. Oder wenigstens in einer viel größeren Höhle. Tunnel waren, genau wie Brücken, Gebilde, die einstürzen oder zusammenbrechen konnten.
»Komm. Du musst dich wieder an die Arbeit machen.«
»Ja, in Ordnung.«
Gemeinsam standen sie auf, und Austell legte seinem Freund die Klaue auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Ich bin sicher, dass mit Briec am Ende alles gut wird. Wir graben diesen Tunnel, töten alle Eisendrachen und bringen ihn nach Hause. So einfach ist das. Und wir mögen es doch einfach, nicht wahr?«
Éibhear verdrehte die Augen und sagte ihren Lieblingsspruch auf: »Nur wenn es um Frauen geht.«
Austell lachte und klopfte dem Blauen auf den Rücken. »Das ist die richtige Einstellung! Und jetzt bringen wir diese Sache hinter uns.«