REGINALD MILFORD-STOKES

 

 

2. April 1878

18 Uhr 34,5 Minuten Greenwicher Zeit

 

Meine kostbare Emily,

heute sind wir in den Suezkanal eingelaufen. In meinem gestrigen Brief habe ich Ihnen eingehend die Geschichte und Topographie von Port Said geschildert, und jetzt kann ich es mir nicht versagen, Ihnen etliche interessante und erbauliche Auskünfte über den Großen Kanal mitzuteilen, dieses grandiose Bauwerk menschlicher Hände, das im kommenden Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert. Ist Ihnen bekannt, meine liebe und vergötterte Gattin, daß der jetzige Kanal der vierte ist und der erste schon im vierzehnten Jahrhundert vor Christi Geburt unter dem großen Pharao Ramses gegraben wurde? Zur Zeit des Niedergangs des ägyptischen Reiches wehten die Wüstenwinde das Kanalbett mit Sand zu, aber unter dem Perserkönig Darius, 500 vor Christus, schaufelten Sklaven einen neuen Kanal, der 120 000 Menschenleben forderte. Herodot schreibt, daß die Fahrt durch den Kanal vier Tage dauerte und daß zwei entgegenkommende Galeeren aneinander vorbeikamen, ohne daß die Ruderreihen sich berührten. Mehrere Schiffe der zerschlagenen Flotte Kleopatras konnten sich durch den Kanal ins Rote Meer retten und sich dem Zorn des grimmen Octavian entziehen.

Nach dem Zerfall des römischen Imperiums trennte wieder eine hundert Meilen lange Wand aus Treibsand den Atlantik vom Indischen Ozean, doch kaum hatten die Nachfolger des Propheten Mohammed in dieser unfruchtbaren Gegend einen starken Staat geschaffen, griffen die Menschen erneut zu Hacken und Spaten. Ich fahre hier vorbei an toten Salzböden und endlosen Wanderdünen und werde nicht müde, mich an der sturen Tapferkeit und der emsenhaften Mühsal des menschlichen Stammes zu begeistern, der einen unendlichen, unweigerlich zum Scheitern verurteilten Kampf gegen den allmächtigen Chronos führt. Zweihundert Jahre lang befuhren Getreideschiffe den Kanal, dann wischte die Erde die jämmerliche Falte von ihrer Stirn, und die Wüste sank in tausendjährigen Schlaf.

Der Vater des neuen Suezkanals war leider kein Brite, sondern der Franzose Lesseps, liebe Emily, ein Vertreter der Nation, für die ich eine tiefe und vollauf gerechtfertigte Verachtung empfinde. Dieser umtriebige Diplomat überredete den ägyptischen Vizekönig, einen Ferman über die Gründung der Suezkanal-Gesellschaft auszufertigen. Diese erhielt das Recht, die neue Wasserstraße auf 99 Jahre zu pachten, während der ägyptischen Regierung nur 15% der Einkünfte zugebilligt wurden! Und diese schäbigen Franzosen wagen es noch, uns Briten als Plünderer der rückständigen Völker zu bezeichnen! Zumindest haben wir unsere Privilegien mit dem Degen erkämpft, nicht aber schmutzige Geschäfte mit habgierigen einheimischen Beamtenseelen gemacht.

1 600 Kamele brachten jeden Tag Trinkwasser für die Arbeiter, die den Großen Kanal gruben, aber die Ärmsten starben gleichwohl zu Tausenden an Durst, Hitze und ansteckenden Krankheiten. Unsere »Leviathan« schwimmt sozusagen über Leichen, und ich sehe im Sand zähnebleckende Schädel mit leeren Augenhöhlen. Es dauerte zehn Jahre und kostete fünfzehn Millionen Pfund Sterling, dieses grandiose Bauwerk zu vollenden. Dafür legt ein Schiff die Strecke von England nach Indien jetzt in der halben Zeit zurück. Fünfundzwanzig Tage, und man ist in Bombay. Unglaublich! Die Kanaltiefe beträgt mehr als 100 Fuß, so daß selbst unsere Riesenarche nicht befürchten muß, auf eine Sandbank aufzulaufen.

Heute beim Mittagessen mußte ich so lachen, daß ich mich an einer Brotkruste verschluckte, ich hustete und konnte das Lachen dennoch nicht bezwingen. Unser kläglicher Fant Regnier (ich schrieb Ihnen von dem Ersten Offizier der »Leviathan«) fragte mich mit geheuchelter Teilnahme nach dem Grund meiner Heiterkeit, da mußte ich noch mehr lachen. Ich konnte ihm ja nicht gut sagen, welcher Gedanke mich so belustigt hatte. Den Kanal haben die Franzosen gebaut, aber die Früchte ernten wir Engländer. Vor drei Jahren hat die Regierung Ihrer Majestät dem ägyptischen Khedive die Aktienmehrheit abgekauft, und jetzt verwalten wir Briten den Kanal. Die Aktie, die anfangs für 15 Pfund verkauft wurde, ist heute 3 000 wert! Ist das nicht toll? Wie sollte ich da ernst bleiben?

Im übrigen langweile ich Sie gewiß mit diesen trockenen Details. Seien Sie mir nicht gram, meine teure Emily, ich habe keinen anderen Zeitvertreib, als lange Briefe zu schreiben. Wenn meine Feder über das Velinpapier kratzt, ist mir, als säßen Sie neben mir, und wir führten eine erquickliche Unterhaltung. Sie müssen wissen, in dem heißen Klima fühle ich mich bedeutend besser. Ich kann mich morgens nicht mehr an die Alpträume erinnern, die mich nächtlicherweile quälen, aber sie sind noch da, denn wenn ich in der Frühe aufwache, ist das Kopfkissen naß von Tränen, manchmal auch von meinen Zähnen zerbissen.

Aber das sind Lappalien. Jeder neue Tag, jede zurückgelegte Meile bringt mich dem neuen Leben näher. Dort, unter der freundlichen Äquatorsonne, wird diese entsetzliche Trennung, die mir die Seele zerrissen hat, endlich vorbei sein. Wenn es nur schneller ginge! Ich fiebere dem Moment entgegen, da Ihr strahlender, zärtlicher Blick wieder auf mir ruht, meine liebe Freundin.

Womit könnte ich Sie noch zerstreuen? Vielleicht mit der Beschreibung unserer »Leviathan«, ein mehr als würdiges Thema. In den vorhergehenden Briefen habe ich zu viel von meinen Gefühlen und Träumen geschrieben und Ihnen nicht diesen Triumph der britischen Ingenieurkunst in den schönsten Farben ausgemalt.

Die »Leviathan« ist das größte Passagierschiff der Weltgeschichte, mit Ausnahme der kolossalen »Great Eastern«, die schon seit zwanzig Jahren die Wasser des Atlantik furcht. Jules Verne, der die »Great Eastern« in dem Buch »Die schwimmende Stadt« beschrieb, hat unsere »Leviathan« nie gesehen, sonst würde er die alte »G. E.« in »Das schwimmende Dorf« umbenannt haben. Sie verlegt ja nur Telegraphenkabel auf dem Grunde des Ozeans. Die »Leviathan« hingegen kann tausend Personen und zusätzlich 10 000 Tonnen Fracht transportieren. Die Länge unseres feuerspeienden Monsters übersteigt 600, die Breite erreicht 80 Fuß. Ist Ihnen bekannt, wie ein Schiff gebaut wird, liebe Emily? Zunächst wird der Linienriß des zu bauenden Schiffes auf dem Schnürboden (einem überdachten Raum) in einen besonders geglätteten Holzbelag eingeritzt. Der Linienriß der »Leviathan« war so gewaltig, daß extra ein Gebäude von der Größe des Buckingham-Palastes errichtet werden mußte!

Das Wunderschiff besitzt zwei Dampfmaschinen, zwei mächtige Seitenräder und eine gigantische Schraube am Heck. Sechs Masten ragen bis hinauf in den Himmel, sie sind voll betakelt, und bei achterem Wind und großer Maschinenfahrt entwickelt das Schiff eine Geschwindigkeit von 16 Knoten! Hier haben die neuesten Errungenschaften der Schiffbauindustrie Anwendung gefunden. Dazu gehören: die doppelte metallene Außenhaut, die das Schiff selbst bei einem Aufprall auf einen Felsen rettet, spezielle Seitenkiele, die das Schlingern dämpfen, elektrische Beleuchtung, wasserdichte Räume, gewaltige Kühlanlagen für den produzierten Dampf – alles läßt sich nicht aufzählen. Die gesamte Erfahrung jahrhundertelanger Arbeit des erfinderischen und unermüdlichen menschlichen Verstandes ist in diesem stolzen Schiff gebündelt, das furchtlos die Meereswellen teilt. Gestern habe ich nach alter Gewohnheit die Heilige Schrift an der erstbesten Stelle aufgeschlagen und war erschüttert – ins Auge fielen mir die Zeilen über Leviathan, das gefährliche Seeungeheuer aus dem Buche Hiob. Ich erbebte, als ich plötzlich begriff, daß dort keineswegs von einer Seeschlange die Rede war, wie die Alten glaubten, und nicht von einem Pottwal, wie die heutigen Rationalisten behaupten – nein, in der Bibel wird eindeutig von der »Leviathan« gesprochen, die mich aus Finsternis und Entsetzen hinführen wird zu Glück und Licht. Urteilen Sie selbst: »Die Tiefe läßt er wie den Kessel sieden und macht das Meer zu einem Salbentopf. Aufleuchtet hinter ihm der Pfad; man hält das Meer für Greisenhaar. Es gibt nicht seinesgleichen auf der Erde, dazu geschaffen, ohne Furcht zu sein. Verächtlich schaut er alles Hohe an, und König ist er aller stolzen Tiere.« Der Salbentopf – das ist das Schmieröl, der aufleuchtende Pfad hinter ihm – das ist die Hecksee. Das ist doch offensichtlich!

Und da überkam mich Angst, liebe Emily. Diese Zeilen bergen eine gefährliche Warnung – für mich persönlich, für die Passagiere der »Leviathan« oder für die ganze Menschheit. Vom Standpunkt der Bibel ist doch Stolz etwas Schlechtes, oder? Und wenn der Mensch verächtlich alles Hohe anschaut, drohen da nicht irgendwelche katastrophalen Folgen? Sind wir nicht gar zu stolz auf unseren flinken Verstand und unsere geschickten Hände? Wohin führt uns der König aller stolzen Tiere? Was steht uns bevor?

Ich schlug das Buch auf, um zu beten, zum erstenmal seit langer Zeit. Und plötzlich las ich: »Das ist ihr Herz, daß ihre Häuser währen immerdar, ihre Wohnungen bleiben für und für; und haben große Ehre auf Erden. Dennoch kann ein Mensch nicht bleiben in solchem Ansehen, sondern muß davon wie das Vieh. Dies ihr Tun ist eitel Torheit; doch loben’s ihre Nachkommen mit ihrem Munde.«

Als ich aber, von einem mystischen Gefühl ergriffen, mit zitternder Hand das Buch zum drittenmal aufschlug, fiel mein entzündeter Blick auf die langweilige Stelle aus dem vierten Buch Mose, wo mit buchhalterischer Genauigkeit die Opferdarbringungen der Geschlechter Israels aufgezählt werden. Da beruhigte ich mich, läutete mit dem silbernen Glöckchen und bestellte mir beim Steward eine heiße Schokolade.

Der Komfort in dem Teil des Schiffes, der dem honorigen Publikum vorbehalten ist, übersteigt jede Phantasie. In dieser Beziehung sucht die »Leviathan« in der Tat ihresgleichen. Dahin sind die Zeiten, als Reisende nach Indien oder China in enge dunkle Kämmerchen gezwängt, übereinander gestapelt wurden. Sie wissen, geliebte Gattin, wie sehr ich an Klaustrophobie leide, aber auf der »Leviathan« fühle ich mich wie am weitläufigen Ufer der Themse. Hier gibt es alles Notwendige, um der Langeweile zu entfliehen: einen Tanzsaal, einen Musiksalon für klassische Konzerte und eine ganz passable Bibliothek. Die Erste-Klasse-Kabine steht, was die Ausstattung angeht, dem besten Londoner Hotelzimmer nicht nach. Von solchen Kabinen hat das Schiff hundert. Überdies hat es 250 Kabinen zweiter Klasse mit 600 Betten (ich habe nicht hineingeschaut, denn ich kann Armseligkeit nicht ertragen), außerdem soll es noch umfängliche Frachträume geben. Allein an Bedienungspersonal hat die »Leviathan«, die Matrosen und Offiziere nicht gerechnet, mehr als 200 Leute – Stewards, Köche, Diener, Musiker, Kabinenstewardessen. Denken Sie nur, ich bedaure überhaupt nicht, Jeremy nicht mitgenommen zu haben. Der Tagedieb hat dauernd seine Nase in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen, und hier kommt um elf das Mädchen, räumt auf und führt meine Aufträge aus. Das ist bequem und vernünftig. Wenn man will, ruft man mit dem Glöckchen den Diener herbei, damit er beim Ankleiden hilft, aber das halte ich für überflüssig, ich ziehe mich selber an und aus. In meiner Abwesenheit ist es dem Personal strengstens untersagt, die Kabine zu betreten, und wenn ich hinausgehe, klemme ich ein Haar in die Tür. Ich habe Angst vor Spionen. Glauben Sie mir, liebste Emily, dieses Schiff ist eine richtige Stadt, und es gibt alles mögliche Gesindel.

Meine Kenntnisse über den Dampfer habe ich hauptsächlich von Leutnant Regnier, der auf sein Schiff richtig stolz ist. Ansonsten ist er ein unsympathischer Mensch, und ich habe ihn ernsthaft im Verdacht. Er bemüht sich nach Kräften, den Gentleman zu spielen, aber mich führt er nicht hinters Licht, ich kann die minderwertige Rasse riechen. Um sich einzuschmeicheln, hat der Kerl mich in seine Kabine eingeladen. Ich habe hineingeschaut, weniger aus Neugier als aus dem Wunsch, den Grad der Bedrohung abzuschätzen, welche dieser dunkelhäutige Herr darstellen könnte (über sein Äußeres s. meinen Brief vom 20. März). Die Ausstattung seiner Kabine ist kärglich, was noch stärker ins Auge fällt durch geschmacklose Nippes (chinesische Vasen, indische Räuchergefäße, ein minderwertiges Seestück an der Wand usw.). Auf dem Tisch steht inmitten von Karten und Navigationsgeräten ein großes Photo einer Frau in Schwarz mit einer Inschrift auf französisch: »Allezeit sieben Fuß unterm Kiel, mein Liebling! Françoise B.« Ich fragte, ob es seine Frau sei. Nein, seine Mutter. Rührend, aber der Verdacht bleibt. Ich habe auch weiterhin die Absicht, selber alle drei Stunden den Kurs zu überprüfen, obwohl ich dazu zweimal in der Nacht aufstehen muß. Gewiß, einstweilen fahren wir durch den Suezkanal, da ist es vielleicht überflüssig, doch ich will im Umgang mit dem Sextanten nicht aus der Übung kommen.

Zeit haben wir mehr als genug, und ich nutze sie außer zum Briefeschreiben dazu, den Jahrmarkt der Eitelkeiten zu beobachten, der mich von allen Seiten umgibt. In dieser Galerie menschlicher Typen gibt es hochinteressante Gestalten. Von einigen habe ich Ihnen schon geschrieben, doch gestern erschien in unserm Salon ein neues Gesicht. Stellen Sie sich vor – ein Russe. Sein Name ist Erast Fandorin. Emily, Sie wissen, was ich von Rußland halte, diesem häßlichen Auswuchs, der halb Europa und ein Drittel von Asien bedeckt. Rußland trachtet danach, seine das Christentum parodierende Religion und seine barbarischen Sitten auf die ganze Welt auszudehnen, und Albion ist das einzige Hindernis auf dem Weg dieser neuen Hunnen. Ohne die entschlossene Position der Regierung Ihrer Majestät in der gegenwärtigen Orientkrise würde Zar Alexander mit seinen Bärentatzen die Balkanländer eingerafft haben und …

Doch das habe ich Ihnen schon geschrieben, und ich mag mich nicht wiederholen. Im übrigen wirken sich Gedanken über die Politik schlecht auf meine Nerven aus. Jetzt ist es vier Minuten vor acht. Wie ich Ihnen schon mitteilte, gilt auf der »Leviathan« bis Aden die britische Zeit, darum ist um acht hier schon Nacht. Ich gehe jetzt, die Länge und die Breite zu messen, dann werde ich zu Abend speisen und den Brief fortsetzen.

 

Sechzehn Minuten nach zehn

Ich sehe, ich habe den Bericht über Mister Fandorin noch nicht beendet. Ich glaube, er gefällt mir trotz seiner Nationalität. Er hat gute Manieren, ist schweigsam, kann zuhören. Wahrscheinlich gehört er dem Stand an, der in Rußland mit dem italienischen Wort intelligenzia bezeichnet wird, das meint wohl die europäische gebildete Klasse. Sie werden zugeben, teure Emily, daß eine Gesellschaft, in der die europäische Klasse als besondere Schicht angesehen und überdies mit einem Fremdwort benannt wird, schwerlich als zivilisiert betrachtet werden kann. Ich stelle mir vor, was für ein Abgrund den menschenähnlichen Mister Fandorin von einem bärtigen Kosaken oder Mushik trennt, welche in diesem tatarisch-byzantinischen Imperium 90% der Bevölkerung ausmachen. Andererseits muß solch eine Distanz einen gebildeten und denkenden Menschen ungewöhnlich erhöhen und veredeln. Darüber wird noch nachzudenken sein.

Mir hat gefallen, wie elegant Mister Fandorin (er ist übrigens Diplomat, was vieles erklärt) den unerträglichen Coche zurechtgewiesen hat, der behauptet, Rentier zu sein, obwohl mit bloßem Auge zu sehen ist, daß er schmutzige Geschäfte betreibt. Es sollte mich nicht wundern, wenn er in den Orient reist, um Opium und exotische Tänzerinnen für Pariser Kaschemmen einzukaufen. (Der letzte Satz ist durchgestrichen.) Ich weiß, liebe Emily, daß Sie eine Lady sind und nicht versuchen werden, das Durchgestrichene zu lesen. Ich habe mich hinreißen lassen und etwas geschrieben, was Ihrer keuschen Augen unwürdig ist.

Also, zum heutigen Abendessen. Der französische Bourgeois Coche, der sich in letzter Zeit eine große Geschwätzigkeit herausnimmt, hat mit selbstzufriedener Miene über die Vorzüge des Alters gegenüber der Jugend schwadroniert. »Ich bin unter den hier Anwesenden der Älteste«, sagte er herablassend, dieser Sokrates. »Ich habe graue Haare, bin dick und häßlich, aber glauben Sie nicht, daß ich mit Ihnen tauschen würde. Wenn ich die hochmütige Jugend sehe, die sich vor dem Alter mit ihrer Kraft, Schönheit und Gesundheit spreizt, empfinde ich kein bißchen Neid. Na, denke ich dann, das ist nichts weiter, so war ich früher auch. Aber ob du, mein Lieber, überhaupt so alt wirst wie ich mit meinen zweiundsechzig, das ist noch nicht raus. Ich bin schon doppelt so glücklich wie du mit deinen dreißig, denn ich lebe auf dieser Welt doppelt so lange wie du.« Und er trank einen Schluck Wein, stolz auf seinen originellen Gedanken und seine scheinbar unwiderlegliche Logik. Da sagte plötzlich Fandorin, der bislang den Mund nicht aufgekriegt hatte, mit sehr ernster Miene: »Das trifft zweifellos zu, Herr Coche, wenn man das Leben im orientalischen Sinne betrachtet – als das Sich-Befinden an einem Punkt des Daseins und das ewige ›Jetzt‹. Aber es gibt noch eine andere Sichtweise, die das Leben eines Menschen als ein Literaturwerk ansieht, das man erst beurteilen kann, wenn die letzte Seite zu Ende gelesen ist. Dieses Werk kann lang sein wie eine Tetralogie oder kurz wie eine Novelle. Aber wer will zu behaupten wagen, daß ein dicker und banaler Roman wertvoller wäre als ein kurzes, schönes Gedicht?« Und das komischste, unser Rentier, der tatsächlich dick und banal ist, hat gar nicht begriffen, daß er gemeint war. Selbst als Miss Stomp (eine nicht dumme, wenngleich sonderbare Person) kicherte und ich ziemlich laut prustete, bekam der Franzose es nicht mit – er blieb bei seiner Überzeugung, und dafür sei er gepriesen.

Freilich bekundete Monsieur Coche im weiteren Gespräch, schon beim Dessert, einen gesunden Menschenverstand, der mich erstaunte. Auch das Fehlen einer regulären Bildung hat seine Vorzüge: Ein nicht von Autoritäten eingeengter Verstand ist zuweilen fähig, interessante und zutreffende Beobachtungen zu machen.

Urteilen Sie selbst. Die amöbenartige Mrs. Truffo, die Frau unseres vertrottelten Doktors, säuselte wieder mal etwas von dem »Kleinchen« und »Engelchen«, mit dem Madame Kleber in Bälde ihren Bankier beglücken wird. Da Mrs. Truffo nicht französisch spricht, mußte ihr unglücklicher Gatte die süßlichen Sentenzen übersetzen – von Familienglück, das ohne das »Plappern der Kleinen« nicht denkbar sei. Coche paffte und paffte, dann sagte er plötzlich: »Ich kann Ihnen nicht zustimmen, Madame. Ein wahrhaft glückliches Ehepaar hat keineswegs Kinder nötig, denn Mann und Frau sind einander vollauf genug. Mann und Frau sind wie zwei unebene Oberflächen, jede mit Hebungen und Senkungen. Wenn die Oberflächen nicht dicht einander anliegen, bedarf es Leim, ohne den die Konstruktion, also die Familie, nicht halten würde. Dieser Leim sind die Kinder. Wenn aber die Oberflächen ideal zueinander passen und jede Hebung eine Senkung findet, ist Leim überflüssig. Nehmen Sie mich und meine Blanche. Dreiunddreißig Jahre leben wir wie ein Herz und eine Seele. Wozu brauchen wir Kinder? Auch ohne sie ist es wunderbar.« Sie können sich vorstellen, Emily, was für eine Woge gerechter Entrüstung über den Zerstörer ewiger Werte hereinbrach. Am meisten ereiferte sich Madame Kleber, die in ihrem Schoß einen kleinen Schweizer trägt. Beim Anblick ihres zur Schau gestellten Bäuchleins zucke ich jedesmal zusammen. Ich sehe im Geiste einen zusammengekauerten Mini-Bankier mit gezwirbeltem Schnurrbärtchen und aufgeblasenen Bäckchen. Mit der Zeit werden die Klebers zweifellos ein ganzes Bataillon der Schweizer Garde auf die Welt bringen.

Ich muß Ihnen gestehen, meine zärtlich geliebte Emily, daß mir der Anblick schwangerer Frauen Übelkeit verursacht. Sie sind widerlich! Dieses sinnlos animalische Lächeln, diese scheußliche Miene des permanenten Hineinhorchens in den eigenen Leib! Ich halte mich nach Möglichkeit von Madame Kleber fern. Schwören Sie mir, Teuerste, daß wir niemals Kinder haben werden. Der dicke Bourgeois hat tausendmal recht! Wozu Kinder? Wir sind doch auch so unendlich glücklich. Wir müssen nur diese erzwungene Trennung durchstehen.

Aber jetzt ist es zwei Minuten vor elf. Ich muß meine Messung machen.

 

Verflixt! Ich habe die ganze Kabine durchsucht. Mein Sextant ist weg. Keine Einbildung. Er lag in der kleinen Truhe, zusammen mit dem Chronometer und dem Kompaß, und jetzt ist er weg! Ich habe Angst, Emily! Oh, ich habe es geahnt! Meine schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet!

Warum? Wofür? Die sind zu jeder Schandtat bereit, nur um unsere Begegnung zu verhindern. Wie soll ich jetzt überprüfen, ob der Dampfer den richtigen Kurs fährt? Das war Regnier, ich weiß es. Ich habe gesehen, mit was für Augen er mich anguckte, als er letzte Nacht an Deck mein Hantieren mit dem Sextanten beobachtete. Der Schuft!

Ob ich zum Kapitän gehe, um eine Bestrafung Regniers zu verlangen? Aber wenn sie unter einer Decke stecken? O Gott, erbarme dich meiner!

 

Ich mußte eine Pause machen. Mich hat das alles so echauffiert, daß ich von den Tropfen nehmen mußte, die Doktor Jenkinson mir verordnet hat. Und entsprechend seiner Weisung habe ich an etwas Erfreuliches gedacht. Daran, wie wir beide auf der weißen Veranda sitzen und in die Ferne schauen, um herauszufinden, wo das Meer aufhört und der Himmel anfängt. Sie lächeln und sagen: »Lieber Regi, nun sind wir beisammen.« Dann setzen wir uns in das Kabriolett und fahren am Ufer entlang …

Mein Gott, was fasele ich da! Was denn für ein Kabriolett?

Ich bin ein Ungeheuer, und es gibt für mich keine Vergebung.