3

Chitteranx war eindrucksvoll. Für eine so hoch entwickelte und dicht bevölkerte Welt wie Hivehom war es ein kleiner Hafen, dennoch stellte er den Shuttlehafen von Drallar in den Schatten.

»Der größte Teil der Stadt ist natürlich unterirdisch angelegt. Das sind alle Thranxstädte, damit die Oberfläche besser ausgenutzt wird.« Bisondenbit schüttelte verblüfft den Kopf. »Warum ihr Menschen immer nach oben statt nach unten gebaut habt, werde ich nie begreifen.«

Der Blick, der sich durch die durchsichtige Korridorwand bot, interessierte Flinx viel mehr als der übrige Anblick des Shuttlehafens. Üppige Dschungelgewächse überwucherten die Plastikwände. Draußen regnete es - besser gesagt, es dampfte. Die Hitze im Terminalgebäude war drückend, und dies trotz der Tatsache, daß hier ein Kompromißklima zwischen dem herrlichen Wetter draußen - wie Bisondenbit es nannte - und der arktischen Atmosphäre der nahen Hochebene herrschte.

Flinx war auf Moth mit Regen aufgewachsen, aber diese Feuchtigkeit war für ihn neu und unangenehm. Menschen konnten das Gewächshausklima ertragen, aber nur kurze Zeit ohne Schutz, und wohl fühlten sie sich dabei nicht.

Bisondenbit hingegen beklagte sich bitter über die Kälte in dem Terminalgebäude. Als Flinx Einwände vorbrachte, erklärte er: »Das ist für Menschen der wichtigste Hafen von Hivehom. Wenn wir in Äquatornähe in Daret oder Ab-Neub gelandet wären, dann würden Sie verschmachten, Flinx.« Als sie das eigentliche Hafengebäude verließen und eine Gruppe überdachter Bauten betraten, sah er sich um.

»Ehe ich Sie zur Hochebene begleite und dazu einen Heizanzug anlegen muß, möchte ich wenigstens kurze Zeit ein vernünftiges Klima genießen. Nehmen wir einen Drink zusammen?«

»Ich möchte wirklich meine Suche nach Challis so bald wie möglich... «

»Die Shuttles zum Plateau verkehren alle zehn Chroniten«, sagte Bisondenbit. »Kommen Sie. Außerdem haben Sie mir immer noch nicht gesagt, was Sie in dieser Box haben.« Er wies mit der Echthand auf den großen rechteckigen Behälter, den Flinx in der linken Hand trug. »Es muß etwas Exotisches und Wertvolles sein, sonst würden Sie nicht so darauf achten.«

»Exotisch kann man es wohl nennen«, räumte er ein, »aber nicht sonderlich wertvoll.«

Sie fanden ein kleines Eßlokal im Innern der klimatisierten Bauten. Es waren nur wenige Menschen anwesend, dafür war das Lokal aber mit Thranx überfüllt. Flinx war ganz begeistert von den Ruhecouches der Thranx, dem gedämpften Licht, bei dem selbst der Mittag düster erschien, und den prunkvoll geschnitzten gemeinsamen Trinkkanistern, die über jeder Nische von der Decke hingen. Bisondenbit wählte einen einzeln stehenden Tisch hinten im Raum und gab Flinx einige hilfreiche und einige überflüssige Empfehlungen. Dem bereitete es keine Schwierigkeiten, die Speisekarte zu entziffern, die in vier Sprachen gehalten war: Hochthranx, Niederthranx, Symbosprache und Terranglo.

Bisondenbit bestellte, nachdem Flinx sich aus den Tausenden von Likören einen ausgewählt hatte, in deren Zubereitung die Thranx Meister waren.

»Wann wollen Sie zum Terminal zurück, um sich Ihr restliches Gepäck zu holen?« fragte das Insekt beiläufig, nachdem ihre Getränke gekommen waren. Dabei registrierte er zufrieden, daß Flinx zugunsten eines der langschnäbeligen Krüge, wie die Thranx sie benutzten, auf ein Glas verzichtet hatte.

»Das ist mein ganzes Gepäck«, meinte Flinx und wies auf seine kleine Schultertasche und den einzigen großen perforierten Koffer. Bisondenbit gab sich keine Mühe, seine Überraschung zu verbergen.

»Das ist alles, was Sie auf die lange Reise mitgenommen haben? Dabei wissen Sie doch gar nicht, wie lange Sie brauchen werden, um diesen Menschen Challis zu finden?«

»Ich bin immer mit leichtem Gepäck gereist«, erklärte Flinx seinem Gegenüber. Das Getränk war süß und hatte einen schwachen Rosinengeschmack. Es rann ihm angenehm und warm durch die Kehle. Langsam begann er, die Anstrengungen der Reise zu spüren. Eigentlich hätte er so früh am Tage noch nicht so müde sein dürfen. Offenbar war er eben doch nicht der erfahrene interstellare Reisende, für den er sich gerne hielt.

»Außerdem sollte es doch nicht schwer sein, Challis zu finden. Er wird sich doch bestimmt in der Filiale seiner Firma aufhalten.« Flinx nahm einen weiteren Schluck von der dicken honigartigen Flüssigkeit. Dann runzelte er die Stirn. Trotz seiner Jugend hielt er sich in der Beurteilung von alkoholischen Getränken für erfahren, aber dieses Gebräu war offensichtlich kräftiger, als man der Getränkekarte hatte entnehmen können. Er stellte fest, daß sein Blick sich zu trüben begann.

Bisondenbit musterte ihn besorgt. »Alles in Ordnung? Wenn Sie noch nie Sookcha getrunken haben... das Zeug ist ziemlich stark. Das prügelt einen um?«

»Haut einen um«, verbesserte Flinx mit belegter Stimme.

»Ja, richtig, haut einen um. Keine Sorge... das geht schnell vorüber.«

Aber Flinx spürte, daß er immer benommener wurde. »Ich glaube, ... wenn ich kurz hinauskönnte... etwas frische Luft...« Er schickte sich an, aufzustehen, stellte aber fest, daß seine Beine kaum reagierten, während seine Füße sich bewegten, als liefe er auf einer geölten Tretmühle. Es war unmöglich, sich in gerader Linie vorwärts zu bewegen.

Also gab er die Anstrengung auf und stellte fest, daß sein Muskelsystem sich in einem Zustand der Anarchie befand. »Komisch«, murmelte er, »ich kann mich nicht mehr richtig bewegen.«

»Keine Sorge«, versicherte ihm Bisondenbit, lehnte sich über den Tisch und starrte ihn mit einer Intensität an, die Flinx neu war. »Ich werde dafür sorgen, daß man sich richtig um Sie kümmert.«

Und während der visuelle Eindruck der Außenwelt um ihn verblaßte, fürchtete Flinx, daß sein seltsamer neuer Bekannter genau das tun würde…

 

Als Flinx erwachte, umgab ihn die Harmonie der Zerstörung, begleitet von Flüchen in ein paar Sprachen. Er blinzelte - seine Augenlider fühlten sich an, als wären sie mit Platin besetzt -, führte einen ergebnislosen Kampf darum, seine Arme und Beine zu bewegen. Als ihm das mißlang, begnügte er sich damit, die Augen halb offenzuhalten. Schwaches Licht aus einer ihm unsichtbaren Quelle erleuchtete den kleinen Raum, in dem er lag. Spartanische Möbel aus roh behauenem Holz vor glatten Wänden aus silbernem Gunit. Als sein Wahrnehmungsvermögen zunahm, entdeckte er, daß seine Handgelenke und seine Fußknöchel mittels Metallbändern an einer primitiven hölzernen Plattform befestigt waren, die weder Bett noch Tisch war.

Er blieb ganz ruhig liegen. Zum einen vollführte sein Magen gymnastische Übungen, und es war vermutlich am besten, ruhig zu bleiben, bis sein Innenleben wieder in Ordnung gekommen war. Zum anderen ließen die Empfindungen und Geräusche, die ihn umgaben, es wenig geraten erscheinen, seinen Bewußtseinszustand zu verraten.

Die Laute der Zerstörung wurden von der methodischen Zerlegung seiner persönlichen Effekten hervorgerufen. Als er langsam nach rechts blickte, sah er die zerfetzten Überreste seiner Schultertasche und seiner Kleidung. Sie wurden von drei Menschen und einem Thranx inspiziert. Als er in letzterem seinen ehemaligen Spielgefährten und Reisebegleiter, Bisondenbit, erkannte, verfluchte er seine Naivität.

In Drallar wäre er einem völlig Fremden gegenüber nie so gesprächig gewesen. Aber er war an Bord des Schiffes drei Tage lang isoliert und ohne Freunde gewesen, als der Thranx mit seinem Angebot auf ihn zugekommen war, ihn in die Geheimnisse der Spiele einzuweihen. Seine Dankbarkeit hatte sein instinktives Gefühl des Argwohns überlagert.

»Keine Waffen, kein Gift, kein Strahler und kein Nadler - nicht einmal ein Stückchen Papier«, beklagte sich einer der Männer in fließendem Symbo.

»Und was noch schlimmer ist«, warf einer seiner Begleiter ein, »kein Geld. Bloß ein lausiges Kredimeter.« Er wies auf den kompakten Computer, der auf unfälschbare Art Kredit registrierte und transferierte, und warf ihn angewidert auf ein Tischchen in der Nähe. Das Gerät landete inmitten der sonstigen wenigen Habseligkeiten von Flinx. Flinx stellte fest, daß es nur noch einen Gegenstand gab, den sie bis jetzt nicht aufgebrochen hatten.

»Das ist nicht meine Schuld«, beklagte sich Bisondenbit und musterte die drei hochgewachsenen Menschen mit seinen Facettenaugen. »Ich habe nicht versprochen, irgendeinen Zusatznutzen zu liefern. Wenn Sie glauben, daß ich mir mein Honorar nicht verdient habe, dann geh' ich eben zu Challis selbst.«

Einer der Männer seufzte resigniert. Er holte eine doppelte Handvoll kleiner rechteckiger Metallplättchen aus der Tasche und reichte sie Bisondenbit. Der Thranx zählte sie sorgfältig.

Der Mensch, der ihn bezahlt hatte, blickte auf Flinx' Fesseln, und dieser schloß gerade noch rechtzeitig die Augen. »Es ist eine Menge Geld. Ich weiß nicht, weshalb Challis solche Angst hat - schließlich ist das nur ein Junge. Aber er ist der Meinung, er sei das Honorar wert, das Sie verlangt haben. Ich verstehe es nicht.«

Der Mann wies auf den größten seiner Begleiter. »Charlie hier könnte ihn mit einer Hand in zwei Stücke brechen.« Er wandte sich um und tippte auf den Koffer. »Was hat er darin?«

»Ich weiß nicht«, meinte der Thranx. »Er hatte ihn die ganze Zeit in der Kabine.«

Jetzt war zum ersten Mal der Dritte zu hören. Seine Stimme klang irgendwie geringschätzig. »Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich hab' mir diesen Behälter mit den nötigen Instrumenten angesehen, während ihr euch um seine Garderobe gekümmert habt.« Er stieß den Koffer an. »Er enthält keine Metallgegenstände oder Explosivstoffe. Den Instrumenten kann man entnehmen, daß da etwas Organisches drin ist und organische Analogstoffe - wahrscheinlich seine restliche Kleidung.« Er seufzte. »Sehen wir nach. Schließlich hat man uns dafür bezahlt, daß wir gründlich sind.« Er entnahm einer Werkzeugtasche eine Metallzange und schnitt das Kombinationsschloß mühelos auf. Als das geschehen war, ließ sich der Kofferdeckel leicht aufklappen. Er sah hinein und knurrte: »Ja, Kleider. Anscheinend noch zwei Anzüge und... « Er wollte die Kleider herausnehmen - da schrie er auf und taumelte zurück, fuhr sich mit den Händen ins Gesicht, dessen eine Seite plötzlich wie überkochende Suppe brodelte. Etwas, das wie ein Gürtel aussah, schoß plötzlich aus dem offenen Koffer.

Bisondenbit schnatterte irgend etwas auf Hochthranx und verschwand eiligst durch die einzige Tür. Der Mann namens Charlie fiel nach rückwärts über Flinx, und aus seinem Strahler jagte ein Strahl zur Decke, während er sich an die Augen fuhr. Der Anführer der kleinen Gruppe war dicht hinter Bisondenbit her, als etwas ihn am Hals traf. Heulend fiel er ins Zimmer zurück und wälzte sich am Boden.

Weniger als eine Minute war verstrichen. Etwas Langes, Glattes glitt über Flinx' Brust.

»Schon gut, Pip«, sagte er, aber der Minidrach ließ sich nicht beruhigen. Als er Flinx inspiziert hatte, erhob er sich wieder in die Lüfte und stieß noch einmal zu. Überall, wo sein Gift Kleider oder Haut der Liegenden traf, erschienen gähnende Löcher.

Der erste Mann, den das Gift getroffen hatte, war bereits tot, während der zweite stöhnend an der Wand hinter Flinx lehnte. Hautfetzen hingen ihm lose von Hals und Wangen; und an einer Stelle, wo Pips extrem korrodierendes Gift den Knochen freigelegt hatte, blitzte es weiß.

Inzwischen hatte sich der Minidrach auf Flinx' Leib niedergelassen und glitt jetzt liebkosend nach oben. Seine lange Zunge schoß vor und berührte ihn an Kinn und Lippen. »Die rechte Hand«, instruierte ihn Flinx, »meine rechte Hand.« In der Dunkelheit musterte ihn das Reptil fragend. Flinx schnippte auf besondere Art mit den Fingern, und jetzt kroch der Minidrach auf die Hand zu und legte seinen Kopf in die offene Handfläche. Ein paar Fingerbewegungen, und dann schloß die Hand sich sanft, aber fest. Die Schlange leistete keinen Widerstand.

Flinx bereitete es einige Mühe, Pips Schnauze so hinzulegen, bis sie die Stelle erreichte, wo das Metallband am Tisch befestigt war. Seine Finger strichen über Muskelstränge hinter den Kinnladen. Ein paar Tröpfchen Gift quollen aus dem düsenförmig zulaufenden Rohr in der unteren Gaumenpartie des Minidrachs.

Ein zischendes Geräusch.

Flinx wartete, bis das Zischen verstummt war, dann riß er an der Fessel. Er mußte noch ein zweites Mal reißen, bis das angefressene Metall nachgab. Jetzt fiel es leichter, Pip an dem nächsten Band anzusetzen. Anschließend wiederholte er die Prozedur an den Beinen. Als er das linke Bein befreite, stellte Flinx fest, daß sich rechts von ihm etwas bewegte. Sofort erhob der Minidrach sich wieder in die Luft.

Der einzige Überlebende kreischte, als der winzige Drachen auf ihn zuschoß. »Weg da! Weg da! Lassen Sie ihn nicht zu mir heran!« schrie er erschreckt.

»Pip!« befahl Flinx. Der Minidrach schwebte vor dem geduckten Mann, seine Schwingen flirrten wie die eines Kolibris, und seine seelenlosen kaltblütigen Augen starrten in die des blutenden Menschen, dessen Schlüsselbein weiß durch die weggefressene Haut und die zerfetzte Kleidung leuchtete.

Endlich hatte Flinx das letzte Stahlband abgerissen. Er richtete sich langsam auf und ging vorsichtig zu dem anderen Tisch. Die Kleider, die er getragen hatten, waren in Fetzen. Er schlüpfte in die zweite Kombination, in dessen Falten Pip so bequem geruht hatte.

»Tut mir leid um Ihre Freunde, aber nicht besonders«, murmelte er. Während er den Reißverschluß seines Anzugs hochzog, wandte Flinx sich dem verstörten Geschöpf auf dem Boden zu. »Ich möchte die ganze Geschichte hören, und daß Sie mir ja keine Einzelheiten weglassen. Je mehr Fragen ich stellen muß, desto ungeduldiger wird Pip.«

Von den Lippen des Mannes kam ein Strom von Informationen. »Ihr Thranxfreund ist ein billiger kleiner Verbrecher.«

»Antiquitäten«, murmelte Flinx. »Sehr komisch. Nur weiter.«

»Es kam ihm seltsam vor, daß ein junger Mann wie Sie, der allein reist, sich so für Conda Challis interessiert, und dann hat er einfach Challis' Büro hier angerufen und denen von Ihnen erzählt. Jemand ganz oben wurde nervös und hat ihm gesagt, er sollte Sie an uns ausliefern, damit wir Sie überprüfen.«

»Das leuchtet ein«, nickte Flinx. »Und was sollte mit mir geschehen, nachdem man mich... äh... überprüft hatte?«

Der Mann, der sich in die Ecke gedrängt hatte, um möglichst weit von dem flatternden Minidrach entfernt zu sein, flüsterte: »Überlegen Sie doch - was meinen Sie wohl?«

»Challis sagte, er sei ein gründlicher Mensch«, murmelte Flinx. »Ich hätte ein ganz unschuldiger Passagier sein können - das hätte nichts ausgemacht.« Er packte die wenigen intakt gebliebenen Gegenstände seines Gepäcks in den Koffer und ging auf die Tür zu, durch die Bisondenbit vor wenigen Augenblicken verschwunden war.

»Und was ist mit mir?« murmelte der Mann. »Werden Sie mich töten?«

Flinx wandte sich überrascht um, und seine Augen verengten sich, als er das menschliche Wrack musterte, das noch vor wenigen Minuten sein Gepäck durchwühlt hatte. »Nein. Weshalb denn? Sagen Sie mir, wo ich Conda Challis finde. Und dann würde ich Ihnen den Rat geben, einen Arzt aufzusuchen.«

»Im obersten Stockwerk des Verwaltungsturms am anderen Ende der Anlage.«

»In welcher Anlage?« fragte Flinx verwirrt.

»Richtig - Sie wissen ja noch nicht, wo Sie sind, oder?« Flinx schüttelte den Kopf. »Dies ist das vierte Untergeschoß der Challis Hivehom Bergwerksgerätefabrik. Gehen Sie zu dem Korridor vor der Tür, biegen Sie nach links ab und gehen Sie weiter, bis Sie zu den Aufzügen kommen. Die führen alle nach oben. Dort kann jeder Ihnen den Verwaltungsturm zeigen - das Gelände ist sechseckig angelegt. Der Turm steht in der nordöstlichen Ecke.«

»Danke«, sagte Flinx. »Sie waren sehr hilfreich.«

»Nicht hilfreich, du giftiges kleines Schwein«, murmelte der Krüppel mit schmerzverzerrtem Gesicht, als Flinx gegangen war, »nur pragmatisch.« Er kroch mühsam auf die offene Tür zu.

Draußen im Korridor schnippte Flinx wieder mit den Fingern, nachdem er sich überzeugt hatte, daß niemand ihm auflauerte. »Pip... ruhig jetzt!«

Der Minidrach zischte zustimmend, flatterte in den offenen Koffer und verbarg sich dort zwischen den zerfetzten Kleidern. Flinx klappte den Deckel zu. Er würde bei nächster Gelegenheit das Schloß ersetzen müssen oder es riskieren, daß irgendein Unschuldiger dasselbe Schicksal erlitt wie seine drei Entführer.

Niemand hielt ihn auf, als er auf die Lifts zuging. An den Türen waren Schilder mit Nummern 4-B, 3-B und so weiter bis hinunter auf Null befestigt, und dort begann die Reihe wieder ganz normal. Vier Stockwerke über der Erde und vier darunter, stellte Flinx fest. Wenn er also auf Null drückte, würde er zur Oberfläche kommen. Und das tat er auch, als schließlich eine Kabine eintraf.

Der Lift kam in einer zweckmäßig gestalteten, vierstöckigen Halle zum Stillstand. Ein beständiger Strom von Menschen und Thranx benutzte die Lifts um ihn herum. »Gestatten Sie«, zirpte eine Thranxtriade und betrat die Kabine, die er soeben frei gemacht hatte.

Obwohl jedes Auge auf ihn gerichtet schien, beachtete ihn in Wirklichkeit niemand. Warum sollten sie auch, dachte er und entspannte sich. Nur ein Mann und einige seiner Helfer würden auf ihn Jagd machen.

Innerhalb der durchsichtigen Fassade des Gebäudes stand ein großer Tisch mit der Tafel Information. Dahinter saß ein Thranx. Flinx schlenderte auf ihn zu und versuchte den Eindruck zu vermitteln, als wüßte er genau, was er wollte.

»Entschuldigen Sie«, begann er in fließendem Hochthranx, »können Sie mir sagen, wie man von hier zum Verwaltungsturm kommt?«

Das ältere, würdig dreinblickende Insekt wandte sich ihm zu. Der Alte war peinlich exakt schwarz und gelb lackiert und wies keinerlei Emaillechitoneinlagen auf, wie sie die Thranx sonst liebten. Ein nüchterner Beamtentyp.

»Nordostquadrat«, sagte der Thranx scharf und deutete damit an, daß der Frager dies eigentlich selbst wissen müsse. »Zu der Haupttür dort hinaus«, fuhr er fort und wies ihm mit einer Echthand den Weg, während eine Fußhand seinen Thorax auf den Tisch stützte, »dann links, das H-Portal. Die Säule hat zwölf Stockwerke mit einem Landeplatz oben.«

»Der Segen der Wabe sei mit Ihnen«, sagte Flinx gewandt, worauf der Alte ihn scharf musterte.

»Sagen Sie, was wollen Sie hier?« fragte er miß- trauisch.

Aber da hatte die geschäftige Menge Flinx bereits verschluckt. Der Beamte suchte noch eine Weile nach ihm, dann gab er es auf und ging wieder seiner Arbeit nach.

Flinx kam im Fabrikgelände schnell vorwärts. Ein freundlicher Arbeiter gab ihm das eine Mal, als er nicht mehr weiter wußte, bereitwillig Auskunft. Als er schließlich die unverkennbare Silhouette des Verwaltungsturms entdeckte, verlangsamte er sein Tempo. Plötzlich war ihm bewußt, daß er keinerlei Plan hatte.

Challis' Reaktion auf sein unerwartetes Erscheinen würde nicht besonders freundlich sein. Und diesmal würde er und wahrscheinlich auch sein Personal auf Pip vorbereitet sein. Bei all seinen Fähigkeiten war der Minidrach keineswegs unverletzlich.

Irgendwie würde er sich in den Turm schleichen und herausfinden müssen, wo Challis sich aufhielt. Selbst von seinem gegenwärtigen Standort aus konnte er die kräftigen Ausstrahlungen einer kleinen finsteren Wesenheit spüren. Aber er hatte keine Garantie, ob er Mahnahmi und Challis zusammen finden würde. Ob das Mädchen seine Anwesenheit ebenfalls spürte? Das war ein ernüchternder Gedanke. Er beschloß, schnell zu handeln, und durchschritt selbstbewußt den Eingang des Turms. Aber das hier war kein Fabrikgebäude. Ein effizient aussehender Thranx mit drei eingelegten Rangstreifen auf dem b- Thorax hielt ihn auf - sehr höflich natürlich.

»Der Schwarm sei mit Ihren Geschäften«, murmelte das Insekt. »Ihren Namen bitte und Ihr Anliegen.«

Flinx wollte gerade antworten, als eine Tür neben ihm aufflog. Eine Gruppe schwerbewaffneter Thranx stürzte heraus, und ihr Anführer deutete auf ihn und schrie: »Das ist er - haltet ihn fest!«

Der Beamte, der Flinx angesprochen hatte, reagierte schnell und griff mit der Echthand nach seinem Arm. Flinx hob das Bein und stieß etwas zögernd zu. Der panzerähnliche Chiton war praktisch unverletzlich - abgesehen von den Gelenken, wo Flinx' Fuß traf. Das Gelenk krachte hörbar, und der Beamte stieß einen erschreckten Zirplaut aus, während Flinx sich losriß und auf die Aufzüge zurannte.

Er sprang in eine Kabine und drückte den obersten Knopf, wobei er feststellte, daß daneben die Ziffer elf stand. Für das zwölfte Stockwerk brauchte man einen Schlüssel.

Ein paar Strahler durchbohrten die Lifttüren, als die Kabine sich in Bewegung setzte. Zum Glück trafen sie keine wichtigen Funktionsteile, und seine Fahrt wurde nicht gestört, obwohl die drei Löcher mit den angeschmolzenen Rändern in der Tür ihm genügend Stoff zum Nachdenken gaben.

Ein ärgerliches Pochen und Schlagen in der Tasche lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Kaum hatte er die Klappe geöffnet, als ein wütender Pip herausschoß. Nachdem er sich schnell im Inneren der Liftkabine umgesehen hatte, ließ der Minidrach sich nervös auf Flinx' rechter Schulter nieder. Dort rollte er sich eng ein, die Muskeln angespannt.

Jetzt war es nicht mehr notwendig, das Reptil verborgen zu tragen, schließlich wußten die ganz genau, wer er war. Aber wer oder was hatte ihn verraten?

Mahnahmi - das mußte es sein! Fast war ihm, als spürte er ein mädchenhaftes spöttisches Gelächter. Vielleicht übertrafen ihre geistigen Talente die seinen, sowohl in der Stärke als auch im Fehlen jeglicher Disziplin. Natürlich würde niemand das glauben, falls er überhaupt Gelegenheit dazu bekam, darüber zu sprechen. Mahnahmi spielte die Rolle des unschuldigen Kindes mit den großen neugierigen Augen perfekt.

Die Frage war nur, ob hinter ihrer Bösartigkeit Berechnung stand oder nur der Wunsch nach blinder Zerstörung. Er hatte das Gefühl, daß sie von einem Augenblick auf den nächsten von Haß auf Liebe - und beides ähnlich intensiv - umschalten konnte. Wenn sie nur begreifen würde, daß er ihr nicht übel wollte... Und dann kam ihm in den Sinn, daß sie das wahrscheinlich sogar wußte.

Für sie war er nur eine Quelle des Vergnügens, nicht mehr.

Es bereitete ihm keine große Mühe, den Türmechanismus zu stören. Als die Kabine das zehnte Stockwerk passierte, stieg er aus und sah zu, wie der Lift weiter nach oben fuhr. Dann sah er sich in dem Raum um, bei dem es sich um eine Kombination aus Büro und Wohnraum handelte. Wahrscheinlich gehörte er einem von Challis' leitenden Mitarbeitern, vielleicht dem Fabrikdirektor.

Wenn es keine Truppe gab, dann saß er hier in der Falle. Challis war bestimmt nicht so dumm, ihn nach unten entkommen zu lassen.

Zum Glück standen diese Räume leer. Während er seine Lage überdachte, hallte von oben eine Explosion. Als er hinaufblickte, sah er Petzen von Metall- und Plastiklegierungen rauchend im Liftschacht nach unten fallen.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß es nur eine Möglichkeit gab, sich mit Mahnahmi auseinanderzusetzen. Er bemühte sich ganz bewußt darum, seinen Geist zu leeren, jeden Gedanken an zukünftiges Handeln zu unterdrücken. Die dunkle Wolke, die in seiner Nähe geschwebt hatte, verblaßte langsam. Jetzt konnte er Mahnahmis Gegenwart nicht mehr entdecken - und sie sollte in bezug auf ihn ebenso blind sein. Möglicherweise glaubte sie wie jeder andere einen Augenblick lang, daß er bei der Explosion der Liftkabine ums Leben gekommen war.

Nach kurzem Suchen hatte er festgestellt, daß diese Räume nur einen einzigen Zugang hatten - den einzigen, jetzt unbrauchbaren Lift. Kein anderer Lift führte in dieses Stockwerk. Also gab es nur einen Weg zu dem darüber liegenden Geschoß - den Dachlandeplatz. Sein Blick wanderte zu dem gewölbten Fenster, das den Ausblick über die Fabrikanlage und das dahinterliegende Plateau bot.

Flinx trat ans Fenster, stellte fest, daß es leicht zu öffnen war. Die Turmwand war mit Thranxsteinen geschmückt. Er blickte nach oben und überlegte.

Die erwarteten ihn jetzt bestimmt nicht.

Sein Bewußtsein nahm kurz das herrliche Panorama des Mediterrania-Plateaus auf, welches mit Fabriken und menschlichen Behausungen betupft war. In der Ferne erstreckten sich die nebelerfüllten Niederungen bis zum Horizont. Seine Füße fanden an der mit vorspringenden Steinen und Metallornamenten besetzten Außenwand des Gebäudes keinen so sicheren Halt, wie er das gerne gehabt hätte, aber er würde es schaffen. Wenigstens brauchte er nur ein Stockwerk hochzuklettern. Er ging durch das Appartement-Büro, fand das Badezimmer, öffnete das Fenster und begann zu klettern.

Wenn der Grundriß im Stockwerk darüber nicht völlig anders war, sollte er über dem Badezimmer, das er gerade verlassen hatte, wieder ein Badezimmer, wenn auch vielleicht etwas größer, jedenfalls aber hoffentlich leer, vorfinden. Das war bestimmt der beste Ort, um sich unauffällig Zutritt zu verschaffen.

Methodisch und ohne sich umzublicken arbeitete er sich langsam, aber stetig nach oben. In Drallar war er auf feuchten, schwieriger zu bewältigenden Oberflächen zu größeren Höhen emporgestiegen - und noch dazu in jüngerem Alter. Dennoch bewegte er sich mit aller Vorsicht.

Ein Glück, daß kein Wind wehte. Nach einer Weile erreichte er einen Sims. Darüber öffnete sich ein Fenster. Er griff nach oben und zog sich in die Höhe, bis er durch die durchsichtige Scheibe blicken konnte, und stellte befriedigt fest, daß das Fenster ein paar Zentimeter weit offenstand. Dann entdeckte er die beiden Gestalten, die hinten im Raum standen. Die eine war fett und schwitzte, ein Zustand, der nicht etwa auf körperliche Anstrengung zurückzuführen war. Die andere war klein, blond und hatte große Augen.

Plötzlich sahen sie ihn.

»Er soll mir nichts tun, Daddy«, sagte sie in gespielter Angst. Flinx öffnete seinen Geist und spürte die Erregung, die den ihren durchpulste. Übelkeit umfaßte ihn.

»Ich weiß nicht, warum du darauf bestehst, mich zu quälen«, sagte Challis verwirrt. Sein Strahler war jetzt auf Flinx' Schulter gerichtet. »Ich hab' dir doch gar nicht so weh getan. Du fängst an, lästig zu werden. Wiedersehen.« Sein Finger krümmte sich um den Abzug.

Im gleichen Augenblick verließ Pip Flinx' Schulter. Challis sah, wie die Schlange sich bewegte, suchte das neue Ziel und feuerte. Die Erinnerung an das, wozu der Minidrach fähig war, ließ den Händler zittern. Er verfehlte Pip und Flinx und traf die Holzverkleidung über dem Fenster. Woraus die Verkleidung auch immer bestehen mochte, jedenfalls brannte sie lichterloh. Binnen Sekunden war der Raum zwischen dem Fenster und Challis mit Rauch und Flammen erfüllt.

Der Rauch trieb zwar den Händler aus dem Raum und hinderte ihn auch daran, einen zweiten Schuß abzugeben, gleichzeitig aber blockierte er Flinx vor dem Fenster. Er begann sofort wieder seinen Abstieg, und Pip summte wütend um seinen Kopf und suchte etwas, das er töten konnte. Flinx bezweifelte, daß er unten ankommen würde, ehe es Challis gelang, die Wächter unten zu verständigen. Langsam stieg er an einem Stockwerk vorbei, dann am nächsten und schließlich am dritten. Beim vierten Stockwerk von oben stellte er fest, daß die reflektierende Verglasung zerbrochen und mit durchsichtigem Film repariert worden war.

Zwei schnelle Tritte vergrößerten die Öffnung, und er sprang hindurch - und sah sich einer erschreckten Frau gegenüber, die bei seinem Anblick aufschrie.

»Bitte«, flehte er sie an und ging auf sie zu. »Schreien Sie nicht! Ich tu Ihnen doch nichts.«

Aber sie schrie.

Flinx fuchtelte verzweifelt mit den Händen herum, um sie zum Schweigen zu bringen. »Seien Sie still... sonst finden die mich!«

Aber sie fuhr fort zu schreien.

Flinx blieb stehen und überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Man würde den Lärm jeden Augenblick hören.

Pip löste das Problem für den Augenblick. Er stieß auf die Frau zu. Sie sah, wie das lange Reptil mit weit geöffnetem Maul auf breiten Schwingen auf sie zuschoß...

- und wurde ohnmächtig.

Das brachte sie zum Schweigen, aber Flinx war immer noch in ein jetzt alarmiertes Gebäude eingeschlossen und hatte kaum eine Chance, ungesehen zu entkommen. Sein Blick wanderte fieberhaft im Raum umher und suchte einen großen Behälter, in dem er sich verstecken konnte, oder eine Waffe oder... irgend etwas Nützliches. Schließlich wandte sich seine Aufmerksamkeit wieder der Frau zu. Sie war ungünstig gefallen, und er versuchte, sie in eine etwas natürlichere Position zu schieben. Während er sie stützte, sah Flinx das Badezimmer in der Nähe. Sein Blick wanderte zu der Frau zurück...

Eine Minute darauf platzten ein paar schwerbewaffnete Wachmänner in den unverschlossenen Raum, und er schien leer. Sie schwärmten aus und durchsuchten schnell jedes mögliche Versteck. Einer betrat das Badezimmer, sah weibliche Beine unter der Toilettentür und zog sich mit einer Entschuldigung hastig zurück. Dann verließ er mit seinen Kollegen den Raum und machte sich daran, das nächste Büro zu durchsuchen.

Drei Büros später kam es ihm in den Sinn, daß die Frau nicht auf seine Entschuldigung reagiert hatte - nicht mit einem Dankeschön, nicht mit einem frostigen ›Schon gut‹ und nicht mit einem Fluch. Überhaupt nicht. Das kam ihm seltsam vor, und er erwähnte es gegenüber seinem Vorgesetzten.

Gemeinsam rannten sie zurück und eilten in das Bad. Die Beine waren immer noch in derselben Position. Der Beamte klopfte vorsichtig, räusperte sich. Als er keine Reaktion hörte, forderte er die beiden anderen Männer auf, etwas zurückzutreten, und öffnete die Tür von außen.

Die Frau schlug gerade die Augen auf. Sie fand sich splitternackt auf der Toilette sitzend, und zwei Energiewaffen in den Händen zweier resolut blickender uniformierter Männer starrten sie an.

Da wurde sie erneut ohnmächtig.

Bis die völlig verwirrte Frau wieder zu sich gebracht war, hatte Flinx den Turm hinter sich gelassen. Keiner hatte die schlanke kurzhaarige Frau aus dem Gebäude eilen sehen. Flinx hatte geistesgegenwärtig von den Kosmetika Gebrauch gemacht, die er im Bad der Frau gefunden hatte - in Drallar war es nützlich, Fähigkeiten zu besitzen, die andere vielleicht absurd fanden. Nur einem Angestellten war etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Aber er würde seinen Kollegen gegenüber nicht erwähnen, daß der doppelte Ledergürtel um die Hüfte der Frau sich ganz unabhängig von ihren Schritten bewegt hatte.

Als Flinx den Turm und die Challisfabrik hinter sich gelassen hatte, legte er die Frauenkleidung ab und ließ Pip wieder auf seine Schulter gleiten. Gewöhnliche Verkehrsmittel schienen ihm jetzt zu gefährlich, und deshalb eilte er zu Fuß an den Klippenrand.

Der zweitausend Meter tiefe Abgrund war atemberaubend, aber er konnte es nicht riskieren, auf dem Hochplateau zu warten, bis Challis' Bewaffnete ihn festnahmen. Er wollte auch keine peinlichen Fragen von seiten der Behörden riskieren. Also atmete er tief durch, wählte sich die Klippe aus, die ihm am wenigsten steil erschien, und begann seinen Abstieg.

Der Basaltfels fiel fast senkrecht ab, war aber etwas ausgebrochen und verwittert, und so fand er genügend Griffe. Trotzdem bezweifelte er, daß Challis auf die Idee kommen würde, jemand würde an der Klippenwand nach unten klettern. Flinx kam an ein paar gefährliche Stellen, aber die zahlreichen Lianen und Kriechgewächse halfen ihm. Seine Arme begannen zu schmerzen, und einmal, als sein linker Fuß völlig gefühllos wurde, hing er an Fingern und Zehen über dem Abgrund.

Als er die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, wurde die Klippe etwas schräg, so daß das Klettern weniger Mühe bereitete. Er beschleunigte sein Tempo. Schließlich, zerkratzt, aus einigen Schürfwunden blutend und völlig erschöpft, erreichte er den Dschungel unten. Er blieb einen Augenblick lang stehen, um sich zu orientieren, und schlug dann den Weg zum Hafen ein, wenigstens hoffte er, daß die Richtung stimmte.

Daß er sich dabei über eine Region hinwegbewegte, die ebenso dicht besiedelt war wie eine von den Großstädten Terras, wußte er nicht. Eine ganze Thranxmetropole lag unter ihm, auf traditionelle Weise aus dem Felsgestein geschlagen. Flinx schritt auf einer grünen Wolke, die über der Stadt schwebte.

Völlig ausgepumpt, begann er sich allmählich zu wünschen, daß Challis' Schuß ihn getroffen hätte, schob einen Busch beiseite... und taumelte auf eine sauber gepflasterte Straße.

Noch zwei Tage, und er hatte Port Chitteranx erreicht. Die ihm begegneten, wichen ihm aus. Er wußte sehr wohl, wie er nach seinem Abstieg über die Klippenwand und seinen Fußmarsch durch den Dschungel aussehen mußte.

Ein paar Thranx bedauerten den armen Menschen und versahen ihn mit Nahrung und Wasser, so daß er seinen Marsch fortsetzen konnte.

Der Anblick der Hafenanlagen erfüllte ihn mit neuem Mut. Auf Flinx' Freudenschrei hin erhob sich Pip in die Lüfte und beschrieb einen Kreis, ehe er wieder auf der Schulter seines Herrn und Meisters Platz nahm. Flinx blickte zu dem Minidrach empor, der sich in der tropischen Hitze, die ihn an seine Heimatwelt Alaspin erinnern mußte, offensichtlich wohl fühlte.

»Du kannst dir dein zufriedenes Gesicht ja leisten, du Spitzkopf«, meinte Flinx neidisch zu seinem Begleiter gewandt. Während er sich Zentimeter für Zentimeter an der Klippe hinuntergearbeitet hatte, war Pip in der Nähe herumgekreist und hatte ihn die ganze Zeit zur Eile gedrängt, wo doch ein einziger Fehltritt den sofortigen Tod bedeutet hätte.

Der Bankangestellte im Terminalgebäude war ein Mensch, aber das hielt ihn nicht davon ab, seine Fassung zu bewahren, als ein schmutziger, abgerissener junger Mann auf seinen Schalter zukam. Als weiser Mann hatte er schon in früher Jugend eine wichtige Erkenntnis gewonnen: ein ungewöhnliches Äußeres kann auf Wohlhabenheit oder Exzentrizität hindeuten, wobei diese beiden Eigenschaften sich nicht gegenseitig auszuschließen brauchen.

Also behandelte er den scheinbaren Landstreicher so, wie er jeden wohlgekleideten, sichtlich wohlhabenden Kunden behandelt hätte. »Kann ich zu Diensten sein, mein Herr?« erkundigte er sich höflich und wandte dabei unauffällig den Kopf etwas zur Seite.

Flinx erklärte seine Wünsche. Die von ihm gelieferte Information wurde einem Computer eingegeben. Kurz darauf bestand die Maschine darauf, daß die Person vor der Theke - Name Flinx, aktenkundiger Name Philip Lynx, Retinamuster soundso, Pulsvariable soundso, Herzkonfiguration soundso - tatsächlich registrierter Konteninhaber der Königsbank von Moth in der Stadt Drallar war und daß sein Habensaldo zur Stunde...

Der Angestellte nahm Haltung an und blickte Flinx in die Augen. »Und wie ist es denn dazu gekommen, mein Herr, daß Sie Ihr registriertes Kredimeter verloren haben?«

»Ich hatte einen Unfall«, erklärte Flinx geheimnisvoll, »und es ist mir aus der Tasche gefallen.«

»Ja.« Der Angestellte lächelte immer noch. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wie Sie wissen, können nur Sie ein persönliches Kredimeter benutzen. Wir werden das Verschwinden Ihres alten Kredimeter registrieren, und Sie können damit rechnen, binnen einer Stunde an diesem Schalter ein neues vorzufinden.«

»Ich habe Zeit. Allerdings...«, und damit wies er mit einer vielsagenden Handbewegung auf seine Kleidung, »würde ich gerne neue Kleider kaufen und mich etwas säubern.«

»Natürlich«, nickte der Angestellte und griff mit professioneller Geste in eine Schublade. »Wenn Sie hier unterschreiben würden und mir gestatteten, Ihr Retinamuster zu registrieren, können wir Ihnen natürlich einen Vorschuß geben.«

Flinx verlangte einen lächerlich bescheidenen Betrag, ließ sich von dem Angestellten erklären, wo er ein Bad nehmen und wo er Kleider kaufen konnte, und verließ den Mann mit einem dankbaren Händedruck.

Die Kombination, die er sich schließlich wählte, war etwas modischer als die beiden, die Hivehom ihn bereits gekostet hatten, aber er hatte das Gefühl, daß er sich nach dem, was er durchgemacht hatte, einiges an Luxus schuldig war.

Das Bad nahm den größten Teil der noch verbleibenden Stunde in Anspruch, und als er an den Bankschalter zurückkehrte, glich er eher wieder einem menschlichen Wesen als einem Bewohner der Dschungel von Hivehom. Wie versprochen, erwartete ihn sein neues Kredimeter.

»Kann ich noch etwas für Sie tun, mein Herr?«

»Danke, Sie haben schon mehr als genug getan. Ich...« Er hielt inne, blickte nach links. »Entschuldigen Sie mich, aber ich sehe hier einen alten Freund.«

Er ließ den Angestellten mit offenem Mund und einem Trinkgeld von zehn Prozent des abgehobenen Betrages zurück. Die Hauptabflughalle hatte eine hohe Kuppel und war angefüllt von dem Lärm der Ankommenden und Abreisenden. Der kleine Thranx, auf den Flinx von hinten zuging, war bei einer ganz besonderen Beschäftigung.

»Ich glaube, Sie sollten der Dame die Handtasche zurückgeben«, flüsterte er dem Insekt zu. Während dieser Worte drehte sich eine mit prunkvollen Einlegearbeiten und zahlreichen Juwelen auf dem Chitin verzierte Thranxmatrone, deren Exoskelett elegant mit Silber abgesetzt war, zu ihm um und starrte ihn neugierig an.

Gleichzeitig zuckte der Thranx, den Flinx überrascht hatte, furchtbar zusammen und wirbelte herum. »Mein Herr, wenn Sie glauben, daß ich...« Seine Stimme erstarb. Flinx lächelte gewinnend, während Pip sich auf seiner Schulter regte.

»Hallo, Bisondenbit.«

Vom physiologischen Standpunkt aus war die Vorstellung, daß dem Thranx die Augen aus dem Kopf traten, unvernünftig, dennoch hatte Flinx den Eindruck. Bisondenbits Antennen zitterten so heftig, daß Flinx Angst hatte, sie könnten abbrechen, und der Thranx starrte schreckerfüllt Pip an.

»Die Handtasche«, wiederholte Flinx mit leiser Stimme, »und beruhigen Sie sich, ehe Sie sich weh tun.«

»I-I-ja -«, stotterte Bisondenbit. Interessant! Flinx hatte noch nie zuvor einen Thranx stottern hören. Bisondenbit wandte sich der alten Frau zu, griff in eine besonders tiefe b-Thoraxtasche und entnahm ihr eine kleine sechseckige Tasche aus gewebtem, goldfarbenem Metall.

»Sie haben das gerade fallen lassen, Königinmutter«, murmelte er widerstrebend und benutzte die formelle Höflichkeitsform. »Die Haken haben sich alle gelöst... Sehen Sie?« Die Matrone griff sich mit einer Fußhand an den Leib und mit der Echthand nach der Tasche.

»Ich verstehe nicht. Ich war ganz sicher, daß sie befestigt...« Sie unterbrach sich, zuckte mit dem Kopf und vollführte mit Schädel und Antennen eine Bewegung, die in der Körpersprache der Thranx ein Höchstmaß an Dankbarkeit ausdrückte, und fügte noch hinzu: »Meinen verbindlichsten Dank, Kriegsherr.«

Flinx mußte an sich halten, als sie Bisondenbit das unverdiente Kompliment machte.

Die höfliche Pose dieses würdigen Vertreters seiner Art hielt an, bis die Matrone außer Hörweite war. Dann musterte er Flinx nervös. »Ich wollte nicht, daß Sie getötet werden... ich wollte nicht, daß irgend jemand getötet wird«, stammelte er, »die haben mir nichts von einem Mord gesagt. Ich sollte Sie bloß nach... «

»Beruhigen Sie sich«, riet ihm Flinx. »Und hören Sie auf, vom Tod zu jammern. Es hat schon viel zu viele Tote gegeben.«

»Oh, da bin ich ganz Ihrer Meinung«, gestand der Thranx, und seine Spannung löste sich langsam. »Aber ich habe damit nichts zu tun.« Plötzlich gewann die Neugierde in ihm die Oberhand.

»Wie ist es Ihnen denn gelungen, aus dem Turm zu entkommen und das Plateau zu verlassen? Ich habe gehört, daß viele nach Ihnen Ausschau hielten, aber niemand hat Sie gesehen.«

»Ich bin heruntergeflogen«, sagte Flinx, »aber vorher habe ich mich natürlich unsichtbar gemacht.«

Bisondenbit sah ihn unsicher an, fing zu lachen an, hielt inne und starrte ihn dann wieder an. »Sie sind ein höchst ungewöhnlicher Bursche, selbst für einen Menschen. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen glauben soll oder nicht.« Plötzlich sah er sich in der geschäftigen Abflughalle um und wurde wieder nervös. »Mächtige Leute aus Challis' Umgebung wollen wissen, wo Sie sich aufhalten. Es heißt, es sei eine große Belohnung ausgesetzt. Aber der einzige Hinweis auf Ihre Flucht liegt bei einer Frau, die sich in einem Krankenhaus befindet. Sie ist immer noch nicht vernehmungsfähig.«

»Das tut mir leid«, murmelte Flinx aufrichtig.

»Es ist nicht gut für mich, wenn man mich mit Ihnen sieht - Sie sind jetzt eine... äh... gesuchte Persönlichkeit.«

»Es ist immer nett, wenn man beliebt ist«, erwiderte Flinx, ohne sich um Bisondenbits Angst zu kümmern. »Übrigens, ich wußte gar nicht, daß die Thranx auch den Taschendiebstahl zu ihren Talenten zählen.«

»Vom digitalen Standpunkt aus waren wir stets geschickt. Viele Menschen haben ähnlich... äh... nützliche Fähigkeiten von uns gelernt.«

»Das kann ich mir vorstellen«, grinste Flinx. »Ich lebe zufälligerweise in einer Stadt, in der es von Meistern dieser Kunst wimmelt. Aber ich habe jetzt keine Zeit, mich mit Ihnen über die Moral des Kulturaustausches zu unterhalten. Sagen Sie mir bloß, wo ich Conda Challis finden kann.«

Bisondenbit sah den Jungen an, als wäre ihm plötzlich ein zweites Paar Hände gewachsen. »Er hätte Sie fast getötet. Mir scheint, er wartet auf eine neue Gelegenheit. Ich kann es einfach nicht glauben, daß Sie weiterhin einen solch mächtigen Feind suchen. Ich dachte immer, ich könnte Menschen beurteilen. Sie scheinen nicht von Rachegefühlen motiviert.«

»Das bin ich auch nicht«, gestand Flinx etwas unsicher, weil ihm bewußt war, daß auch Small Symm angenommen hatte, er folge Challis aus diesem Grunde. Die Leute bestanden darauf, ihm Motive zuzuschreiben, die er gar nicht besaß.

»Wenn nicht aus Rache, weshalb folgen Sie ihm dann? - Nicht, daß ich es bedauerte, wenn ein Wesen vom Rufe eines Challis etwas in die Enge getrieben wird. Selbst wenn es schlecht für das Geschäft ist.«

»Sagen Sie mir einfach, wo er ist.«

»Wenn Sie mir sagen, weshalb Sie ihn suchen.«

Flinx stieß Pip an, und die Flugschlange regte sich, gähnte und zeigte ihre Zähne. »Ich glaube nicht, daß das nötig ist«, sagte Flinx leise und vielsagend. Der erschreckte Bisondenbit warf Echthände und Fußhände in die Höhe.

»Schon gut«, seufzte Flinx, der des Drohens müde war. »Wenn ich es Ihnen sage, könnte es zu Challis gelangen. Ich glaube einfach, daß er Informationen über meine wirklichen Eltern besitzt und darüber, was ihnen zustieß, nachdem sie... mich verließen.«

»Eltern?« Bisondenbit musterte ihn mit rätselhafter Miene. »Man hat mir gesagt, Sie hätten Challis bedroht.«

»Stimmt nicht. Er hat den Verfolgungswahn wegen etwas, was in der Vergangenheit geschehen ist. Er wollte, daß ich etwas tue, und ich wollte es nicht tun.«

»Und dafür haben Sie einige Leute getötet?«

»Ich habe niemanden getötet«, protestierte Flinx unglücklich. »Das war Pip, und er tat es nur, um mich zu verteidigen.«

»Nun, die Toten sind die Toten«, meinte Bisondenbit tiefschürfend. Er sah Flinx ungläubig an. »Ich hätte nicht geglaubt, daß irgendein Geschöpf, selbst ein Mensch, so von perversen Wünschen besessen sein könnte. Ist es Ihnen denn wichtiger als Ihr Leben, zu erfahren, wer Ihre Eltern waren?«

»Wir haben nicht die Tradition der allgemeinen Wabenmutter, auf die ich meine Existenz zurückführen könnte«, erklärte Flinx. »Ja, mir ist das so wichtig.«

Das Insekt schüttelte den Kopf. »Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei Ihrer verrückten Suche. Zu anderer Zeit und an anderem Ort wäre ich vielleicht Ihr Clansgefährte.« Er beugte sich vor und streckte die Antennen aus. Nach kurzem Zögern berührte Flinx sie mit der Stirn. Er richtete sich auf und warf dem kleinen Thranx einen warnenden Blick zu.

»Versuchen Sie, Ihre Echthände am eigenen Thorax zu lassen«, sagte er zu Bisondenbit.

»Ich weiß nicht, warum Sie meine Handlungen interessieren, solange sie nicht Sie betreffen«, protestierte der Thranx. Er war jetzt fast glücklich, jetzt, da es den Anschein hatte, als würde Flinx ihn nicht ermorden. »Werden Sie mich den Behörden melden?«

»Nur, wenn Sie mir weiter die Zeit stehlen«, sagte Flinx ungeduldig. »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wo Challis ist.«

»Senden Sie ihm ein Band mit Ihrem Wunsch«, riet der Thranx.

»Würden Sie das glauben?«

Bisondenbits Kiefer klickten. »Ich verstehe. Sie sind ein seltsames Individuum, Menschenjunges.«

»Sie sind selbst auch nicht gerade ein Inkubator, Bisondenbit. - Wo?«

Sein Schulterchitin bewegte sich und gab ein raschelndes Geräusch von sich, so, wie wenn man Wellpappe über einen Teppich zieht. Bisondenbits Stimme klang fast stolz.

»Ich bin keiner von Challis' Söldnern - ich werde es Ihnen sagen. Es scheint, daß Sie ihn von Moth vertrieben haben; und jetzt haben Sie ihn von Hivehom vertrieben. Die Hauptverwaltung der Challis- Gesellschaft befindet sich in der Hauptstadt von Terra; ich vermute, daß er dorthin geflohen ist. Kein Zweifel, daß er Sie dort erwartet, wenn er inzwischen nicht schon vor Angst gestorben ist. Mögen Sie ihn finden, ehe die vielen Verfolger Sie finden.« Er schickte sich zum Gehen an, wartete dann aber neugierig.

»Wiedersehen, Bisondenbit«, sagte Flinx mit fester Stimme. Der Thranx wollte etwas sagen, stellte dann aber fest, daß der Minidrach sich bewegte, und überlegte es sich anders. Er ging weg, sah sich gelegentlich über die Schulter um und murmelte mürrisch vor sich hin. Flinx seinerseits empfand kein Schuldgefühl, weil er den Taschendieb hatte laufen lassen. Jemandem, der selbst ein gerüttelt Maß fragwürdiger Dinge auf dem Kerbholz hatte, stand es nicht zu, über andere zu urteilen.

Warum glaubte Challis nicht, daß ihn nichts so Nutzloses und Primitives wie Rachegefühle dazu bewegten, ihn zu suchen? Challis konnte nur Motive wie die seinen verstehen, sagte sich Flinx.

Irgendwie würde er da einen Ausweg finden müssen.

 

Von Hivehom zur zweiten Hauptwelt des Commonwealth, Terra, war es eine beträchtliche Reise, selbst bei Höchstgeschwindigkeit. Aber dann war es eines Tages doch soweit, und Flinx saß hinter der Ausblickluke eines anderen Shuttle und blickte auf jene legendäre Welt hinaus, während das kleine Schiffchen sich von dem großen Frachter löste.

Das war die grüne Legende, Terra, die Wiege der Menschheit, die zweite Hauptwelt des Commonwealth und die Heimstatt der Vereinigten Kirche. Dies war die Welt, auf der einst ein primitiver Primat sich auf die Hinterbeine gestellt hatte, um dem Himmel näher zu sein, ohne je davon zu träumen, daß er eines Tages seine Heimatwelt verlassen und in die Himmel eindringen würde.

Und doch war der Globus selbst, abgesehen vom königlichen Blau seiner Ozeane, ganz und gar nicht bemerkenswert; er schien in erster Linie aus wirbelnden weißen Wolken und braunen Landklecksen zu bestehen.

Flinx hatte nicht gewußt, was er erwarten sollte... goldene Türme, die die Wolken durchstießen vielleicht, oder Berge aus Chrom, die sich bis an die Ufer drängten - all dies war gleichzeitig absurd und lächerlich. Obwohl er es nicht sehen konnte, besaß Terra beides, in reichlicher Menge, wenn auch in Formen, die sich radikal von seinen Visionen unterschieden.

Nein, dachte Flinx, während das Shuttle in die äußere Atmosphäre eindrang, das allgegenwärtige Smaragdgrün von Hivehom war faszinierender und die leuchtenden Ringschwingen von Moth spektakulärer.

Aber irgendwo dort unten hatte sein Urgroßvater oder sein Ururgroßvater gelebt und war gestorben...