7. Das brennende Meer
In seinem Traum gab es diesen funkelnden, transparenten Falter, der flatternd und zitternd versuchte, seinem Gefängnis zu entkommen. Lichtblitze seiner Flügel wurden von der Schlafzimmerdecke reflektiert und stachen ihm in die Augen.
Quentin Thomas erwachte. Es war das Fernsehgerät in seinem Schlafzimmer. Diese weißen Lichtblitze auf dem Schirm. Etwas stimmte nicht. Brannte es? Aufsitzend schnüffelte er nach Rauch und rutschte zur Bettkante.
Und dann erkannte er die gefangene Kreatur: Eine singende Flamme … auf seinem Fernsehschirm.
Carl Miller. Der Erfinder rief ihn … von …? Es schauderte ihn.
Dann faßte er sich wieder. Er wollte die Nachtbeleuchtung einschalten, entschied sich aber dann dagegen. Licht konnte die tanzende Flamme beeinflussen. Er blinzelte auf seine Armbanduhr. Drei Uhr morgens. Warum mußte es nur immer drei Uhr morgens sein … die Stunde, in der Babys geboren werden und schlafende Anwälte eben den einen Anruf von einem Klienten bekommen, der bis über beide Ohren in Schwierigkeiten steckt.
Nun denn, wie konnte er die Flamme in verständliche Töne umwandeln? Sollte so schwer eigentlich nicht sein. Sein Gerät verfügte über einen psychodelischen Konverter, selten in Gebrauch, aber vorhanden. Es gab verschiedene Programme, die unterschiedliche sichtbare Muster ausstrahlten, die man in Töne umwandeln konnte, indem man einfach einen Knopf an der Seite des Gerätes drückte. Er beugte sich hinüber und drückte den psychodelischen Knopf.
„Hallo, Carl“, sagte er.
Die Flamme füllte einen Augenblick den ganzen Schirm aus. „Quent! Was für eine Erleichterung. Ich wußte nicht, ob das funktionieren würde. Aber sie ließen mich eine Flamme auf deinen Bildschirm projizieren. Es war meine einzige Chance.“
„Carl“, sagte der Anwalt bestimmt. „Wo genau bist du?“
„In der Hölle. Ich dachte, du wüßtest das.“
„Und ich soll dich wieder herausholen?“ Im Geiste überflog er bereits alle Artikel des Strafgesetzbuches. Kapitel 9: Nach der Verurteilung, Gründe für eine Begnadigung. Er bezweifelte aber, daß Kapitel 9 hier gültig war. Aber was war dann gültig? Eines der uralten Gesetze? Herr der Unterwelt, ich präsentiere Euch hier eine Schrift des habeas korpus.
„Raus? Mich rausholen?“ entgegnete die ferne Stimme. „Nein, Quent, du verstehst nicht. Ich will hierbleiben!“
Thomas dachte zuerst, der Lautsprecher seines Fernsehgerätes habe den Geist aufgegeben. Er wollte gerade ein paar Einstellungen vornehmen, als die Stimme sich wieder meldete.
„Quent, ich glaube schon, daß es unsinnig klingt. Du fragst dich augenblicklich wahrscheinlich: Warum sollte jemand in der Hölle bleiben wollen? Für mich lautet die Antwort: Weil es hier alles gibt, absolut alles. Und zwar nur deshalb, weil ich Flammen lesen kann. Hier unten sind jede Menge Flammen, Quent. Es ist wahr, was die Leute über die Flammen sagen. Und jede Flamme singt. Und ich kann die Musik lesen. Hier unten existieren Lieder, die ihr euch da oben im Traum nicht vorstellen könnt. Hier ist alles: Ich habe die Gesänge gehört, mit denen die Sirenen Odysseus betörten, und auch die, die die Loreley den Schiffen auf dem Rhein sang. Hier unten sind alle verlorenen Fragmente. Wagners erste beiden Opern sind hier, die er als Jugendlicher geschrieben hat. Eine verbrannte, die andere hat er vorsätzlich vernichtet. Sie sind hier. Du erinnerst dich vielleicht an die wundersame Passage aus Thomas Wolfes Of Time and the River: Spiel mir eine Melodie auf dem unzerbrochenen Spinett, Und laß die Glocken läuten, laß die Glocken läuten.
Diese Melodie ist hier. Ich habe sie gehört. Und die Glocken. Und erinnerst du dich an den Mord und Selbstmord von Marie Vetsera und Rudolph von Habsburg in Mayerling?“
„Vage“, antwortete Quentin Thomas.
„Der Diener spielte am selben Abend in der Jagdhütte die Konzertina für sie. Dort steht jetzt eine Kapelle. Nonnen beten rund um die Uhr für sie. Der Musiker improvisierte. Und die Musik ist hier.“
„Faszinierend“, murmelte Quentin Thomas.
„Hier unten ist alles archiviert, Quent, geordnet und flammenregistriert. Es ist das ultimate Archiv. Wie in Swinburnes The Garden of Prosperine. Die Unvollendeten, die Vergessenen und Verlorenen – hier sind sie alle. Und sie brennen ewig.“
Die Flamme auf dem Bildschirm schien ein wenig in sich zusammenzusinken, als der Erfinder sich entspannte. „Ich habe das fehlende Stück von Schuberts Unvollendeter Symphonie gehört. Er machte einen groben Entwurf, bevor er das Werk 1822 beiseite legte. Ah, großartig! Und rate mal, was noch alles hier ist?“
„Was?“
„Ich habe Bachs Die Kunst der Fuge vollständig gehört und Mozarts Requiem und Brückners Neunte, Mahlers Zehnte. Es ist endlos!
Schumann hatte seltsame Melodien in seinem Kopf gehört, die ihn zum Selbstmord trieben – und ich habe sie ebenfalls gehört.
Ich habe die Melodien gehört, die David auf seiner Harfe gespielt hat, um König Sauls Melancholie zu vertreiben. Ich habe Sullivans Lost Chord gehört und den Psalm, den sie beim Abendmahl gesungen haben.
Aber das ist alles erst der Anschnitt des Kuchens. Das Ding, worauf ich hinaus will, ist das Absolute, Ultimate. Laß mich dir davon erzählen. Du würdest es als einen Ozean bezeichnen.“
„Erzähl mir von diesem Ozean“, bat der Anwalt.
„Das werde ich. Aber zuerst mußt du verschiedene Unausweichlichkeiten dieses Ortes erfahren. Hier gibt es keine Sonne, die scheint oder deren Aufgang Beginn und Ende des Tages markiert. Das Licht hier unten kommt von dem Meer. Und die Tage … nun, die kann man sich selbst machen. Sie erstrecken sich endlos in die Vergangenheit und endlos in die Zukunft, immer und ewig. Wir sprechen von der Ewigkeit, Quent.“
„Ich verstehe.“
Die Flammenstimme fuhr ruhiger fort. „Ich gehe am Morgen durch die Dünen. (Nennen wir es Morgen!) Der Sand ist heiß. Höllisch heiß – um eine Phrase zu gebrauchen. Aber ich habe schon lange kein Gefühl mehr in den Füßen. Ich gehe also zum Meer hinab. Es ist blau. Es ist blau, denn es brennt. Flüssiger Schwefel. S + O2 → SO2. Millionen winziger Flämmchen.“
„Feuer und Höllenstein?“ fragte Quentin Thomas.
„Ja. Wie in der Bibel.“
„Macht dir das Schwefeldioxid nicht zu schaffen?“
„Früher ja. Aber das ist alles eine Sache des Geistes. Wenn man sich entscheidet, daß es einem nicht zu schaffen macht, dann macht es einem auch nicht zu schaffen.“
„Ich verstehe.“
„Ich komme also gerne ans Ufer, sitze hier. Nur ich, der Sand und die großartige Musik.“
„Einen Augenblick. Du sagtest – Musik? Was für eine Musik?“
„Die Zehnte, Quent! Beethovens Zehnte Symphonie! Die Ambition meines Lebens. Ich hätte nie gedacht, daß ich es noch erleben dürfte. Aber ich durfte! Ich habe sie endlich gefunden. Das brennende Meer. Jede Flamme ist ein Instrument, eine kontrapunktierte Melodie. Die Zehnte ist hier! Hier unten!“
Quentin fühlte die Luft langsam aus seinen Lungen entweichen. Vage erkannte er, daß er den Atem angehalten hatte. „Beethovens Zehnte … in der Hölle?“ sagte er laut zu sich selbst.
„Exakt“, pflichtete die unsichtbare Stimme bei. „In voller Länge. Und wenn – wenn – du sie hören könntest, dann würdest du verstehen, warum der große Mann sie nicht beenden konnte.“
„Warum?“
„Weil sie geistig, physisch und spirituell nicht zu beenden war. Weil sie keinen Anfang und kein Ende hatte. Und wie soll man etwas beenden, das kein Ende hat? Das bis in alle Ewigkeit weitergeht? Irgendwie muß Beethoven mit der Musik des brennenden Meeres in Verbindung gestanden haben. Er spürte die Musik. Die individuellen Flammen sind akustisch. Sie bilden die Musik, wenn man sie lesen kann. Gott allein weiß, wie Ludwig sie niederschreiben konnte. Aber er konnte es, wenigstens teilweise. Er versuchte, sie zu Papier zu bringen, und das brachte ihn um. Er muß schließlich erkannt haben, daß dies außerhalb der Möglichkeit eines sterblichen Wesens lag. Warum? Weil es eine umfassende Definition des gesamten Universums ist! Und daher lag es auch außerhalb der Möglichkeiten des größten Musikers, der jemals gelebt hat. Und diese Unfähigkeit erzürnte ihn. Während des Sturms in seiner Sterbenacht erwachte er benommen, schüttelte die Faust gen Himmel, und dann starb er.“
„Du bist also in der Hölle“, sagte er langsam. „Dafür steht also das H in H-TEK. Und du hast die ganze Zeit vorgehabt, nach dem Doppelmord da hindurchzugehen. Richtig?“
„Richtig“, stimmte der Erfinder-Musiker definitiv zu.
„Und es gefällt dir dort?“
„Wieder richtig.“
„Aber jemand will dich dort nicht haben, daher will man dich wieder vertreiben.“
„Hundertprozentig richtig, Quent.“
„Also hast du mich gerufen … um die Vertreibung zu verhindern?“
„Wirst du den Fall übernehmen?“
„Nicht so hastig“, sagte der Anwalt. „Warum versuchen sie, dich wieder abzuschieben?“
„Nun, Quent, wie sich herausstellte, lassen sie nicht jeden hier rein. Man muß auf der Liste stehen und sich qualifizieren. Man darf sich nicht einfach so durch die Hintertür hereinschleichen, wie ich das getan habe.“
„Hast du ihnen denn nicht gesagt, warum du bleiben willst?“
„Natürlich. Aber meine Bitte stieß auf taube Ohren. Und dann begannen sie, Druck auf mich auszuüben. Schmutzige Tricks.“
„Was denn zum Beispiel?“
„Du erinnerst dich doch an meinen Geschäftspartner, Victor? Er lag mit Denise im Bett, als ich ihn erschossen habe.“
„Soweit ich weiß.“
„Er ist hier, Quent.“
„Das überrascht mich nicht.“
„Nein, ich meine hier, direkt neben mir. Sag guten Tag, Victor.“
Die Flamme flackerte, als würde sie die Wellenlänge ändern. „Hallo, Mr. Thomas.“
„Hallo, Victor. Wie fühlen Sie sich?“
„Warm.“
„Und jetzt bin ich wieder hier, Quent.“
„Also haben sie dir Victor Higgins als Gesellschaft gegeben“, sagte Thomas. „Diabolisch.“
Die Flamme zitterte ein wenig. „Hier unten“, monierte Miller, „gebrauchen wir solche Worte nicht.“
„Ich werde darauf achten, Carl. Weiter.“
„Wesentlich, ich habe hier unten meine kleine Privathölle. Wie jeder andere auch. Frag mich nicht, wie sie das machen, bei den Millionen Seelen, die sie hier unten haben. Hat etwas mit einem Isolatokontinuum zu tun. Aber sie haben ganz bestimmt die Macht, es aufrechtzuerhalten. Normalerweise bekommt man vollkommene Abgeschiedenheit. Die Isolation gilt als Teil der Strafe. Bei mir ist das natürlich ein wenig anders. Ich glaube, ich bin der einzige hier unten, der Flammen lesen kann. Ich brauche Ruhe und Beschaulichkeit, damit ich mich mit der Zehnten beschäftigen kann. Sie sollten mir Victor Higgins nicht auf den Hals hetzen, Quent. Es ist moralisch nicht richtig.“
„Wer sind sie?“
„Mr. Jones und seine Assistenten.“
„Der Teufel?“
„Das ist hier unten ein sehr aufwühlendes Wort. Bitte nenne ihn nie in seinem Beisein so, Quent.“
„In seinem Beisein? Wann soll das sein?“
„Recht bald. Schon in einer Stunde. Das gibt dir Zeit, ins alte Labor zu kommen.“
„Und warum sollte ich ins alte Labor kommen?“
„Aber Quent, verstehst du denn nicht? Nur so kannst du zu der Verhandlung kommen, die hier stattfinden wird. Du aktivierst den Hitzerahmen, schreitest hindurch, und dann wirst du in einem speziell eingerichteten Gerichtssaal herauskommen.“
Quentin Thomas schwieg. Zugegeben, Carl war immer noch sein Klient. Zugegeben, er durfte seine Klienten nicht im Stich lassen. Andererseits verlangte die Pflicht aber nicht von ihm, daß er sein Leben und/oder seine unsterbliche Seele (wenn er eine hatte) aufs Spiel setzen mußte. Er hatte das unbestimmte Gefühl, als würde Mr. Jones, oder wie auch immer er heißen mochte, darauf bestehen, aus seinem kurzen Aufenthalt etwas Dauerhaftes zu machen, wenn er durch dieses teuflische Tor schritt.
Andererseits war da natürlich auch noch die Möglichkeit … die einzigartige Gelegenheit.
Etwas, worüber man sich in der Anwaltsbar unterhalten konnte?
Er wußte, er wurde mit hineingezogen in Millers Wahnsinn. Er lauschte den Worten aus seinem Mund wie denen eines Fremden: „Okay, Carl. Halte aus. Ich komme.“