Es war kurz nach eins. Ich kam nur selten in die Upper East Side, und da das Wetter sich in der letzten Stunde gebessert hatte – es war plötzlich so warm, dass ich meine Jacke als lästig empfand –, nahm ich meinen täglichen Spaziergang zum Vorwand, ein wenig in dieser Gegend umherzuwandern. Es würde mir schwer fallen, John zu erzählen, wie sehr mich der Besuch deprimiert hatte, und statt ihn sofort anzurufen, beschloss ich, das aufzuschieben, bis ich wieder in Brooklyn wäre. Von der Wohnung aus konnte ich das nicht machen (jedenfalls nicht, wenn Grace zu Hause war), aber bei Landolfi’s gab es noch eine alte Telefonzelle mit abschließbarer Falttür, und von dort, nahm ich an, konnte ich ungestört mit ihm telefonieren.

Zwanzig Minuten nachdem ich die Klinik verlassen hatte, bewegte ich mich zusammen mit einigen anderen Fußgängern auf der Lexington Avenue in der Nähe der 90th Street und überlegte, ob ich nach Hause fahren sollte. Plötzlich stieß mich jemand an, streifte mich im Vorbeigehen an der linken Schulter, und als ich mich nach ihm umdrehte, geschah etwas Bemerkenswertes, etwas, das so fern jeder Wahrscheinlichkeit lag, dass ich es zunächst für eine Halluzination hielt. Genau gegenüber, von mir aus gesehen exakt im rechten Winkel auf der anderen Straßenseite, sah ich ein kleines Geschäft mit einem Schild überm Eingang, und auf dem Schild stand PAPER PALACE. War es möglich, dass Chang mit seinem Laden umgezogen war? Ich hielt das für ausgeschlossen, aber als ich dann an das Tempo dachte, mit dem dieser Mann seine Angelegenheiten betrieb – in einer einzigen Nacht seinen Laden dichtmachen, in seinem roten Auto durch die Stadt brausen, in fragwürdige Unternehmen investieren, Geld leihen, Geld ausgeben –, waren meine Zweifel vielleicht unbegründet. Changs Leben schien sich im Zeitraffer abzuspielen, als tickten die Uhren der Welt für ihn langsamer als für alle anderen. Denkbar, dass eine Minute für ihn wie eine Stunde war, und bei so viel zusätzlicher Zeit könnte es ihm durchaus möglich gewesen sein, in den Tagen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, den Umzug in die Lexington Avenue zu bewerkstelligen.

Andererseits konnte das auch ein Zufall ein. Paper Palace war kein sonderlich origineller Name für ein Schreibwarengeschäft, und es konnten ohne weiteres mehrere davon in der Stadt existieren. Als ich über die Straße ging, um das herauszufinden, war ich schon fast überzeugt, dass diese Manhattaner Version jemand anderem als Chang gehörte. Das Schaufenster war anders gestaltet als das, das mir am vorigen Samstag in Brooklyn aufgefallen war. Keine Türme aus Stiften und Linealen, die die Skyline von New York darstellen sollten: die Auslage hier war noch phantasievoller als die alte, fand ich, noch raffinierter. Eine Puppe, eine winzige Statue eines Mannes saß an einem kleinen Tisch vor einer Miniaturschreibmaschine. Seine Hände lagen auf den Tasten, ein Blatt Papier war in die Walze gespannt, und wenn man die Nase ans Schaufenster drückte und ganz genau hinsah, konnte man lesen, was auf das Blatt getippt war: Es war die beste Zeit, es war die schlimmste Zeit, es war das Jahrhundert der Weisheit, es war das Jahrhundert der Torheit, es war die Epoche des Glaubens, es war die Epoche des Unglaubens, es war die Ära des Lichts, es war die Ära der Finsternis, es war der Frühling der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung, alles lag vor uns, nichts lag vor uns 

Ich machte die Tür auf und trat ein, und als ich über die Schwelle schritt, hörte ich dasselbe Glockenklingeln wie in dem anderen Paper Palace am achtzehnten. Der Laden in Brooklyn war schon klein gewesen, aber dieser hier war noch kleiner; die meisten Artikel lagerten in Regalen, die sich bis zur Decke türmten. Auch hier war keine Kundschaft anwesend. Zuerst sah ich überhaupt niemanden, aber von irgendwo hinter der Ladentheke schwebte ein leises, unmelodisches Summen herüber; offenbar kauerte dort jemand – vielleicht, um sich die Schuhe zu binden, oder um einen herabgefallenen Bleistift aufzuheben. Ich räusperte mich, und Sekunden später stand Chang vom Boden auf und legte die Hände auf die Theke, als verlöre er sonst das Gleichgewicht. Diesmal hatte er den braunen Pullover an, und seine Haare waren ungekämmt. Er sah noch dünner aus als früher, hatte tiefe Falten um den Mund und leicht blutunterlaufene Augen.

«Gratuliere», sagte ich. «Der Paper Palace ist wieder auf den Beinen.»

Chang starrte mich ausdruckslos an, entweder nicht fähig oder nicht willens, mich zu erkennen. «Entschuldigung», sagte er. «Ich glaube nicht, dass ich Sie kenne.»

«Aber natürlich. Ich bin Sidney Orr. Wir haben kürzlich einen ganzen Nachmittag miteinander verbracht.»

«Sidney Orr ist kein Freund von mir. Ich habe gedacht, er ist guter Mensch, aber jetzt nicht mehr.»

«Wovon reden Sie?»

«Sie haben mich enttäuscht, Mr. Sid. Haben mich in sehr peinliche Situation gebracht. Ich will Sie nicht mehr kennen. Freundschaft aus.»

«Ich verstehe nicht. Was habe ich denn getan?»

«Sie lassen mich in Kleiderfabrik zurück. Kann nicht mal Auf Wiedersehen sagen. Was ist das für ein Freund?»

«Ich habe Sie überall gesucht. Ich bin in der ganzen Bar herumgegangen, und als ich Sie nicht gefunden habe, dachte ich, Sie wären in einem Séparée und wollten nicht gestört werden. Da bin ich gegangen. Es war schon spät, und ich musste nach Hause.»

«Nach Hause zu Ihrer geliebten Frau. Gleich nach Blowjob von afrikanische Prinzessin. Ganz schön komisch, was, Mr. Sid? Wenn Martine jetzt reinkommt, tun Sie’s wieder. Hier auf Fußboden von mein Geschäft. Sie machen’s ihr wie ein Hund und finden es wunderbar.»

«Ich war betrunken. Sie war sehr schön, ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Aber das heißt nicht, dass ich es noch einmal tun würde.»

«Sie nicht betrunken. Nur geiler Heuchler, wie alle Egoisten.»

«Sie haben gesagt, niemand kann ihr widerstehen, und Sie hatten recht. Sie können stolz auf sich sein, Chang. Sie haben mich durchschaut und meine Schwäche erkannt.»

«Weil ich wusste, dass Sie schlecht von mir denken. Ich sehe, was in Ihnen vorgeht.»

«Ach? Und was habe ich an diesem Tag gedacht?»

«Sie denken, Chang macht schmutzige Geschäfte. Böser Hurenmann ohne Herz. Mann, der nur von Geld träumt.»

«Das stimmt nicht.»

«Doch, Mr. Sid, das stimmt. Das stimmt genau. Jetzt hören wir auf zu reden. Sie mir sehr wehgetan, und jetzt wir hören auf. Wenn Sie wollen, sehen Sie sich um. Als Kunde in mein Geschäft sind Sie willkommen, aber nicht mehr als Freund. Freundschaft tot. Freundschaft tot und vorbei. Alles aus.»

Ich glaube, noch nie hatte mich jemand so gründlich beleidigt wie Chang an diesem Nachmittag. Ich hatte ihm großen Schmerz bereitet, unbeabsichtigt seine Würde und sein persönliches Ehrgefühl verletzt, und als er mit diesen steifen, knappen Sätzen auf mich losging, musste er wohl tatsächlich glauben, ich habe es verdient, für meine Verbrechen in Stücke gehauen zu werden. Noch unangenehmer wurde die Attacke dadurch, dass die meisten seiner Anschuldigungen zutreffend waren. Ich hatte ihn in der Kleiderfabrik zurückgelassen, ohne mich zu verabschieden, ich hatte mich der afrikanischen Prinzessin widerstandslos hingegeben, und ich hatte, weil er in diesen Club investieren wollte, seine moralische Integrität in Zweifel gezogen. Zu meiner Verteidigung hatte ich wenig vorzubringen. Es hätte keinen Zweck gehabt, irgendetwas abzustreiten; meine Entgleisungen waren zwar relativ harmlos gewesen, aber die Nummer mit Martine hinter dem Vorhang machte mir doch ein so schlechtes Gewissen, dass ich nicht nochmal davon anfangen wollte. Ich hätte mich auf der Stelle von Chang verabschieden und den Laden verlassen sollen, aber das tat ich nicht. Die portugiesischen Notizbücher waren inzwischen zu einer fixen Idee geworden, und ich konnte nicht gehen, ohne zuvor nachzusehen, ob er noch welche vorrätig hatte. Mir war bewusst, wie unklug es war, an einem Ort zu verweilen, an dem ich nicht erwünscht war, aber ich konnte nicht anders. Ich musste es einfach wissen.

Eins war noch da, ganz hinten im Laden, unten in einem Regal zwischen deutschen und kanadischen Notizbüchern. Es war das rote, zweifellos dasselbe, das ich am vorigen Samstag in Brooklyn gesehen hatte, auch der Preis war derselbe: glatte fünf Dollar. Als ich es zur Kasse brachte und Chang hinüberreichte, bat ich um Entschuldigung für die Schmerzen und Unannehmlichkeiten, die ich ihm bereitet hatte. Ich sagte, dass er mich immer noch zu seinen Freunden zählen könne und dass ich meinen Schreibwarenbedarf weiter in seinem Laden decken werde, auch wenn ich dafür einen so weiten Weg auf mich nehmen müsse. Aber trotz aller Zerknirschung, die ich zu bekunden versuchte, schüttelte Chang nur den Kopf, strich mit der rechten Hand über das Notizbuch und sagte: «Tut mir Leid. Das ist nicht zu verkaufen.»

«Was soll das heißen? Das hier ist ein Geschäft. Hier ist alles zu verkaufen.» Ich nahm zehn Dollar aus meinem Portemonnaie und legte den Schein auf die Ladentheke. «Hier ist das Geld», sagte ich. «Auf dem Preisschild steht fünf Dollar. Also geben sie mir bitte das Wechselgeld und das Notizbuch.»

«Unmöglich. Rotes Notizbuch ist letztes portugiesisches Notizbuch in meinem Laden. Reserviert für einen anderen Kunden.»

«Wenn Sie es für jemand anderen zurückgelegt haben, sollten sie es irgendwo hinlegen, wo niemand es sehen kann. Wenn es offen hier herumliegt, heißt das, dass jeder es kaufen kann.»

«Sie nicht, Mr. Sid.»

«Wie viel will der andere Kunde dafür bezahlen?»

«Fünf Dollar, wie auf Preisschild steht.»

«Gut. Ich gebe Ihnen zehn Dollar, und die Sache ist erledigt. Abgemacht?»

«Nicht zehn Dollar. Zehntausend Dollar.»

«Zehntausend Dollar? Haben Sie den Verstand verloren?»

«Dieses Notizbuch ist nicht für Sie, Sidney Orr. Sie kaufen anderes Notizbuch, und alle zufrieden. Okay?»

«Hören Sie», sagte ich und verlor nun doch die Geduld. «Das Notizbuch kostet fünf Dollar, und ich bin bereit, Ihnen zehn zu geben. Aber mehr auf gar keinen Fall.»

«Sie geben fünftausend jetzt, und fünftausend am Montag. Dann ist gut. Wenn nicht, bitte kaufen anderes Notizbuch.»

Ich kam mir vor wie im Irrenhaus. Chang hatte es mit seinem Hohn und seinen absurden Bemerkungen geschafft, dass mir nun endgültig der Kragen platzte. Statt weiter mit ihm herumzufeilschen, schnappte ich ihm das Notizbuch unter der Hand weg und wandte mich zur Tür. «Schluss jetzt», sagte ich. «Sie können mich mal. Da liegt das Geld. Ich gehe.»

Ich war noch keine zwei Schritte weit gekommen, als Chang hinter der Ladentheke hervorsprang und mir den Weg zur Tür versperrte. Ich versuchte an ihm vorbeizukommen, ihn mit der Schulter wegzudrängen, aber Chang stand wie ein Fels, und dann griff er nach dem Notizbuch und wollte es mir aus der Hand reißen. Ich hielt es fest an meine Brust gedrückt, umklammerte es mit aller Kraft, aber der Besitzer des Paper Palace, eine grimmige kleine Maschine aus Draht und Sehnen und harten Muskeln, brauchte keine zehn Sekunden, um mir das Ding zu entwinden. Ich hatte keine Chance, es wieder zurückzuerobern, aber ich war so wütend, so aufgebracht und frustriert, dass ich mit der linken Hand seinen Arm packte und mit der rechten nach ihm ausholte. Es war das erste Mal seit der Grundschule, dass ich jemanden schlagen wollte, und der Schlag ging daneben. Chang antwortete mit einem Karatehieb auf meine linke Schulter. Er traf mich wie ein Messer, der Schmerz war so intensiv, dass ich dachte, mir fällt der Arm ab. Ich sank auf die Knie, und bevor ich wieder aufstehen konnte, fing Chang an, mich in den Rücken zu treten. Ich schrie, er solle aufhören, aber er rammte mir immer wieder die Schuhspitze in die Rippen, in die Wirbelsäule – ein kurzer brutaler Stoß nach dem anderen, während ich mich zum Ausgang wälzte, um schleunigst da rauszukommen. Als kein Blatt Papier mehr zwischen mich und die Metallplatte unten an der Tür passte, drückte er die Klinke; das Schloss klickte auf, und ich kippte auf den Bürgersteig.

«Lassen nie mehr hier blicken!», schrie er. «Nächste Mal ich töte Sie! Haben Sie gehört, Sidney Orr? Ich schneide Ihnen das Herz raus und füttere die Schweine damit!»