5

Auch die Zeit sorgte nicht dafür, daß Hester die Krankenhauszustände erträglicher fand. Das Ergebnis des Gerichtsverfahrens hatte ihr in Erinnerung gerufen, was es bedeutete, hart zu kämpfen und letztlich Erfolg zu haben. Wieder einmal hatte sie sich in einem dramatischen inneren Konflikt befunden und auf der Seite des Gewinners gestanden, obwohl ihr bewußt gewesen war, wieviel böses Blut und wieviel Kummer so etwas mit sich brachte. Sie hatte den furchtbaren Anblick von Fabia Greys Gesicht nicht vergessen, als diese den Gerichtssaal verließ, und wußte genau, daß ihr Leben künftig vom Haß gezeichnet sein würde. Demgegenüber stand der neuerwachte Friede in Lovel Grey, der wirkte, als hätte er sich plötzlich von bösen Geistern befreit und sähe zum erstenmal Licht am Ende eines langen Tunnels. Außerdem hatte sie sich zu der festen Überzeugung durchgerungen, daß Menard in Australien ein neuer Anfang gelingen würde. Sie wußte so gut wie nichts über dieses Land, doch da es nicht England war, hatte er eine echte Chance. Sie hatten das Bestmögliche für ihn herausgeschlagen.

Ob sie Oliver Rathbone mochte, konnte Hester nicht genau sagen, seine belebende Wirkung war jedoch nicht zu bestreiten. Der Kampf um Menard Grey hatte ihren Appetit auf mehr geweckt, und so kam, daß sie Pomeroy plötzlich noch weniger ertragen konnte als vorher. Seine unfaßbare Selbstgefälligkeit, die blasierten Ausflüchte, mit denen er Verluste als unabwendbar hinnahm, obwohl Hester überzeugt war, daß es sie mit etwas mehr Mühe, Sorgfalt und Courage, mit besseren Pflegekräften und stärkerer Eigeninitiative gar nicht erst gegeben hätte, raubten ihr schier den Verstand. Doch ob er nun recht hatte oder nicht - er könnte wenigstens kämpfen! Geschlagen zu sein war eine Sache, aufzugeben eine andere.

Dafür gab es keine Entschuldigung.

Immerhin war John Airdrie mittlerweile operiert worden, dachte sie, als sie eines düsteren, verregneten Novembermorgens im Krankensaal stand und zu seinem Bett am anderen Ende hinüberschaute. Er schlief, atmete jedoch unregelmäßig und schwer. Sie ging zu ihm, um festzustellen, ob er Fieber hatte, strich seine Decke glatt und hielt ihre Lampe über sein Gesicht, um besser sehen zu können. Es war gerötet und fühlte sich heiß an. Obschon das nach einer Operation keineswegs ungewöhnlich war, entsprach es ihren schlimmsten Befürchtungen. Es konnte eine ganz normale körperliche Reaktion sein, aber auch das Anfangsstadium einer Infektion, wofür es kein bekanntes Heilmittel gab. In dem Fall blieb nur zu hoffen, daß der Körper das Übel aus eigener Kraft überwinden würde.

Hester war auf der Krim französischen Chirurgen begegnet, die Behandlungsmethoden einsetzten, die sich bereits eine Generation früher in den Napoleonischen Kriegen bewährt hatten. 1640 war die Frau des peruanischen Gouverneurs mit einem Destillat aus Baumrinde von ihrem Fieber kuriert worden. Man nannte den Wirkstoff zunächst Poudre de la Comtesse, später dann Poudre de Jesuites; heute hieß er Chinin. Pomeroy hätte dem Kind durchaus etwas davon verordnen können, doch das würde er nicht tun. Zum einen war er extrem konservativ, zum andern hatte er keine Lust, weitere fünf Stunden seine Runden zu drehen.

Der Junge warf sich unruhig herum. Sie beugte sich über ihn und berührte ihn sanft, um ihn etwas zu trösten. Statt jedoch aufzuwachen, schien er kurz davor, ins Delirium zu fallen.

Hester faßte augenblicklich einen Entschluß. Diesen Kampf würde sie keinesfalls aufgeben! Seit der Zeit auf der Krim trug sie stets einige Medikamente bei sich, die ihrer Ansicht nach in England nicht ohne weiteres zu besorgen waren, unter anderem auch ein Gemisch aus Theriak, Chinin und Hoffman's Liquor.

Die transportable Notfallapotheke befand sich in einem kleinen Lederkoffer mit absolut zuverlässigem Schloß, den sie samt Hut und Umhang in einem winzigen, eigens für die Kleiderablage gedachten Vorraum deponiert hatte.

Sie warf einen letzten Blick durch den Saal, um sicherzugehen daß keiner der Patienten ihre Hilfe brauchte, eilte dann hinaus den Flur entlang zu besagtem Kämmerchen und zog den Koffer hervor, der halb unter den Falten ihres Umhangs verborgen war. Sie angelte nach dem Schlüssel und schob ihn ins Schloß. Es sprang widerstandslos auf, woraufhin Hester den Deckel hob. Die Medikamente verbargen sich unter einer sauberen Schürze und zwei frisch gestärkten Leinenhäubchen. Das Fläschchen mit dem Theriak-Chinin-Gemisch war nicht schwer zu orten. Sie nahm es heraus, ließ es in ihre Tasche gleiten, verschloß den Koffer wieder und schob ihn unter den Umhang zurück.

Im Krankensaal entdeckte sie eine Flasche von dem Bier, das sich die Pfleger gelegentlich zu Gemüte führten. Normalerweise wurde das Medikament in Rotwein aufgelöst, doch da keiner vorhanden war, mußte eben Bier herhalten. Sie goß ein wenig davon in einen Becher, fügte eine winzige Dosis Chinin hinzu und rührte das Ganze sorgfältig um. Sie wußte, daß es extrem bitter schmeckte.

Nachdem das vollbracht war, ging sie zu dem Bett des Jungen und richtete ihn vorsichtig auf, so daß sein Kopf an ihrer Brust ruhte. Dann flößte sie ihm sanft zwei Teelöffel der Arznei ein. Ohne etwas von dem Vorgang zu bemerken, schluckte er die Flüssigkeit reflexartig hinunter. Sie wischte seinen Mund mit einer Serviette ab, legte ihn langsam zurück, strich ihm das Haar aus der Stirn und deckte ihn gut zu.

Zwei Stunden später folgten zwei weitere Teelöffel, dann, kurz bevor Pomeroy erschien, noch einmal zwei.

»Sehr schön«, sagte er, während er das Kind aus nächster Nähe eingehend studierte. Sein sommersprossiges Gesicht strahlte vor Selbstzufriedenheit. »Er scheint sich bemerkenswert gut zu erholen, Miss Latterly. Sie sehen also, ich hatte ganz recht damit, die Operation so lange hinauszuschieben. Es bestand zu keiner Zeit eine solche Dringlichkeit, wie Sie sie heraufbeschworen haben.«

Er schenkte ihr ein verkrampftes Lächeln. »Sie geraten zu schnell in Panik.«

Hester enthielt sich nur mit Mühe eines Kommentars. Wenn sie ihm von dem hohen Fieber erzählt hätte, das den Jungen noch vor fünf Stunden geplagt hatte, hätte sie auch ihre Medikation erwähnen müssen. Seine Reaktion darauf konnte sie nur erraten, aber angenehm würde sie bestimmt nicht sein. Sofern es unbedingt sein mußte, würde sie es ihm sagen, sobald der Junge wieder ganz auf dem Damm war.

Diese Möglichkeit erhielt sie jedoch nicht mehr, dafür sorgten die Umstände. Mitte der Woche saß John Airdrie mit normaler Gesichtsfarbe aufrecht im Bett und verspeiste mit Genuß ein leichtes Mahl. Der Zustand der Frau drei Betten weiter, die eine Bauchoperation über sich hatte ergehen lassen müssen, verschlechterte sich dafür rapide. Pomeroy betrachtete sie mit Grabesmiene und verordnete Eis und eine Menge kühler Bäder. Sein Tonfall verriet nicht die leiseste Hoffnung, nur Resignation und Bedauern.

Hester schaffte es nicht länger, den Mund zu halten. Sie sah das gequälte Gesicht der Frau und begann: »Haben Sie schon die Möglichkeit in Erwägung gezogen, ihr Chinin in einem Gemisch aus Rotwein, Theriak und Hoffman's Liquor zu verabreichen, Dr. Pomeroy? Es könnte das Fieber senken.«

Er musterte sie voller Skepsis, die sich langsam in Wut verwandelte, als ihm nach und nach dämmerte, was sie sich herausgenommen hatte. Sein Teint nahm eine rosa Färbung an, seine Barthaare stellten sich drohend auf.

»Miss Latterly! Ich habe mich bereits des öfteren zu Ihren Versuchen geäußert, sich in einer Kunst zu üben, für die Sie weder die Ausbildung noch den Auftrag besitzen. Ich werde Mrs. Begley verabreichen, was für sie das beste ist, und Sie werden meine Anweisungen befolgen. Ist das klar?«

Hester schluckte schwer. »Und lautet Ihre Anweisung, Dr. Pomeroy, daß ich Mrs. Begley etwas Chinin geben soll, um ihr Fieber zu senken?«

»Nein, das tut sie nicht!« fuhr er sie an. »Chinin wird bei Tropenfieber eingesetzt, nicht bei der normalen körperlichen Reaktion auf einen operativen Eingriff. Es würde nichts nützen. Außerdem will ich nichts von diesem fremdländischen Zeug hier haben!«

Ein Teil von Hester begehrte noch gegen ihren Entschluß auf, als ihre Zunge bereits den einzigen Kurs eingeschlagen hatte, den sie mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte.

»Ich habe gesehen, wie es von einem französischen Chirurgen bei Wundfieber infolge von Amputationen erfolgreich angewendet wurde, Sir, zudem geht sein Einsatz bis zu den Napoleonischen Feldzügen vor Waterloo zurück.«

Sein Gesicht lief vor Wut dunkelrot an. »Ich lasse mir nicht von Franzosen diktieren, wie ich vorzugehen habe, Miss Latterly! Die Franzosen sind ein dreckiges, unwissendes Volk, das erst vor kurzem daran gehindert wurde, diese Inseln zu erobern - genau wie den Rest Europas! Und dann möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen, da Sie offenbar dazu neigen, es zu vergessen, daß Sie Ihre Instruktionen von mir erhalten, und zwar von mir allein!« Er wandte sich von seiner unglückseligen Patientin ab und wollte gehen, woraufhin Hester sich ihm halb in den Weg stellte.

»Sie deliriert, Doktor! Wir können sie nicht so liegen lassen! Bitte erlauben Sie mir, es mit einer kleinen Dosis Chinin zu versuchen. Es kann nicht schaden, aber vielleicht hilft es. Ich gebe ihr jeweils nur einen Teelöffel, alle zwei bis drei Stunden, und wenn es nicht hilft, höre ich sofort auf.«

»Und wo, meinen Sie, sollte ich diesen Wirkstoff herbekommen, falls ich mich tatsächlich auf Ihren Vorschlag einlassen würde?«

Hester holte tief Luft und schaffte es nur knapp, sich nicht zu verraten.

»Aus der Fieberklinik, Sir. Wir könnten einen Hansom rüberschicken. Wenn es Ihnen lieber ist, fahre ich auch selbst hin.«

Sein Gesicht erstrahlte mittlerweile in leuchtendem Violett.

»Miss Latterly! Ich dachte, ich hätte zu dem Thema bereits unmißverständlich Stellung bezogen. Krankenschwestern halten die Patienten sauber und warm, verabreichen ihnen den Anweisungen des Arztes entsprechend Eis und Getränke.« Seine Stimme steigerte sich zu einem wahren Crescendo, während er unbewußt auf den Fußballen auf und ab wippte. »Sie holen und beseitigen wie gewünscht Verbände und Instrumente. Sie sorgen auf der Station für Sauberkeit und Ordnung. Sie schüren das Feuer im Kamin und verteilen das Essen. Sie entfernen und leeren Bettpfannen und kümmern sich um die körperlichen Bedürfnisse der Kranken.«

Er versenkte ruckartig die Hände in den Taschen und wippte noch heftiger auf und ab. »Sie halten die Moral aufrecht und sorgen für gute Laune. Mehr nicht! Haben Sie das verstanden, Miss Latterly? Abgesehen von den grundlegenden Bereichen sind Sie auf dem Gebiet der Medizin vollkommen unfähig. Sie handeln unter gar keinen Umständen nach eigenem Ermessen, was immer das überhaupt sein könnte!«

»Aber wenn Sie doch nicht da sind!« protestierte Hester.

»Dann haben Sie zu warten!« Seine Stimme wurde zunehmend schriller.

Hester konnte ihren Verdruß nicht länger hinunterschlucken.

»Inzwischen können Patienten sterben! Oder es geht ihnen hinterher so schlecht, daß sie nur noch schwer zu heilen sind!«

»Wenn tatsächlich ein Notfall vorliegt, müssen Sie mich sofort holen lassen! Aber Sie dürfen auf keinen Fall etwas unternehmen, das außerhalb Ihrer Kompetenzen liegt. Sobald ich da bin, entscheide ich, was zu tun ist, klar?«

»Und wenn ich selbst weiß, was zu tun ist?«

»Das können Sie nicht wissen!« Seine Hände schossen aus den Taschen und zuckten hoch. »Um Gottes willen, gute Frau, Sie verfügen über keinerlei medizinische Ausbildung! Außer ein paar Wortfetzen und ein bißchen praktischer Erfahrung, die Sie bei irgendwelchen Ausländern in einem Lazarett auf der Krim aufgeschnappt haben, haben Sie nicht die geringste Ahnung! Sie sind kein Arzt und werden auch nie einer sein!«

»Die Medizin ist lediglich eine Frage von Lerneifer und eigenen Beobachtungen!« Nun steigerte sich auch ihre Stimme zu einem Crescendo, so daß selbst die Patienten, die am entferntesten Ende des Saals untergebracht waren, langsam hellhörig wurden. »Es gibt nur eine Regel, und die lautet: Wenn etwas hilft, ist es gut, wenn nicht, probier etwas anderes.« Seine starrköpfige Blindheit raubte ihr den letzten Nerv. »Wenn wir uns nie auf Experimente einlassen, werden wir auch keine Fortschritte machen. Viele Menschen müssen weiterhin sterben, obwohl wir sie vielleicht hätten heilen können!«

»Und erheblich mehr Menschen vermutlich wegen Ihrer bodenlosen Ignoranz!« schrie er zurück. »Sie haben kein Recht, Experimente durchzuführen. Sie sind eine verbohrte Frau ohne jede Erfahrung, und wenn Sie noch ein einziges aufsässiges Wort von sich geben, werde ich für Ihre Entlassung sorgen! Haben Sie mich verstanden?«

Hester zögerte einen Moment. Ihr Blick bohrte sich in seinen. Sie entdeckte nicht die geringste Spur von Unentschlossenheit; ja, es war ihm ernst. Wenn sie jetzt schwieg, bestand zumindest die Möglichkeit, daß er später, nachdem ihre Schicht vorüber war, noch einmal zurückkam und Mrs. Begley selbst das Chinin gab.

»Ja, ich habe verstanden.« Sie brachte die Worte nur mühsam über die Lippen. Ihre Hände waren unter den Falten der Schürze zu Fäusten geballt.

Doch Pomeroy konnte es trotz des scheinbaren Sieges nicht dabei bewenden lassen.

»Chinin hilft nicht bei postoperativen Fieberzuständen, Miss Latterly«, fuhr er mit Todesverachtung fort. »Es wirkt ausschließlich bei Tropenfieber. Sie werden die Patientin mit Eis und regelmäßigen kalten Waschungen behandeln.«

Hester atmete tief durch. Seine Selbstgefälligkeit war nicht auszuhalten.

»Haben Sie gehört?«

Ehe sie antworten konnte, kam ihr einer der Patienten am fernen Ende des Saals zuvor. Er hatte sich aufgesetzt und starrte mit vor Konzentration verkniffenem Gesicht zu ihnen herüber.

»Sie hat dem Kind da hinten was gegeben, als es nach der Operation hohes Fieber gekriegt hat«, tönte seine Stimme laut und deutlich durch den Raum. »Es ging ihm ziemlich dreckig, war kurz vorm Delirium. Und nachdem sie's vier oder fünfmal getan hat, war er wieder in Ordnung. Jetzt ist er genauso kühl wie Sie. Sie weiß, was sie tut. Sie hat recht.«

Der Saal versank sekundenlang in furchtbarem Schweigen. Der Mann hatte keine Ahnung, was er angerichtet hatte.

Pomeroy war wie vor den Kopf geschlagen.

»Sie haben John Airdrie Chinin gegeben!« brach es unvermittelt aus ihm hervor, als ihm endlich ein Licht aufging.

»Hinter meinem Rücken!« Seine Stimme überschlug sich fast vor Wut und dem bitteren Gefühl, hintergangen worden zu sein, nicht nur von ihr, sondern - schlimmer noch - von dem Patienten.

Und dann kam ihm ein ganz neuer Gedanke.

»Wo hatten Sie das her? Antworten Sie mir, Miss Latterly! Ich verlange zu erfahren, wo Sie es sich beschafft haben! Haben Sie etwa in meinem Namen in der Fieberklinik angefragt?«

»Nein, Dr. Pomeroy. Ich besitze selbst eine kleine Dosis Chinin - nur ganz wenig«, fügte Hester hastig hinzu, »um etwas gegen Fieber im Haus zu haben. Davon habe ich ihm ein bißchen verabreicht.«

Er bebte vor Zorn. »Sie sind entlassen, Miss Latterly, fristlos! Seit Sie gekommen sind, hat es mit Ihnen nichts als Ärger gegeben. Sie wurden auf Empfehlung einer Dame eingestellt, die Ihrer Familie einen Gefallen schuldete und zweifellos nicht richtig über Ihr leichtfertiges, halsstarriges Wesen unterrichtet war. Sie werden dieses Haus noch heute verlassen! Falls sich hier noch irgendwelche Besitztümer von Ihnen befinden sollten, nehmen Sie sie mit. Und es ist absolut sinnlos, um ein Empfehlungsschreiben zu bitten. Ich kann Ihnen keins ausstellen!«

Tiefe Stille senkte sich über die Station. Irgendwer raschelte mit dem Bettzeug.

»Aber sie hat den Jungen geheilt!« protestierte der vorlaute Kranke. »Er ist bloß wegen ihr noch am Leben!« Seine Stimme klang gequält; inzwischen war auch ihm klar, was er getan hatte. Er sah erst Pomeroy, dann Hester an. »Sie hatte recht!« wiederholte er trotzig.

Wenigstens konnte Hester es sich jetzt leisten, auf Pomeroys Meinung zu pfeifen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren.

»Ich werde gehen«, bestätigte sie kalt. »Aber passen Sie auf, daß Ihr Stolz Sie nicht davon abhält, der armen Mrs. Begley zu helfen. Sie verdient es nicht zu sterben, nur damit Sie nicht das Gesicht verlieren, weil eine Krankenschwester Ihnen gesagt hat, was Sie tun sollen.« Sie holte tief Luft. »Und da jeder in diesem Raum sich dessen bewußt ist, wird es Ihnen schwerfallen, eine Ausrede zu erfinden.«

»Wie können Sie… Sie…!« stammelte Pomeroy puterrot vor Zorn, aber verlegen um Worte, die seiner Empörung gerecht wurden, ohne seine Schwäche bloßzulegen. »Sie…«

Hester schenkte ihm einen vernichtenden Blick, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte zu dem Patienten hinüber, der sie so tapfer verteidigt hatte. Er hockte inmitten eines chaotischen Haufens zerwühlten Bettzeugs und starrte ihr kreidebleich vor Scham entgegen.

»Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben«, beruhigte Hester ihn in sehr freundlichem, gut hörbarem Ton, so daß jeder im Saal ihre Worte verstehen konnte. Die andern sollten wissen, daß ihm vergeben wurde. »Es mußte so kommen; eines Tages mußte ich Dr. Pomeroy gegenüber ausfallend werden. Sie sind für das eingetreten, was Sie wissen, und haben Mrs. Begley dadurch wahrscheinlich eine Menge Schmerzen erspart, wenn nicht sogar das Leben gerettet. Bitte seien Sie nicht zu streng mit sich, und glauben Sie nicht, Sie hätten mir geschadet. Sie haben einzig den Zeitpunkt für etwas bestimmt, das ohnehin nicht zu vermeiden war.«

»Sind Sie sicher, Miss? Ich fühl mich ganz furchtbar!« Ängstlich forschte er in ihren Zügen nach Anzeichen von Unaufrichtigkeit.

»Selbstverständlich bin ich sicher.« Hester zwang sich zu einem Lächeln. »Haben Sie mich nicht lange genug beobachtet, um das selbst beurteilen zu können? Dr. Pomeroy und ich befanden uns von Anfang an auf Kollisionskurs. Und es war nie vorstellbar, daß ich als Gewinner daraus hervorgehen würde.« Sie machte sich daran, seine Laken zu glätten. »Geben Sie gut auf sich acht - und möge der Herr Sie wieder gesund werden lassen.« Sie drückte kurz seine Hand, entfernte sich und fügte kaum hörbar hinzu: »Trotz Dr. Pomeroy.«

Als Hester in ihrer Unterkunft eintraf und ihr erhitztes Gemüt sich ein wenig abgekühlt hatte, wurde ihr allmählich die Tragweite ihrer Tat bewußt. Sie hatte sich nicht nur um eine sinnvolle Beschäftigung und die finanziellen Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts gebracht, sie hatte darüber hinaus Callandra Daviots Vertrauen enttäuscht. Der Name, mit dem die Freundin für sie gebürgt hatte, war durch ihr leichtfertiges Benehmen in Verruf geraten.

Sie zwang sich nur deshalb zu einem spätnachmittäglichen Mahl, um ihre Wirtin nicht vor den Kopf zu stoßen. Es schmeckte nach nichts. Um fünf Uhr dämmerte es bereits. Nachdem sie die Vorhänge zugezogen und Licht gemacht hatte, schien der Raum plötzlich enger zu werden und sie in aufgezwungener Untätigkeit und völliger Isolation einzuschließen. Wie sollte sie den morgigen Tag hinter sich bringen? Kein Krankenhaus mehr, keine Patienten, um die sie sich kümmern mußte. Sie war absolut überflüssig, niemand brauchte sie. Die Vorstellung war fürchterlich, und wenn sie ihr zu lange nachhing, kam sie vermutlich an einen Punkt, wo sie nur noch den Wunsch hatte, sich ins Bett zu verkriechen und nie wieder herauszukommen.

Zudem plagte sie der ernüchternde Gedanke, in ein oder zwei Wochen ihre gesamten Ersparnisse aufgebraucht zu haben, ihr Domizil aufgeben und als Bittstellerin bei ihrem Bruder Charles anklopfen zu müssen, damit er ihr ein Dach über dem Kopf gewährte, bis sie - ja, bis sie was? Eine andere Beschäftigung auf dem Gebiet der Krankenpflege zu finden würde extrem schwierig, wenn nicht unmöglich sein.

Voller Abscheu spürte Hester, daß sie im Begriff war, in Tränen auszubrechen. Es mußte etwas geschehen. Sofort! Alles war besser, als in diesem heruntergekommenen Zimmer zu sitzen, dem Zischen der Gaslampen zu lauschen und in Selbstmitleid zu zerfließen. Da war zum Beispiel die unangenehme Pflicht, Callandra zu beichten. Das schuldete sie ihr, und sie tat es besser von Angesicht zu Angesicht als durch einen Brief. Warum die Sache also nicht gleich hinter sich bringen? Schlimmer, als in Grübeleien versunken die Zeit totzuschlagen, konnte es kaum werden.

Hester warf ihren besten Mantel über - sie besaß bloß zwei, wovon einer jedoch eindeutig kleidsamer und weniger zweckdienlich war -, setzte einen leidlich hübschen Hut auf und machte sich auf den Weg. Nachdem sie endlich einen Hansom aufgetrieben hatte, nannte sie dem Kutscher Callandra Daviots Adresse.

Sie erreichte ihr Ziel um fünf vor sieben. Erleichtert stellte sie fest, daß Callandra zu Hause war und keinen Besuch hatte. Sie fragte, ob sie Lady Callandra sprechen könnte, und wurde kommentarlos von dem Mädchen hereingelassen.

Wenige Minuten später kam Callandra die Treppe herunter. Sie trug ein Kleid, das ihrer Ansicht nach der neuesten Mode entsprach, in Wirklichkeit seit mindestens zwei Jahren als unmodern galt und, was die Farben anbelangte, nicht besonders schmeichelhaft war. Obwohl sie ihr Ankleidezimmer erst vor einem Moment verlassen haben mußte, begann ihre Frisur bereits heftig gegen die sie zusammenhaltenden Haarnadeln zu rebellieren. Dieser etwas sonderbare Gesamteindruck wurde jedoch durch die Intelligenz und Vitalität in ihren Zügen mehr als wettgemacht. Außerdem strahlte sie vor Freude, Hester zu sehen - trotz der späten Stunde und trotz fehlender Vorankündigung. Sie mußte nur einen einzigen Blick auf Hester werfen, um zu wissen, daß etwas nicht in Ordnung war.

»Was haben Sie, meine Liebe?« Sie hatte mittlerweile die unterste Stufe erreicht. »Was ist passiert?«

Es bestand nicht die geringste Veranlassung auszuweichen, Callandra gegenüber schon gar nicht.

»Ich habe einem Kind ohne Erlaubnis des Arztes Medikamente verabreicht. Er war nicht da. Das Kind scheint sich wieder gut zu erholen, aber ich bin entlassen worden.« So, jetzt war es heraus. Hester forschte in Callandras Gesicht.

»Aha.« Callandras Brauen hoben sich lediglich um Millimeter. »Und das Kind war sehr krank, nehme ich an?«

»Es hatte hohes Fieber und stand kurz vor dem Delirium.«

»Was haben Sie ihm gegeben?«

»Chinin, Theriak, Hoffman's Liquor und etwas Bier, um den bitteren Geschmack abzuschwächen.«

»Klingt doch ganz vernünftig.« Callandra ging zum Salon voraus. »Stand Ihnen bloß nicht zu.«

»Richtig«, bestätigte Hester kleinlaut.

Callandra zog die Tür hinter sich ins Schloß. »Und Sie bedauern es nicht im geringsten«, fügte sie hinzu. »Ich vermute, Sie würden es jederzeit wieder tun?«

»Ich…«

»Lügen Sie mich nicht an, meine Liebe. Ich hege dahingehend nicht den leisesten Zweifel. Ein Jammer, daß Frauen nicht Medizin studieren dürfen. Sie würden eine hervorragende Ärztin abgeben. Sie sind intelligent, haben ein gutes Urteilsvermögen und eine Menge Courage, ohne dabei eingebildet zu sein. Sie sind allerdings eine Frau, und damit wäre das Thema gestorben.« Sie ließ sich auf einem breiten, ungeheuer bequem aussehenden Sofa nieder und forderte Hester mit einer Handbewegung auf, ihrem Beispiel zu folgen. »Und wie sind Ihre Pläne für die Zukunft?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Das hatte ich auch nicht erwartet. Nun, vielleicht sollten Sie mich für den Anfang erst einmal ins Theater begleiten. Sie haben einen sehr nervenaufreibenden Tag hinter sich, da ist ein kleiner Abstecher ins Reich der Phantasie vermutlich ein angenehmer Kontrast. Hinterher besprechen wir dann, wie es weitergehen soll. Verzeihen Sie mir die taktlose Frage, aber verfügen Sie über ausreichende Mittel, daß Ihre Versorgung für die nächsten ein zwei Wochen gewährleistet ist?«

»Ich… ja.«

»Ich hoffe, das stimmt.« Callandras widerspenstige Brauen wölbten sich skeptisch. »Gut. Das verschafft uns etwas Zeit. Falls nicht, sind Sie in meinem Haus herzlich willkommen, bis Sie etwas Passendes gefunden haben.«

Besser gleich die ganze Wahrheit sagen.

»Ich habe meine Befugnisse überschritten«, gestand Hester.

»Pomeroy war außer sich vor Wut und wird mir ganz sicher kein Empfehlungsschreiben ausstellen. Es würde mich nicht einmal überraschen, wenn er sämtlichen Kollegen von meinem Benehmen erzählt.«

»Das denke ich auch«, pflichtete Callandra ihr bei. »Wenn er daraufhin angesprochen wird. Aber solange das Kind lebt und es ihm gutgeht, wird er das Thema kaum anschneiden, sofern er nicht unbedingt muß.« Sie musterte Hester mit kritischem Blick.

»Du meine Güte, Sie sind nicht gerade für einen Theaterbesuch gekleidet, nicht wahr? Was soll's, jetzt ist es zu spät, um noch viel daran zu ändern. Sie müssen eben mitkommen, wie Sie sind. Was halten Sie davon, wenn mein Mädchen Ihre Frisur ein wenig auf Vordermann bringt? Das würde schon eine Menge ausmachen. Gehen Sie nach oben und richten Sie ihr meine Bitte aus.«

Hester zögerte. Ihr ging das alles viel zu schnell.

»Los, los, sitzen Sie hier nicht tatenlos rum«, rief Callandra aufmunternd. »Haben Sie schon gegessen? Wir können im Theater zwar eine Erfrischung zu uns nehmen, aber eine richtige Mahlzeit gibt es dort nicht.«

»Doch - ja, habe ich. Danke…«

»Dann machen Sie schon und lassen Sie sich frisieren.

Beeilen Sie sich!«

Hester gehorchte, weil ihr nichts Besseres einfiel.

Das Theater quoll über vor Leuten, die wild entschlossen waren, sich zu amüsieren. Die weiblichen Besucher trugen moderne Reifröcke aus Samt und Seide mit angesteckten Blumen, Spitzenbesatz, Rüschen und Bändern - mit allem eben, was die Weiblichkeit betont. Hester kam sich unbeschreiblich farblos vor. Ihr war nicht im mindesten nach Lachen zumute, und allein der Gedanke, mit einem oberflächlichen, idiotischen jungen Kerl herumschäkern zu müssen, ließ sie beinahe ihr letztes bißchen Beherrschung verlieren. Es war ausschließlich ihrem Schuldbewußtsein und ihrer Zuneigung zu Callandra zuzuschreiben, daß sie ihre Zunge einigermaßen im Zaum hielt.

Da Callandra eine Loge besaß, gab es wenigstens mit den Sitzplätzen keine Probleme, außerdem blieben sie auf diese Weise unter sich. Das Stück entsprach ganz dem, was sich derzeit großer Beliebtheit erfreute: Es ging um eine junge Frau, die, von der Schwäche des Fleisches versucht und von einem Mann verführt, vom Pfad der Tugend abgekommen war und sich erst zum Schluß, als es längst zu spät war, danach sehnte, reumütig zu ihrem aufrechten Ehemann zurückkehren zu dürfen.

»Aufgeblasener, selbstverliebter Affe!« stieß Hester verhalten aus; mit ihrer Geduld war es endgültig vorbei. »Ob die Polizei wohl je einen Mann unter dem Verdacht eingesperrt hat, seine Frau zu Tode gelangweilt zu haben?«

»Das ist schließlich kein Verbrechen, meine Liebe«, flüsterte Callandra zurück. »Von Frauen wird nicht erwartet, daß sie sich für etwas interessieren.«

Hester benutzte ein Wort, das sie bei den Soldaten auf der Krim aufgeschnappt hatte, und Callandra gab vor, es nicht gehört zu haben, obwohl es ihr schon oft zu Ohren gekommen war und sie seine Bedeutung kannte.

Nach Ende des letzten Aktes senkte sich der Vorhang unter donnerndem Applaus. Callandra erhob sich. Hester warf einen verächtlichen Blick ins Publikum und schloß sich ihr an. Sie begaben sich in das geräumige Foyer, das sich in Sekundenschnelle mit aufgeregt schnatternden Männern und Frauen füllte. Man sprach über das Stück, über sich selbst und über jeden erdenklichen Klatsch und Tratsch, der einem in den Sinn kam.

Hester und Callandra stürzten sich beherzt in das Getümmel. Nach wenigen Minuten und einem halben Dutzend höflicher Wortwechsel standen sie plötzlich Oliver Rathbone nebst Begleitung gegenüber, einer dunkelhaarigen jungen Frau, deren auffallend hübsches Gesicht eine gezierte Miene zur Schau stellte.

»Guten Abend, Lady Callandra.« Er verbeugte sich leicht, wandte sich dann Hester zu und begann zu lächeln. »Guten Abend, Miss Latterly. Darf ich Ihnen Miss Newhouse vorstellen?«

Man tauschte auf bewährte Weise Begrüßungsfloskeln aus.

»War das Stück nicht entzückend?« erkundigte sich Miss Newhouse artig. »So herzergreifend, finden Sie nicht?«

»Außerordentlich«, bestätigte Callandra. »Die Thematik scheint heutzutage überaus gefragt zu sein.«

Hester schwieg. Sie war sich bewußt, daß Oliver Rathbone sie mit derselben neugierigen Belustigung musterte wie bei ihrer ersten Begegnung. Sie war nicht in der Stimmung für belangloses Geplauder, aber sie war Callandras Gast und mußte diese Tortur mit einer gewissen Grazie durchstehen.

»Ich kann nicht anders, die Heldin tut mir einfach leid«, fuhr Miss Newhouse fort. »Trotz all ihrer Schwächen.« Sie senkte beschämt die Lider. »Oh, ich weiß natürlich, daß sie ihr Verderben selbst verschuldet hat. Es ist dem Talent des Autors zuzuschreiben, nicht wahr, daß man ihr Benehmen mißbilligt und zugleich am liebsten ihretwegen in Tränen ausbrechen würde.« Ihre nächsten Worte galten Hester. »Meinen Sie nicht auch, Miss Latterly?«

»Ich fürchte, ich hatte weitaus mehr Mitleid mit ihr, als beabsichtigt war«, erwiderte Hester kleinlaut lächelnd.

»Ach so?« Miss Newhouse schien verwirrt.

Hester fühlte sich veranlaßt, ihre Bemerkung weiter auszuführen, Rathbones Blick lastete auf ihr wie ein Zentner Blei.

»Ich fand ihren Ehemann dermaßen ermüdend, daß ich sehr gut nachvollziehen konnte, weshalb sie… das Interesse verlor.«

»Das rechtfertigt doch nicht den Bruch des Treuegelöbnisses!« Miss Newhouse war schockiert. »Es beweist lediglich, wie leicht wir Frauen uns durch ein paar galante Worte in die Irre führen lassen«, sagte sie mit Grabesstimme.

»Statt der wahren Werte sehen wir nur ein hübsches Gesicht und ein wenig oberflächlichen Glanz!«

Hester konterte, ohne nachzudenken. Die Heldin war eine ausgesprochen schöne Frau gewesen, ihr Mann schien darüber hinaus allerdings kein sonderliches Interesse gehabt zu haben, sie näher kennenzulernen. »Ich habe es nicht nötig, mich irgendwo hinführen zu lassen! Ich bin sehr gut in der Lage, meinen Weg allein zu gehen!«

Miss Newhouse starrte sie entgeistert an. Callandra hustete heftig in ihr Taschentuch.

»Aber es macht keinen besonderen Spaß, allein in die Irre zu gehen, nicht wahr?« warf Rathbone mit Glitzerblick ein. »Kaum die Reise wert.«

Hester wirbelte zu ihm herum und sah ihm voll in die Augen.

»Ich gehe vielleicht allein ›in die Irre‹, Mr. Rathbone, aber ich bin absolut sicher, mein Ziel nicht unbevölkert vorzufinden!«

Sein Lächeln vertiefte sich, wodurch erstaunlich schöne Zähne zum Vorschein kamen. Er hielt ihr einladend den Ellbogen hin.

»Darf ich? Nur bis zu Ihrer Kutsche?« fragte er mit ausdrucksloser Miene.

Hester war unfähig, ihr Gelächter zurückzuhalten. Der Umstand, daß Miss Newhouse offensichtlich nicht den geringsten Sinn für Humor besaß, machte es nur noch schlimmer.

Am kommenden Morgen schickte Callandra ihren Lakai mit einer Nachricht zum Polizeirevier, in der sie Monk bat, so bald wie möglich bei ihr vorbeizuschauen. Sie erklärte weder den Grund für ihr Anliegen, noch ließ sie in irgendeiner Weise durchblicken, sich im Besitz wertvoller Informationen zu befinden.

Dennoch stand er kurz vor Mittag vor ihrer Tür und wurde gebührend empfangen. Seine Hochachtung für sie war Callandra nicht verborgen geblieben.

»Guten Morgen, Mr. Monk«, begrüßte sie ihn freundlich.

»Bitte setzen Sie sich, fühlen Sie sich wie zu Hause. Kann ich Ihnen eine Erfrischung anbieten? Heiße Schokolade vielleicht? Um diese Jahreszeit ist das Wetter nicht sonderlich angenehm.«

»Danke, gern«, willigte er ein. Die Verwunderung, daß sie ihn zu sich bestellt hatte, war ihm deutlich anzusehen.

Callandra läutete nach dem Mädchen, um die heiße Schokolade in Auftrag zu geben. Dann schenkte sie Monk ein liebenswürdiges Lächeln.

»Wie kommen Sie mit Ihrem Fall voran?« Sie hatte keine Ahnung, woran er momentan arbeitete.

Er zögerte gerade lange genug, um abzuwägen, ob diese Frage reiner Höflichkeit entsprang, oder ob es sie wirklich interessierte. Er entschied sich für letzteres.

»Es existieren jede Menge Anhaltspunkte, die jedoch nirgendwo hinzuführen scheinen«, gab er zurück.

»Ist das häufig so?«

Ein Anflug von Humor glitt über sein Gesicht. »Es kommt gelegentlich vor, aber diesmal sind die Umstände besonders rätselhaft. Und wenn man es mit einer Familie wie den Moidores zu tun hat, geht man nicht mit demselben Nachdruck vor wie bei weniger prominenten Leuten.«

Das war genau die Information, die sie brauchte.

»Nein, sicher nicht. Das ist bestimmt keine leichte Aufgabe. Und die Öffentlichkeit, ganz zu schweigen von den Zeitungen und der Regierung, drängt selbstverständlich auf eine rasche Lösung.«

In dem Moment wurde die Schokolade gebracht. Callandra schickte das Mädchen wieder fort und goß selbst ein. Das Getränk war heiß, sahnig und köstlich. Sie sah, wie Monks Züge sich entspannten, kaum daß seine Lippen den Tassenrand berührt hatten.

»Darüber hinaus befinden Sie sich in der mißlichen Lage, die Betroffenen ausschließlich unter künstlichen Bedingungen beobachten zu können. Wie sollen Sie ihnen die Fragen stellen, die Ihnen wirklich am Herzen liegen, wenn sie allein durch Ihre Anwesenheit schon derart auf der Hut sind, daß jede Antwort mit argwöhnischer Vorsicht gegeben wird und in erster Linie dem Selbstschutz dient? Sie können lediglich hoffen, daß die Wahrheit zufällig ans Licht kommt, weil sie sich rettungslos in ihren eigenen Lügennetzen verstricken.«

»Kennen Sie die Moidores näher?« Monk versuchte herauszufinden, woher ihr Interesse an der Angelegenheit rührte.

Callandra winkte unbekümmert ab. »Nur formell. London ist sehr klein, wissen Sie. Die meisten adligen Familien stehen auf die eine oder andere Art miteinander in Kontakt. Das ist auch der Grund für die meisten Eheschließungen. Eine entfernte Cousine von mir ist mit einem von Beatrice Moidores Brüdern liiert. Wie nimmt sie das Unglück eigentlich auf? Es muß eine schlimme Zeit für sie sein.«

Monk setzte kurz seine Tasse ab. »Sehr schlimm«, bestätigte er, während er kurz über den verblüffenden Umschwung in Beatrices Verhalten nachdachte. »Anfangs schien sie ganz gut damit zurechtzukommen. Sie strahlte enorme Gefaßtheit und innere Stärke aus. Jetzt ist sie plötzlich zusammengebrochen und verkriecht sich in ihrem Schlafzimmer. Man sagte mir, sie sei krank, aber ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen.«

»Die Ärmste ist wirklich zu bedauern«, sagte Callandra mitfühlend. »Aber auch ausgesprochen unkooperativ, was Ihre Ermittlungen betrifft. Denken Sie, sie weiß etwas?«

Monk sah sie scharf an. Seine Augen waren wirklich bemerkenswert. Der unglaublich klare, unbeirrbare dunkelgraue Blick hätte so manchen in die Knie gezwungen, nicht aber Callandra. Vor ihr hätte selbst eine Eidechse verdattert den Blick abgewendet.

»Der Gedanke ist mir gekommen«, erwiderte er vorsichtig.

»Was Sie brauchen, ist ein Spitzel im Haus, dem weder die Familienangehörigen noch die Bediensteten große Aufmerksamkeit schenken«, schlug Callandra vor, als wäre es ihr eben erst eingefallen. »Der Betreffende dürfte selbstverständlich nicht in die Ermittlungen verwickelt sein. Er müßte über eine gute Portion Menschenkenntnis verfügen und die Leute beobachten können, ohne daß sie es merken. Er könnte Sie regelmäßig über das auf dem laufenden halten, was sich abspielt, sobald sich die Hausbewohner ungestört fühlen.«

»Ein Wunder also«, bemerkte Monk trocken.

»Ganz und gar nicht!« gab Callandra im selben Tonfall zurück. »Eine Frau würde vollkommen reichen.«

»Wir haben keine weiblichen Mitglieder bei der Polizei.« Er nahm die Tasse wieder hoch und schaute sie über den Rand hinweg an. »Und wenn doch, könnten wir sie kaum unauffällig bei den Moidores einschleusen.«

»Sagten Sie nicht vorhin, Lady Moidore läge zu Bett?«

»Würde das etwas ändern?«

»Vielleicht täte es ihr gut, eine Schwester um sich zu haben? Daß sie krank vor Kummer ist, weil ihre Tochter ermordet wurde, ist nicht weiter verwunderlich. Darüber hinaus scheint sie einen Verdacht zu haben, wer es getan hat. Kein Wunder, daß sie sich miserabel fühlt. Das ginge jeder Frau so. Ich finde, eine Krankenschwester ist eine ausgezeichnete Lösung.«

Monk hörte auf, an seiner Schokolade zu nippen, und starrte sie forschend an.

Mit einiger Mühe gelang es ihr, jeden Ausdruck aus ihrem Gesicht zu verbannen, bis es absolut unschuldig wirkte.

»Hester Latterly ist gegenwärtig ohne Beschäftigung, zudem eine hervorragende Krankenschwester und eine von Miss Nightingales ehemaligen Helferinnen. Ich kann sie wärmstens empfehlen und glaube, daß sie gerade für diese spezielle Aufgabe besonders geeignet ist. Sie hat eine sehr gute Beobachtungsgabe - wie Ihnen nicht unbekannt sein dürfte -, und besitzt eine ordentliche Portion Zivilcourage. Die Tatsache, daß in diesem Haus ein Mord geschehen ist, wird sie nicht abschrecken.«

»Was ist mit dem Krankenhaus?« fragte Monk bedächtig, während sich ein unverkennbares Leuchten in seine Augen schlich.

»Sie ist nicht mehr dort.« Callandra war die Unschuld in Person.

Verblüffung.

»Es gab Meinungsverschiedenheiten mit dem Arzt«, setzte sie erklärend hinzu.

»Ach!«

»Der übrigens ein Dummkopf ist.«

»Natürlich.« Monks Lächeln war nur sehr schwach, aber es drang bis zu seinen Augen vor.

»Wenn Sie mit dem nötigen Zartgefühl an sie herantreten, wird sie sich bestimmt bereit erklären, eine befristete Stellung bei Sir Basil Moidore anzunehmen, bis seine Frau wieder zu sich selbst gefunden hat. Ich werde sie Beatrice mit dem größten Vergnügen vorschlagen. Mit dem Krankenhaus würde ich mich an Ihrer Stelle nicht in Verbindung setzen. Und es wäre mir sehr angenehm, wenn Sie Hester gegenüber meinen Namen nicht erwähnen - es sei denn, Sie müßten sonst lügen.«

Jetzt war sein Lächeln absolut offen. »Einverstanden, Lady Callandra. Eine hervorragende Idee. Ich bin Ihnen sehr verbunden.«

»Oh, keine Ursache«, sagte Callandra fröhlich. »Gern geschehen. Ich werde mit meiner Cousine Valentina sprechen, die Beatrice den Vorschlag gern unterbreiten und Miss Latterly bei der Gelegenheit gleich zur Sprache bringen wird.«

Hester war über Monks Anblick so erstaunt, daß sie sich nicht einmal wunderte, woher er ihre Adresse kannte.

»Guten Morgen«, begrüßte sie ihn verdutzt. »Ist etwas…« Sie brach ab, unsicher, was sie eigentlich fragen wollte.

Wenn es der eigenen Sache diente, konnte Monk durchaus besonnen handeln. Es war ihm nicht leichtgefallen, dies zu lernen, aber sein Ehrgeiz war stärker gewesen als sein Temperament - sogar als sein Stolz -, und nach einer Weile hatte er es geschafft.

»Guten Morgen«, erwiderte er liebenswürdig. »Nein, es ist nichts Schlimmes passiert. Ich möchte gern, daß Sie mir einen Gefallen tun.«

»Ich?« Hester traute ihren Ohren nicht.

»Ja, wenn es Ihnen nichts ausmacht? Darf ich mich setzen?«

»Oh - ja, selbstverständlich.« Sie befanden sich in Mrs. Hörnes winzigem Salon. Hester winkte Monk zu dem Stuhl, der bei dem kümmerlichen Kaminfeuer stand.

Er ließ sich darauf nieder und fiel sofort mit der Tür ins Haus um nicht in eine belanglose Plauderei verwickelt zu werden, in deren Verlauf er Callandra Daviot womöglich verraten hätte.

»Ich untersuche den Queen-Anne-Street-Fall, den Mord an Sir Basil Moidores Tochter.«

»Ich habe mich schon gefragt, ob man Sie damit betraut hat.« Hesters Augen leuchteten erwartungsvoll. »Die Zeitungen veranstalten deswegen immer noch ein Riesengeschrei. Aber ich weiß nicht das geringste über die Familie. Stehen Sie in irgendeiner Verbindung zur Krim?«

»Nur peripher.«

»Und was soll ich…« Sie verstummte jäh, um seine Antwort abzuwarten.

»Jemand aus dem Haus hat sie getötet. Höchstwahrscheinlich ein Familienmitglied.«

»Oje!« Ihr Blick hellte sich auf. Sie begann zu verstehen, nicht was ihren Part bei dem Ganzen betraf, sondern bezüglich der Schwierigkeiten, die sich vor ihm auftun mußten. »Wie können Sie da ermitteln?«

»Mit Samthandschuhen.« Er lächelte mit herabgezogenen Mundwinkeln. »Lady Moidore hat sich ins Bett verkrochen. Ich weiß nicht, ob der Grund dafür Trauer ist - anfangs war sie sehr gefaßt -, oder ob sie etwas in Erfahrung gebracht hat, das den Verdacht auf ein Mitglied der Familie lenkt, und es einfach nicht ertragen kann.«

»Was kann ich dabei tun?« Er besaß jetzt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Könnten Sie eventuell eine Stellung als Lady Moidores Krankenschwester annehmen, die Familie beobachten und - wenn möglich - herausbekommen, was sie derart ängstigt?«

Hester senkte betreten den Blick. »Sie könnten bessere Referenzen verlangen, als ich vorzuweisen habe.«

»Würde Miss Nightingale sich positiv über Sie äußern?«

»Oh, mit Sicherheit - aber das Krankenhaus nicht.«

»Hrnhm. Dann bleibt nur zu hoffen, daß sie dort nicht nachfragen werden. Ich denke, die Hauptsache ist, daß Lady Moidore nichts gegen Sie einzuwenden hat…«

»Ich könnte mir vorstellen, daß Lady Callandra auch ein gutes Wort für mich einlegen würde.«

Monk lehnte sich entspannt zurück. »Das müßte eigentlich genügen. Sie werden es also tun?«

Hester lachte gedämpft auf. »Wenn sie den Posten öffentlich ausschreiben lassen, werde ich mich gewiß melden, aber ich kann kaum vor ihrer Tür auftauchen und mich erkundigen, ob sie zufällig eine Schwester brauchen!«

»Nein, natürlich nicht. Ich werde versuchen, alles Nötige in die Wege zu leiten.« Er enthielt ihr Callandras Cousine vor und sprach hastig weiter, um komplizierte Erklärungen zu vermeiden. »Das Ganze wird per Mundpropaganda über die Bühne gehen, wie das bei vornehmen Familien so üblich ist. Selbstverständlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben, daß Ihr Name fällt? Gut…«

»Erzählen Sie mir etwas über die Hausbewohner.«

»Ich denke, das sollten Sie besser selbst herausfinden. Ihre Meinung ist bestimmt weitaus nützlicher für mich.« Er runzelte neugierig die Stirn. »Was war im Krankenhaus eigentlich los?«

Kleinlaut packte Hester aus.

Valentina Burke-Heppenstall war problemlos dazu zu bewegen, persönlich in der Queen Anne Street vorbeizuschauen, um ihr Beileid auszudrücken. Als Beatrice sie nicht empfangen konnte, bekundete sie ihr aufrichtiges Mitgefühl für den Schmerz der Freundin und schlug Araminta vor, eine Krankenschwester einzustellen. Sie könnte unter den gegebenen Umständen vielleicht von Nutzen sein und den Beistand liefern, für den eine vielbeschäftigte Zofe keine Zeit aufbrachte.

Nach kurzer Bedenkzeit war Araminta geneigt, dem zuzustimmen. Es entband die restlichen Haushaltsmitglieder von einer Verantwortung, der sie nicht gewachsen waren.

Valentina wüßte da jemand - falls es nicht zu anmaßend erschien? Die jungen Damen aus Miss Nightingales Gefolgschaft waren die besten, die man kriegen konnte, so etwas fand man unter den normalen Krankenschwestern nicht so schnell; aus gutem Hause und nicht die Sorte Mensch, die man lieber nicht in den eigenen vier Wänden vorzufinden wünscht.

Araminta brachte ihre Verbundenheit zum Ausdruck. Ja, sie würde sich bei der nächsten Gelegenheit mit betreffender Person unterhalten.

Hester warf sich also in ihre beste Schwesterntracht und holperte mit einem Hansom in die Queen Anne Street, um sich Araminta zur Inspektion zu präsentieren.

»Lady Burke-Heppenstall verbürgt sich für die Qualität Ihrer Arbeit«, sagte Araminta gemessen. Sie war in schwarzen Taft gehüllt, der bei jeder Bewegung knisterte. Ihr weiter Rock streifte Tischbeine, Sofakanten und Stühle, während sie in dem überladen möblierten Raum auf und ab ging. Ihr Haar bildete einen starken Kontrast zu der dunklen Farbe ihres Kleides und zu den Trauerfloren, die als ehrfurchtsvolle Verneigung vor dem Tod von Bilder und Türrahmen herabhingen; es strahlte mehr Hitze und Leben aus als ein Becken voll geschmolzenem Gold.

Befriedigt glitten ihre Augen über Hester, die in ihrem schlichten Stoffkleid einen strengen Anblick bot.

»Warum sind Sie auf Stellungssuche, Miss Latterly?« Araminta verschwendete keine Zeit mit Höflichkeitsfloskeln. Dies war ein geschäftliches Treffen, kein Freundschaftsbesuch.

Hester hatte sich - mit Callandras Hilfe - bereits eine Erklärung zurechtgelegt. Der sehnlichste Wunsch eines ambitionierten Dienstmädchens war häufig der, bei Leuten zu arbeiten, die einen Titel führten. Sie waren größere Snobs als die meisten ihrer Herrinnen und maßen dem Benehmen und der Sprache ihrer Kolleginnen immense Wichtigkeit bei.

»Da ich nun einmal wieder in England bin, Mrs. Kellard, möchte ich lieber in einem angesehenen Privathaushalt arbeiten als in einem der staatlichen Krankenhäuser.«

»Ein sehr einleuchtender Grund.« Araminta schluckte die Lüge anstandslos. »Meine Mutter ist nicht direkt krank, Miss Latterly. Sie hat unter äußerst schmerzlichen Umständen einen geliebten Menschen verloren. Wir möchten verhindern, daß sie in Depressionen versinkt, was leicht passieren könnte. Sie braucht jemanden, der sie aufheitert und der sich darum kümmert, daß sie genug ißt und schläft, um bei Kräften zu bleiben. Meinen Sie, Sie könnten diese Anforderungen erfüllen, Miss Latterly?«

»Ja, Mrs. Kellard. Ich würde es sehr gern tun sofern Sie mich für geeignet halten.« Die Erinnerung an Monks Gesicht und den wahren Zweck ihres Hierseins ließen Hester äußerst unterwürfig antworten.

»Ausgezeichnet. Sie dürfen sich als engagiert betrachten. Bringen Sie mit, was Ihnen nötig erscheint, und fangen Sie morgen früh an. Guten Tag.«

»Guten Tag, Ma'am. Und vielen Dank.«

In diesem Sinne stellte Hester sich am kommenden Tag mit einem Köfferchen in der Hand an der Hintertür des Moidoreschen Hauses ein, um sich in ihre Aufgaben einweisen zu lassen. Sie befand sich in einer Ausnahmeposition, da sie mehr war als ein Dienstmädchen, jedoch weniger als ein Gast. Man hielt sie für versiert, betrachtete sie aber weder als dem Hauspersonal zugehörig noch als Fachmann, wie zum Beispiel einen Arzt. Sie zählte von nun an zum Haushalt; folglich mußte sie kommen und gehen, wie ihr befohlen wurde, und sich stets entsprechend den Wünschen ihrer Herrin verhalten. Das Wort Herrin ging ihr durch Mark und Bein.

Warum eigentlich? Sie hatte weder Vermögen noch Perspektive und keinerlei Aussichten mehr, eine andere Stellung zu finden. Darüber hinaus gab es mehr zu tun, als sich um Lady Moidores Wohl zu kümmern. Es galt, einen kniffligen, hochinteressanten und nicht ganz ungefährlichen Auftrag Monks zu erfüllen.

Sie wurde in einem recht hübschen Zimmer über den Schlafräumen der Familie untergebracht. Eine Glocke sorgte dafür, daß sie jederzeit herbeizitiert werden konnte. In ihrer freien Zeit, sofern sie welche haben sollte, könnte sie im Aufenthaltsraum der Kammerzofen lesen oder Briefe schreiben, hieß es. Man machte ihr unmißverständlich klar, worin ihre Pflichten bestanden und worin die der Zofe Mary, einem dunkelhaarigen, schlanken Geschöpf Anfang Zwanzig, das über ein ausdrucksvolles Gesicht und eine scharfe Zunge verfügte. Es wurde auch nicht vergessen, sie auf das Terrain der sechzehnjährigen Magd fürs obere Stockwerk, Annie hinzuweisen, die mit einer guten Portion Neugier, einem wachen Verstand sowie bei weitem mehr Eigensinn ausgestattet war, als ihr angeblich gut tat.

Man führte sie in die Küche, wo ihr Mrs. Boden, die Köchin, die Küchenmagd Sal, das Spülmädchen May, der Stiefelputzer Willie sowie Lizzie und Rose vorgestellt wurden, die für die Wäsche zuständig waren und auch Hester's übernehmen würden. Gladys, die andere Zofe, sah sie lediglich kurz über die Galerie huschen; sie betreute Mrs. Cyprian Moidore und Miss Araminta. Desgleichen entzogen sich Maggie, die zweite Magd fürs obere Stockwerk, Nellie, das Nesthäkchen des weiblichen Personals sowie das aparte Stubenmädchen Dinah vorerst ihren Blicken.

Mrs. Willis, die winzige, grimmig dreinschauende Haushälterin, besaß keinerlei Befehlsgewalt über Krankenschwestern, weshalb ihre Beziehung von Anfang an unter einem schlechten Vorzeichen stand. Sie war es gewöhnt, Macht auszuüben, und verabscheute weibliche Dienstboten, die sich ihr gegenüber nicht zu verantworten hatten. Ihr kleines, strenges Gesicht nahm augenblicklich einen noch verbiesterteren Ausdruck an. Sie erinnerte Hester an eine ganz besonders tüchtige Oberin im Krankenhaus, was die Begegnung nicht vereinfachte.

»Die Mahlzeiten nehmen Sie wie alle andern in der Gesindestube ein«, verkündete Mrs. Willis scharf. »Es sei denn, Ihre Pflichten machen es unmöglich. Nach dem Frühstück um Punkt acht Uhr kommen wir alle zusammen«, diese beiden Worte erhielten eine besonders spitze Betonung, während sich ihr Blick in Hester bohrte, »um unter der Leitung von Sir Basil das Morgengebet zu sprechen. Ich darf wohl annehmen, daß Sie der anglikanischen Kirche angehören, Miss Latterly?«

»Aber selbstverständlich, Mrs. Willis«, sagte Hester wie aus der Pistole geschossen, obwohl sie eher zu einer freikirchlichen Gesinnung tendierte.

»Ausgezeichnet.« Mrs Willis nickte befriedigt. »So weit, so gut. Wir nehmen die Hauptmahlzeit mittags zwischen zwölf und eins ein, während die Familie luncht. Irgendwann im Lauf des Abends, wenn es gerade paßt, gibt es ein Abendbrot. Sollte einmal eine Dinnerparty gegeben werden, kann es unter Umständen recht spät werden.« Ihre Brauen wölbten sich vielsagend. »Unsere Dinnerparties gehören übrigens zu den größten ganz Londons, es werden nur die besten Speisen serviert. Da wir momentan jedoch in Trauer sind, werden zur Zeit keine Gäste geladen, und wenn es wieder soweit ist, ist Ihre Tätigkeit hier vermutlich längst beendet. Ich schätze, Sie haben alle zwei Wochen einen halben Tag frei, wie jeder andere auch. Richten Sie sich trotzdem darauf ein, daß es nicht unbedingt dabei bleiben muß, falls Ihre Ladyschaft andere Pläne hat.«

Da sie keine Dauerstellung angenommen hatte, machte Hester sich wegen der freien Tage wenig Sorgen. Hauptsache, sie bekam ab und zu die Möglichkeit, mit Monk zu sprechen, um ihn über ihre Fortschritte zu informieren.

»Ja, Mrs. Willis«, gab sie zurück, weil eine Antwort offenbar erwartet wurde.

»Sie werden wahrscheinlich nur wenig oder gar keine Gelegenheit haben, in den Salon zu gehen. Sollte es dennoch einmal so weit kommen, ist Ihnen hoffentlich klar, daß Sie auf keinen Fall anklopfen dürfen?« Ihr gnadenloser Blick ließ Hester keine Sekunde los. »Es ist ausgesprochen vulgär, an eine Salontür zu klopfen.«

»Natürlich. Keine Sorge, Mrs. Willis«, beruhigte Hester sie hastig. Sie hatte zwar noch nie einen Gedanken daran verschwendet, doch wozu dies zugeben?

»Das Mädchen wird sich selbstverständlich um Ihr Zimmer kümmern«, fuhr Mrs. Willis fort, während ihr bohrender Blick einen kritischen Ausdruck annahm, »aber Ihre Schürzen müssen Sie selbst bügeln. Die Wäschemägde haben genug zu tun, und den Zofen hätte das gerade noch gefehlt! Falls Sie Post erhalten sollten - Sie haben doch Familie?« Dieser letzte Satz kam beinah einer Drohung gleich. Leuten ohne Familie mangelte es an Respektabilität; sie konnten ja weiß Gott wer sein.

»Doch, Mrs. Willis, ich habe Familie«, sagte Hester bestimmt »Unglücklicherweise sind meine Eltern vor kurzem verstorben und einer meiner Brüder fiel auf der Krim, aber ich habe noch einen und pflege sowohl zu ihm als auch zu seiner Frau einen sehr herzlichen Kontakt.«

Mrs. Willis schien zufrieden. »Ausgezeichnet. Das mit Ihrem anderen Bruder tut mir leid, aber dieser Krieg hat viele prachtvolle junge Männer das Leben gekostet. Für sein Land und seine Königin zu sterben ist eine ehrenvolle Tat, mit der die Angehörigen so tapfer wie möglich fertig werden müssen. Mein Vater war selbst Soldat - ein feiner Mann, ein Mann, zu dem man aufschauen konnte. Eine Familie ist etwas sehr Wichtiges, Miss Latterly. Das gesamte Personal hier ist ausgesprochen seriös.«

Hester sah davon ab, zum Krimkrieg Stellung zu nehmen. Sie beherrschte sich, indem sie in scheinbarer Zustimmung die Augen senkte.

»Mary wird Ihnen den Aufgang für die weiblichen Hausangestellten zeigen.« Mrs. Willis hatte den privaten Themenkreis offensichtlich abgehakt und kehrte zum Geschäftlichen zurück.

»Was haben Sie gesagt, bitte?« Hester war vorübergehend verwirrt.

»Der Aufgang für die weiblichen Dienstboten«, entgegnete Mrs. Willis scharf. »Sie werden eine Treppe nehmen müssen, um nach oben zu gelangen, junge Frau! Dies ist ein anständiges Haus - Sie glauben doch nicht, daß Sie den Aufgang für die männlichen Bediensteten benutzen können? Sonst noch was? Ich will nicht hoffen, daß Sie diesbezüglich irgendwelche Flausen im Kopf haben.«

»Ganz bestimmt nicht, Ma'am.« Hester fand ihre Geistesgegenwart wieder und ließ sich rasch eine Erklärung einfallen. »Ich bin solche Geräumigkeit nicht gewöhnt. Es ist noch nicht viel Zeit vergangen, seit ich von der Krim zurück bin.« Dies für den Fall, daß zu Mrs. Willis der wenig appetitliche Ruf der in England arbeitenden Schwestern vorgedrungen war. »Wo ich gewesen bin, gab es keine männlichen Dienstboten.«

»Das will ich meinen!« Mrs. Willis war in dieser Angelegenheit vollkommen unwissend, wollte es jedoch um keinen Preis zugeben. »Wir jedenfalls haben fünf männliche Dienstboten für den Außenbereich, denen Sie schwerlich begegnen werden, und fünf im Haus selbst: Mr. Phillips, unseren Butler, Sir Basils Kammerdiener Rhodes, die Lakaien Harold und Percival sowie Willie, den Stiefelburschen. Sie werden mit keinem von ihnen zu tun haben.«

»Nein, Ma'am.«

Mrs. Willis schnüffelte beifällig. »Ausgezeichnet. Und jetzt machen Sie sich am besten auf den Weg und stellen sich Mrs. Moidore vor. Vielleicht können Sie gleich etwas für sie tun - das bedauernswerte Geschöpf.« Sie strich mit energischen Bewegungen ihre Schürze glatt, wodurch ihr Schlüsselbund geräuschvoll zu klappern begann. »Als ob es nicht genug wäre, eine Tochter zu verlieren. Muß da auch noch die Polizei im ganzen Haus rumschleichen und den Leuten lästige Fragen stellen? Wie soll das mit dieser Welt bloß enden? Wenn sie gleich von Anfang an ihre Arbeit getan hätten, wäre das alles gar nicht erst geschehen.«

Hester verkniff sich die Bemerkung, es wäre ein wenig vermessen, von der Polizei zu erwarten, daß sie einen Mord im Familienkreis verhindere.

»Vielen Dank für Ihre Einweisung, Mrs. Willis«, sagte sie diplomatisch und verschwand in Richtung Treppe, um Mrs. Moidore gegenüberzutreten.

Hester klopfte an ihre Schlafzimmertür, erhielt keine Antwort und trat trotzdem ein. Sie fand sich in einem entzückenden, ausgesprochen femininen Raum wieder; überall geblümter Brokat und ovale, gerahmte Fotografien sowie drei zierliche, bequeme Ankleidestühle, die hübsch und praktisch aussahen. Durch die großen Fenster strömte kaltes Sonnenlicht herein.

Beatrice lag mit einem Satinneglige bekleidet auf dem Bett, die Knöchel überkreuzt, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und starrte an die Decke. Von Hester nahm sie keinerlei Notiz.

Als Lazarettschwester war Hester zwar in erster Linie den Umgang mit schwerverwundeten oder todkranken Männern gewöhnt hatte aber auch ein wenig Erfahrung mit Schock und der tiefen Depression, die gewöhnlich der Amputation eines Körperglieds folgten. Sie kannte das Gefühl völliger Hilflosigkeit, das jede andere Emotion überlagerte. In Beatrice Moidores Verhalten glaubte sie Angst zu erkennen. Sie hatte die erstarrte Haltung eines Tieres, das sich nicht zu rühren traut, um nicht auf sich aufmerksam zu machen, und gleichzeitig nicht weiß, in welche Richtung es davonlaufen soll.

»Lady Moidore«, sagte sie ruhig.

Beatrice registrierte, daß ihr diese Stimme fremd war. Sie war bestimmter, nicht so zaghaft wie die einer Magd. Langsam drehte sie den Kopf auf die Seite, um die Quelle zu identifizieren.

»Mein Name ist Hester Latterly, Lady Moidore. Ich bin Krankenschwester und werde mich um Sie kümmern, bis es Ihnen wieder besser geht.«

Beatrice richtete sich langsam auf und stützte sich auf den Ellbogen ab. »Eine Krankenschwester?« fragte sie mit schwachem, leicht verzerrtem Lächeln. »Ich bin nicht…« Sie änderte plötzlich ihre Meinung und legte sich wieder hin. »In meiner Familie ist ein Mord geschehen. Das ist keine Krankheit.«

Araminta hatte ihr also nichts von dem Arrangement erzählt, geschweige denn sie um ihr Einverständnis gebeten - oder hatte Beatrice es einfach vergessen?

»Nein«, sagte Hester laut. »Ich würde es eher als eine Verletzung bezeichnen. Da ich aber den Großteil meiner beruflichen Erfahrung auf der Krim gesammelt habe, bin ich an Wunden und die damit verbundenen Leiden gewöhnt. Manchmal dauert es eine Zeit, bis man überhaupt den Wunsch verspürt, wieder auf die Beine zu kommen.«

»Auf der Krim? Wie praktisch.«

Hester staunte. Was für ein seltsamer Kommentar. Sie betrachtete Beatrices empfindsames, intelligentes Gesicht mit den großen Augen, der vorspringenden Nase und dem zarten Mund genauer. Sie war von dem Standardklischee der klassischen Schönheit weit entfernt, hatte auch nicht diesen trägen, schmollenden Blick, der momentan so gefragt war. Für den Geschmack der meisten Männer, die sich vermutlich ein zahmeres Wesen wünschten, machte sie einen zu energischen Eindruck. Dennoch strafte ihr gegenwärtiger Anblick den Charakter Lügen, der in ihren Zügen zum Ausdruck kam.

»Ja«, stimmte Hester zu. »Und jetzt, wo meine Eltern tot sind und nicht mehr für mich sorgen können, bleibt mir nichts anderes übrig, als weiterhin praktisch tätig zu sein.«

Beatrice richtete sich wieder auf. »Es ist bestimmt sehr befriedigend, wenn man sich nützlich machen kann. Meine Kinder sind mittlerweile erwachsen und selbst verheiratet. Wir empfangen eine Menge Gäste - zumindest war das bis vor kurzem noch so -, aber meine Tochter Araminta ist äußerst geschickt, was das Zusammenstellen einer vielversprechenden Gästeliste angeht, um meine Köchin beneidet mich halb London, und mein Butler weiß, wo man notfalls eine zusätzliche Hilfskraft herbekommt. Meine gesamte Dienerschaft ist hervorragend geschult, und dann habe ich noch eine außerordentlich tüchtige Haushälterin, die es nicht schätzt, wenn ich die Nase in ihre Angelegenheiten stecke.«

Hester lächelte. »Ja, das kann ich mir vorstellen. Ich habe sie bereits kennengelernt. Haben Sie heute schon zu Mittag gegessen?«

»Ich bin nicht hungrig.«

»Sie sollten wenigstens etwas Suppe und ein bißchen Obst zu sich nehmen. Es kann unangenehme Folgen haben, wenn Ihr Körper zuwenig Flüssigkeit bekommt. Ein Magen-Darm-Katarrh würde Ihre Situation nicht verbessern.«

Beatrice schaute sie so verdutzt an, wie ihr halb betäubter Zustand erlaubte.

»Sie nehmen wirklich kein Blatt vor den Mund.«

»Ich möchte nicht falsch verstanden werden.«

Beatrice mußte wieder Willen lachen. »Ich schätze, das kommt nicht oft vor.«

Hester riß sich zusammen. Sie durfte nicht vergessen, daß ihre Hauptaufgabe darin bestand, sich um eine schwer leidende Frau zu kümmern.

»Darf ich Ihnen etwas Suppe und ein Fruchttörtchen oder Eiercreme bringen?«

»Ich nehme an, Sie tun es sowieso - und darf wohl zu hoffen wagen, daß Sie selbst ein wenig Hunger haben?«

Hester lächelte, warf einen letzten Blick durch den Raum und machte sich auf den Weg in die Küche.

Die nächste Gelegenheit für ein Zusammentreffen mit Araminta bot sich am kommenden Abend. Hester war nach unten in die Bibliothek gegangen, um sich nach einem Buch umzusehen, das Beatrice auf andere Gedanken bringen und ihr vielleicht beim Einschlafen helfen konnte. Sie hatte sich mittlerweile durch die endlosen Reihen gewichtiger historischer und noch gewichtigerer philosophischer Werke gearbeitet und endlich die Gedichtbände und Romane erreicht. Die Fülle ihrer Röcke wie Blütenblätter um sich gebreitet, kniete sie vornübergebeugt mitten auf dem Boden, als Araminta hereinkam.

»Haben Sie etwas verloren, Miss Latterly?« erkundigte sie sich leicht mißbilligend. Hesters Sitzhaltung war ausgesprochen unelegant und zu ungezwungen für jemand, der zum Personal gehörte.

Hester stand hastig auf, um ihre Kleidung in Ordnung zu bringen. Sie waren etwa gleich groß und fixierten sich über ein kleines Lesetischchen hinweg. Araminta trug ein schwarzes Seidenkleid, dessen mit Samt besetztes Oberteil mit winzigen Seidenbändchen geschmückt war. Ihr Haar leuchtete wie Ringelblumen in der Sonne. Hesters Aufmachung bestand aus tristem Blaugrau unter einer weißen Schürze. Der überaus gewöhnliche Farbton ihrer braunen Haarpracht hatte im Sonnenschein zwar einen honig oder kastanienfarbenen Schimmer, war verglichen mit Aramintas jedoch stumpf.

»Nein, Mrs. Kellard«, erwiderte sie ernst. »Ich bin auf der Suche nach etwas Lesbarem für Mrs. Moidore, damit sie besser einschlafen kann.«

»Ach. Wäre ein wenig Laudanum dafür nicht eher geeignet?«

»Laudanum ist das letzte Mittel der Wahl. Es führt leicht zu Abhängigkeit, und man kann sich danach sehr unwohl fühlen.«

»Ich nehme an, Sie wissen, daß meine Schwester vor weniger als drei Wochen in diesem Haus ermordet worden ist?« Araminta stand kerzengerade mit unverwandtem Blick vor ihr. Hester bewunderte ihren Mut zur Unverblümtheit bezüglich eines Themas, das die meisten Leute entsetzt totgeschwiegen hätten.

»Ja, ich habe davon gehört. Es ist kein Wunder, daß Ihre Mutter sich in schlechter Verfassung befindet, insbesondere da die Polizei immer noch herkommt, um unangenehme Fragen zu stellen. Ich dachte, ein Buch könnte sie zumindest so lange ablenken, bis ihr die Augen zufallen, so daß der Einsatz von Drogen überflüssig wird. Es würde ihr nicht helfen, wenn sie dem Schmerz ewig aus dem Weg geht. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte auf keinen Fall hart klingen - aber ich habe selbst beide Elternteile und einen Bruder verloren. Ich weiß, was es heißt, einen geliebten Menschen nie wiederzusehen.«

»Aus diesem Grund wird Lady Burke-Heppenstall vermutlich Sie vorgeschlagen haben. Am besten wäre wohl, Sie könnten meine Mutter davon abhalten, über meine Schwester Octavia nachzugrübeln und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wer für ihren Tod verantwortlich ist.« Araminta schaute ihr nach wie vor direkt in die Augen. »Ich bin froh, daß Sie keine Angst haben, sich in diesem Haus aufzuhalten. Dazu besteht auch nicht der geringste Anlaß.« Sie hob kaum merklich die Schultern. Es war eine kalte Gebärde. »Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um eine falsch interpretierte Beziehung, die in einer Tragödie endete. Wenn Sie sich sittsam verhalten, keinerlei Aufmerksamkeit provozieren, sich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen und nicht herumspionieren…«

In dem Moment ging die Tür auf. Myles Kellard kam herein. Hester dachte augenblicklich, was für ein gutaussehender Mann er war, ein Mann mit individueller Ausstrahlung, der ebensogut lachen und singen wie abenteuerliche, spannende Geschichten erzählen konnte. Obgleich sein Mund einen Hauch von Zügellosigkeit verriet, war er vielleicht der eines Träumers.

»… werden Sie keine Schwierigkeiten bekommen«, schloß Araminta, ohne sich nach ihm umzudrehen oder zu erkennen zu geben, daß sie ihn bemerkt hatte.

»Warnst du Miss Latterly vor unserem aufdringlichen und ziemlich arroganten Herrn von der Polizei?« fragte Myles neugierig. Er wandte sich um und warf Hester ein charmantes, unbeschwertes Lächeln zu. »Ignorieren Sie ihn einfach, Miss Latterly. Und sollte er zu lästig werden, verweisen Sie ihn an mich - ich werde Sie mit Freuden von ihm befreien. Wen immer er verdächtigen mag…« Seine Augen überflogen sie mit mildem Interesse. Hester spürte einen jähen, schmerzhaften Stich, weil sie von der Natur nur mittelmäßig ausgestattet worden und obendrein schlicht gekleidet war. Es wäre sehr angenehm gewesen, einen Funken echter Neugier in den Augen eines solchen Mannes aufblitzen zu sehen.

»Miss Latterly kann unmöglich dazugehören«, schloß Araminta an seiner Stelle. »Hauptsächlich, weil sie zur fraglichen Zeit nicht hier war.«

»Genau«, bestätigte er, während er einen Arm nach seiner Frau ausstreckte. Mit einer grazilen, kaum merklichen Bewegung wich sie vor der Berührung zurück.

Myles erstarrte, änderte die Richtung seiner Hand und rückte statt dessen ein Bild zurecht, das auf dem Schreibtisch stand.

»Ansonsten würde er es vermutlich tun«, fuhr Araminta kühl fort. Ihr Rücken versteifte sich. »Er scheint jedermann zu verdächtigen, sogar die Familienmitglieder.«

»Unsinn!« Myles gab sich alle Mühe, ungehalten zu klingen, doch auf Hester machte er einen nervösen Eindruck. Ein rötlicher Schimmer lag plötzlich auf seiner Haut, und seine Augen glitten ruhelos von einem Gegenstand zum andern, während er ihren Blicken gekonnt aus dem Weg ging. »Das ist absurd! Keiner von uns hätte den geringsten Grund für eine so furchtbare Tat gehabt, und wenn, wäre es trotzdem nicht geschehen! Wirklich, Minta, du machst Miss Latterly nur angst.«

»Ich habe nicht behauptet, daß es einer von uns war, Myles, ich sagte lediglich, was Inspektor Monk glaubt - wahrscheinlich hat Percival ihm gegenüber irgendeine Bemerkung über dich fallenlassen.« Sie beobachtete, wie das Rot in seinen Wangen einer fahlen Blässe wich, wandte sich dann ab und fuhr bedächtig fort: »Ein sehr unzuverlässiger Bursche. Wenn ich ganz sicher wäre, würde ich ihn auf der Stelle entlassen.« Die Worte fielen klar und deutlich in den Raum. Ihr Tonfall ließ zwar durchblicken, daß sie lediglich laut nachgedacht hatte, die Bemerkung eigentlich nicht für fremde Ohren bestimmt war und keinerlei Eindruck hinterlassen sollte, aber der Körper in dem wunderschönen Kleid war so reglos und steif wie eine Feder in windstiller Luft, die Stimme unangenehm durchdringend. »Ich denke, der versteckte Verdacht, den Percival geäußert hat, ist auch daran schuld, daß Mama sich hinlegen mußte. Es wäre vielleicht besser für sie, wenn du ihr aus dem Weg gehst, Myles. Sie könnte Angst vor dir haben…« Sie drehte sich abrupt um und schenkte ihm ein strahlendkaltes Lächeln. »Was natürlich vollkommen absurd ist, ich weiß. Aber Angst ist gelegentlich irrational. Manchmal denken wir die haarsträubendsten Dinge über andere, und niemand kann uns davon überzeugen, daß sie jeder Grundlage entbehren.«

Araminta legte den Kopf ein wenig auf die Seite. »Welche Veranlassung hättest du zu einem so schlimmen Streit mit Octavia haben sollen?« Sie zögerte kurz. »Dennoch ist sie überzeugt, daß es so war. Ich hoffe bloß, sie erzählt Mr. Monk nichts davon, denn das könnte für uns alle sehr unangenehm werden.« Sie wandte sich wieder an Hester. »Sorgen Sie dafür, daß Mama einen stärkeren Bezug zur Wirklichkeit bekommt, Miss Latterly. Wir wären Ihnen ewig dankbar. Aber jetzt muß ich gehen und nach der armen Romola sehen. Sie hat Migräne, und Cyprian kann ihr wie üblich nicht helfen.« Sie raffte die Röcke und schwebte anmutig und steif aus dem Raum.

Hester war zu ihrer eigenen Überraschung verlegen. Es lag auf der Hand, daß Araminta sich nicht nur bewußt war, welchen Schreck sie ihrem Mann eingejagt hatte, sie hatte sogar ihren Spaß daran. Hester beugte sich wieder über das Bücherregal und hoffte daß Myles diese Erkenntnis nicht in ihren Augen gelesen hatte.

Er näherte sich ihr, bis er kaum mehr als einen Meter hinter ihr stand. Sie war sich seiner Gegenwart mit greller Schärfe bewußt.

»Kein Grund, sich Sorgen zu machen, Miss Latterly«, sagte er mit leicht rauher Stimme. »Lady Moidore hat eine ziemlich blühende Phantasie - wie viele Frauen. Sie bringt die Tatsachen durcheinander und weiß manchmal nicht, was sie sagt. Das können Sie sicher verstehen, nicht wahr?« Sein Ton legte nahe, daß es bei Hester vermutlich auch nicht anders war und man ihre Worte daher ebenfalls nicht ernst nehmen mußte.

Sie sprang auf die Füße und begegnete seinem Blick. Obwohl sie so dicht vor ihm stand, daß sie die Schatten sehen konnte, die seine erstaunlich langen Wimpern auf seine Wangen warfen, trat sie keinen Schritt zurück.

»Sie täuschen sich, Mr. Kellard, ich kann es keineswegs verstehen.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Ich sage nur selten etwas, das ich nicht so meine, und wenn, geschieht das nicht, weil ich geistig verwirrt bin, sondern weil ich zufällig die falschen Worte benutze.«

»Natürlich tun Sie das, Miss Latterly.« Er lächelte. »Ich bin sicher, Sie sind im Grunde Ihres Herzens wie alle Frauen…«

»Wenn Mrs. Moidore Migräne hat, ist es wahrscheinlich besser, ich unternehme etwas dagegen, meinen Sie nicht?« warf Hester schnell ein, um ihm nicht die Antwort geben zu müssen, die ihr auf der Zunge lag.

»Ich bezweifle, daß Sie dazu in der Lage sind«, erwiderte er trocken und trat einen Schritt zur Seite. »Es ist nicht Ihre Aufmerksamkeit, nach der sie sich sehnt. Aber wenn Sie unbedingt wollen, versuchen Sie es. Es könnte eine nette Abwechslung für sie sein.«

Sie entschied sich, ihn mißzuverstehen. »Wenn jemand unter einem Migräneanfall leidet, ist es ihm gewöhnlich egal, wer sich um ihn kümmert.«

»Schon möglich«, räumte Myles ein. »Ich hatte noch nie Kopfschmerzen - schon gar nicht die von Romolas Sorte. Das gibt es nur bei Frauen.«

Hesters Finger verkrampften sich über dem Buch, das sie in der Hand hielt. Sie preßte den Einband gegen ihre Brust, damit er den Titel nicht lesen konnte, und rauschte an ihm vorbei.

»Sie müssen mich entschuldigen. Ich gehe wieder hinauf, um mich nach Lady Moidores Befinden zu erkundigen.«

»Nur zu«, brummte er. »Obwohl ich bezweifle, daß sie sich jetzt anders fühlt als zur Zeit Ihres Aufbruchs!«

Am nächsten Tag wurde Hester klar, was Myles mit seiner Bemerkung über Romolas Kopfschmerzen gemeint hatte. Sie kam mit einem Blumenstrauß für Beatrices Zimmer aus dem Gewächshaus, als sie Romola und Cyprian entdeckte, die ihr den Rücken zuwandten und zu sehr ins Gespräch vertieft waren, um ihre Anwesenheit zu bemerken.

»Es würde mich sehr glücklich machen, wenn du das tätest«, sagte Romola mit flehendem Unterton, der etwas ausgeleiert und ein wenig klagend klang, als hätte sie die Bitte schon sehr oft geäußert.

Hester blieb stehen und verschwand rückwärts in den Falten des Vorhangs, von wo aus sie einen direkten Blick auf Romolas Rücken und Cyprians Gesicht hatte. Er wirkte müde und gehetzt, hatte dunkle Ringe unter den Augen und ließ die Schultern hängen; man konnte glauben, er sähe einer körperlichen Züchtigung entgegen.

»Du weißt genau, daß es im Augenblick sinnlos wäre«, gab er bemüht geduldig zurück. »Es würde die Situation nicht im geringsten verbessern.«

»Ach, Cyprian!« Sie wandte sich sichtlich verdrossen von ihm ab. Ihre ganze Haltung drückte Enttäuschung und Desillusionierung aus. »Ich finde, du könntest es mir zuliebe wenigstens versuchen. Es bedeutet alles für mich!«

»Ich habe dir doch schon erklärt…« begann er, brach jedoch resigniert ab. »Ich weiß sehr gut, daß du es dir wünschst«, meinte er schließlich um einiges schärfer. Seine Erbitterung brach allmählich durch. »Und wenn ich wüßte, daß ich ihn überreden kann, würde ich es garantiert tun.«

»Würdest du das wirklich? Manchmal frage ich mich, ob es dir überhaupt wichtig ist, daß ich glücklich bin.«

»Romola - ich…«

Hester hielt es nicht länger aus. Sie verabscheute Menschen, die andere moralisch für ihr Seelenglück verantwortlich machten. Vielleicht lag es daran, daß sich bisher niemand für ihres zuständig gefühlt hatte, aber sie stand ganz auf Cyprians Seite - auch ohne die näheren Umstände zu kennen. Sie prallte geräuschvoll gegen den Vorhang, ließ die Ringe an der Stange ordentlich klappern, stieß ein überraschtes, verärgertes Japsen aus und segelte mit entschuldigendem Lächeln und einer Handvoll rosafarbener Margeriten an ihnen vorbei, als sie sich nach der Quelle des Lärms umdrehten.

Hester gewöhnte sich nur mit Schwierigkeiten in der Queen Anne Street ein. Was die körperlichen Bedürfnisse anbelangte, war das Leben dort extrem komfortabel. Abgesehen von den Bedienstetenquartieren im dritten und vierten Stock war es überall angenehm warm, und das Essen entpuppte sich als das beste, was sie je zu sich genommen hatte - außerdem waren die Portionen gigantisch. Es gab Fleisch, Fluß und Meeresfisch, Wild, Geflügel, Austern, Hummer, Hasenpfeffer, Pasteten, Gebäck, Gemüse, Früchte, Kuchen, Torten und Obstböden, Pudding und diverse andere Süßspeisen. Die Hausangestellten aßen ebensooft das, was aus dem Speisezimmer zurückkam, wie Gerichte, die speziell für sie zubereitet wurden.

Sie lernte die hierarchische Struktur der Gesindestube kennen, insbesondere wer welche Domäne regierte und wer wem unterstand - was überaus wichtig war. Niemand mischte sich in den Aufgabenbereich eines anderen ein, und jeder wachte über sein eigenes Territorium mit eifersüchtiger Pingeligkeit. Völlig undenkbar, daß ein langgedientes Hausmädchen aufgefordert wurde, die Arbeit einer Anfängerin zu verrichten, oder - schlimmer noch - daß ein Lakai sich in der Küche Freiheiten herausnahm und die Köchin vor den Kopf stieß.

Für Hester war allerdings weitaus interessanter, wo die Sympathien lagen, wo Rivalitäten herrschten, wer sich von wem gekränkt fühlte und weshalb.

Alle hatten tiefe Ehrfurcht vor Mrs. Willis, und Mr. Phillips wurde, was die praktischen Gesichtspunkte anbelangte, eher als Herr des Hauses betrachtet denn Sir Basil, den der Großteil der Belegschaft nie zu Gesicht bekam. Es wurden eine Menge Witze und respektlose Bemerkungen über sein soldatisches Gehabe gemacht. Man verglich ihn des öfteren mit einem Hauptfeldwebel, jedoch nur, wenn er nicht in der Nähe war.

Mrs. Boden, die Köchin, führte das Regiment in der Küche mit eiserner Hand, zeichnete sich aber eher durch Erfahrung, ihr strahlendes Lächeln und hitziges Temperament aus als durch furchteinflößendes Auftreten wie Mrs. Willis oder der Butler. Sie war ganz vernarrt in Romolas und Cyprians Kinder, die blonde, achtjährige Julia und ihren zwei Jahre älteren Bruder Arthur. Bei jeder Gelegenheit verwöhnte sie die beiden mit kleinen Leckerbissen aus der Küche, was häufig vorkam, da sie die Fertigstellung des Tabletts für das Kinderzimmer überwachte.

Das Stubenmädchen Dinah trug die Nase etwas höher, was mehr auf ihre Position als auf ihr Wesen zurückzuführen war. Stubenmädchen wurden nach dem äußeren Erscheinungsbild ausgesucht und waren dazu auserkoren, mit hoch erhobenem Haupt und wehenden Röcken durch die Empfangsräume zu rauschen, am Nachmittag die Haustür zu öffnen und die Karten der Gäste auf einem Silbertablett zur Herrschaft zu befördern. Hester fand Dinah im Grunde recht umgänglich. Sie sprach gern von ihrer Familie, erzählte immer wieder, wie gut ihre Eltern zu ihr gewesen waren, daß sie ihr jede Möglichkeit gegeben hatten, etwas aus ihrem Leben zu machen.

Sal, die Küchenmagd, meinte zwar, Dinah hätte noch nie einen Brief von zu Hause bekommen, aber niemand achtete auf sie. Dinah nahm die gesamte Freizeit, die ihr zustand, und fuhr einmal im Jahr in ihr Heimatdorf in Kent.

Die langjährige Wäschemagd Lizzie hingegen besaß einen übergeordneten Rang. Sie führte den Waschraum mit unbeugsamer Disziplin. Rose und die Frau, die sporadisch vorbeikam, um ihr beim Bügeln zu helfen, wurden niemals beim Ungehorsam ertappt, wie es um ihre Gefühle auch bestellt war.

Das alles war zwar eine unterhaltsame Studie zur Vielfalt menschlicher Charaktere, schien jedoch für die Suche nach Octavia Hasletts Mörder kaum von Bedeutung.

Natürlich wurde dieses Thema vom Personal nicht ausgeklammert. Man konnte keinen gewaltsam herbeigeführten Todesfall im Haus haben und von den Leuten erwarten, daß sie nicht darüber redeten, insbesondere wenn alle verdächtigt wurden - und einer von ihnen schuldig sein mußte.

Mrs. Boden allerdings weigerte sich, auch nur darüber nachzudenken, geschweige denn, es den anderen zu erlauben.

»Nicht in meiner Küche!« sagte sie rigoros, während sie ein halbes Dutzend Eier derart erbittert schaumig schlug, daß die Masse beinah aus der Schüssel flog. »Ich dulde hier keinen Tratsch. Ihr habt genug zu tun, müßt eure Zeit nicht mit albernem Geschwätz verplempern. Du bist mit den Kartoffeln fertig, wenn ich das hier erledigt hab, Sal, oder du kannst was erleben! May. May! Wie sieht der Fußboden aus? Bei mir gibt's keine dreckigen Fliesen.«

Phillips stelzte mit grimmiger Grandezza von einem Raum zum andern. Laut Mrs. Boden nahm der arme Mann es ziemlich schwer, daß sich in seinem Haushalt eine so schlimme Sache ereignet hatte. Da der Täter keiner der Familienangehörigen war, wozu niemand Stellung bezog -, müsse es einer der Bediensteten gewesen sein, jemand, den er eingestellt hatte.

Unter Mrs. Willis' eisigem Blick verstummte jede Spekulation. So etwas schickte sich nicht und war kompletter Blödsinn. Die Polizei war unfähig, sonst wüßte sie genau, daß es niemand aus dem Haus gewesen sein konnte. Derartige Mutmaßungen erschreckten nur die Jüngeren und waren verantwortungslos. Jeder, den sie etwas solchermaßen Dummes von sich geben hörte, würde auf der Stelle bestraft.

Das hielt natürlich niemand ab. Einen Höhepunkt erreichte der Klatsch zur Teestunde in der Gesindestube.

»Ich glaub, Mr. Thirsk hat's getan, als er gerade mal wieder voll war«, meinte Sal und warf den Kopf in den Nacken. »Ich weiß genau, daß er Portwein aus'm Keller klaut, da könnt ihr sagen, was ihr wollt!«

»So 'n Quatsch!« fuhr Lizzie ihr verächtlich über den Mund.

»Er benimmt sich immer wie 'n richtiger Gentleman. Und kannst du mir mal verraten, wieso er das hätte tun sollen?«

»Manchmal frag ich mich wirklich, wo du aufgewachsen bist.« Gladys warf einen raschen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, daß Mrs. Boden außer Hörweite war, dann lehnte sie sich über den Tisch. Neben ihrem Ellbogen stand eine Tasse Tee. »Hast du denn von gar nichts 'ne Ahnung?«

»Sie arbeitet schließlich im Keller«, zischelte Mary zurück.

»Die Leute im Keller kriegen immer nur halb soviel mit wie die in den oberen Etagen.«

»Na, dann pack mal aus«, forderte Rose sie auf. »Was glaubst du denn, wer's war?«

»Mrs. Sandeman, weil sie vor Eifersucht einen Wutanfall gekriegt hat!« kam es postwendend im Brustton der Überzeugung zurück. »Ihr solltet mal ein paar von ihren Klamotten sehen - und wißt ihr, wo Harold sie angeblich manchmal hinfährt?«

Alle hörten zu essen und zu trinken auf und warteten gespannt auf die Antwort.

»Und?« drängte Maggie.

»Dafür bist du noch zu jung.« Mary schüttelte energisch den Kopf.

»Ach, komm schon«, bettelte Maggie. »Erzähl's uns!«

»Sie weiß es ja selbst nicht«, sagte Sal grinsend. »Sie spielt sich bloß auf.«

»Tu ich nicht!« schimpfte Mary. »Er bringt sie in Viertel, wo keine anständige Frau 'nen Fuß reinsetzen würde. Runter nach Haymarket zum Beispiel.«

»Wie - um irgendeinen Verehrer zu treffen?« Die Vorstellung bereitete Gladys sichtliches Vergnügen. »Red weiter! Wirklich?«

»Fällt dir vielleicht 'n anderer Grund ein?« fragte Mary zurück.

In dem Moment löste sich Willie, der Stiefelputzer, vom Türrahmen, wo er Schmiere gestanden hatte.

»Also meiner Meinung nach war's Mr. Kellard!« verkündete er mit einem schnellen Blick über die Schulter. »Kann ich das Stück Kuchen da haben? Ich sterb vor Hunger.«

»Das sagst du nur, weil du ihn nicht ausstehen kannst.« Mary schob ihm den Kuchen hin, und er schlug sofort gierig die Zähne hinein.

»Schwein«, stellte Sal ohne echten Groll fest.

»Ich glaub, es war Mrs. Moidore«, ließ sich May, das Spülmädchen, plötzlich vernehmen.

»Wie kommst du denn darauf?« wollte Gladys wissen. Ihr Stolz war verletzt; Romola unterstand ihrer Obhut, und sie betrachtete die Unterstellung als persönliche Beleidigung.

»Ach, hör doch auf!« Auch Mary fand den Gedanken offenbar absurd. »Du hast Mrs. Moidore doch noch nie zu Gesicht gekriegt!«

»Hab ich wohl«, verteidigte sich May. »Sie kam damals runter in die Küche, als die kleine Miss Julia krank war! Ist wirklich 'ne tolle Mutter. Zu toll, um wahr zu sein, wahrscheinlich - mit so 'ner Pfirsichhaut und so 'nem hübschen Gesicht. Wetten, daß sie Mr. Cyprian bloß wegen seinem Geld geheiratet hat?«

»Der hat doch nix«, gab William mit vollem Mund zu bedenken. »Der pumpt die andern die ganze Zeit an, das sagt jedenfalls Percival.«

»Percival ist auch nicht allwissend«, wies Annie ihn zurecht.

»Nicht, daß das heißen soll, Mrs. Moidore war nicht dazu imstande gewesen. Trotzdem sieht's mir eher nach Mrs. Kellard aus. Schwestern können sich ganz schrecklich hassen.«

»Wieso?« fragte Maggie. »Wieso hätte Mrs. Kellard die arme Miss Octavia hassen sollen?«

»Na ja, Percival meint, Mrs. Kellard fand Miss Octavia ziemlich verdorben«, erklärte Annie. »Aber denk jetzt bloß nicht, daß mir Percivals Meinung was bedeutet. Der Kerl hat wirklich 'n böses Mundwerk.«

In dem Moment kam Mrs. Boden herein.

»Schluß mit dem Getratsche!« rief sie scharf. »Und sprich nicht mit vollem Mund, Annie Latimer. Tu lieber deine Arbeit. Sal - du hast die Karotten noch nicht geschabt, und der Kohl fürs Abendessen ist auch nicht fertig! Ihr habt keine Zeit, euch bei 'ner Tasse Tee den Mund fusselig zu reden.«

Die letzte Mutmaßung - Annies - erschien als einzige erwähnenswert, als Monk auftauchte, um das gesamte Personal inklusive der neuen Krankenschwester noch einmal zu befragen, obwohl man ihn darauf hinwies, daß diese zur Tatzeit nicht anwesend gewesen war.

»Vergessen Sie den Küchenklatsch. Was ist Ihre Meinung?« fragte er sie leise, damit ihn niemand hören konnte, der rein zufällig an der Tür zum Wohnzimmer der Haushälterin vorbeikam. Sie runzelte nachdenklich die Stirn und suchte nach den rechten Worten, um das eigenartig beklommene Gefühl zu erklären, das sie in der Bibliothek befallen hatte.

»Hester?«

»Ich weiß nicht genau. Mr. Kellard hatte Angst, soviel steht fest, aber ob das nun auf sein schlechtes Gewissen zurückzuführen ist, weil er sie umgebracht hat oder weil er ein paarmal versuchte, bei ihr zu landen, kann ich nicht sagen. Vielleicht hat es ihm auch nur einen großen Schrecken eingejagt zu sehen, welches Vergnügen seiner Frau der Gedanke bereitete, daß er eventuell ernsthaft beschuldigt, womöglich sogar angeklagt wird. Sie hat…« Hester zögerte wieder, da ihr das Wort zu melodramatisch erschien, fand jedoch kein besseres.

»Sie hat ihn regelrecht gequält. Ich habe natürlich keine Ahnung, wie sie reagieren würde, wenn man ihn tatsächlich anklagt. Vielleicht hat sie es nur wegen irgendwelcher Streitigkeiten getan und würde ihn gegen Fremde wie eine Löwin verteidigen.«

»Glauben Sie, sie hält ihn für schuldig?« Monk lehnte am Kaminsims, das Gesicht in nachdenkliche Falten gelegt.

Das hatte Hester sich seit dem Zwischenfall bereits selbst mehrfach gefragt. Diesmal brauchte sie nicht lang für die Antwort.

»Ich bin sicher, daß sie sich nicht vor ihm fürchtet, aber zwischen den beiden herrscht eine fühlbare, undefinierbare Spannung, von der etwas Bitteres ausgeht - außerdem ist er meiner Meinung nach derjenige, der Angst hat. Ich weiß allerdings nicht, ob das mit Octavias Tod zusammenhängt oder ob es daran liegt, daß sie die Macht hat, ihn zu verletzen.«

Sie atmete tief ein. »Es muß ausgesprochen schwierig sein, im Haus des Schwiegervaters zu leben, sich seiner Gerichtsbarkeit ausgeliefert zu sehen und ständig gezwungen zu sein, ihm alles recht zu machen, weil sonst unangenehme Konsequenzen auf einen zukommen. Und soweit ich das beurteilen kann, schwingt Sir Basil das Zepter mit eiserner Hand.« Sie saß seitlich auf der Sessellehne, eine Haltung, die Mrs. Willis die Zornesröte ins Gesicht getrieben hätte; zum einen war so etwas ausgesprochen undamenhaft, zum andern ruinierte es ihr kostbares Mobiliar.

»Von Mr. Thirsk oder Mrs. Sandeman habe ich bis jetzt noch nicht viel gesehen. Sie führt ein recht flottes Leben, und ich mag ihr vielleicht Unrecht tun, aber ich glaube, sie trinkt. Ich habe es im Krieg oft genug erlebt, um die Anzeichen zu erkennen, auch bei Leuten, bei denen man es für unvorstellbar hält. Gestern früh zum Beispiel hatte sie fürchterliche Kopfschmerzen, die der Art und Weise nach zu urteilen, wie sie sich davon erholte, auf kein gewöhnliches Kranksein zurückzuführen waren. Aber ich urteile vielleicht vorschnell. Ich begegnete ihr nur kurz auf der Galerie, als ich zu Lady Moidore ging.«

Monk lächelte schwach. »Und was halten Sie von Lady Moidore?«

Jeder Anflug von Humor verschwand aus Hester's Zügen.

»Sie hat große Angst. Sie weiß oder vermutet etwas, das so entsetzlich ist, daß sie ihm nicht ins Gesicht zu sehen wagt, kann es andererseits aber auch nicht aus ihren Gedanken verbannen …«

»Daß Myles Kellard Octavia ermordet hat?« Monk trat einen Schritt vor. »Hester, seien Sie vorsichtig!« Er legte ihr derart heftig eine Hand auf den Arm, daß der Druck seiner Finger beinah weh tat. »Halten Sie Augen und Ohren offen, wenn sich eine gute Gelegenheit bietet, aber stellen Sie keine Fragen! Haben Sie gehört?«

Sie wich vor ihm zurück, wobei sie die malträtierte Stelle sorgfältig massierte. »Natürlich habe ich Sie gehört! Sie haben mich um meine Hilfe gebeten, und die kriegen Sie jetzt. Ich habe nicht vor, Fragen zu stellen - man würde mir ohnehin keine Antwort geben, sondern mich wegen Neugier und Aufdringlichkeit vor die Tür setzen. Ich bin hier nicht mehr als ein Dienstbote.«

»Richtig, und wie steht's mit dem restlichen Personal?« Er rührte sich nicht vom Fleck, blieb dicht vor ihr stehen. »Hüten Sie sich vor den männlichen Hausangestellten, Hester, insbesondere vor den Lakaien. Es ist gut möglich, daß einer von ihnen Octavia betreffend erotische Wunschträume hegte. Er interpretierte ihr Verhalten falsch« - ein Achselzucken - »oder auch richtig, sie wurde der Affäre überdrüssig und…«

»Großer Gott! Sie sind keinen Deut besser als Myles Kellard!

Der ließ auch durchblicken, Octavia wäre eine Schlampe gewesen.«

»Es ist nur eine Möglichkeit!« zischte er scharf. »Schreien Sie nicht so. Hinter der Tür könnten Lauscher stehen, das wissen Sie. Kann man Ihre Schlafzimmertür abschließen?«

»Nein.«

»Dann schieben Sie einen Stuhl unter die Klinke.«

»Ich glaube kaum…« Doch dann fiel ihr ein, daß Octavia Haslett mitten in der Nacht in ihrem Bett erstochen worden war. Sie merkte, wie sie gegen ihren Willen zu zittern begann.

»Der Mörder lebt in diesem Haus!« wiederholte Monk und sah sie eindringlich an.

»Ja«, lenkte Hester ein. »Ich weiß. Wir alle wissen es - das ist ja das Schlimme.«