8

Monk hätte sich ebenfalls gewünscht, Merrit verteidigen zu können, ohne gleichzeitig dasselbe für Breeland tun zu müssen, aber er war zu sehr Realist, um sich einzubilden, dass das möglich sein könnte. Er hatte die beiden auf der langen Reise über den Atlantik beobachtet. Er wusste, Merrit würde das nie zulassen. Was immer sie über Breeland denken mochte oder wie groß ihr Grauen vor der Realität des Krieges auch sein mochte, ihr Charakter basierte auf Treue. Sich selbst auf seine Kosten zu retten, hätte bedeutet, alles zu leugnen, was sie schätzte. Es wäre einer Art Selbstmord gleichgekommen.

Es überraschte ihn auch nicht, dass Breeland sich immer noch mehr um die Wiederherstellung seines Namens und damit der Ehrenhaftigkeit der Sache, der er sich verschrieben hatte, sorgte, als um die Art, wie Merrit die Gefangenschaft und die Furcht und das Leiden ertrug. Bei dem Gedanken an Rathbones Abneigung lächelte er und stellte sich vor, welche Wertschätzung er für Merrit hegen musste, für ihre Jugend, ihren Enthusiasmus und ihre Verwundbarkeit. Während er über die Tottenham Court Road ging und nach einem Hansom Ausschau hielt, fragte er sich, welche Empfindungen Rathbone wohl Judith Alberton gegenüber gehabt haben mochte und ob ihm ihre bemerkenswerte Schönheit aufgefallen war.

Die Augustsonne war heiß, sie flimmerte über dem Straßenpflaster und blitzte in harten, glitzernden Lichtfunken auf Pferdegeschirren, polierten Kutschentüren und sogar in den Fenstern der Geschäfte.

Ein kleiner Schuhputzer nahm von einem Kunden mit Zylinderhut einen Penny in Empfang. Dann winkte er einem Mädchen, das Muffins verkaufte.

Monk winkte eine Kutsche heran und nannte dem Fahrer die Adresse der Polizeistation, wo er hoffte, Lanyon so früh am Morgen anzutreffen. Es war ganz natürlich, hier zu beginnen, auch wenn er jetzt das Gegenteil von dem zu beweisen versuchte, was am Anfang wie die Wahrheit ausgesehen hatte.

Er hatte Glück. Er traf Lanyon, als dieser gerade die Treppe herunterkam. Er war überrascht, Monk zu sehen, und blieb stehen, wobei sich in seinem Gesicht Neugier abzeichnete.

»Suchen Sie nach mir?«, fragte er fast hoffnungsvoll. Belustigt über sich selbst, grinste Monk. »Ich stehe jetzt im Dienst der Verteidigung«, sagte er unverblümt. Er schuldete Lanyon die Wahrheit und war nicht gewillt, ihn anzulügen oder Ausflüchte zu erfinden.

Lanyon ächzte, aber seine Augen drückten keine Kritik aus.

»Tun Sie es wegen des Geldes oder aus Überzeugung?«, fragte er.

»Wegen des Geldes«, erwiderte Monk. Lanyon grinste. »Ich glaube Ihnen nicht.«

»Aber Sie haben dennoch gefragt!«

Lanyon setzte sich mit langen federnden Schritten in Bewegung, und Monk passte sich seinem Tempo an. »Tut mir Leid wegen des Mädchens«, fuhr Lanyon fort. »Ich wünschte, ich könnte glauben, dass sie unschuldig ist, aber sie war dort auf dem Hof.« Er warf Monk einen kurzen Seitenblick zu. Auf seinem Gesicht lag der Schatten des Bedauerns, und er versuchte Monks Reaktion zu lesen.

Monk bemühte sich um ein ausdrucksloses Gesicht, was ihn Mühe kostete.

»Woher wissen Sie das?«

»Die Uhr, die Sie fanden… es war Breelands, natürlich, aber er hatte sie ihr als Andenken geschenkt.«

»Behauptet er das?«

Lanyon zog die Mundwinkel nach unten. »Glauben Sie etwa, ich würde sein Wort ernst nehmen? Nein, er erwähnte diesen Umstand nicht einmal, und ich machte mir auch nicht die Mühe, ihn danach zu befragen. Es tut eigentlich nichts zur Sache, was er sagt. Miss Dorothea Parfitt erzählte es uns. Sie ist eine Freundin von Miss Alberton, und offensichtlich zeigte Miss Alberton ihr die Uhr; sicher wollte sie auch etwas prahlen.« Er sah trübselig vor sich hin und überließ es Monk, sich die Szene selbst auszumalen und seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

Sie gingen an dem Karren eines Erdbeerverkäufers vorbei.

Monk erwiderte nichts. Seine Gedanken rasten. Er versuchte mehrere Vorstellungen von Merrit zu einem kongruenten Ganzen zusammenzufügen: Wie sie mit der Uhr prahlte, die Breeland ihr als Zeichen seiner Liebe geschenkt hatte; wie sie im Hof des Lagerhauses stand und Breeland beobachtete, der ihren Vater und die beiden Wächter in jene verkrampfte und erniedrigende Position zwang und sie anschließend kaltblütig erschoss; und wie er sie in Washington und auf dem Schiff erlebt hatte, jung und treu, verwirrt von Breelands Kälte, die er ihr gegenüber an den Tag legte, ein Mädchen, das im Geiste immer wieder Entschuldigungen für ihn ersann und sich selbst überredete, das Beste von ihm zu denken. Und dass dieses Mädchen nun im Gefängnis saß, allein und verängstigt, ihr eine Gerichtsverhandlung und vielleicht der Tod bevorstand und sie dennoch entschlossen war, diesen Mann nicht im Stich zu lassen, selbst wenn sie sich dadurch hätte retten können.

Vielleicht war sie eine der großen Liebenden dieser Welt, aber Breeland war sicherlich keiner. Er mochte einer der größten Idealisten dieser Welt sein oder einer ihrer Besessenen, weniger ein Mann, der eine Sache unterstützte, als ein Mann, der eine Sache brauchte, die ihn unterstützte, um seinem Charakter Substanz zu verleihen.

Lanyon wartete auf eine Antwort.

»Eine hässliche Tatsache«, gestand Monk. »Ich bin noch nicht bereit, ihr Bedeutung beizumessen.«

Lanyon zuckte die Achseln.

»Was ist eigentlich mit Shearer?«, fragte Monk, um das Thema zu wechseln. »Was sagt er zu dem Ganzen? Haben Sie den Jungen ausfindig gemacht, der Breeland die Nachricht in seine Wohnung brachte? Wer schickte sie?«

»Wissen wir noch nicht«, antwortete Lanyon. »Haben den Jungen noch nicht gefunden. Könnte einer von Tausenden sein, aber er hat sich nicht gemeldet. Überrascht mich auch nicht. Will nicht mit einem Mann in Verbindung gebracht werden, der einen dreifachen Mord beging, auch wenn er annimmt, dass wir ihn suchen. Höchstwahrscheinlich kann er nicht lesen. Auch wenn es ihm jemand sagt, wird er den Kopf einziehen.«

»Merrit sagte, Shearer hätte die Depesche geschickt.«

»Seit dem Tag vor Albertons Ermordung hat ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen«, erwiderte Lanyon und beobachtete Monks Reaktion.

Sie überquerten die Straße direkt hinter einem offenen Landauer, in dem lachende Damen saßen, deren weiße und blaue Musselinkleider in der leichten Brise flatterten.

An der Ecke stand ein Limonadenverkäufer, der ab und an lauthals seine Ware feilbot. Lanyon blieb stehen und kaufte einen Becher, wobei er Monk fragend ansah, der es ihm gleichtat. Sie tranken den Saft, ohne ihre Unterhaltung zu unterbrechen.

»Haben Sie nach ihm gesucht?«, fragte Monk im Weitergehen. Die Luft wurde bereits heiß, aber dies war nichts im Vergleich zu der drückenden Schwüle Washingtons, und London war, trotz seiner zigtausend Einwohner, seiner Armut und dem ganzen Schmutz, seiner Pracht, seiner Opulenz und seiner Heuchelei, im Zustand des Friedens.

»Natürlich haben wir das«, erwiderte Lanyon. »Kein Anzeichen von ihm.«

»Meinen Sie nicht, dass das einer Erklärung bedarf?« Lanyon grinste. »Nun, die erste, die mir in den Kopf schießt, ist, dass er ein Verbündeter von Breeland ist, aber den richtigen Instinkt besaß, vollkommen von der Bildfläche zu verschwinden, anstatt sich frei zu bewegen. Aber er musste auch nicht sechstausend Gewehre transportieren.«

»Vermutlich hatte er nur das Geld zu befördern«, sagte Monk trocken.

Während der nächsten Minuten schwieg Lanyon.

»Haben Sie sich um den Verbleib des Geldes gekümmert?«, fragte Monk.

»Natürlich«, antwortete Lanyon und trat auf die Querstraße hinaus, Monk neben sich. »In Casbolts und Albertons Büchern steht es klar und deutlich zu lesen. Er hatte die Anzahlung, die Trace ihnen bezahlte, verbucht. Von Breeland erhielten sie nie auch nur einen Penny.«

»Breeland behauptete, er hätte Shearer den vollen Betrag bezahlt, als ihm die Waffen am Bahnhof am Euston Square übergeben wurden.«

»Natürlich behauptet er das!« Lanyon ging um zwei ältere Gentlemen in dunklen Gehröcken und gestreiften Hosen herum, die in ein ernsthaftes Gespräch vertieft waren. »Und wenn er die Waffen tatsächlich rechtzeitig erhalten hatte, um sie auf den Nachtzug nach Liverpool zu verladen, was war es dann, das wir bis zu Bugsby’s Marshes den Fluss hinunter verfolgten?«

Monk dachte mehrere Minuten lang nach, während sie weitergingen.

»Vielleicht war Merrit seine Zeugin«, gab er schließlich zu bedenken, wobei sich die Idee noch in seinem Kopf zu formen begann, als er bereits sprach. »Vielleicht wurden die Waffen wirklich über Bugsby’s Marshes transportiert, und er erklärte Merrit einfach, sie würden über Liverpool transportiert werden, auf demselben Weg, den auch er nahm, damit Merrit diesen Umstand eventuell beeiden würde?«

»In der Annahme, dass Sie nach Amerika fahren würden, um ihn zu finden und zurückzubringen, um ihn hier vor Gericht zu stellen…«, beendete Lanyon Monks Satz. »Sie arbeiten hart für Ihr Geld, Monk, das muss ich schon sagen! Ich würde Sie jedenfalls sofort engagieren, wenn ich in Schwierigkeiten steckte.«

»Aber doch nicht in der Annahme, dass ich ihn zurückbringen wollte!«, schnappte Monk und spürte, wie sich sein Gesicht rötete. »Um Merrit zu täuschen, weil er nicht wollte, dass sie die Wahrheit erfuhr, denn das konnte er sich doch gar nicht leisten! Er mag sehr wohl glauben, dass alles, was er tut, dreifacher Mord eingeschlossen, durch seine Sache gerechtfertigt ist, aber er weiß verdammt gut, dass Merrit diese Auffassung nicht teilt. Noch dazu, wo eines der Opfer ihr eigener Vater ist.«

Lanyons Augen wurden groß. »Ich halte das für nicht ausgeschlossen. Sie meinen, Shearer und Breeland waren Komplizen, Breeland bekam die Waffen und Shearer das Geld? Der arme Alberton wurde umgebracht. Aber welchen Weg nahmen die Waffen?«

»Flussabwärts bis Bugsby’s Marshes und von dort aus über den Atlantik«, antwortete Monk, während sie eine geschäftige Straße überquerten. »Breeland reiste nach Liverpool und schiffte sich dort, separat von den Waffen, ein. Merrit nahm er mit sich. Vielleicht war das nicht seine ursprüngliche Absicht, und er musste seinen Plan wegen Merrits Besessenheit ändern. Aber wie es auch gewesen sein mag, am Tod ihres Vaters trägt sie keine Schuld.«

»Dann tötete also Shearer Alberton, um die Waffen zu stehlen und an Breeland zu verkaufen?«

»Warum nicht?« Monks Stimmung hellte sich auf.

»Passt das nicht zu all dem, was wir bereits wissen?«

»Abgesehen von Breelands Uhr auf dem Hof des Lagerhauses, ja.« Lanyon sah Monk von der Seite her an und trat auf einen Bordstein hinauf. »Wie erklären Sie sich das?«

»Das weiß ich nicht… noch nicht. Vielleicht verlor Merrit sie bereits bei einem früheren Besuch?«

»Weshalb?«, fragte Lanyon ungläubig. »Was hätte Merrit Alberton bei dem Lagerhaus in der Tooley Street zu schaffen gehabt? Scheint mir kaum ein Ort zu sein, an dem sich eine junge Dame während des normalen Verlaufs der sommerlichen Saison für gewöhnlich aufhalten würde.«

Noch während er widersprach, erkannte Monk, wie verzweifelt er nach einer Ausflucht für Merrit suchte.

»Vielleicht fuhren sie und Breeland am früheren Abend dorthin, um mit Shearer irgendwelche Abmachungen zu treffen?«

»Aber warum ausgerechnet dort?«

»Um die Ware zu begutachten. Breeland hätte doch nicht für Gewehre bezahlt, ohne zu wissen, welche Qualität er zu erwarten hatte.«

Lanyon blinzelte ihn an. »Sie meinen, er hatte also nicht das Vertrauen, dass Shearer ihm die richtigen Waffen verkaufen würde, obwohl dieser Albertons Unterhändler war, vertraute ihm aber andererseits genügend, um ihm die komplette Summe des Geldes auszuhändigen und sich nach Amerika einzuschiffen, in dem festen Glauben, die Gewehre würden ihm geliefert werden und nicht einbehalten oder gar jemand anderem verkauft werden?« Er schürzte die Lippen. »Was hielt Shearer davon ab, das Geld einzustecken und die Waffen noch einmal zu veräußern, oder sie einfach dort liegen zu lassen, wo sie waren? Von New York aus hätte Breeland wenig dagegen tun können!«

Eine andere Idee schoss Monk durch den Kopf.

»Vielleicht ist das der Grund, warum er Merrit mit sich nahm! Als eine Art Versicherung, nicht betrogen zu werden.«

»Das hätte für Alberton gelten können, aber warum sollte Shearer sich darum kümmern, was mit Merrit passierte? Er tötete Alberton trotzdem.«

Monk erinnerte sich an Breelands Gesicht, als er ihm von den Morden erzählte. »Ich glaube nicht, dass Breeland davon wusste. Er glaubte, Shearer handle aus Prinzip und würde so leidenschaftlich wie er selbst an den Kampf gegen die Sklaverei glauben.« Monk nahm Lanyons Ausdruck der Ungläubigkeit wahr.

»Sprechen Sie mit Breeland«, fügte er hastig hinzu. »Er ist ein Fanatiker. Seiner Meinung nach denken alle rechtschaffenen Menschen wie er.«

Lanyon verstand, was Monk andeuten wollte. »Ich nehme an, Sie könnten Recht haben«, sagte er vorsichtig.

»Also ist Shearer der Schurke, Breeland der Fanatiker, der sich zwar schuldig machte, indem er gestohlene Gewehre kaufte und Merrits Liebe für sich ausnützte, der aber nicht die Morde auf dem Gewissen hat. Und Merrit wäre nur insoweit schuldig, als sie sich von ihrem Herzen hat leiten lassen und ihren Verstand ignorierte? Ich nehme an, im Alter von sechzehn Jahren ist das fast zu erwarten.« Er zuckte die Achseln. »Und außerdem, würde eine Frau nicht alles tun, um ihrem Geliebten zur Seite zu stehen, wären wir nur allzu schnell bereit, an ihr Kritik zu üben.«

»Vermutlich«, stimmte Monk zu, obwohl er sich insgeheim fragte, wie viel blinde Bewunderung er vertragen könnte. Hätte er die Bewunderung mit derselben Missachtung ausgenützt wie Breeland? Vielleicht wurde etwas, was so freizügig gegeben wurde, häufig gering geschätzt. Aber die Tatsache, dass er selbst möglicherweise nicht besser gewesen wäre, milderte seine Abneigung gegen Breeland keineswegs; wenn überhaupt, steigerte sie sie nur noch.

»Werden Sie dem nachgehen?«, erkundigte sich Lanyon neugierig.

»Ich werde allem nachgehen«, erwiderte Monk. »Außer natürlich, ich stoße auf etwas derartig Überzeugendes, dass es überflüssig wird.« Er grinste Lanyon breit an, aber es war selbstironisch gemeint, und sie wussten es beide. Lanyon zuckte die Achseln. »Na dann, viel Glück.« Es klang, als ob er es ehrlich meinte.

Monk begann dort, wo alles seinen Anfang genommen hatte – im Lagerhaus, dann verfolgte er die Spur der Wagen. Lebhaft erinnerte er sich daran, wie er an jenem fahlen Sommermorgen in den umzäunten Hof getreten war und die toten Körper in ihren grotesken Stellungen gesehen hatte. Er erinnerte sich an Casbolts Gesicht im Morgenlicht, an den Geruch von Blut und die Spuren der Wagenräder auf dem Steinpflaster.

Auch Manassas und die grausame Realität des Krieges tauchten aus der Erinnerung auf. Es war der Geruch des Blutes, der sich in seinen Kopf eingebrannt hatte. Was waren drei Morde verglichen mit so vielen Toten? Sah Breeland die Morde etwa in diesem Licht? Sah er sie nicht als Morde, sondern als Teil des Krieges? Betrachtete er ein paar Tote als geringen Preis, um das Ende der Versklavung einer gesamten Rasse zu sichern?

Das könnte als Argument geltend gemacht werden, und Monk konnte es sogar verstehen.

Gewiss, Lyman Breeland ignorierte den Einzelnen und sah lediglich die vielen Tausende, die Zehntausende. Und irgendetwas an Breeland stieß Monk ab. Machte Breeland das zu einem schlechteren Menschen oder nur moralisch tapferer, machte ihn das zu einem größeren Visionär und gleichzeitig zu einem weniger gewöhnlichen, weniger beschränkten Menschen?

Monk stand in der Sonne in der Tooley Street und wog die Möglichkeiten gegeneinander ab. Die Wagen waren durch die Tore hinausgefahren und mussten entweder nach rechts oder nach links gefahren sein. Die Waffen waren zu schwer, um mit etwas anderem als mit von Pferden gezogenen Gefährten und mit Kähnen über den Fluss transportiert worden zu sein. Der Fluss war jedenfalls der nächstliegende Transportweg. Auf diesem Weg hatte Alberton normalerweise sämtliche schweren Güter transportiert, ebenso wie alle anderen Händler.

Aber Breeland war Amerikaner. Vielleicht wusste er das nicht? Könnte er die Straße zum Bahnhof am Euston Square gewählt haben? Seither war mehr als ein Monat vergangen. Es würde schwer sein, Zeugen zu finden, die sich an etwas erinnerten, geschweige denn gewillt waren, als Zeuge vor Gericht aufzutreten.

Könnte Breelands Geschichte wahr sein? Hier würde er beginnen müssen. Wagen, die mit sechstausend Gewehren beladen waren, mussten riesig sein, und sie mussten jemandem aufgefallen sein, als sie mitten in der Nacht über die Straßen rumpelten.

Aber die Sache mit der zeitlichen Abfolge war eine ganz andere Frage. Breeland hatte gesagt, die Depesche sei um Mitternacht überbracht worden. Zu dem Zeitpunkt war Alberton noch am Leben gewesen. Dem medizinischen Gutachten und der vernünftigen Schlussfolgerung zufolge, die sich aus dem Zeitraum ergab, den das Verladen der Waffen in Anspruch genommen haben musste, war er gegen drei Uhr morgens getötet worden. Die Wagen mussten unmittelbar danach abgefahren sein. Wie lange würden sie gebraucht haben, so schwer beladen, über die verkehrsarmen Straßen der Nacht?

Er begann eilig zu marschieren, hielt dann eine Droschke an und dirigierte sie auf dem kürzesten Weg über die Brücke zum Euston Square, wobei seine Gedanken rasten. Selbst im Trab, den die schwer ziehenden Pferde nicht hätten durchhalten können, hätte er es nicht in weniger als einer halben oder einer Dreiviertelstunde schaffen können.

Er bezahlte den Kutscher und betrat den Bahnhof. Er bat, den Bahnhofsmeister sprechen zu dürfen, und berief sich auf Lanyon, als ob er ein Recht darauf hätte.

»Es geht um illegalen Waffentransport«, begann er grimmig.

»Und um dreifachen Mord. Meine Informationen müssen exakt sein. Menschenleben hängen davon ab und vielleicht sogar der ehrenhafte Ruf Englands.«

Der Angestellte reagierte bereitwillig. Die Entscheidung, wie mit dieser Angelegenheit zu verfahren sei, überließ er gerne einem anderen. »Ich hole Mr. Pickering, Sir!«

Der Bahnhofsmeister ließ ihn nur fünfzehn Minuten warten. Er war ein angenehmer Mann mit einem dichten grauen Schnurrbart und schmucken Koteletten. Er führte Monk in sein Büro.

»Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein, Sir?«, fragte er sanft, wobei er Monk allerdings von Kopf bis Fuß musterte und seine Wichtigkeit einschätzte, um sich ein Urteil vorzubehalten. Er hatte bereits die wildesten Behauptungen zu hören bekommen und ließ sich nicht mehr so leicht beeindrucken.

Monk seinerseits war nicht bereit, klein beizugeben, doch er entschloss sich, seine Fragen vorsichtig zu formulieren.

»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfsbereitschaft, Mr. Pickering. Wie Ihnen zweifellos bekannt ist, wurde am achtundzwanzigsten Juni in der Tooley Street ein dreifacher Mord begangen, und es wurde eine große Lieferung britischer Waffen gestohlen und anschließend nach Amerika transportiert.«

»Ganz London ist das bekannt«, erwiderte Pickering.

»Ein äußerst geschäftstüchtiger Ermittler spürte den Mörder auf und brachte ihn nach England zurück, damit er vor Gericht gebracht werden kann.«

Monk spürte einen scharfen Stich der Befriedigung – Stolz wollte er es nicht nennen.

»In der Tat. William Monk«, stellte er sich nun vor und erlaubte sich ein schwaches Lächeln. »Nun muss ich sicherstellen, dass der Mann bei der Verhandlung der Gerechtigkeit nicht entwischt. Er behauptet, die Waffen ganz legal erworben und den vollen Preis dafür bezahlt zu haben, sie sodann über diesen Bahnhof nach Liverpool geschafft zu haben, und zwar noch in derselben Nacht, in der die Morde verübt worden waren. Fuhr in jener Nacht überhaupt ein Zug nach Liverpool?«

»Vor sechs Uhr morgens fährt überhaupt kein Zug, Sir.« Pickering schüttelte den Kopf. »Auf dieser Strecke lassen wir keine Nachtzüge fahren.«

Monk war sprachlos. Plötzlich war ihm auch noch die einzige Sache, deren er sich sicher gewesen war, durch die Finger geschlüpft.

»Überhaupt keiner?«, hakte er nach.

»Nun, gelegentlich gibt es einen Sonderzug.« Pickering schluckte schwer, aber sein Blick blieb auf Monk gerichtet. »Privatnutzung. So etwas lässt man sich selten entgehen.«

»Gab es in jener Nacht einen Sonderzug? Es war Freitag, der achtundzwanzigste Juni. Eigentlich müssten es die frühen Stunden des Samstagmorgen gewesen sein.«

»Ich kann ja mal nachsehen«, bot Pickering an und drehte sich zu einem Bündel von Papieren um, das auf einem Regal hinter seinem Schreibtisch lag.

Monk wartete ungeduldig. Die Sekunden wurden zu einer Minute, dann zu zwei.

»Hier ist es«, sagte Pickering schließlich. »Ja, Donnerwetter, da war tatsächlich ein Sonderzug in jener Nacht, er fuhr auch bis Liverpool. Es war ein Güterzug mit einem Passagierwaggon, in dem allerdings nur wenige Reisende saßen. Hier, sehen Sie selbst.« Er hielt Monk das Bündel Papier unter die Augen.

Monk riss es ihm aus der Hand. Der Zug war um fünf Minuten vor zwei Uhr nachts abgefahren.

»Sind Sie sicher, dass er pünktlich abfuhr?«, fragte er und hörte die Schärfe in seiner Stimme.

»Ja, Sir«, versicherte Pickering. »Dieses Blatt wird erst nach der Abfahrt ausgefüllt. Eigentlich hätte er bereits fünf Minuten früher abfahren sollen. Aber auf dem Blatt steht der Zeitpunkt der tatsächlichen Abfahrt.«

»Verstehe. Vielen Dank.«

»Hilft Ihnen das etwas?«

»Oh, ja. Die Morde konnten nicht vor ungefähr drei Uhr verübt worden sein.«

Pickering wirkte erleichtert und verwirrt zugleich.

»Verstehe«, sagte er, obgleich er dies ganz offensichtlich nicht tat.

»Wissen Sie, ob der Zug mit Waffenkisten beladen war?«, fragte Monk, obwohl er keine Antwort erwartete, die von irgendeinem Wert sein würde.

»Waffen? Nein Sir, nur Maschinen, Bauholz und ich glaube eine Lieferung von Sanitäreinrichtungen.«

»Warum wird für derlei Güter ein Sonderzug eingerichtet?«

»Sanitärgegenstände sind zerbrechlich, Sir, nehme ich an.«

»Wer mietete den Zug?«

»Das steht am unteren Rand des Blattes, Sir.« Pickering deutete auf das Papier in Monks Händen. »Messrs. Butterby and Scott, of Camberwell.« Neugierig beobachtete er Monk. »Dachten Sie, der Amerikaner hätte die Waffen mit unserem Zug nach Liverpool transportiert? In den Zeitungen stand, er wäre den Fluss hinunter bis zu Bugsby’s Marshes gefahren und von dort aus über den Atlantik. Scheint mir auch das Vernünftigste zu sein. Wenn ich eben erst drei Männer ermordet und Tausende von Gewehren gestohlen hätte, würde ich so schnell wie möglich aus dem Land fliehen, um der Polizei zu entkommen. Ich würde mich nicht einmal länger als unbedingt nötig auf dem Fluss aufhalten. Ich würde ihn hinabfahren, so schnell die Flut mich trägt, und zwar während es noch so dunkel ist, wie es um diese Jahreszeit nur werden kann.«

»Das würde ich auch«, stimmte Monk zu. »Ich würde hoffen, den Anker gelichtet zu haben und mich auf hoher See zu befinden, bevor sie herausgefunden haben, welchen Weg ich genommen habe.«

Pickering schien vor einem Rätsel zu stehen.

»Aber wenn ich die Waffen nicht gestohlen hätte«, erklärte Monk, »wenn ich sie legal erworben und nichts von den Morden gewusst hätte, würde ich über Liverpool fahren. Es wäre eine beträchtliche Zeitersparnis, einige Tage, wenn man nicht erst um die ganze Südküste Englands herumfahren müsste, bevor man den Atlantik erreicht.«

Pickerings stoppelige Augenbrauen schossen in die Höhe.

»Glauben Sie etwa, er war es gar nicht? Wer war es dann?«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, gestand Monk.

»Außer dass derjenige, der die Männer in der Tooley Street ums Leben brachte, nicht mit einem Ihrer Züge in Richtung Norden gefahren sein kann.«

»Das kann ich beschwören«, versicherte ihm Pickering.

»Und das werde ich auch, wenn ich als Zeuge geladen werde. Fassen Sie diesen Teufel, Mr. Monk. So kann man doch nicht mit Menschen umgehen! Wofür auch immer man kämpft!«

Monk stimmte ihm zu, dankte ihm und verabschiedete sich.

Den Rest des Tages sowie den ganzen nächsten Tag verbrachte er damit, seine Schritte von der Tooley Street den Fluss hinunter bis zu Bugsby’s Marshes zurückzuverfolgen. Wieder sprach er mit jedem, der den Lastkahn gesehen hatte, den er und Lanyon schon vor ein paar Wochen ausfindig gemacht hatten, und zudem fragte er noch viele weitere Leute, die etwas bemerkt haben könnten. Wieder bekam er genau dasselbe zu hören: Es war ein schwer im Wasser liegender Prahm gewesen, der hoch mit Kisten beladen war, deren Größe gepasst hätte, um Musketen zu enthalten. Der Prahm hatte sich schwerfällig in Bewegung gesetzt, bis er in der Mitte der Strömung mehr Geschwindigkeit aufnahm. Zwei Männer, einer davon groß und hager mit einem weichen, ausländischen Akzent – sie vermuteten, er sei amerikanisch gewesen. Mit dem betont gesprochenen R und den verschluckten Konsonanten sei es sicherlich keine europäische Sprache gewesen. Er schien das Kommando geführt zu haben und erteilte die Befehle.

Alles war sehr diskret abgelaufen, fast verstohlen, niemand sonst war angeheuert worden, und man hatte die gewohnte Kameradschaft, die unter den Flussschiffern herrschte, ignoriert.

Wieder verlor Monk die Spur bei Bugsby’s Marshes. Mehrere Male versuchte er, jemanden zu finden, der den Prahm hinter Greenwich noch zu Gesicht bekommen hatte oder der ein seegängiges Schiff in den Hafen ein oder auslaufen oder irgendwo vertäut gesehen hatte, aber er hatte kein Glück.

Ein Fährmann zuckte die Achseln, stützte sich auf seine Ruder und kniff die Augen gegen die grelle Sonne zusammen.

»Gar nicht so eigenartig«, sagte er und nagte auf seiner Lippe.

»Hinter der Kurve bei Bugsby’s Marshes versteckt, wer würde dort nachsehen? Kann die ganze Nacht dort liegen und würde wahrscheinlich nicht entdeckt werden, wenn er nur nahe genug am Ufer liegt. Das wär’s, was ich täte, wenn ich ein Geschäft zu erledigen hätte, das unter der Hand ablaufen soll. Mit der ersten Flut wäre ich fort. Wäre noch vor dem Frühstück draußen auf dem Meer.«

Monk dankte ihm und war bereits im Begriff, umzudrehen und zur Artichoke Tavern zurückzukehren, als der Mann ihm nachrief.

»He! Wollen Sie wissen, was mit dem Kahn passiert ist?«

Monk fuhr herum. »Wissen Sie es etwa?«

»Natürlich nicht, sonst hätt ich’s Ihnen ja gesagt. Aber Sie haben gesagt, Sie hätten ihn bis hierher verfolgt, und sogar ein Blinder kann sehen, dass Sie denken, er hätte was Wertvolles geladen gehabt, was Gestohlenes.«

Monk wurde ungeduldig.

»Haben Sie sich nicht erkundigt, was aus dem Prahm geworden ist?«, fragte der Fährmann kopfschüttelnd.

»Erkundigt…« Dann traf es Monk fast wie ein körperlicher Schlag. Er hatte die Spur des Kahns bis zu Bugsby’s Marshes verfolgt, aber er hatte sich auf Breeland und die Waffen konzentriert. Er hatte nicht daran gedacht, dass der Prahm den Fluss wieder hinaufgefahren sein könnte, bis zu einer bestimmten Stelle, wo immer die auch sein mochte!

Das könnte ihm den Beweis für Shearers Komplizenschaft liefern, und wenn es ihm auch nicht gelingen würde, dadurch den momentanen Aufenthaltsort von Shearer festzustellen, so doch, wohin er nach den Morden gegangen war. Monk hätte sich selbst ohrfeigen können, dass er nicht sofort daran gedacht hatte. Auch Lanyon schien nicht auf diese Idee gekommen zu sein. Sie waren beide so überzeugt davon gewesen, dass das Wichtigste sei, Breeland zu fassen, dass ihnen das Boot unwichtig gewesen war.

Aber nun war es wichtig geworden.

»Ja«, sagte er zerknirscht. Es ärgerte ihn, sich das Naheliegende von einem Fährmann sagen lassen zu müssen, dessen Aufgabe es war, Kähne zu rudern und etwas von den Gezeiten zu verstehen. »Ja, ich werde den Weg des Prahms flussaufwärts verfolgen. Vielen Dank.«

Der Fährmann grinste, schob sich die Kappe auf den Hinterkopf, griff wieder nach den Rudern und entfernte sich.

Doch obwohl Monk den restlichen Abend bis zur Dämmerung und den ganzen folgenden Tag damit verbrachte, die Spur des Kahns flussaufwärts zu verfolgen, fand er ihn nicht. Auch die Flusspolizei wusste nichts von einem fehlenden oder gestohlenen Prahm.

»So was passiert schon mal«, erklärte ihm ein zahnlückiger Sergeant, der auf einem Pier in der Sonne stand, an dessen Pfählen die Flut leckte. »Vielleicht ist er jemandem gestohlen worden, der ihn selbst geklaut hat. Vielleicht ist er ja auch zurückgebracht worden, bevor jemand gemerkt hat, dass er abhanden gekommen war?«

»Vielleicht gehörte er ja auch dem, der ihn benutzte«, fügte Monk hinzu. »Die Leute wurden möglicherweise für ihr Schweigen gut bezahlt.«

»Könnte sein«, stimmte der Sergeant missmutig zu. »Ich glaube, das werden Sie nie herausfinden. Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, wo Sie anfangen sollen. Es gibt Hunderte von Lagerhäusern und Docks den Fluss entlang, und Massen von Männern würden jedem einen Gefallen tun und den Mund halten, wenn Sie sie nur gut bezahlten.«

Monk ließ den Blick über das geschäftige Treiben auf dem Fluss schweifen. Die Schleppkähne waren mit Gütern aus aller Welt beladen, trugen alles von Holz, Kohle und Maschinen bis zu Seidenstoffen, Gewürzen und exotischen Pelzen mit sich, vielleicht auch Baumwolle der konföderierten Staaten, mit der man die Mühlen in Manchester und im Norden füttern würde, und Tabak für die Zigarren der Gentlemen in Mayfair und Whitehall.

Ein Vergnügungsboot fuhr vorbei, an Deck standen dicht gedrängt Menschen, die zum Schutz gegen die Sonne Strohhüte trugen und mit bunten Schals und Taschentüchern winkten. Von irgendwoher ertönten die Klänge einer Drehleier. Die Luft roch nach Salz und Fisch und einem Hauch von Teer.

»Kennen Sie einen Unterhändler namens Shearer?«, fragte Monk.

Der Sergeant dachte einige Augenblicke lang nach.

»Großer Kerl, dürr, lange Nase und eine Menge Zähne?«, fragte er. »Der vornübergebeugt geht?«

»Ich weiß eigentlich nicht, wie er aussieht. Ich kenne ihn nicht.«

Er hatte Judith Alberton nicht um eine Beschreibung des Mannes gebeten. »Er arbeitete in der Tooley Street für Daniel Alberton.«

»Das muss er sein. Gerissener Bursche. Der ist schnell dabei, wenn er sich einen Vorteil verspricht.«

»Kennen Sie ihn von Berufs wegen?«

»Sie meinen, ob er kriminell ist? Nein. Dazu ist der zu gewieft, außerdem hat der’s nicht nötig, soweit ich das beurteilen kann. Hab den Fluss auf und ab nur immer mal wieder von ihm gehört.«

»Wissen Sie sonst noch etwas über ihn?«, drang Monk in ihn.

»Wissen Sie vielleicht, woher er stammt? Und ob er irgendwelche politischen Ziele verfolgt?«

»Politische Ziele?« Der Sergeant wirkte erschrocken.

»Welche, zum Beispiel? Anarchistische oder so was? Hab nie gehört, dass er gefährlich ist, außer wenn man ihn geldmäßig über’s Ohr zu hauen versucht. Dann wird er wohl ziemlich lästig, aber das werden schließlich viele Leute.«

»Ich dachte eher, ob er Sympathien für eine der Seiten im amerikanischen Bürgerkrieg hegt.« Monk wusste, noch während er sprach, dass er lächerlich wirkte, wie er hier Seite an Seite mit dem Flusssergeant stand, den hin und her fahrenden Welthandeisverkehr und die Schleppkähne beobachtete, die sich gegenseitig zu den Docks trieben. Hier ging es nur um Handel, Fracht und Profit. Es ging um Gezeiten, das Wetter, Ladekapazitäten, wer kaufte und wer zu welchem Preis verkaufte. Washington und der Bull Run gehörten zu einem anderen Leben.

»Kann ich mir nicht vorstellen.« Der Sergeant zuckte die Achsein. »Kann mir nicht denken, dass er überhaupt wusste, dass dort ein Krieg herrscht, außer sie kauften etwas für jemanden und wollten es transportieren lassen. Nehme an, es geht um die Waffen, was? Könnte mir vorstellen, dass ein Mann wie Shearer sich nicht darum schert, wohin sie geliefert wurden, solange jemand dafür bezahlt hat.«

Das passte genau zu Monks Theorie, dass Breeland Shearer den Preis für die Waffen ausbezahlte und Shearer derjenige gewesen sein könnte, der Alberton tötete und dann die Gewehre den Fluss hinunterbeförderte, während Breeland mit Merrit mit dem Zug nach Liverpool reiste. Die einzige Frage, die sich dann noch stellte, wäre, warum Breeland zu Shearer so rasch Vertrauen fasste? Und offensichtlich tat er gut daran, denn die Flinten waren in Washington angekommen.

Doch Monk konnte es noch nicht glauben, nicht, bevor er irgendeinen überzeugenden Grund gefunden haben würde, warum Breeland Shearer vertraut hatte. Er vermutete, dass ein derartiger Grund vorhanden sein musste.

Oder war noch eine weitere Person involviert? Unwahrscheinlich, außer es wäre Alberton selbst gewesen, der irgendeine Rolle dabei gespielt hatte und dann von Shearer betrogen worden war. Breeland hatte behauptet, die Depesche, die ihm geschickt worden war, wäre von Shearer gekommen, aber das konnte er nicht genau wissen. Schließlich konnte jeder x-Beliebige mit Shearers Namen unterzeichnen.

Eine Sache war jedoch absolut gewiss: Monk war immer noch weit von der Wahrheit entfernt.

Er machte sich auf den Weg zurück zur Tooley Street und dem Lagerhaus. Dort ging es jetzt geschäftig zu. Lagerung und Anlieferung, Kauf und Verkauf gingen trotz Albertons Tod weiter. Vielleicht florierten die Geschäfte nicht so, wie sie es vorher getan hatten, aber Albertons Ruf war exzellent gewesen, und Casbolt war schließlich noch am Leben, obwohl sein Anteil am Geschäft offenbar mehr mit dem Einkauf zu tun gehabt hatte.

Monk trat durch die offenen Tore ein. Im Zentrum des Hofes stand ein vierrädriger Lastwagen, Pferde scharrten ruhelos auf den Pflastersteinen, Fliegen surrten umher, und in der Luft lag der schwere Geruch von Pferdemist, Holzspänen, Öl, Schweiß und Teer. Zwei Männer waren gemeinsam damit beschäftigt, von der Winsch eine hölzerne Kiste auf die Ladefläche des Wagens herabzulassen. Als er sich ihnen näherte, waren sie fertig. Einer von ihnen befestigte die Kiste mit Seilen, damit sie nicht verrutschen konnte, der andere ging, um die Hoftore zu schließen.

»Na, was wollen Sie denn?«, sagte der Mann am Wagen hinlänglich höflich zu Monk. Er war ein stämmiger breitschultriger Mann mit sanftmütigem und aufrichtigem Gesicht.

»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«

»Das hoffe ich. Ich suche Mr. Shearer. Ich denke, er arbeitete für gewöhnlich mit Mr. Alberton zusammen«, erwiderte Monk.

»Ja, das war so«, antwortete der Mann und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar. »Der arme Mr. Alberton ist tot, ermordet. Nehme an, Sie wissen das. Ganz London weiß das. Aber Shearer hab ich schon wochenlang nicht mehr gesehen. Tatsächlich, seit der arme Mr. Alberton umgelegt wurde, das ist wahr.«

Er wandte sich an den Mann, der vom Schließen der Tore zurückgeschlendert kam. »He, Sandy, der Mann hier sucht nach Shearer. Hast du ihn kürzlich gesehen? Ich nämlich nicht.«

Sandy schüttelte den Kopf. »Hab ihn nicht mehr gesehen seit… hm, weiß nicht. Muss Wochen her sein. Vielleicht seit dem Tag, bevor der arme Mr. Alberton um die Ecke gebracht worden ist.« In seinem Gesicht spiegelte sich Traurigkeit und unverhohlener Zorn. Monk war überrascht, wie sehr ihn das freute. Er hatte Alberton gemocht. Er hatte sich in der letzten Zeit nicht erlaubt, daran zu denken, hatte den Gedanken unterdrückt, um sich konzentriert der Frage zu widmen, wer für Albertons Tod verantwortlich war, und exakt zu beweisen, wie sich die Tragödie abgespielt hatte.

»Was war er für ein Mann?«, fragte er. Dann schoss ihm durch den Kopf, dass er sich nicht vorgestellt hatte. »Mein Name ist Monk. Mrs. Alberton hat mich engagiert, um in Bezug auf Mr. Albertons Tod zu ermittein. Sie ist der Meinung, dass es darüber noch vieles mehr in Erfahrung zu bringen gibt als das, was wir bereits wissen. Es mag auch sein, dass noch andere Leute dabei eine Rolle spielten.« Im buchstäblichen Sinne traf dies zu, nicht jedoch, was die Implikationen betraf. Er wollte ihnen nicht mitteilen, dass es darum ging, Merrit von der Anklage des Mordes zu befreien. Es war gut möglich, dass diese Männer sie für schuldig hielten. Wenn das, was in den Zeitungen zu lesen war, zutraf, was höchst strittig war, dann hegte die allgemeine Öffentlichkeit wenig Zweifel an ihrer Schuld.

»Hey! Bert! Komm mal her!« Sandy rief einen dritten Mann herbei, der an der Tür zum Lagerhaus erschienen war. »Komm her und hilf diesem Herrn da! Er arbeitet für Mrs. Alberton.«

Das genügte, um Bert dazu zu bringen, zu ihnen herüberzukommen. Ob sie Judith nun persönlich kannten oder nicht, die Erwähnung ihres Namens garantierte vollkommene Kooperationsbereitschaft.

»Was hältst’n du von Shearer?«, rief Sandy ihm zu.

»Kannst du den für jemanden beschreiben, der ihn nie zuvor gesehen hat und nichts über den Kerl weiß?«

Bert überlegte gewissenhaft, bevor er antwortete.

»Gerissen«, sagte er schließlich. »Gerissen wie ’ne Ratte.«

»Immer ’n Auge auf seine größte Chance«, fügte der erste Mann hinzu und nickte verstehend.

»Ehrgeizig?«, fragte Monk. Alle drei nickten.

»Geldgierig?«, wagte Monk sich noch einen Schritt weiter vor.

»Sieht jedenfalls zu, dass er zu seinem Anteil kommt«, stimmte Bert zu. »Kann aber nicht sagen, dass ich je mitgekriegt habe, dass er betrogen hat, das muss ich fairerweise sagen.«

»Der hätte nicht betrogen, wenn er womöglich dabei ertappt worden wäre«, fügte Sandy hinzu. »Bei derlei Machenschaften bist du schneller im Knast, als du denkst. Noch schneller aber schwimmst du mit dem Gesicht nach unten im Fluss. Aber ich hab auch nie mitgekriegt, dass er irgendwelche Betrügereien begangen hätte. Hab in der Richtung auch nie was gehört.«

»Also war er ehrgeizig und geldgierig, aber Ihres Wissens nach nicht unehrlich«, fasste Monk zusammen.

»Genau, Mister. Wir hatten weitere fünfhundert Flinten gelagert, die sind auch weg. Wir denken, wer die anderen geklaut hat, hat auch noch die fünfhundert eingesteckt. Glauben Sie, Shearer hat was mit dem Abmurksen von unserem Chef zu tun?«, fragte der erste Mann und sah Monk aus zusammengekniffenen Augen an. »Die Zeitungen behaupten ja, es wäre der Yankee gewesen.«

»Ich bin nicht sicher«, erwiderte Monk aufrichtig.

»Breeland bekam die Waffen, darüber besteht kein Zweifel, aber ich bin nicht sicher, ob er tatsächlich Mr. Alberton ermordete.«

»Und wie hätte er sie sich dann beschafft?«, argumentierte Sandy »Und wenn es nicht wegen der Waffen gewesen wäre, warum hätte ihm dann jemand das angetan? Das kann man ja wohl nicht mal als anständige Art und Weise betrachten, jemanden umzubringen. Das ist …« Vergeblich suchte er nach dem entsprechenden Wort.

»Barbarisch«, assisitierte Monk.

»Genau… das ist es.« Bert nickte heftig.

»Glauben Sie also, dass Shearer was damit zu tun hat?«, insistierte Sandy. »Und dann ist er verduftet, was? Weil ihn nämlich seither niemand mehr in der Gegend gesehen hat.«

»Würde das zu dem passen, was Sie von ihm wissen?«, fragte Monk.

Sie sahen sich gegenseitig an, dann blickten sie wieder auf Monk. »Tja, ziemlich«, nickte Sandy. »Was meint ihr?«

»Klar. Wenn die Kasse stimmt«, fügte Bert hinzu. »Die muss schon stimmen, für umsonst hätt er’s nicht getan. Hat den Chef ganz gern gemocht, auf seine Art. Muss wohl ’ne Menge Kohle gewesen sein.« Er biss sich auf die Lippe. »Trotzdem, wenn man sich ansieht, wie er um die Ecke gebracht wurde. Kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass Shearer so was getan hätte. Muss wohl doch der Yankee gewesen sein.«

»Aber was ist mit dem Geld für sechstausend erstklassige Musketen mit gezogenem Lauf?«, beharrte Monk.

»Tja – weiß nicht. Das ist wohl in jedermanns Augen eine Menge Geld«, gab Sandy zu.

»Könnte er mit dem Anliegen der Union sympathisiert haben?«, versuchte Monk es noch mit einer letzten Frage zu dem Thema.

Alle drei sahen ihn verwirrt an.

»Den Anhängern der Union geht es um die Abschaffung der Sklaverei«, erläuterte Monk, »und sie kämpfen darum, alle Staaten Amerikas zu einem Land zu vereinen.«

»In England gibt es keine Sklaven«, erklärte Sandy.

»Wenigstens keine Schwarzen«, fügte er verschmitzt hinzu. »Manche meinen zwar, es ginge ihnen schlecht, aber was sollen wir uns um die Staaten in Amerika scheren? Ich sage, die sollen doch tun, was sie wollen.«

Bert schüttelte den Kopf. »Ich bin gegen Sklaverei. Die ist nicht richtig.«

»Ich auch«, nickte der erste Mann. »Ich weiß zwar nicht, ob Shearer sich darum kümmerte, aber sicher nicht so sehr, dass er dafür jemanden umgebracht hätte.«

»Wissen Sie, wo Shearer wohnt?«, fragte Monk die Männer.

»In der New Church Street, gleich an der Bermondsey Low Road«, erwiderte Bert. »Die Nummer weiß ich zwar nicht, aber sie endet mit einer Drei, wenn ich mich recht erinnere. Ungefähr auf halber Höhe.«

»War er verheiratet?«

»Shearer? Glaub ich nicht.«

Monk dankte den Männern und verließ den Hof, um sein Glück in der New Church Street zu versuchen.

Er brauchte fast eine halbe Stunde, um herauszufinden, wo Shearer gewohnt hatte. Dort fand er eine erzürnte Vermieterin, die drei Wochen auf die Miete gewartet hatte.

»Hat fast neun Jahre hier gewohnt, der Kerl«, rief sie kämpferisch. »Dann macht er sich weiß Gott wohin aus dem Staub, und das alles, ohne ein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen oder sich zu verabschieden. Sagt nichts, zu niemandem und lässt seinen ganzen Kram hier, damit ich ihn forträumen kann! Hab schon drei Wochen Miete verloren, ja, das hab ich!« Sie starrte Monk an.

»Sind Sie denn ein Freund von ihm?«

»Nein.« Hastig griff Monk nach einer Lüge. »Er schuldet auch mir Geld.«

Sie lachte schrill. »Na, hier haben Sie jedenfalls keine Chance, weil ich nichts habe, und das bisschen, das ich bekomme, wenn ich seine Kleider an den Lumpensammler verkaufe, teile ich mit niemandem, das sage ich Ihnen gleich.«

»Glauben Sie denn, dass ihm etwas zugestoßen ist?« Ihre dünnen Augenbrauen schossen in die Höhe.

»Dem? Unwahrscheinlich! Den legt keiner so schnell aufs Kreuz! Hat was Besseres gefunden, denk ich. Oder die Bullen sind hinter ihm her.« Sie betrachtete Monk von oben bis unten.

»Sind sie etwa einer, ein Bulle, meine ich?«

»Ich sagte Ihnen doch, er schuldet mir Geld.«

»Tatsächlich? Na, ich hab noch nie einen Bullen erlebt, der sich an die Wahrheit gehalten hat. Aber wenn er Ihnen Geld schuldet, schätze ich, kriegt er Schwierigkeiten, wenn Sie ihn finden. Den Eindruck machen Sie mir jedenfalls.«

Monk erinnerte sich plötzlich, dass irgendjemand ihm gegenüber schon einmal diese Worte gebraucht hatte. Solche Erinnerungsblitze an die Zeit vor seinem Unfall wurden immer seltener, und er versuchte auch nicht mehr, sie aktiv heraufzubeschwören oder sie festzuhalten. Was die Frau gesagt hatte, entsprach vielleicht der Wahrheit. Er selbst konnte schlecht verzeihen, und wenn ihn jemand betrogen hätte, hätte er den Missetäter bis ans Ende der Welt verfolgt und Rache genommen. Aber das war vor langer Zeit. Dann war seine Kutsche umgestürzt und hatte ihn seiner gesamten Vergangenheit beraubt. Das war im Sommer 1856 gewesen. In den fünf Jahren, die seither vergangen waren, hatte er sich ein neues Leben aufgebaut und sich eine neue Garnitur von Erinnerungen und Charaktereigenschaften zugelegt.

Er dankte der Frau und verabschiedete sich. Hier konnte er nichts mehr in Erfahrung bringen. Shearer war verschwunden. Wichtig war jetzt, herauszufinden, wohin er gegangen war und warum. Morgen würde er mit Dockarbeitern und Kahnführern sprechen, die ihn möglicherweise gekannt hatten. Vielleicht würde er ja sogar den Kahn ausfindig machen, der die Musketen flussabwärts gebracht hatte. Dann würde er zu den Reedereien gehen, mit denen Shearer eventuell verhandelt hatte, um Albertons Waffen zu exportieren, oder womit er sonst noch gehandelt hatte. An dem Abend erzählte er Hester einen Teil dessen, was er erfahren hatte.

»Denkst du, es war Shearer, der Mr. Alberton ermordete?«, fragte sie mit einem Hoffnungsschimmer in der Stimme.

Sie saßen am Tisch und verzehrten ein Mahl, bestehend aus kalter Hühnerpastete und frischem Gemüse. Er bemerkte, dass sie ein wenig müde wirkte.

»Wo warst du den ganzen Tag?«, fragte er.

»Denkst du das?«, insistierte sie.

»Was?«

»Denkst du, Shearer brachte Daniel Alberton um?«

»Möglich. Wo warst du?«

»Im Small Pox Hospital in Highgate. Wir versuchen immer noch, die Arbeitsqualität der Mitarbeiter zu steigern, die sich dort um die Patienten kümmern, aber es ist schwierig. Die meiste Zeit habe ich damit verbracht, Briefe zu schreiben.«

Es lag ihm auf der Zunge, einige Bemerkungen über Florence Nightingale fallen zu lassen, die in ihren Bemühungen, eine Reform der Krankenhäuser herbeizuführen, unermüdlich Briefe geschrieben hatte, aber er verkniff es sich. Dies erklärte Hesters Müdigkeit. Schon vor Monaten hatte er versprochen, jemanden für die Hausarbeit einzustellen, aber er hatte es vergessen.

»Das würde bedeuten, dass Merrit nicht schuldig ist«, sagte sie und beobachtete ihn scharf. »Und es würde erklären, dass Breeland alles ohne ihr Wissen tat.«

»Das würde dir gefallen, stimmt’s?« Es war eine Feststellung.

Sie zögerte nur einen Augenblick. »Ja«, gab sie zu. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er unschuldig ist, aber ich möchte wirklich glauben, dass Merrit es ist.«

Er entspannte sich ein wenig. »Du solltest anfangen, dich nach jemandem umzusehen, der täglich ins Haus kommt, wenn auch nur für ein paar Stunden.«

Sie dachte einige Minuten über den Vorschlag nach, beobachtete dabei sein Gesicht und versuchte zu beurteilen, ob er allzu großzügig war.

Er konnte ihre Gedanken lesen, als ob sie auf ihre Stirn geschrieben wären.

»Sieh dich nach jemandem um«, wiederholte er.

»Vielleicht für drei Tage in der Woche, zum Putzen und um einen Teil des Kochens zu übernehmen.«

»Ja«, nickte sie. »Ja, das werde ich tun.« Sie sah ihn an, und in ihren Augen begann sich ein Lächeln auszubreiten.

Er war außerordentlich erfreut, als ob er ihr das schönste Geschenk überhaupt gemacht hätte, und vielleicht war es das auch, denn sein Geschenk bestand in der Zeit, die sie dann den Aufgaben widmen konnte, denen ihre ganze Leidenschaft galt, Zeit, um jene Fertigkeiten auszuüben, die sie im Überfluss besaß. Er lächelte zurück, breit und bereitwillig.

Auch sie las seine Gedanken. Sie knabberte an ihrer Lippe.

»Ich kann doch kochen!«, sagte sie hastig.

»Einigermaßen wenigstens.«

Er widersprach nicht, grinste nur.

Am nächsten Morgen ging er zum Fluss und befragte Hafenarbeiter und Kahnführer, dieses Mal jedoch nicht bezüglich des Wegs, den die Waffen genommen haben könnten, sondern über Shearer.

Er brauchte bis zum frühen Nachmittag, um jemanden ausfindig zu machen, der Shearer gekannt hatte, aber alles, was er ihm sagen konnte, war lediglich eine Bestätigung dessen, was Monk bereits von den Männern im Lagerhaus erfahren hatte. Shearer war hart, ehrgeizig und kompetent, aber nach allem, was Monk so hörte, verhielt er sich Alberton gegenüber loyal. Niemand sprach mit Zuneigung von ihm, aber die Gesichter der Männer und die Untertöne in ihren Stimmen drückten stets einen gewissen Respekt aus.

Monk stand immer noch vor einem Rätsel. Das Bild, das sich von Shearer ergab, passte nicht besonders gut zu den Fakten. Während er die Straße entlanglief, war er sich kaum des vorüberströmenden Verkehrs bewusst, der schwer beladenen Wagen, der Männer, die sich etwas zuriefen, der Kräne, die Waren emporhievten oder sie herabließen, des Waldes aus Masten von den Booten, die in der Flut schaukelten, und der gelegentlichen Möwen, die hoch über ihm ihre Kreise zogen.

Shearer war verschwunden, das schien unbestreitbar. Die Waffen waren nach Amerika verschifft worden, Breeland und Merrit waren auch dorthin gefahren. Alberton und die beiden Nachtwächter waren tot, ermordet.

Der Prahm mit den Musketen war flussabwärts bis Bugsby’s Marshes gefahren, und danach blieb er unauffindbar. Breeland und Merrit schienen mit dem Zug nach Liverpool gefahren zu sein, aber der einzige Zug, mit dem sie fahren konnten, war vor den Morden abgefahren und auch, bevor die Waffen das Lagerhaus verlassen hatten.

Es hatte den Anschein, Shearers Verwicklung in das Geschehen sei der einzige Umstand, der alle drei Dinge miteinander in Verbindung bringen konnte, um überhaupt einen Sinn zu ergeben.

Irgendjemand musste mehr über Shearer wissen, könnte vielleicht sogar etwas über das Schiff wissen, das die Themse bis zu Bugsby’s Marshes hinaufgefahren war, die Waffen an Bord geladen, anschließend den Anker gelichtet hatte und wieder hinaus aufs Meer gefahren war. War es ein britisches Schiff oder ein amerikanisches?

Vielleicht genügte das, was er bis jetzt in Erfahrung gebracht hatte ja, um Zweifel an Merrits Schuld zu wecken. Aber es würde sicher noch nicht genügen, um ihren Namen reinzuwaschen. Es würde immer Menschen geben, die sie für schuldig hielten, einfach weil ihre Unschuld nicht bewiesen werden konnte. Es würde heißen, sie sei noch einmal davongekommen. Das war nur wenig besser, als am Galgen zu enden, ein Leben in der Vorhölle. Würde sie jedoch mit Breeland nach Amerika zurückkehren, würde die Meinung Englands vielleicht nicht so viel Gewicht haben. Aber würde es auch genügen, Breeland vor dem Galgen zu retten, bei all dem Hass, der ihm entgegenschlug, und der Überzeugung der Öffentlichkeit, dass er schuldig war? Und würde er das Mädchen nicht zwangsläufig mit sich ins Verderben reißen?

Nicht dass diese Überlegungen irgendetwas an dem geändert hätten, was Monks Pflichten waren. Wahrscheinlichkeitsberechnungen anzustellen, ob ein Urteil so oder so ausfallen würde, waren Rathbones Aufgabe, obwohl er sich sicher war, dass Rathbone die Wahrheit ebenso interessierte wie ihn. Irgendjemand hatte drei Männer gefesselt und sie in den Kopf geschossen. Er musste wissen, wer dieser Jemand war, musste es zweifelsfrei feststellen, ob dies einen Sinn ergab oder nicht.

Monk betrat das nächste Schiffsmaklerbüro und bat, mit den Angestellten sprechen zu dürfen.

»Shearer?«, rief ein junger Mann in einem eng sitzenden Frack.

»Ja, ein sehr anständiger Mann. War Mr. Albertons Unterhändler.« Er atmete geräuschvoll ein. »Schreckliche Sache das. Grauenhaft. Gott sei’s gedankt, dass sie den Kerl haben, der das verbrochen hat. Kidnappte auch noch die Tochter, also, alles was Recht ist!«

Er machte ein hackendes Geräusch mit der Zunge.

»Wann haben Sie Shearer zum letzten Mal gesehen?«, fragte Monk.

Der Angestellte dachte einige Minuten lang nach. »Mit uns macht er eigentlich wenig Geschäfte«, erwiderte er.

»Aber ich habe ihn sicher schon einige Monate oder gar länger nicht mehr gesehen. Ich vermute, er ist sehr beschäftigt, jetzt, da der arme Mr. Alberton tot ist. Ich kann mir nicht vorstellen, was aus dem Geschäft werden soll. Es hat einen guten Ruf, aber ohne Mr. Alberton persönlich wird es nicht mehr dasselbe sein. Er war sehr verlässlich, ja, das war er. Verstand eine Menge von Verschiffung und auch vom Handel. Er wusste, wer was zu verkaufen hatte, und bezahlte immer faire Preise, ließ sich aber von niemandem zum Narren halten. Das kann man nicht ersetzen, auch wenn Mr. Casbolt ein brillanter Einkäufer ist, wie ich höre. Das ist eine Schande!«

»Ich kann niemanden finden, der Mr. Shearer nach Mr. Albertons Tod gesehen hätte«, sagte Monk.

Der Mann war überrascht. »Nun, ich auch nicht. Ich weiß nur, dass er große Stücke auf Mr. Alberton hielt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er einfach so verschwindet. Ich hätte angenommen, er würde sich weiterhin um das Geschäft kümmern, so gut er es kann, schon um der Witwe willen, der armen Frau. Das beweist wieder mal, dass man nie sicher sein kann, stimmt’s?«

»Nein. Mit wem machte Shearer am häufigsten Geschäfte, wissen Sie das?«

»Mit Pocock und Aldridge, oben an der West India Dock Road. Großer Laden. Wird Ihnen jeder bestätigen.«

Monk dankte ihm und ging. Es war eine beträchtliche Strecke bis zum West India Dock, also nahm er den ersten Hansom, den er sah, und kam fünfundzwanzig Minuten später an. Als er ausstieg und den Fahrer bezahlt hatte, drehte er sich zu dem Gebäude um und wusste plötzlich genau, wie es innen aussehen würde, als ob er es schon häufig aufgesucht hätte und dies nur ein weiterer Routinebesuch wäre.

Dies war nervtötend. Er hatte keine Ahnung, weshalb oder wann er hierher gekommen war, aber es konnte nicht während der Zeit nach seinem Unfall gewesen sein. Er schritt über das Pflaster, wäre um ein Haar mit einem mageren Mann in grauem Anzug zusammengestoßen, ging die wenigen Treppen hinauf und öffnete die Tür.

Das Innere des Gebäudes war vollkommen anders, als er es in Erinnerung hatte. Die Räumlichkeiten waren mehr oder weniger die gleichen, aber hier stand ein Schreibtisch, an den er sich nicht erinnern konnte, die Wände hatten eine andere Farbe, und der Fußboden, der höchst eigenwillig mit grauem und weißem Marmor gefliest gewesen war, bestand aus Holz.

Verwirrt blieb er stehen.

»Guten Morgen, Sir. Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der junge Mann hinter dem Schreibtisch.

Monk konnte sich nur mit Mühe konzentrieren und rang nach Worten.

»Ja… ich muss mit Mr. –« Der Name Taunton schoss ihm durch den Kopf, er hatte keine Ahnung, weshalb.

»Ja, Sir? Mit wem wollten Sie sprechen?«, fragte der Mann hilfsbereit.

»Arbeitet hier ein Mr. Taunton?«

»Ja, Sir. Meinen Sie den älteren oder den jüngeren Mr. Taunton?«

Monk hatte keine Ahnung, aber er musste antworten. Er ließ sich eher vom Instinkt als von Überlegungen leiten.

»Den älteren.«

»Gewiss, Sir. Wen darf ich melden?«

»Monk. William Monk.«

»Gerne, Sir. Wenn Sie bitte hier warten wollen, ich werde es ihm sagen.«

Binnen Minuten wurde ihm mitgeteilt, dass er empfangen werden würde, woraufhin Monk zu einer anmutig geschwungenen Treppe gewiesen wurde, die zu einem Treppenabsatz führte. Er konnte sich nicht daran erinnern, was der Mann in der Halle gesagt hatte, aber er zögerte nicht, nach links zu gehen, bis zum Ende des Korridors. Alles kam ihm vertraut vor, ein wenig kleiner vielleicht, als er es in Erinnerung hatte, aber er wusste, wie sich der Türgriff anfühlen würde, bevor er ihn berührte, und erinnerte sich an das leichte Stocken, bevor die Tür endgültig aufschwang.

Der Mann in dem behaglich eingerichteten Raum erwartete ihn stehend. Sein Gesicht drückte Überraschung aus, und seine Körperhaltung signalisierte Unbehagen. Er war ein wenig älter als Monk, fünfzig Jahre vielleicht. Sein kastanienfarbenes Haar wich bereits aus der Stirn, seine Wangen waren gerötet. Monk wusste, dass der jüngere Mr. Taunton sein Halbbruder war, nicht sein Sohn, und ein größerer und dunkelhaariger Typ mit fahler Gesichtshaut.

»Sieh mal einer an!«, sagte Taunton nervös. »Nach all den Jahren! Was bringt Sie hierher, Monk? Dachte schon, Sie würde ich nicht mehr zu Gesicht bekommen.« Er wirkte verblüfft, als ob Monks Auftauchen ihn verwirrte. Er konnte nicht umhin, Monk anzustarren, erst sein Gesicht, dann seine Kleidung, und selbst seine Stiefel ließ er nicht unbeachtet.

Monk erkannte, dass Taunton älter war, als er erwartet hatte. Er konnte sich ihn nicht mehr mit vollem Haupthaar vorstellen, aber das Grau darin war neu, ebenso die Furchen in seinem Gesicht und eine gewisse Derbheit der Züge. Er hatte keinen Begriff davon, wie lange es her sein mochte, dass sie sich zum letzten Mal getroffen hatten, und unter welchen Umständen dies geschehen war. Hatte es mit seiner Arbeit als Polizist zu tun gehabt, oder war es gar noch früher gewesen? Dann müssten es zwanzig Jahre oder mehr sein und weit zurück in einer Vergangenheit liegen, die Monk vollkommen verloren hatte und die sich nicht einmal durch die Bruchstücke wieder zusammensetzen ließ, die er hier und da von Menschen aufgeschnappt hatte, mit denen er anlässlich seiner Ermittlungen zu tun gehabt hatte.

Er konnte es sich nicht leisten, darauf zu setzen, dass Taunton ein Freund war; dies konnte er von niemandem erwarten. Das Wenige, was er über sein Leben wusste, zeigte, dass er mehr gefürchtet als geliebt worden war. Es mochte alle möglichen Arten von unbezahlten Schulden geben, von ihm ebenso wie von anderen. Dies war wieder einmal eine Gelegenheit, bei der er sich innigst wünschte, sich selbst besser zu kennen, zu wissen, wer seine Feinde waren und weshalb, und ihre Schwächen zu kennen.

Er forschte in Tauntons Gesicht und konnte keine Freude entdecken. Sein Gesicht drückte Wachsamkeit und Vorsicht aus, ebenso allerdings erwachende Schadenfreude, als ob er Monks Unsicherheit gesehen hätte und sich darüber freuen würde.

»Das Haus hat sich verändert.« Er spielte auf Zeit, in der Hoffnung, Taunton würden einige Informationen entschlüpfen, damit er wenigstens wusste, wie lange es her war, seit sie sich zuletzt getroffen hatten, und sogar, in welcher Stimmung dieses Treffen stattgefunden hatte und ob ihre Feindseligkeit offen oder indirekt gewesen war. Denn mit jeder weiteren Sekunde war er sich mehr und mehr sicher, dass zwischen ihnen Feindseligkeit herrschte.

»Einundzwanzig Jahre, wenn ich mich nicht irre«, sagte Taunton mit einem leichten Schürzen der Lippen. »Uns geht es gut. Dachten Sie, wir könnten uns die nötigen Renovierungen nicht leisten?«

Monk sah sich in dem Büro um. Es war gut ausgestattet, aber nicht luxuriös. Er gestattete sich, dass sich seine Beobachtungen in seinem Gesichtsausdruck widerspiegelten – er war nicht beeindruckt.

Tauntons Wangen wurden röter.

»Sie haben sich ebenfalls geändert«, sagte er mit leichtem Lächeln. »Keine eleganten Hemden und Stiefel mehr. Dachte, Sie würden sich mittlerweile alles speziell anfertigen lassen. Harte Zeiten hinter sich, was?« In seiner Stimme war die Schadenfreude zu hören. »Dundas riss Sie wohl mit ins Verderben, was?«

Dundas. Mit blendender Klarheit sah Monk das sanftmütige Gesicht, die intelligenten, klaren blauen Augen, die von tiefen Lachfalten umgeben waren. Dann überzog sich das Gesicht plötzlich mit Kummer und wütender Hilflosigkeit. Er wusste, dass Dundas tot war. Er war fünfzig Jahre alt gewesen, vielleicht fünfundfünfzig. Monk selbst war damals in den Zwanzigern gewesen und hatte gehofft, Handelsbankkaufmann zu werden. Arrol Dundas war sein Mentor gewesen, der durch einen finanziellen Zusammenbruch, für den man ihm fälschlicherweise die Schuld zugeschoben hatte, in den Ruin getrieben worden war. Er war im Gefängnis gestorben.

Am liebsten hätte Monk in das höhnisch grinsende Gesicht vor sich geschlagen. Er spürte, wie heißer Zorn in ihm aufstieg, wie sich sein Körper verkrampfte und sich seine Kehle dermaßen zuschnürte, dass es schwierig wurde, zu schlucken. Er musste sich zusammennehmen und seine Gefühle vor Taunton verbergen. Er musste alles verbergen, bis er genügend in Erfahrung gebracht hatte, um handeln zu können.

Wie viel wusste Taunton von Monk? Wusste er, dass er Polizist geworden war? Monk konnte nicht sicher sein.

Sein Ruf war zwar weit verbreitet, denn er war einer der besten und skrupellosesten Ermittler gewesen, die die Polizei je gehabt hatte, aber es konnte sein, dass er nie Gelegenheit gehabt hatte, hierher zu den West India Docks zu kommen.

»Ein kleiner Richtungswechsel«, antwortete er hinterhältig.

»Ich hatte noch verschiedene Schulden einzutreiben.« Er gestattete sich ein Lächeln, ein listiges Lächeln, wie er es beabsichtigt hatte.

Taunton schluckte. Seine Augen wanderten unruhig über Monks gewöhnliche Kleidung, die dieser absichtlich gewählt hatte, um am Fluss und auf den Docks unauffällig zu wirken.

»Sieht nicht so aus, als wären es große Schulden gewesen«, bemerkte er.

»Ich habe sie noch nicht alle eingetrieben«, antwortete Monk, dem die Worte entschlüpft waren, bevor er darüber nachgedacht hatte.

Taunton erstarrte, aber seine Hände bewegten sich nervös und seine Blicke ließen Monks Gesicht nicht los.

»Ich schulde Ihnen nichts, Monk! Und nach einundzwanzig Jahren weiß ich nicht, wer das noch tun könnte.« Er schnaubte leicht. »Wir haben stets gut mit Ihnen zusammengearbeitet. Jeder heimste seinen Profit ein. Und niemand wurde je dabei ertappt, soweit ich weiß.«

Ertappt. Das Wort traf Monk wie ein körperlicher Schlag. Ertappt von wem? Er wagte nicht zu fragen. Wessen klagte man Dundas an, was war es gewesen, was ihn in den Ruin getrieben hatte? Monk konnte sich nur an die Wut erinnern, die er verspürt hatte, und an die absolute Überzeugung, dass Dundas unschuldig war, zu Unrecht beschuldigt wurde und er, Monk, einen Weg hätte finden müssen, dies zu beweisen.

Aber hatte das etwas mit Taunton zu tun gehabt? Oder wusste Taunton nur davon, weil es alle wussten?

Monk gierte nach der Wahrheit, der ganzen Wahrheit, mehr als nach allem anderen, was ihm in den Sinn kam. Immer schon hatte ihn diese Gier verfolgt, seit er die ersten Erinnerungsblitze gehabt hatte, Fragmente nur, Gefühle, kurze Augenblicke der Erinnerung, die schon wieder Vergangenheit waren, ehe er mehr als einen Eindruck oder ein Gefühl bekam, einen Blick auf das Gesicht eines Menschen erhaschen konnte oder die Modulation einer Stimme ahnte. Und stets war das alles von einem Gefühl des Verlustes begleitet, einem Schuldgefühl, dass er diesen Verlust hätte verhindern sollen.

»Besorgt?«, fragte er und starrte Taunton an.

»Nicht im Mindesten«, erwiderte dieser, und sie wussten beide, dass es eine Lüge war. Sie hing zwischen ihnen in der Luft.

Zum ersten Mal freute Monk sich darüber, Furcht einflößend zu sein. Zu oft hatte ihn seine Fähigkeit zur Einschüchterung gestört, und er hatte sich schuldig gefühlt für den Teil seines Ichs, der dies in der Vergangenheit genossen haben musste.

»Kennen Sie einen Mann namens Shearer?« Abrupt wechselte er das Thema, nicht um Taunton in Bedrängnis zu bringen, sondern weil er nicht mehr wusste, was er über die Vergangenheit sagen sollte. Überdies musste Taunton nicht wissen, dass Monk diese gar nicht kannte.

»Shearer?« Taunton war erschrocken. »Walter Shearer?«

»Genau der. Sie kennen ihn.« Letzteres war eine Feststellung.

»Natürlich kenne ich ihn. Aber Sie wären nicht hierher gekommen, wenn Sie das nicht bereits gewusst hätten«, gab Taunton zurück. Er runzelte die Stirn. »Er ist Händler für Maschinen zum Be und Entladen von Schiffen, von schweren Waren, Marmor, Holz und meistens Waffen – für Daniel Alberton – oder besser gesagt, das war er, bis Alberton ermordet wurde.« Er wartete kurz. »Was hat das mit Ihnen zu tun? Sind Sie jetzt auch im Waffenhandel?« Er verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere.

Monk konnte seine Angst riechen, die jetzt ätzend und körperlich spürbar war, anders als die langsam aufkommende Ängstlichkeit, die er vorher bemerkt hatte. Tauntons Vorstellungskraft hatte sich sprunghaft gesteigert. Als er wieder sprach, war seine Stimme höher, als ob sich seine Kehle zusammengeschnürt hätte, bis er kaum mehr Luft bekam.

»Hat es etwas mit Ihnen zu tun, Monk? Denn wenn ja, dann möchte ich nichts damit zu tun haben!« Er schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. »Für Leute zu arbeiten, die ihr Geld mit Sklavenhandel verdienen, ist eine Sache, aber Mord ist etwas ganz anderes. Das können Sie mir glauben! Alberton war ein gern gesehener Mann. Jeder wird die Hand gegen Sie erheben. Ich weiß nicht, wo Shearer ist, und ich will es auch nicht wissen.

Er ist ein unbarmherziger Mann, verschenkt keinen Penny und bittet um keinen, aber er ist kein Mörder!« Monk hatte das Gefühl, so fest geschlagen worden zu sein, dass seine Lungen gelähmt waren und er an Luftmangel erstickte.

Tauntons Stimme wurde noch höher. »Sehen Sie, Monk, was Dundas passierte, hat nichts mit mir zu tun. Wir machten unser Geschäft, und wir hielten uns beide an unsere Abmachungen, Ich schulde Ihnen nichts und Sie mir auch nicht. Wenn Sie Dundas hintergingen, dann ist das eine Sache zwischen Ihnen und… und dem Grab, mittlerweile. Aber stellen Sie jetzt nicht mir nach!« Er streckte die Hände vor sich aus, als wolle er einen Schlag abwehren. »Und ich will nichts mit diesen Waffen zu tun haben! Die führen nur an den Galgen. Ich werde sie nicht für Sie transportieren, das schwöre ich bei meinem Leben!«

Schließlich fand Monk seine Stimme wieder.

»Ich habe die Waffen nicht, Sie Narr! Ich suche nach dem Mann, der Alberton auf dem Gewissen hat. Wo die Waffen sind, das weiß ich. Sie sind in Amerika. Ich bin ihnen dorthin gefolgt.«

Taunton war verblüfft, absolut perplex.

»Was wollen Sie dann? Weshalb sind Sie hier?«

»Ich will wissen, wer Alberton ermordete.« Taunton schüttelte den Kopf. »Warum?«

Einen Moment lang konnte Monk nicht antworten. War er wahrhaftig so gewesen, ein Mann, den es nicht kümmerte, dass drei Männer umgebracht worden waren und wer dies getan hatte? Verlangte sein Bedürfnis, das zu erfahren, etwa eine Erklärung?

Taunton starrte ihn immer noch an und wartete auf eine Antwort.

»Das ist für Sie nicht von Bedeutung.« Monk riss sich aus seinen Gedanken. »Wo ist Shearer?«

»Ich weiß es nicht! Ich habe ihn beinahe zwei Monate nicht mehr gesehen. Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüsste, schon um Sie loszuwerden. Glauben Sie mir!«

Monk glaubte ihm tatsächlich. Die Angst in seinen Augen war echt, ihr Geruch erfüllte den Raum. Taunton hätte jeden verraten, Freund oder Feind, um sich selbst zu retten.

Wie konnte Monk nur mit einem solchen Mann Geschäfte gemacht haben? Aber schlimmer als das war, Gewinn durch den Handel mit einem Mann zu erzielen, dessen Geld aus dem Sklavenhandel stammte! Hatte Dundas das gewusst? Oder hatte Monk ihn hinters Licht geführt, wie Taunton angedeutet hatte?

Jeder dieser Gedanken bereitete ihm Übelkeit.

Er musste die Wahrheit erfahren, und doch fürchtete er sich vor ihr. Es hatte keinen Sinn, von Taunton eine Antwort zu erwarten; er wusste sie nicht. Was er von Monk dachte, war Anklage genug.

Monk zuckte die Achseln, drehte sich auf dem Absatz um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Doch als er in der Empfangshalle an dem Mann hinter dem Schreibtisch vorbeiging, weilten seine Gedanken nicht bei Taunton oder Shearer, sondern bei Hester und ihrem Gesicht, das sie gemacht hatte, als sie von Sklaverei gesprochen hatte. Für sie war Sklavenhaltung etwas Unverzeihliches. Was würde sie empfinden, wenn sie erführe, was er von sich selbst wusste?

Schon jetzt bedrückte ihn der Gedanke, zerfraß ihn innerlich.

Er trat hinaus in die Sonne, aber er fröstelte.