Prolog


Hoch in den bewaldeten Hügeln, an einem Ort, an den sich kaum jemand verirrte, stand ein steinerner Turm. Es war ein praktischer Turm, ein solider, gedrungener Steinbau mit nur zwei Stockwerken, weder schön noch besonders hoch. Die riesigen Quader, aus denen er erbaut war, hatte man aus dem Stein der Umgebung geschlagen, der eine unschöne schlammige Farbe aufwies. Daher war es von Vorteil, dass schwarzgrüner Efeu den Turm fast vollständig überwuchert hatte. Er wand sich darum herum wie ein Faden um eine Spindel, verknotete sich, bis die hölzernen Fensterläden sich nicht mehr öffnen ließen, und löste den Mörtel, der die Steine zusammenhielt, sodass dem gesamten Gebäude eine Aura von Verfall und Vernachlässigung anhaftete. Besonders, wenn es dunkel war und regnete, wie gerade jetzt.

Im Turm schrie ein Mann. Seine Stimme klang tief, voller Autorität, aber die Stimme, die ihm antwortete, schien das nicht zu interessieren. Sie schrie zurück, hoch und kindlich. Doch etwas darin war nicht zu ignorieren, und die Efeuranken, die den Turm im Würgegriff hielten, krochen näher, um zu lauschen.

Ohne jede Vorwarnung wurde die Tür des Turms aufgerissen, eine dicke Holzplatte, die von ihren Jahren im Wald fast schwarz gefärbt war. Gelber Feuerschein ergoss sich über die Lichtung, und ein Junge sprang in die nasse Nacht hinaus. Er war dünn und bleich und schien nur aus Armen und Beinen zu bestehen, aber er rannte so schnell wie der Wind, während sein dunkles Haar hinter ihm herwehte. Er hatte es bereits halb über die Lichtung geschafft, als ein Mann hinter ihm aus dem Turm eilte. Er war ebenfalls dunkelhaarig, und seine Augen leuchteten vor Wut, genauso wie die Ringe, die an seinen Fingern steckten.

»Eliton!«, schrie er und streckte eine Hand nach vorne. Der Ring an seinem Mittelfinger, ein dunkler Smaragd in einer feinen Fassung aus goldenen Ästen und Blättern, blitzte tiefgrün auf. Auf der anderen Seite der Lichtung stieg unter den Füßen des Jungen ein großer Wurzelteppich in die Luft.

Der Junge stolperte. Er fiel und kämpfte gegen die Wurzeln, die ihn packten.

»Nein!«, schrie er. »Lasst mich in Ruhe!«

Macht schwang in den Worten mit, weil der Geist des Jungen gleichsam explodierte. Es war nicht im Mindesten wie die ruhige, kontrollierte Öffnung, welche die Spiritisten so hoch schätzten. Es war eher ein rohes Reißen, eine instinktive Angstreaktion. Die Macht traf wie ein Hammer auf die Lichtung, den Turm, die Bäume, den Efeu und alles andere. Der Regen gefror in der Luft, der Wind verstummte, und alles außer dem Jungen stand vollkommen still. Langsam fielen die Wurzeln, die sich in die Luft erhoben hatten, wieder nach unten und landeten schlaff auf dem aufgerissenen Boden, während sich der Junge auf die Beine kämpfte. Er warf einen angstvollen, hasserfüllten Blick über seine Schulter zurück, aber der Mann stand so bewegungslos wie alles andere. Seine Ringe waren dunkel, und sein Gesicht zeigte den Ausdruck von jemandem, der einem üblen Scherz zum Opfer gefallen war.

»Eliton«, sagte er wieder, doch diesmal brach seine Stimme.

»Nein!«, schrie der Junge, während er langsam zurückwich. »Ich hasse dich und deine endlosen Regeln! Du bist niemals glücklich, oder? Lass mich einfach nur in Ruhe!«

Macht erfüllte diese Worte, dann drehte der Junge sich um und rannte davon. Der Mann wollte ihm folgen, aber der Efeu löste sich vom Turm und schlang sich um seinen Körper, bis er sich nicht mehr bewegen konnte. Der Mann schrie wutentbrannt auf und wehrte sich gegen die Pflanze, doch die Äste wurden dicker und dicker. Er konnte sich nicht befreien. Er konnte nur zusehen, wie der Junge durch die Regentropfen lief, die immer noch schwerelos in der Luft hingen und darauf warteten, dass das Kind ihnen sagte, sie dürften wieder fallen.

»Eliton!«, rief der Mann, fast flehend. »Glaubst du, du kannst allein lernen, mit solcher Macht umzugehen? Ohne Disziplin?« Wieder warf er sich gegen den Efeu und streckte eine Hand in Richtung des Jungen. »Wenn du jetzt nicht zurückkommst, wirfst du alles weg, wofür wir gearbeitet haben!«

Der Junge sah sich nicht einmal um, und das Gesicht des Mannes lief rot an.

»Na los, lauf doch weg!«, brüllte er. »Schau doch, wie weit du ohne mich kommst! Ohne Ausbildung wirst du überhaupt nichts werden! Allein bist du wertlos! WERTLOS! HAST DU GEHÖRT?«

»Halt die Klappe!« Die Stimme des Jungen erklang nun schon aus einiger Entfernung. Seine Gestalt war zwischen den Bäumen kaum noch zu sehen, aber immer noch hing die Macht seiner Worte in der Luft. Der Mann konnte nur hilflos gegen das Schlinggewächs ankämpfen, während der Junge in der Dunkelheit verschwand. Erst danach verblasste die Macht langsam. Der Efeu verlor seinen Halt, sodass der Mann sich befreien konnte. Er machte ein paar Schritte in die Richtung, in die der Junge verschwunden war, dann überlegte er es sich anders.

»Er wird zurückkommen«, murmelte er, während er Blätter von seiner Robe schlug. »Eine Nacht im Wald wird ihm guttun.« Er starrte den Efeu böse an. »Er wird zurückkehren. Ohne mich kann er nicht zurechtkommen.«

Der Efeu zog sich mit einem kaum hörbaren Rascheln zurück, weil er durchaus wusste, dass er Anteil an seiner Wut hatte. Der Mann warf einen letzten unheilvollen Blick Richtung Wald, dann stiefelte er in den Turm. Er schlug die Tür hinter sich zu, sodass der Lichtschein abbrach und die Lichtung in völliger Dunkelheit zurückblieb, während der Regen langsam wieder anfing zu fallen.


Der Junge rannte. Er stolperte über abgebrochene Äste und watete durch schlammige Bäche, die vom endlosen Regen angeschwollen waren. Er wusste nicht, wo er hinlief, und er war erschöpft davon, was auch immer er auf der Lichtung getan hatte. Er keuchte so laut, dass er die Geräusche des Waldes kaum wahrnehmen konnte, und doch hörte er die Geister um sich herum, egal, wie viel Lärm er machte – die Wut des Baches darüber, dass er voller Schlamm war, die Wut der Erde, weil sie von ihrem Mutterboden getrennt und in den Bach geschwemmt worden war, das zufriedene Murmeln der Bäume, während das Wasser an ihnen herunterlief, das unbekümmerte Singen der Grillen. Die Laute der Geisterwelt füllten seine Ohren, wie es kein anderes Geräusch vermochte. Er klammerte sich an ihnen fest und ließ sich von den Stimmen vorwärtsziehen, als seine Beine zu versagen drohten.

Der Regen nahm im Laufe der Nacht noch zu, und der Junge wurde langsamer. Jetzt wanderte er durch den dunklen, nassen Wald. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand, und es war ihm auch egal. Es war ja nicht so, dass er zum Turm zurückwollte. Nichts konnte ihn dorthin zurückzwingen, zurück zu dem endlosen Unterricht und den Regeln der schwarzweißen Welt, in der sein Vater lebte.

Tränen rannen ihm offen über das Gesicht, und er rieb sie sich mit dreckigen Fäusten aus den Augen. Er konnte nicht nach Hause gehen. Jetzt nicht mehr. Er hatte seine  Wahl getroffen; es gab kein Zurück. Sein Vater würde ihn nach seiner offenen Rebellion sowieso nicht zurücknehmen. Wertlos – sein Vater hatte ihn abgeschrieben. Welche Hoffnung blieb ihm da noch?

Er stolperte, fiel und landete hart auf seiner Schulter. Für eine Sekunde krümmte er sich, dann lag er still auf dem nassen Boden und nahm den Duft der verrottenden Blätter in sich auf. Warum sollte er weiterlaufen? Er konnte nicht zurück, und er wusste nicht, wo er sonst hinsollte. Seit Ewigkeiten lebte er mit seinem Vater hier draußen. Er hatte keine Freunde oder Verwandten, zu denen er gehen konnte. Seine Mutter würde ihn nicht nehmen. Sie hatte ihn nicht gewollt, als es ihm noch gut gegangen war; jetzt würde sie sich bestimmt nicht für ihn interessieren. Und selbst wenn: Er wusste nicht einmal, wo sie lebte.

Mit einem Grunzen rollte er sich auf den Rücken und starrte durch die tropfenden Äste in den dunklen Himmel über sich, während er versuchte, sich über seine Situation klar zu werden. Jetzt würde er niemals ein Magier werden, nicht wie sein Vater, mit seinen Ringen und Regeln und Pflichten. Und das war, soweit der Junge es erkennen konnte, die einzige Art von Magier, welche die Welt haben wollte. Vielleicht könnte er in den Bergen leben? Aber er wusste nicht, wie man jagte oder Feuer machte, oder auch nur, welche Pflanzen man essen konnte. Und das war schlimm, weil er langsam Hunger verspürte. Doch mehr als alles andere war er müde. So müde. Müde und klein und wertlos.

Er spuckte ein wenig Dreck aus. Vielleicht hatte sein Vater recht. Vielleicht war wertlos das richtige Wort, um ihn zu beschreiben. Zumindest fiel ihm im Moment nichts ein, worin er wirklich gut war. Er konnte nicht einmal mehr die Geister hören. Der Regen hatte aufgehört, und die Geister beruhigten sich und glitten zurück in den Schlaf. Auch ihm fielen langsam die Augenlider zu, aber er sollte nicht so schlafen – nass und dreckig und ungeschützt. Doch als er nur daran dachte, aufzustehen, erschien es ihm unmöglich. Schließlich beschloss er, einfach liegen zu bleiben, und wenn er aufwachte – falls er wieder aufwachte –, würde er weitersehen.

Kaum hatte er diese Entscheidung getroffen, wurde er auch schon vom Schlaf überwältigt. Er lag in einer kleinen Senke, eingekuschelt zwischen einem verrottenden Baumstamm und einem lebenden Baum, der so still war, als wäre er selbst tot. Hoch über ihm wehte der Wind durch die Bäume und warf Blätter auf ihn. Die Brise zog vorbei, dann drehte sie um und tauchte in die Senke ab, in der der Junge schlief.

Der Wind blies sanft, bewegte die Haare des Kindes, glitt über die schlammigen, zerrissenen Falten seiner Kleidung und über seine geschlossenen Augen. Dann, als er gefunden hatte, wonach er suchte, stieg der Windhauch wieder auf und eilte über die Baumwipfel davon. Ein paar Minuten vergingen in vollkommener Ruhe, dann erschien in der Luft über dem Jungen eine weiße Linie. Sie wuchs und öffnete einen Riss in der Luft, aus dem scharfes, weißes Licht in die Dunkelheit strahlte.

Von dem Moment an, da das Licht erschien, bewegte sich nichts mehr im Wald. Alles – ob nun Insekten oder andere Tiere, Pilze, die Blätter auf dem Boden, die Bäume, das Wasser an den Stämmen –, wirklich alles erstarrte und beobachtete, wie eine elegante, weiße, weibliche Hand durch den Schnitt in der Luft glitt, um dem Jungen den Schlamm von der Wange zu wischen. Er zuckte im Schlaf zusammen, und die schmalen weißen Finger bewegten sich erfreut.

Inzwischen war der Wind zurückgekehrt, stärker als vorher. Er wirbelte zwischen den Bäumen nach unten und ließ gefallene Blätter tanzen, doch den Jungen berührte er nicht.

»Ist er nicht so, wie ich es Euch beschrieben habe?«, flüsterte er, während er den schlafenden Jungen ansah, wie nur Geister es können.

Ja. Die Stimme aus dem weißen Raum hinter der Welt war voller Freude. Eine weitere Hand erschien, schloss sich der ersten an und streichelte die schmutzigen Haare des Jungen. Er ist genau so, wie du sagtest.

Der Wind plusterte sich selbstzufrieden auf, aber die Frau hinter dem Riss schien vergessen zu haben, dass er auch nur existierte. Ihre Hände streckten sich weiter vor, es erschienen ein schneeweißer Arm, Schultern und ein Wasserfall aus reinweißen Haaren, der scheinbar aus sich selbst heraus leuchtete. Dann folgten weiße Beine, und zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren schlüpfte sie vollständig durch das seltsame Loch, verließ ihre weiße Welt und trat in die Realität.

Überall um sie herum erzitterte der Wald vor Ehrfurcht. Jeder Geist, von den uralten Bäumen bis zu den Eintagsfliegen, verbeugte sich in Ehrerbietung. Das Totholz, das Moos, selbst der Schlamm unter ihren Füßen ehrte sie und betete sie an. Sie warfen sich vor dem weißen Licht zu Boden, das aus ihrer Haut strahlte, als hätte der Mond sich zur Erde begeben.

Die Dame nahm sie nicht zur Kenntnis. Solche Ehrerbietung stand ihr zu. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf den Jungen konzentriert, der immer noch tief schlief, während seine schmutzigen Hände seine dreckige Jacke enger um sich zogen.

Sanft wie Nebel kniete sich die weiße Dame neben ihn und schob ihre Hände unter seinen Körper. Sie hob ihn vom Boden, als wäre er schwerelos, und legte ihn sanft auf ihren Schoß.

Er ist schön, sagte sie. So wunderschön. Selbst durch den Schleier des Fleisches hindurch strahlt er wie die Sonne.

Sie stand in einer eleganten, gleitenden Bewegung auf und hielt den Jungen in den Armen. Du solltest mein Stern sein, flüsterte sie, bevor sie ihre weißen Lippen gegen die Stirn des schlafenden Jungen drückte. Mein heiß geliebter Favorit, für immer und immer, bis zum Ende der Welt und darüber hinaus.

Der Junge bewegte sich, als sie ihn berührte, drehte sich im Schlaf zu ihr, und die Weiße Dame lachte erfreut. Sie drückte ihn sanft an die Brust, drehte sich um und trat zurück durch den Riss in der Welt. Ihr Licht verschwand mit ihr. Die weiße Linie hatte noch einen Augenblick Bestand, nachdem die Dame verschwunden war, dann schimmerte auch sie und löste sich auf, sodass der Wald dunkler und leerer zurückblieb als vorher.

Legende von Eli Monpress 02 - Herr des Windes
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