1. Teil
LOCO
»Ich wurde lebend geboren. Ist das nicht Strafe genug?«
MARY HENDRICKSEN
während ihrer Verhandlung
wegen Muttermordes
9
I
Die Wahrheit
Daß von allen hastigen und mitternächtlichen Versprechen, die im Namen der Liebe gemacht wurden, keines gewißlicher gebrochen wurde als: Ich werde dich nie verlassen, wußte Boone jetzt.
Was einem die Zeit nicht unter der Nase wegstahl, stahlen die Umstände. Es war vergebens, etwas anderes zu hoffen; vergebens zu träumen, daß einem die Welt irgend etwas Gutes tun wollte. Alles Wertvolle, alles, woran man sich seiner geistigen Gesundheit zuliebe klammerte, verdarb oder wurde einem auf lange Sicht entrissen, und der Abgrund klaffte unter einem, wie er jetzt für Boone klaffte, und plötzlich war man – ohne auch nur den Hauch einer Erklärung – einfach verschwunden. Zum Teufel gegangen oder Schlimmeres, trotz Liebesbeteue-rungen und allem.
Seine Einstellung war nicht immer so pessimistisch gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben – das war noch gar nicht so lange her –, da hatte er gespürt, wie sich die Last seines Zorns gehoben hatte. Weniger psychotische Episo-den, weniger Tage, an denen ihm danach zumute gewesen war, sich die Pulsadern aufzuschlitzen, anstatt die Stunden bis zur nächsten Verabreichung seiner Medizin auszuhalten. Es schien eine Chance bestanden zu haben, glücklich zu werden.
Diese Aussicht hatte ihm die Beteuerung seiner Liebe entlockt, dieses: »Ich werde dich nie verlassen«, das er in Loris Ohr geflüstert hatte, als sie in dem schmalen Bett 10
lagen, von dem er sich nie hätte träumen lassen, daß einmal zwei darin liegen würden. Die Worte waren nicht in den Wehen heftigster Leidenschaft hervorgebracht worden. Ihr Liebesleben war, wie so vieles zwischen ihnen, von Problemen überfrachtet. Aber wo ihn andere Frauen aufgegeben und sein Versagen nie verziehen hatten, war sie beharrlich geblieben: hatte ihm gesagt, sie hätten genügend Zeit, es in Ordnung zu bringen, alle Zeit der Welt. Ich bin bei dir, solange du es willst, schien ihre Geduld ihm gesagt zu haben.
Niemand hatte je eine solche Verpflichtung angeboten; und er wollte eine als Gegenleistung bieten. Diese Worte:
»Ich werde dich nie verlassen.« Das war sie.
Die Erinnerung daran, und an ihre Haut, die in der Düsternis seines Zimmers fast leuchtend gewesen war, und an das Geräusch ihres Atems, als sie endlich neben ihm einschlief – das alles hatte immer noch die Kraft, sein Herz zu packen und zu drücken, bis es schmerzte.
Er sehnte sich danach, von den Erinnerungen und den Worten frei zu sein, da ihm die Umstände jetzt jegliche Hoffnung auf ihre Erfüllung genommen hatten. Aber sie würden nicht vergessen werden. Sie verweilten, um ihn mit seiner Schwäche zu quälen. Sein schwacher Trost war, daß sie – da sie wußte, was sie über ihn wissen mußte –
daran arbeiten würde, die Erinnerung auszulöschen; und daß sie mit der Zeit Erfolg haben würde. Er hoffte nur, sie würde die Unwissenheit bezüglich seiner selbst verstehen, als er das Versprechen ausgesprochen hatte. Er hätte diesen Schmerz niemals riskiert, hätte er bezweifelt, daß die Gesundheit endlich in seiner Reichweite war.
Träum weiter!
Decker hatte diesen Selbsttäuschungen ein abruptes Ende bereitet, als er an jenem Tag die Praxistür abge-sperrt, die Jalousien vor den Frühlingssonnenschein von 11
Alberta ge zogen und mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war, gesagt hatte:
»Boone. Ich glaube, wir sind in schrecklichen Schwie -
rigkeiten, Sie und ich.«
Boone sah, daß er zitterte, eine Tatsache, die sich bei einem so gewaltigen Körper nicht leicht verbergen ließ.
Decker hatte die Physis eines Mannes, der die Angst des Tages in einer Sporthalle ausschwitzte. Nicht einmal seine stets anthrazitfarbenen Maßanzüge konnten seine Masse zähmen. Das hatte Boone am Anfang ihrer gemeinsamen Arbeit nervös gemacht; die körperliche und geistige Auto-rität des Doktors hatte ihn eingeschüchtert. Jetzt fürchtete er das Scheitern dieser Kraft. Decker war ein Fels; er war Vernunft; er war Ruhe. Diese Angst lief allem zuwider, was er über den Mann wußte.
»Was ist los?« fragte Boone.
»Setzen Sie sich, ja? Setzen Sie sich, dann sage ich es Ihnen.«
Boone tat, wie ihm geheißen worden war. In seiner Praxis war Decker der Herr. Der Doktor lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und atmete durch die Nase, sein Mund war zu einer abwärts gekrümmten Kurve versiegelt.
»Sagen Sie mir...«, sagte Boone.
»Wo soll ich anfangen?«
»Irgendwo.«
»Ich dachte, es ginge Ihnen besser«, sagte Decker. »Das dachte ich wirklich. Dachten wir beide.«
»Ich denke es noch«, sagte Boone.
Decker schüttelte unmerklich den Kopf. Er war ein Mann mit bemerkenswerter Intelligenz, aber davon zeigte sich wenig in den dichtgedrängten Zügen, es sei denn vielleicht in den Augen, die in diesem Moment nicht den Patienten ansahen, sondern den Tisch zwischen ihnen.
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»Sie haben angefangen, bei Ihren Sitzungen zu reden«, sagte Decker, »über Verbrechen, die Sie Ihrer Meinung nach begangen haben. Erinnern Sie sich daran?«
»Sie wissen, daß ich mich nicht erinnere.« Die Trancen, in die Decker ihn versetzte, waren zu tief: »Ich erinnere mich nur, wenn Sie das Band abspielen.«
»Von diesen werde ich keine abspielen«, sagte Decker.
»Ich habe sie gelöscht.«
»Warum?«
»Weil... ich Angst habe, Boone. Um Sie.« Er machte eine Pause. »Vielleicht um uns beide.«
Der Riß in dem Fels wurde breiter, und Decker konnte nichts tun, um ihn zu verbergen.
»Was sind das für Verbrechen?« fragte Boone.
»Morde. Sie sprechen wie besessen davon. Zuerst dachte ich, es wären Traum verbrechen. Sie hatten immer eine Ader der Gewalt in sich.«
»Und jetzt?«
»Jetzt fürchte ich, daß Sie sie tatsächlich begangen haben könnten.«
Es folgte ein längeres Schweigen, während Boone Decker mehr verwirrt als wütend studierte. Die Jalousien waren nicht ganz heruntergezogen. Ein Streifen Sonnenlicht fiel über ihn und auf den Tisch zwischen ihnen. Auf der Glasplatte standen eine Flasche stilles Wasser, zwei Schwenker und ein großer Umschlag. Decker beugte sich nach vorne und hob ihn hoch.
»Was ich jetzt mache, ist wahrscheinlich auch ein Verbrechen«, sagte er zu Boone. »Vertraulic hkeit bei Patienten ist eines, aber einen Killer zu schützen etwas anderes.
Aber ein Teil von mir fleht immer noch zu Gott, daß es nicht wahr ist. Ich möchte glauben, daß ich erfolgreich war. Daß wir erfolgreich waren. Gemeinsam. Ich möchte glauben, daß es Ihnen gutgeht.«
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»Es geht mir gut.«
Statt einer Antwort riß Decker den Umschlag auf.
»Ich möchte gerne, daß Sie sich das hier für mich ansehen«, sagte er, glitt mit der Hand in den Umschlag und förderte einen Stapel Fotografien ans Licht.
»Ich warne Sie, sie sind nicht angenehm.«
Er legte sie auf sein Spiegelbild – so gedreht, daß Boone sie betrachten konnte. Seine Warnung war gut gewesen. Das erste Bild auf dem Stapel war wie ein körperlicher Angriff. Als er es sah, stieg eine Angst in ihm empor, wie er sie nicht mehr empfunden hatte, seit er in Deckers Obhut gekommen war: daß das Bild ihn besit-zen könnte. Er hatte Stein für Stein eine Mauer gegen diesen Aberglauben gebaut, aber jetzt bebte sie und drohte einzustürzen.
»Es ist nur ein Bild.«
»Das stimmt«, antwortete Decker. »Es ist nur ein Bild.
Was sehen Sie?«
»Einen toten Mann.«
»Einen ermordeten Mann.«
»Ja. Einen ermordeten Mann.«
Nicht einfach ermordet: abgeschlachtet. Das Leben in rasender Wut mit Stichen und Schlitzen aus ihm heraus-geschlachtet, sein Blut mit der Klinge, die seinen Hals zerfetzt, sein Gesicht verwüstet hatte, an die Mauer hinter ihm geschleudert. Er hatte lediglich Unterhosen an, so daß man die Verletzungen an seinem Körper trotz des vielen Blutes mühelos zählen konnte. Genau das tat Boone jetzt, damit das Entsetzen ihn nicht überwältigte.
Nicht einmal hier, in diesem Zimmer, wo der Doktor aus dem Block des Zustands seines Patienten ein anderes Selbst gemeißelt hatte, hatte Boone jemals so am Grauen gewürgt, wie er jetzt würgte. Er schmeckte das Früh-stück in seinem Hals, oder die Mahlzeit vom Vorabend, 14
die wider die Natur aus seinen Eingeweiden emporstie -
gen. Scheiße in seinem Mund, gleich dem Schmutz dieser Tat.
Zähle die Wunden, sagte er zu sich; tu so, als wären sie Perlen eines Abakus. Drei, vier, fünf in Unterleib und Brust: Eine besonders zerfetzte, mehr ein Riß als eine Wunde, klaffte so weit, daß die Innereien des Mannes herausschauten. Zwei weitere an der Schulter. Und dann das Gesicht, von Schnittwunden entstellt. So viele , daß man ihre Zahl nicht einmal schätzen konnte, nicht einmal der teilnahmslose Beobachter. Sie machten das Opfer völlig unkenntlich: Augen herausgerissen, Lippen aufgeschlitzt, die Nase in Fetzen.
»Genug?« fragte Decker, als wäre diese Frage nötig gewesen.
»Ja.«
»Es gibt noch viel mehr zu sehen.«
Er deckte das zweite auf und legte das erste neben den Stapel. Dieses zeigte eine auf einem Sofa liegende Frau, deren Ober- und Unterleib auf eine Weise verdreht waren, die die Natur nicht zugelassen hätte. Sie war zwar wahrscheinlich nicht mit dem ersten Opfer verwandt, aber der Schlächter hatte eine garstige Ähnlichkeit erzeugt. Diese Lippenlosigkeit, dieselbe Augenlosigkeit. Sie waren von verschiedenen Eltern geboren worden, aber sie waren Geschwister im Tod, von derselben Hand vernichtet.
Und ich bin ihr Vater? überlegte sich Boone.
› Nein‹ , war die Antwort seines Innersten. ›Das habe ich nicht getan.‹
Aber zwei Dinge hinderten ihn daran, sein Leugnen in Worte zu kleiden. Zunächst einmal wußte er, Decker würde das Gleichgewicht seines Patienten nicht in dieser Weise gefährden, wenn er nicht gute Gründe dafür hatte.
Zweitens war das Leugnen wertlos, da sie beide wußten, 15
wie leicht sich Boones Verstand in der Vergangenheit selbst getäuscht hatte. Selbst wenn er für diese Scheuß-
lichkeiten verantwortlich war, herrschte keine Gewißheit, ob er es wissen würde.
Daher wahrte er sein Schweigen und wagte nicht, zu Decker aufzusehen, weil er fürchtete, den Fels zertrümmert zu sehen.
»Noch eines?« sagte Decker.
»Wenn wir müssen.«
»Wir müssen.«
Er deckte ein drittes Foto auf und ein viertes, legte die Bilder wie Karten bei einer Tarotsitzung auf den Tisch, nur war in diesem Fall jede einzelne der Tod. In der Küche, vor der offenen Kühlschranktür. Im Schlafzimmer, neben Lampe und Wecker. Oben auf der Treppe; vor dem Fenster. Die Opfer waren in jedem Alter, jeder Hautfarbe; Männer, Frauen und Kinder. Welcher Dämon auch immer dafür verantwortlich war, er traf keinerlei Unterscheidun-gen. Er löschte das Leben einfach aus, wo immer er es fand. Nicht schnell; nicht rationell. Die Zimmer, in denen diese Menschen gestorben waren, legten ein deutliches Zeugnis ab, wie der Killer in bester Laune mit ihnen gespielt hatte. Möbel waren umgeworfen worden, als sie sich bemühten, dem coup de grace zu entgehen, ihre blutigen Fingerabdrücke waren auf Wänden und gestrichenen Flächen zu sehen. Einer hatte einen Finger an der Klinge verloren, hatte möglicherweise danach gegriffen; die meisten hatten ihre Augen verloren. Aber keiner war entkommen, wie tapfer ihr Widerstand auch gewesen sein mochte. Letztendlich waren sie alle gefallen, waren in ihre Unterwäsche verschlungen oder hatten hinter einem Vorhang Zuflucht gesucht. Waren schluchzend gefallen; waren würgend gefallen.
Es waren alles in allem elf Fotos. Jedes war anders –
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große und kleine Zimmer, nackte und bekleidete Opfer.
Und doch waren sie alle gleich: Bilder von dargestelltem Wahnsinn, die aufgenommen worden waren, nachdem der Darsteller bereits wieder gegangen war.
Allmächtiger Gott, war er dieser Mann?
Da er selbst die Antwort nicht wußte, stellte er dem Fels die Frage, sprach, ohne von den glitzernden Karten aufzusehen.
»Habe ich das getan?« sagte er.
Er hörte Decker seufzen, bekam aber keine Antwort, daher wagte er es, seinen Ankläger anzusehen. Als die Fotos vor ihm ausgebreitet worden waren, hatte er den Blick des Mannes wie einen kribbelnden Schmerz auf der Kopfhaut gespürt. Aber jetzt stellte er fest, daß der Blick wieder abgewendet war.
»Bitte sagen Sie es mir«, sagte er. »Habe ich das getan?«
Decker wischte sich die feuchten Hautsäcke unter den grauen Augen ab. Er zitterte nicht mehr.
»Ich hoffe nicht«, sagte er.
Die Antwort schien lächerlich mild zu sein. Dies war keine unbedeutende Gesetzesübertretung, von der sie hier sprachen. Es war elffacher Mord; und wie viele weitere mochten es noch sein? Aus den Augen, aus dem Sinn?
»Sagen Sie mir, wovon ich gesprochen habe«, bat er.
»Sagen Sie mir die Worte...«
»Es war größtenteils Gestammel.«
»Wie kommen Sie dann darauf, daß ich verantwortlich bin? Sie müssen doch Gründe haben.«
»Ich habe Zeit gebraucht«, sagte Decker, »um die ganze Sache zusammenzufügen.« Er sah auf die Leichenhalle auf dem Tisch hinab und schob eine etwas schief liegende Fotografie gerade.
»Ich muß einen vierte ljährlichen Bericht über unsere Fortschritte abgeben. Das wissen Sie. Daher spiele ich die 17
Bänder unserer früheren Sitzungen regelmäßig ab, um mir ein Bild zu machen, wie wir vorankommen...« Er sprach langsam, niedergeschlagen. »...und mir ist aufge-falle n, daß in Ihren Antworten immer dieselben Phrasen auftauchen. Meistens in anderem Material begraben, aber da. Es war, als würden Sie etwas gestehen; aber etwas so Gräßliches, daß Sie es nicht einmal in Trance über sich bringen konnten, es auszusprechen. Statt dessen kam es in diesem... Kode heraus.«
Boone kannte Kodes. Während der schlimmen Zeit hatte er sie überall gehört. Botschaften eines imaginären Gegners im zwischen Sendern eingestellten Radio; oder im Murmeln des Verkehrs vor der Dämmerung. Es überraschte ihn nicht, daß er selbst die Kunst gelernt haben könnte.
»Ich habe bei den Polizisten, die ich behandelt habe«, fuhr Decker fort, »ein paar beiläufige Erkundigungen eingezogen. Nichts Eindeutiges. Und sie haben mir von den Morden erzählt. Einige Ein zelheiten kannte ich natürlich aus der Presse. Sieht so aus, als würde das schon seit etwa zweieinhalb Jahren andauern. Mehrere hier in Calgary; der Rest im Umkreis einer Fahrtstunde. Die Arbeit eines einzigen Mannes.«
»Meine.«
»Ich weiß nicht«, sagte Decker und sah Boone endlich an. »Wenn ich sicher wäre, hätte ich alles gemeldet...«
»Aber Sie sind es nicht.«
»Ich will es ebensowenig glauben wie Sie. Sollte sich herausstellen, daß es wahr ist, bekleckert es mich nicht gerade mit Ruhm.« Es war Zorn in ihm, der kaum verhoh-len wurde. »Darum habe ich gewartet. Ich hoffte, Sie würden bei mir sein, wenn der nächste passiert.«
»Sie meinen, einige dieser Menschen sind gestorben, als Sie es schon wußten?«
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»Ja«, sagte Decker tonlos.
»Mein Gott!«
Dieser Gedanke riß Boone vom Sessel, sein Bein stieß gegen den Tisch. Die Mordfotos wirbelten durcheinan-der.
»Seien Sie leise«, forderte Decker.
»Menschen sind gestorben, und sie haben gewartet?«
»Dieses Risiko bin ich für Sie eingegangen, Boone. Das werden Sie respektieren.«
Boone wandte sich von dem Mann ab. Kalter Schweiß bedeckte sein Rückgrat.
»Setzen Sie sich«, sagte Decker. »Bitte setzen Sie sich und sagen Sie mir, was Ihnen diese Fotos bedeuten.«
Boone hatte unwillkürlich die Hand vor die untere Gesichtshälfte gelegt. Er wußte aus Deckers Anweisungen, was dieser spezielle Ausdruck der Körpersprache bedeutete. Sein Verstand benutzte seinen Körper, um eine Enthüllung zu dämpfen; oder völlig zum Schweigen zu bringen.
»Boone. Ich brauche Antworten.«
»Sie bedeuten nichts«, sagte Boone, ohne sich umzudrehen.
»Gar nichts?«
»Gar nichts.«
»Sehen Sie sie noch einmal an.«
»Nein«, beharrte Boone. »Ich kann nicht.«
Er hörte den Doktor einatmen und erwartete halb die Forderung, sich dem Grauen nochmals auszusetzen. Statt dessen war Deckers Tonfall versöhnlich.
»Schon gut, Aaron«, sagte er. »Schon gut. Ich entferne sie.«
Boone drückte die Handballen gegen die geschlossenen Augen. Die Augenhöhlen waren heiß und naß.
»Sie sind fort, Aaron«, sagte Decker.
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»Nein, sind sie nicht.«
Sie waren noch bei ihm; perfekt eingeprägt. Elf Zimmer und elf Leichen, die jenseits jeglichen Exorzismus vor seinem geistigen Auge verankert waren. Die Mauer, die Decker in fünf Jahren aufgebaut hatte, war in ebenso vielen Minuten niedergerissen worden, von ihrem eigenen Architekten. Boone war wieder der Barmherzigkeit seines Wahnsinns ausgeliefert. Er hörte ihn in seinem Kopf heulen, er kam aus elf aufgeschlitzten Luftröhren, aus elf durchbohrten Mägen. Atem und Darmgas sangen die alten Lieder des Wahnsinns.
Warum waren seine Verteidigungsmechanismen nach soviel Mühe so leicht zusammengebrochen? Seine Augen kannten die Antwort, sie vergossen Tränen, um das auszusprechen, was seine Zunge nicht konnte. Er war schuldig. Warum sonst? Hände, die er eben jetzt an seinen Hosen trockenrieb, hatten gequält und gemordet. Tat er, als wäre es nicht so, würde er sie lediglich zu weiteren Verbrechen verlocken. Es war besser, wenn er gestand, auch wenn er sich an nichts erinnerte, als einen weiteren unbedachten Augenblick zu riskieren.
Er drehte sich um und sah Decker an. Die Fotos waren eingesammelt und verkehrt herum auf den Tisch gelegt worden.
»Erinnern Sie sich an etwas?« sagte der Doktor, der die Veränderung in Boones Gesicht sah.
»Ja«, antwortete er.
»Woran?«
»Ich war es«, sagte Boone einfach. »Ich war es jedesmal.«
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II
Akademie
l
Decker war der mildeste Staatsanwalt, den sich ein Ange-klagter nur wünschen konnte. Die Stunden, die er nach jenem ersten Tag mit Boone verbrachte, waren von sorgfältig formulierten Fragen erfüllt, während sie gemeinsam
– Mord für Mord – die Beweise für Boones geheimes Leben untersuchten. Obwohl der Patient darauf beharrte, daß es seine Verbrechen waren, riet Decker zur Vorsicht.
Schuldeingeständnisse waren keine gültigen Beweise. Sie mußten sicher sein, daß bei den Geständnissen nicht einfach Boones selbstzerstörerische Natur mitspielte, die die Verbrechen aus Gier nach Bestrafung gestand, Boone war nicht in der Position zu widersprechen.
Decker kannte ihn besser, als er sich selbst kannte. Und er hatte auch Deckers Bemerkung nicht vergessen, sollte sich das Schlimmste als wahr erweisen, würde der Ruf des Doktors als Heiler vor die Hunde gehen: Keiner von ihnen konnte es sich leisten, sich zu irren. Die einzige Möglichkeit, sich Gewißheit zu verschaffen, war es, die Einzelheiten der Morde durchzugehen – Zeiten, Namen und Orte
– und zu hoffen, Boones Gedächtnis würde sich erinnern. Oder daß sie einen Mord fanden, der geschehen war, als er ohne jeden Zweifel in Gesellschaft von anderen gewesen war.
Der einzige Teil des Vorgangs, vor dem Boone zurück-schreckte, war das neuerliche Betrachten der Fotos. Er leistete Deckers sanftem Druck achtundvierzig Stunden lang Widerstand und gab erst nach, als die Sanftheit 21
verschwand und Decker ihn bedrängte und ihm Feigheit und Täuschungsmanöver vorwarf. War das alles ein Spiel, wollte Decker wissen; eine Übung in Selbstkasteiung, nach der keiner von ihnen schlauer sein würde? Wenn ja, konnte Boone verdammt noch mal sofort aus seinem Büro verschwinden und jemandem anderem die Zeit stehlen.
Boone willigte ein, die Fotos zu betrachten.
Nichts an ihnen löste seine Erinnerung aus. Das Blitzlicht der Kamera hatte zahlreiche Einzelheiten ausgewa-schen; was blieb, war das Übliche. Die einzigen Anblicke, die eine Reaktion hätten auslösen können – die Gesic hter der Opfer – waren vom Killer ausgelöscht und zur Unkenntlichkeit zerstückelt worden; nicht einmal der meisterhafteste Maskenbildner hätte diese zerschmet-terten Fassaden wieder zusammenfügen können. Daher lief alles auf die unbedeutenden Einzelheiten hinaus, wo Boone in dieser oder jener Nacht gewesen war; mit wem; was er gemacht hatte. Da er nie Tagebuch geführt hatte, war es schwierig, die Fakten zu bestätigen, aber er war die meiste Zeit – abgesehen von den Stunden, die er mit Lori oder Decker verbracht hatte, von denen keine mit Mordnächten zusammenzufallen schienen, allein gewesen – und ohne Alibi. Am Ende des vierten Tages begann die Beweislast gegen ihn erdrückend zu wirken.
»Genug«, sagte er zu Decker. »Wir haben genug getan.«
»Ich würde es gern noch einmal durchgehen.«
»Was soll das?« sagte Boone. »Ich möchte alles hinter mich bringen.«
In den vergangenen Tagen – und Nächten – hatten sich viele der alten Symptome, die Anzeichen der Krankheit, die er, wie er glaubte, fast völlig überwun-den hatte, wieder eingestellt. Er konnte nicht mehr lä nger als fünf Minuten am Stück schlafen, bevor absto-
ßende Visionen
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ihn in ein benommenes Wachsein zurückstießen; er konnte nicht mehr richtig essen; er schlotterte von innen nach außen, jede Minute des Tages. Er wollte dem ein Ende machen; wollte die Geschichte preisgeben und bestraft werden.
»Geben Sie mir noch etwas Zeit«, sagte Decker. »Wenn wir jetzt zur Polizei gehen, werden Sie mir weggenommen. Sie werden mir wahrscheinlich nicht einmal gestat-ten, Sie zu besuchen. Sie werden allein sein.«
»Das bin ich schon«, antwortete Boone. Seit er diese Fotos zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er sich jeglichen Kontakt untersagt, selbst mit Lori, weil er sein Poten-tial, Schaden anzurichten, fürchtete.
»Ich bin ein Monster«, sagte er. »Das wissen wir beide.
Wir haben alle Beweise, die wir brauchen.«
»Es ist keine Frage der Beweise.«
»Was dann?«
Decker lehnte sich an den Fensterrahmen, als wäre ihm seine Masse neuerdings eine Last.
»Ich verstehe Sie nicht, Boone«, sagte er.
Boones Blick glitt vom Mann zum Himmel. Heute wehte der Wind aus Südost; Wolkenfetzen eilten ihm voraus.
Ein schönes Leben, dachte Boone, dort oben zu sein, leichter als Luft. Hier unten war alles schwer; Fleisch und Schuld brachen einem das Rückgrat.
»Ich habe vier Jahre mit dem Versuch verbracht, Ihre Krankheit zu verstehen und habe gehofft, ich könnte sie heilen. Und ich dachte, ich hätte Erfolg. Dachte, es be-stünde eine Chance, daß alles gut würde...«
Er verstummte, stürzte in die Grube seines Scheiterns.
Boone war nicht so sehr in seinem eigenen Schmerz versunken, daß er nicht sah, wie sehr dieser Mann gelitten hatte. Aber er konnte nichts tun, um dieses Leid zu lindern. Er sah nur den Wolken zu, die oben im Licht 23
vorüberzogen, und wußte, es lagen nur dunkle Zeiten vor ihnen.
»Wenn die Polizei Sie vernimmt...« murmelte Decker,
»werden nicht nur Sie allein sein, Boone. Ich werde auch allein sein. Sie werden Patient eines anderen werden: eines Kriminalpsychologen. Ich werde keinen Zugang mehr zu Ihnen haben. Darum bitte ich... Geben Sie mir noch etwas Zeit. Lassen Sie mich soviel ich kann verstehen, bevor es zwischen und aus ist.«
Er redete wie ein Liebhaber, dachte Boone am Rande; als wäre es sein Leben, was zwischen uns ist.
»Ich weiß, daß Sie leiden«, fuhr Decker fort. »Daher habe ich Medizin für Sie. Tabletten, die das Schlimmste im Zaum halten. Nur bis wir fertig sind...«
»Ich traue mir selbst nicht«, sagte Boone. »Ich könnte jemandem weh tun.«
»Das werden Sie nicht«, antwortete Decker mit ersehn-ter Gewißheit. »Die Drogen werden Sie nachts zurückhalten. Die restliche Zeit werden Sie bei mir sein. Bei mir sind Sie sicher.«
»Wie lange wollen Sie noch?«
»Höchstens ein paar Tage. Das ist nicht zuviel verlangt, oder? Ich muß wissen, warum wir versagt haben.«
Der Gedanke, nochmals über diesen blutgetränkten Boden zu schreiten, war erschreckend, aber er mußte eine Schuld begleichen. Mit Deckers Hilfe hatten sich neue Möglichkeiten abgezeichnet; er mußte dem Doktor die Möglichkeit lassen, etwas aus den Ruinen dieser Vision zu bergen.
»Machen Sie schnell«, sagte er.
»Danke«, sagte Decker. »Das bedeutet mir sehr viel.«
»Und ich brauche die Tabletten.«
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2
Er hatte die Tabletten bekommen. Dafür hatte Decker gesorgt. Tabletten, die so stark waren, daß er nicht einmal sicher war, ob er seinen eigenen Namen noch hätte nennen können, nachdem er sie genommen hatte. Tabletten, die das Schlafen leicht und das Wachsein zu einem Besuch in einem Halbleben machten, aus dem er mit Freuden wieder floh. Tabletten, nach denen er binnen vierundzwanzig Stunden süchtig war.
Decker stand zu seinem Wort. Wenn er mehr wollte, wurden sie geliefert, und sie machten sich unter ihrem einlullenden Einfluß wieder an die Beweise, während der Doktor immer wieder die Einzelheiten von Boones Verbrechen in der Hoffnung durchging, sie zu begreifen.
Aber nichts wurde klar. Boones zunehmend passiver Widerstand konnte sich nach diesen Sitzungen nur noch an verschwommene Bilder von Türen erinnern, durch die er geschlüpft war, und von Treppen, die er hinaufgestie -
gen war, um Morde zu begehen. Von Decker, der sich immer noch bemühte, etwas von Wert aus dem zunehmend verschlossenen Verstand seines Patienten zu retten, bekam er immer weniger mit. Boone kannte nur noch Schlaf und Schuld und die ständig höher bewertete Hoffnung, beide mochten ein Ende haben.
Nur Lori, oder besser gesagt, Erinnerungen an sie, brachen die Herrschaft der Drogen. Manchmal konnte er mit seinem inneren Ohr ihre Stimme hören, so klar wie eine Glocke, die Worte wiederholte, welche sie während einer beiläufigen Unterhaltung zu ihm gesagt hatte, die er nun aus der Vergangenheit emporzerrte. Diese Phrasen enthielten nichts Wichtiges; wahrscheinlich assoziierte er sie mit einem Blick, den er genossen hatte, oder einer 25
Berührung. Jetzt konnte er sich weder an Blicke noch an Berührungen erinnern – die Drogen hatten einen Groß-
teil seiner Fähigkeit der Fantasie entfernt. Er hatte nur noch diese zusammenhanglosen Zeilen, die ihn nicht nur beunruhigten, weil sie von jemandem an seiner Schulter gesprochen worden zu sein schienen, sondern auch, weil sie keinen Zusammenhang hatten, an den er sich erinnern konnte. Am schlimmsten aber, ihr Klang erinnerte ihn an die Frau, die er geliebt hatte und die er nie mehr wiedersehen würde, es sei denn über eine Balustrade im Gerichtssaal hinweg. Eine Frau, der er ein Versprechen gegeben hatte, das er innerhalb von Wochen danach brach. In seinem Elend und mit seinem kaum zusammenhängenden Denken erschien ihm dieses gebrochene Versprechen ebenso monströs wie die Verbrechen auf den Fotos. Es verdammte ihn zur Hölle.
Oder in den Tod. Besser in den Tod. Er war nicht ganz sicher, wieviel Zeit seit seiner Übereinkunft mit Decker verstrichen war, dieses dumpfe Dahindämmern für einige weitere Tage der Untersuchungen einzutauschen, aber er war sicher, daß er seinen Teil der Abmachung eingehalten hatte. Er hatte sich leergeredet. Es gab nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu hören. Jetzt blieb ihm nur noch, sich dem Gesetz zu stellen und seine Verbrechen zu gestehen, oder das zu tun, wozu der Staat keine Macht mehr hatte, und das Monster töten.
Er wagte nicht, Decker in seinen Plan einzuweihen; er wußte, der Doktor würde alles in seiner Macht Stehende unternehmen, um den Selbstmord seines Patienten zu verhindern. Daher spielte er das stumme Subjekt noch einen Tag länger. Dann versprach er Decker, er würde am folgenden Morgen in der Praxis sein, ging nach Hause und bereitete alles vor, um sich selbst zu töten.
Ein weiterer Brief von Lori erwartete ihn, der vierte, seit 26
er sich zurückgezogen hatte, und sie wollte wissen, was los war. Er las ihn, so gut seine verwirrten Gedanken es zuließen, und versuchte eine Antwort, aber er konnte den Sinn der Worte, die er zu schreiben versuchte, nicht begreifen. Statt dessen steckte er den Appell ein, den sie an ihn gemacht hatte, und ging in die Dämmerung hinaus, um den Tod zu suchen.
3
Der Lastwagen, vor den er sich warf, war ihm nicht wohlgesonnen. Er preßte die Atemluft aus ihm heraus, aber nicht das Leben. Er wurde mit Prellungen und Schnitten und Schürfwunden blutend aufgehoben und ins Krankenhaus gebracht. Später sollte er einsehen, wie das alles in den Plan der Ereignisse paßte und daß ihm der Tod unter den Reifen des Lastwagens aus einem bestimm-ten Grund verweigert worden war. Aber während er im Krankenhaus saß und in einem weißen Zimmer darauf wartete, bis Menschen versorgt waren, denen es schlechter ging als ihm, konnte er sein Pech nur verfluchen.
Anderer Leben hatte er mit schrecklicher Leichtigkeit nehmen können; sein eigenes widersetzte sich ihm. Selbst dabei war er in sich selbst geteilt.
Doch das Zimmer barg – auch wenn er es nicht wußte, als er hineingeführt wurde – ein Versprechen, das die kahlen weißen Wände nic ht andeuteten. In ihm sollte er einen Namen hören, der mit der Zeit einen neuen Menschen aus ihm machen würde. Auf seinen Ruf hin würde er ausgehen wie das Monster, das er war, bei Nacht, und das Wunderbare kennenlernen.
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Dieser Name war Midian.
Er und auch er selbst hatten vieles gemeinsam, nicht zuletzt die gemeinsame Macht, Versprechen zu machen.
Doch während sich sein Schwur ewiger Liebe schon nach Wochen als hohl erwiesen hatte, machte Midian Versprechungen – mitternächtlich, wie seine eigenen, ganz und gar mitternächtlich – , die nicht einmal der Tod brechen konnte.
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III
Der Schwärmer
In den Jahren seiner Krankheit, innerhalb und außerhalb von psychiatrischen Anstalten und Sanatorien, hatte Boone sehr wenige andere Leidende kennengelernt, die sich nicht an einen Talisman klammerten, ein Zeichen oder Andenken, das an den Pforten ihrer Herzen und Köpfe Wache hielt. Er hatte rasch gelernt, solche Amulette nicht zu belächeln. Was immer einen durch die Nacht bringt, war ein Leitspruch, den ihn harte Erfahrungen gelehrt hatten.
Die meisten dieser Schutzwälle gegen das Chaos hatten für die, die sie gewirkt hatten, persönliche Bedeutung.
Trinkgläser, Schlüssel, Bücher und Fotos: Andenken an bessere Zeiten, die als Verteidigung gegen die schlechten gehütet wurden. Aber manche gehörten dem kollektiven Bewußtsein an. Sie waren Worte, die er mehr als einmal hören sollte: Nonsensverse, deren Reime die Schmerzen auf Distanz hielten; Namen von Göttern.
Unter ihnen Midian.
Er hatte den Namen dieses Ortes schätzungsweise ein halbes dutzendmal von Menschen ausgesprochen gehört, denen er unterwegs begegnet war, normalerweise von denen, deren Kraft verbraucht war. Wenn sie von Midian sprachen, dann von einem Ort der Zuflucht; einem Ort, zu dem man sich tragen ließ. Mehr noch: ein Ort, wo ihnen sämtliche Sünden, die sie begangen hatten – echte und eingebildete –, verziehen wurden. Boone kannte die Ursprünge dieser Mythologie nicht; sie hatten ihn auch nie so sehr interessiert, daß er ihnen nachgeforscht hätte.
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Er hatte keine Vergebung gebraucht, hatte er jedenfalls geglaubt. Jetzt wußte er es besser. Er hatte genügend, von dem er sich reinigen mußte; Obszönitäten, welche keine Instanz, die er kannte, von ihm nehmen konnte, die sein Verstand vor ihm verborgen hatte, bis Decker sie ans Licht holte. Er hatte sich zu einer anderen Klasse von Wesen gestellt.
Midian rief.
Er war so sehr in seinem Elend gefangen, er hatte gar nicht gemerkt, daß er das Zimmer jetzt mit jemandem teilte, bis er die krächzende Stimme hörte.
»Midian...«
Zuerst dachte er, es wäre eine andere Stimme aus der Vergangenheit, wie die von Lori. Aber als sie wieder sprach, geschah das nicht an seiner Schulter, wie es bei ihr gewesen war, sondern von jenseits des Zimmers. Er machte die Augen auf, Blut von einer Schnittwunde an der Schläfe verklebte das linke Lid, und sah den Sprechen-den. Offenbar ein weiterer Verwundeter der Nacht, der zum Verarzten hierhergebracht und dann sich selbst überlassen worden war, bis etwas Flickwerk gemacht werden konnte. Er saß in der am weitesten von der Tür des Zimmers entfernten Ecke, auf die sein wilder Blick gerichtet war, als würde jeden Moment sein Erlöser hereinkommen. Es war buchstäblich unmöglich, sein Alter oder sein wahres Aussehen zu schätzen: Schmutz und getrocknetes Blut verbargen beides. Ich muß ebenso schlimm oder schlimmer aussehen, dachte Boone. Es kümmerte ihn nicht weiter; die Leute starrten ihn immer an. In ihrem derzeitigen Zustand waren er und der Mann in der Ecke die Leute, vor denen andere die Straßenseite wechselten, um ihnen nicht zu begegnen.
Aber wo er mit seinen Jeans, den Halbstiefeln und dem schwarzen T-Shirt nur ein weiterer Niemand war, hatte 30
der andere Mann Spuren an sich, die ihn abhoben. Der lange Mantel, den er trug, war von mönchischer Schlicht-heit; das graue Haar war straff auf der Kopfhaut zurückgekämmt und hing als geflochtener Pferdeschwanz bis zur Mitte seines Rückens. Er trug Schmuck um den Hals, der von dem hohen Kragen fast verdeckt wurde, und an den Daumen zwei künstliche Nägel, die wie zu Klauen ge-formtes Silber aussahen.
Und schließlich war da der Name, den der Mann wie -
der aussprach. »...nimmst du mich mit?« fragte er leise.
»Nimmst du mich mit nach Midian?«
Sein Blick ließ nicht eine Sekunde von der Tür ab. Es schien, als würde er Boone gar nicht bemerken, bis er ohne Vorwarnung den verletzten Kopf drehte und durch das Zimmer spie. Der von Blut marmorierte Speichel traf vor Boones Füßen auf dem Boden auf.
»Zum Teufel, verschwinde von hier! Du hältst sie von mir fern. Sie kommen nicht, wenn du hier bist.«
Boone war zu müde, um zu widersprechen, und zu zerschunden, um aufzustehen. Er ließ den Mann toben.
»Verschwinde!« sagte er wieder. »Vor deinesgleichen werden sie sich nicht zeigen. Kapierst du das nicht?«
Boone legte den Kopf zurück und versuchte, sich nicht von den Schmerzen des Mannes überwältigen zu lassen.
»Scheiße!« sagte der andere. »Ich habe sie verpaßt. Ich habe sie verpaßt!«
Er stand auf und ging zum Fenster. Draußen herrschte völlige Dunkelheit.
»Sie sind vorbeigegangen«, sagte er plötzlich flehend.
Im nächsten Augenblick war er einen Meter von Boone entfernt und grinste durch den Schmutz.
»Hast du was gegen die Schmerzen?« wollte er wissen.
»Die Schwester hat mir etwas gegeben«, murmelte Boone.
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Der Mann spuckte wieder; diesmal nicht nach Boone, sondern auf den Boden.
» Trinken, Mann...« sagte er. »Hast du was zu trinken?«
»Nein.«
Das Grinsen verschwand auf der Stelle, das Gesicht verzerrte sich, als Tränen ihn überwältigten. Er wandte sich schluchzend von Boone ab, und seine Litanei fing von vorne an.
»Warum nehmen sie mich nicht? Warum kommen sie nicht und holen mich?«
»Vielleicht kommen sie später«, sagte Boone. »Wenn ich fort bin.«
Der Mann sah ihn an.
»Was weißt du?« sagte er.
Sehr wenig, lautete die Antwort; aber wenigste ns diese Tatsache behielt Boone für sich. In seinem Kopf spukten soviel Fragmente der Mythologie von Midian, daß er nach mehr brannte. War es nicht ein Ort, wo jene, die kein Ziel mehr hatten, ein Zuhause finden konnten? Und war das nicht genau sein derzeitiger Zustand? Er hatte keinen Trost mehr. Nicht Decker, nicht Lori, nicht einmal den Tod. Obwohl Midian nichts weiter als ein weiterer Talisman war, wollte er die Geschichte noch einmal erzählt bekommen.
»Erzähl mir davon«, sagte er.
»Ich habe dich gefragt, was du weißt«, antwortete der andere Mann und fing das Fleisch unter seinem unrasierten Kinn mit der Klaue der linken Hand.
»Ich weiß, daß es die Schmerzen nimmt.«
»Und?«
»Ich weiß, daß es niemanden abweist.«
»Das stimmt nicht«, lautete die Antwort.
»Nein?«
»Wenn es niemanden abweisen würde, glaubst du, 32
dann wäre ich noch nicht dort? Glaubst du, dann wäre es nicht die größte Stadt der Welt? Natürlich werden Leute abgewiesen...«
Die tränenglitzernden Augen des Mannes waren auf Boone gerichtet. Ist ihm klar, daß ich nichts weiß? fragte sich Boone. Es schien nicht so. Der Mann redete weiter, er war damit zufrieden, das Geheimnis zu teilen. Oder genauer, seine Angst davor.
»Ich gehe nicht, weil ich vielleicht nicht würdig bin«, sagte er. »Und das verzeihen sie nicht leicht. Sie verzeihen überhaupt nicht. Du weißt, was sie ... mit denen machen, die nicht würdig sind?«
Boone interessierte sich weniger für Midians Rituale des Übergangs als vielmehr für die Gewißheit des Mannes, daß es überhaupt existierte. Er sprach von Midian nicht wie vom Shangri-La eines Wahnsinnigen, sondern wie von einem Ort, den man erreichen und betreten und seinen Frieden damit schließen konnte.
»Weißt du, wie man dorthin gelangt?« fragte er.
Der Mann sah weg. Als er den Blickkontakt unterbrach, stieg eine Woge der Panik in Boone empor: Er fürchtete, der Dreckskerl würde den Rest seiner Geschichte für sich behalten.
»Ich muß es wissen«, sagte Boone.
Der andere Mann sah wieder auf.
»Das sehe ich«, sagte er, und ein Tonfall seiner Stimme verriet, daß er das Schauspiel von Boones Verzweiflung unterhaltsam fand.
»Es liegt nordwestlich von Athabasca«, antwortete der Mann.
»Ja?«
»Das habe ich gehört.«
»Dort ist freies Land«, antwortete Boone. »Man könnte ewig herumirren, wenn man keine Karte hat.«
33
»Midian ist auf keiner Karte«, sagte der Mann. »Suchen Sie östlich von Peace River; in der Nähe von Shere Neck; nördlich von Dwyer.«
Seine Aufzählung von Richtungen enthielt keinerlei Zweifel. Er glaubte ebensosehr, vielleicht mehr, an die Existenz Midians wie an die Wände, die ihn umgaben.
»Wie heißt du?« fragte Boone.
Die Frage schien ihn zu verwirren. Es war lange her, daß sich jemand die Mühe gemacht hatte, nach seinem Namen zu fragen.
»Narcisse«, sagte er schließlich. »Und du?«
»Aaron Boone. Aber niemand nennt mich je Aaron.
Nur Boone.«
»Aaron«, sagte der andere. »Wo hast du von Midian gehört?«
»Wo du auch davon gehört hast«, sagte Boone. »Wo jeder davon hört. Von anderen Menschen, die Schmerzen litten.«
»Monster«, sagte Narcisse.
Boone hatte sie nie als solche betrachtet, aber vielleicht waren sie es für objektive Augen; die Schwätzer und Weiner, die nicht imstande waren, ihre Alpträume hinter Schloß und Riegel zu halten.
»Sie sind die einzigen, die in Midian willkommen sind«, erklärte Narcisse. »Wenn man keine Bestie ist, ist man ein Opfer. Das stimmt, oder nicht? Man kann nur das eine oder das andere sein. Darum wage ich nicht, ohne Begleitung hinzugehen. Ich warte darauf, daß Freunde mich holen kommen.«
»Die bereits dort sind?«
»Ganz recht«, sagte Narcisse. »Manche leben. Andere sind gestorben und danach gegangen.«
Boone war nicht sicher, ob er die Geschichte richtig verstanden hatte.
34
» Danach gegangen?« sagte er.
»Hast du nichts gegen die Schmerzen, Mann?« sagte Narcisse, und sein Tonfall schlug wieder um, diesmal ins Jämmerliche.
»Ich habe ein paar Tabletten«, sagte Boone, dem die Reste von Deckers Vorräten einfielen. »Möchtest du davon?«
»Was du hast.«
Boone war froh, daß er sie los hatte. Sie hatten seinen Verstand in Ketten geschlagen, bis es ihm einerlei gewesen war, ob er lebte, oder starb. Jetzt nicht mehr. Jetzt hatte er ein Ziel vor Augen, wo er endlich jemanden finden mochte, der das Grauen verstand, das er durch-machte. Er würde die Tabletten nicht brauchen, um nach Midian zu gehen. Er brauchte Kraft und den Willen, Vergebung zu erlangen. Letzteres hatte er. Ersteres würde sein verletzter Körper finden müssen.
»Wo sind sie?« fragte Narcisse, dessen Züge der Appetit entzündete.
Nach der Aufnahme war Boones Lederjacke von seinem Rücken geschält worden, um die Verletzungen, die er sich selbst zugefügt hatte, flüchtig zu untersuchen. Sie hing über der Lehne seines Stuhls, eine zweimal abge-streifte Haut. Er griff mit der Hand in die Innentasche, stellte aber zu seinem Erschrecken fest, daß die vertraute Flasche nicht da war.
»Jemand ist an meiner Jacke gewesen.«
Er wühlte die anderen Taschen durch. Alle waren leer.
Loris Brief, seine Brieftasche, die Tabletten: Alles war fort.
Er brauchte nur Sekunden, bis ihm klar wurde, warum sie Beweise wollten, wer er war, und was für Folgerungen sich daraus ergaben. Er hatte einen Selbstmordversuch hinter sich; sie gingen zweifellos davon aus, daß er bereit war, es noch einmal zu versuchen. Deckers Adresse war 35
in seiner Brieftasche. Der Doktor war wahrscheinlich bereits unterwegs, um seinen irregeleiteten Patienten zu holen und der Polizei zu übergeben. Und wenn er erst einmal in den Händen des Gesetzes war, würde er Midian nie zu sehen bekommen.
»Du hast gesagt, du hättest Tabletten!« schrie Narcisse.
»Sie wurden mir weggenommen!«
Narcisse riß Boone die Jacke aus der Hand und fing an, daran zu reißen.
»Wo?« schrie er »Wo?«
Seine Gesichtszüge verzerrten sich erneut, als ihm klar wurde, daß er keinen Schuß zur Beruhigung bekommen würde. Er ließ die Jacke fallen und wich von Boone zu-rück, seine Tränen flossen wieder, rannen aber am Gesicht hinab und trafen auf ein breites Grinsen.
»Ich weiß, was du machst«, sagte er und deutete auf Boone. Gelächter und Schluchzen hielten sich die Waage.
»Midian hat dich geschickt. Um herauszufinden, ob ich würdig bin. Du bist gekommen, um festzustellen, ob ich einer von euch bin oder nicht!«
Er ließ Boone keine Möglichkeit zu widersprechen, sein Hochgefühl steigerte sich zu Hysterie.
»Ich sitze hier und bete, daß jemand kommt; flehe; und du bist die ganze Zeit da und siehst zu, wie ich mich selbst vollscheiße. Wie ich mich vollscheiße!«
Er lachte heftig. Dann todernst:
»Ich habe nie Zweifel gehabt. Nicht einmal. Ich habe immer gewußt, daß jemand kommen würde. Aber ich hatte ein Gesicht erwartet, das ich kenne. Vielleicht Mar-vin. Ich hätte wissen müssen, daß sie jemand Neuen schicken würden. Ist vernünftig. Und du hast es gesehen, richtig? Hast es gehört. Ich schäme mich nicht. Sie haben mich nie soweit gebracht, daß ich mich geschämt habe.
Frag wen du willst. Sie haben es versucht. Immer wieder.
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Sie sind in meinen verdammten Kopf gekommen und haben versucht mich auseinanderzunehmen, haben versucht, die Wilden aus mir herauszuholen. Aber ich habe durchgehalten. Ich wußte, du würdest früher oder später kommen, und ich wollte bereit sein. Darum trage ich die hier.«
Er hielt die Daumen vors Gesicht. »Damit ich es dir zeigen kann.«
Er drehte den Kopf nach rechts und links.
»Willst du es sehen?« sagte er.
Er brauchte keine Antwort. Seine Hände waren bereits an beiden Seiten des Gesichts, die Klauen berührten die Haut am Ansatz eines jeden Ohrs. Boone sah zu, Worte des Einhalts oder des Appellierens waren überflüssig.
Dies war ein Augenblick, den Narcisse zahllose Male geübt hatte; er würde ihn sich nicht nehmen lassen. Kein Laut war zu hören, als die rasiermesserscharfen Klauen die Haut aufzuschlitzen begannen, aber Blut floß sofort seinen Hals und die Arme hinab. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, er wurde nur noch intensiver: eine Maske, in der komischen Muse und Tragik vereint waren.
Dann zog er die Rasierklingenklauen mit an den Seiten des Gesichts gespreizten Fingern kontinuierlich am Um-riß des Kiefers entlang. Er hatte die Präzision eines Chirur-gen. Die Wunden öffneten sich mit vollkommener Symmetrie, bis sich die beiden Klauen am Kinn trafen.
Erst dann ließ er eine Hand an die Seite sinken, und Blut troff von Klaue und Handgelenk, die andere bewegte sich über das Gesicht und suchte den Hautlappen, den sein Vorgehen geöffnet hatte.
»Möchtest du es sehen?« sagte er wieder.
Boone murmelte:
»Nicht.«
Es blieb ungehört. Narcisse löste die Hautmaske mit 37
einem heftigen Aufwärtsruck vom Muskel darunter und begann zu ziehen, wobei er sein wahres Gesicht bloßlegte.
Boone hörte hinter sich jemanden schreien. Die Tür war aufgegangen, und eine Schwester stand auf der Schwelle.
Er sah aus dem Augenwinkel: ihr Gesicht, weißer als die Uniform, ihren weit offenen Mund; und hinter ihr den Flur, und die Freiheit. Aber er konnte es nicht über sich bringen, den Blick von Narcisse abzuwenden; nicht solange das Blut in der Luft zwischen ihnen die Offenbarung verbarg.
Er wollte das geheime Gesicht des Mannes sehen: den Wilden unter der Maske, der ihn für Midians Zuflucht qualifizierte.
Der rote Regen löste sich auf.
Die Luft klärte sich.
Jetzt sah er ein wenig von dem Gesicht, erkannte aber den Sinn in seiner komplexen Beschaffenheit nicht. War dies die Anatomie einer Bestie, die sich ihm knotig und verzerrt darbot, oder durch Selbstverstümmelung schmerzverzerrtes menschliches Gewebe? Nur noch einen Augenblick, und er würde es wissen...
Dann packte ihn jemand, ergriff seine Arme und zerrte ihn zur Tür.
Er sah Narcisse, der die Waffen seiner Hände hob, um die Retter von sich abzuhalten, dann waren die Unifor-men über ihm und verdeckten ihn.
Boone nutzte in der Aufregung des Augenblicks seine Chance. Er stieß die Schwester von sich, packte seine Lederjacke und lief zu der unbewachten Tür.
Sein zerschundener Körper war nicht auf diese heftigen Bewegungen vorbereitet. Er stolperte, Übelkeit und die stechenden Schmerzen in seinen verletzten Gliedern kämpften um die Ehre, ihn in die Knie zu zwingen, aber der Anblick des umringten und bedrängten Narcisse ge-38
nügte, ihm Kraft zu geben. Er war schon halb den Flur hinunter, ehe jemand eine Möglichkeit hatte, ihm zu folgen.
Während er zur Tür in die Nacht lief, hörte er Narcisse protestierend angeschwollene Stimme; ein Heulen der Wut, das bemitleidenswert menschlich war.
39
IV
Der Friedhof
l
Obwohl die Entfernung zwischen Calgary und Athabasca kaum mehr als dreihundert Meilen betrug, führte die Fahrt den Reisenden an die Grenze einer anderen Welt. Nördlich von hier waren Autobahnen selten und Bewohner noch seltener, während die fruchtbaren Prä-
rieländer der Provinz allmählich in Wälder, Marschland und Wildnis übergingen. Dort lag auch die Grenze von Boones Erfahrungen. Als er Anfang Zwanzig gewesen war, hatte ihn ein kurzes Zwischenspiel als Lkw-Fahrer bis Bonnyvillee im Südosten, Barrhead im Südwesten und Athabasca selbst geführt. Aber das Land dahinter war ihm unbekannt, außer als Namen auf der Landkar-te. Oder zutreffender ausgedrückt, als das Fehlen von Namen. Hier gab es weite Landstriche, die lediglich von kleinen Dörfern gesprenkelt waren; eines davon trug den Namen, den Narcisse erwähnt hatte: Shere Neck.
Die Karte, die diese Information enthielt, fand er, ebenso wie genügend Kleingeld, daß er sich eine Flasche Brandy kaufen konnte, innerhalb von fünf Minuten des Diebstahls in den Außenbezirken von Calgary. Er durch-suchte drei in einer Tiefgarage geparkte Autos und kam so zu Karte und Geld, ehe der Parkwächter den Ursprung der Alarmsignale herausgefunden hatte.
Der Regen wusch sein Gesicht; das blutige T-Shirt warf er weg und war froh, daß er seine heißgeliebte Jacke direkt auf der Haut tragen konnte. Dann suchte er sich eine 40
Mitfahrgelegenheit nach Edmonton und eine weitere, die ihn durch Athabasca nach High Prairie führte. Das war nicht schwer.
2
Nicht schwer? Nach einem Ort zu suchen, den er nur aus Gerüchten von Wahnsinnigen kannte? Vielleicht doch schwer. Aber es war notwendig; sogar unausweichlich.
Diese Reise lockte ihn, seit der Lastwagen, unter dem er sterben wollte, ihn beiseite geschleudert hatte. Vielleicht schon seit langem vorher, nur hatte er die Einladung nie gesehen. Das Gefühl, wie richtig alles war, das er hatte, hätte beinahe einen Fatalisten aus ihm gemacht. Wenn Midian existierte und bereit war, ihn aufzunehmen, dann reiste er zu einem Ort, an dem er sich endlich selbst verstehen und Frieden finden würde. Wenn nicht – wenn es nur als Talisman für die Ängstlichen und Verlorenen existierte – , dann war auch das richtig, und er würde auf das Ende zugehen, das ihn auf der Suche nach einem Nirgendwo erwartete. Das war besser als die Tabletten, besser als Deckers vergebliche Suche nach Sinn und Gründen.
Der Versuch des Doktors, das Monster in Boone auszumerzen, war zum Scheitern verurteilt gewesen. Das war so klar wir der Himmel über ihn. Boone der Mensch und Boone das Monster konnten nicht getrennt werden. Sie waren eins; sie reisten im selben Verstand und Körper auf derselben Straße. Und was immer am Ende dieser Straße lag, Tod und Ruhm, würde beider Schicksal sein.
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3
Östlich von Peace River, hatte Narcisse gesagt, in der Nähe der Stadt Shere Neck; nördlich von Dwyer.
In High Prairie mußte er unbequem schlafen, bis er am folgenden Morgen eine Mitfahrgelegenheit nach Peace River fand. Die Fahrerin war eine Frau Ende Fünfzig, die stolz auf die Gegend war, die sie seit ihrer Kindheit kannte, und ihm mit Freuden einen kurzen Geographie -
unterricht gab. Er erwähnte Midian nicht, aber Dwyer und Shere Neck kannte sie – letzteres war eine Stadt von fünftausend Seelen östlich des Highway 67. Er erfuhr, daß er gut zweitausend Meilen hätte sparen können, wäre er nicht bis High Prairie gereist, sondern hätte sich schon früher nach Norden gehalten. Einerlei, sagte sie; sie kannte einen Ort in Peace River, wo die Farmer Rast machten und etwas aßen, bevor sie wieder zu ihren Häusern zu-rückfuhren. Dort würde er jemanden finden, der ihn mitnahm, wohin er wollte.
Verwandte dort? fragte sie. Er sagte, daß es so war.
Als der letzte seiner Mitfahrer ihn etwa eine Meile von Dwyer entfernt absetzte, war es kurz vor Einbruch der Dämmerung. Er sah dem Lieferwagen nach, der einen Schotterweg entlang ins tiefe Blau hineinfuhr, dann begann er, die kurze Strecke bis zur Stadt zu Fuß zurückzule -
gen. Eine Nacht schlechten Schlafs und die Fahrten mit Farmfahrzeugen auf Straßen, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, hatten seiner ohnedies angeschlagenen Physis weiteren Tribut abverlangt. Er brauchte etwa eine Stunde, bis er den Stadtrand von Dwyer erreicht hatte, und da war es schon völlig Nacht. Das Schicksal war wieder auf seiner Seite. Ohne die Dunkelheit hätte er 42
vielleicht die Blinklichter vor ihm gar nicht gesehen; die nicht willkommen hießen, sondern warnten.
Die Polizei war vor ihm hier; drei oder vier Wagen, schätzte er. Es war möglich, daß sie jemand ganz anderes verfolgten, aber das bezweifelte er. Vielleic ht hatte der selbstvergessene Narcisse dem Gesetz das erzählt, was er Boone erzählt hatte. In dem Fall war dies ein Empfangsko-mitee. Sie suchten vielleicht schon von Haus zu Haus nach ihm. Und wenn hier, dann auch in Shere Neck. Er wurde erwartet.
Er war dankbar für den Schutz der Nacht, als er vom Weg herunter in ein Rapsfeld ging, wo er sich hinlegen und seinen nächsten Schritt planen konnte. Der Versuch, nach Dwyer zu gehen, wäre sicherlich nicht klug. Es wäre besser, er machte sich sofort auf den Weg nach Midian, achtete nicht auf Hunger und Müdigkeit und vertraute darauf, daß die Sterne und sein Instinkt ihm die Richtung zeigten.
Als er aufstand, roch er nach Erde, und so machte er sich in, wie er schätzte, nördliche Richtung auf. Er wußte genau, mit derart schlechten Orientierungsmöglichkeiten konnte er sein Ziel um Meilen verfehlen, oder es eben-sogut einfach in der Dunkelheit übersehen. Wie auch immer; er hatte keine andere Wahl, und das war eine Art Trost für ihn.
In seiner fünf Minuten währenden Diebeszeit hatte er keine Uhr finden können, daher vermittelte ihm nur die langsame Wanderung des Sternenhimmels über ihm ein Zeitgefühl. Die Luft wurde kalt, dann bitter kalt, aber er behielt sein schmerzhaftes Tempo bei und mied die Stra-
ßen, soweit er konnte, obwohl er darauf leichter gehen konnte als auf dem gepflügten und eingesäten Boden.
Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich einmal als durchaus begründet, als eine schwarze Limousine zwischen 43
zwei Polizeiautos fast lautlos eine Straße entlangfuhr, die er vor wenigen Minuten überquert hatte. Er hatte nicht den geringsten Beweis für das Gefühl, das ihn überkam, als die Autos vorbeifuhren, aber er spürte mehr als heftig, daß der Passagier der Limousine Decker war, der gute Doktor, der immer noch auf der Suc he nach dem Verstehen war.
4
Dann aus dem Nichts: Midian. Eben noch war die Nacht vor ihm konturlose Dunkelheit, im nächsten Augenblick befand sich eine Gruppe von Gebäuden am Horizont, deren gestrichene Wände graublau im Sternenlicht schim-merten. Boone stand mehrere Minuten da und studierte die Szenerie. Hinter keinem Fenster, auf keiner Veranda brannte ein Licht. Inzwischen war es sicherlich lange nach Mitternacht, und die Männer und Frauen der Stadt, die am folgenden Morgen aufstehen und arbeiten mußten, würden im Bett liegen. Aber kein einziges Licht? Das erschien ihm seltsam. So klein Midian sein mochte – von Kartographen und Schildermalern gleichermaßen vergessen –, gab es nicht einen einzigen Schlaflosen? Oder ein Kind, das den Trost einer Lampe brauchte, die die nächtlichen Stunden erhellte? Wahrscheinlicher war, daß sie auf ihn warteten – Decker und das Gesetz – , in den Schatten verborgen, bis er dumm genug war, in die Falle zu tappen. Die einfachste Lösung wäre, auf der Stelle kehrt-zumachen und sie ihrer Nachtwache zu überlassen, aber er hatte kaum noch Energie übrig. Wenn er jetzt um-kehrte, wie lange würde er warten müssen, bis er eine Rückkehr
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riskieren konnte; und jede Stunde würde die Wahrschein-lichkeit einer Entdeckung oder der letzten Ruhe wahrscheinlicher machen.
Er beschloß, den Stadtrand abzuschreiten und sich ein Gefühl für die Beschaffenheit des Geländes zu verschaffen. Wenn er keine Hinweise auf Anwesenheit der Polizei fand, würde er die Stadt betreten und die Konsequenzen auf sich nehmen. Er hatte nicht den ganzen Weg zurückgelegt, um jetzt wieder umzukehren.
Midian offenbarte nichts vor sich selbst, während er sich an seiner südöstlichen Flanke entlangbewegte, außer vielleicht seiner Leere. Er konnte nicht nur keine Spur von Polizeifahrzeugen auf den Straßen sehen, oder zwischen den Häusern verborgen, er konnte überhaupt kein Auto-mobil sehen; keine Lieferwagen, kein landwirtschaftli-ches Fahrzeug. Er fing an, sich zu fragen, ob die Stadt eine dieser religiösen Gemeinschaften sein konnte, von denen er gelesen hatte, deren religiöse Dogmen ihnen Elektrizi-tät oder Verbrennungsmotoren verweigerten.
Doch während er den Kamm eines kleinen Hügels erklomm, auf dessen Gipfel Midian stand, kam ihm eine zweite und einfachere Erklärung. Es war niemand in Midian. Bei diesem Gedanken blieb er unvermittelt stehen. Er sah zu den Häusern, suchte nach Spuren von Verfall, konnte aber keine finden. Soweit er erkennen konnte, waren alle Dächer intakt, und kein Gebäude schien am Rande des Zusammenbruchs zu sein. Doch obwohl die Nacht so still war, daß er das Huschen von Sternschnuppen über sich hören konnte, hörte er nichts aus der Stadt. Hätte jemand in der Stadt im Schlaf ge-stöhnt, hätte ihm der Wind den Laut zugetragen. Aber es herrschte Stille.
Midian war eine Geisterstadt.
Er hatte noch nie in seinem Leben solche Einsamkeit 45
empfunden. Er stand da wie ein Hund, der nach Hause zurückgekehrt war und feststellte, daß seine Herren fort waren, und der nun nicht wußte, welchen Sinn sein Lebe n jetzt noch hatte oder ob es jemals wieder einen haben würde.
Er brauchte ein paar Minuten, um sich aufzuraffen und seinen Rundgang um die Stadt fortzusetzen. Doch zwanzig Meter von der Stelle entfernt, wo er gestanden hatte, legte ihm die Kuppe des Hügels den Blick auf eine Szenerie frei, die sogar noch geheimnisvoller als das verlassene Midian war.
Auf der anderen Seite der Stadt befand sich ein Friedhof. Boones erhobene Position ermöglichte ihm ungehindert Ausblick darauf, obwohl hohe Mauern den Friedhof umgaben. Er war offenbar für die gesamte Umgebung erbaut worden, war er doch deutlich größer, als es eine Stadt von Midians Größe jemals benötigt haben würde.
Viele der Mausoleen waren von eindrucksvollen Abmes-sungen, soviel war selbst aus der Entfernung zu erkennen, und die Anlage von Wegen, Gräbern und Bäumen verlieh dem Friedhof das Aussehen einer Kleinstadt.
Boone schritt den Hang des Hügels hinab darauf zu, sein Kurs führte ihn von der Stadt selbst weg. Nachdem der durch die Annäherung an Midian ausgelöste Adrena-linstoß abgeklungen war, stellte er fest, daß seine Kraftre-serven zunehmend schwanden; Schmerzen und Erschöp-fung, die von der Aufregung betäubt worden waren, kehrten nun mit aller Macht zurück. Er wußte, es konnte nicht mehr lange dauern, bis seine Muskeln völlig aufga-ben und er zusammenbrach. Vielleicht würde er hinter den Friedhofsmauern eine Nische finden, in der er sich vor seinen Verfolgern verstecken und die müden Knochen ausruhen konnte.
Es gab zwei Zugänge. Ein schmales Tor an der Stein-46
mauer und ein Doppeltor, das der Stadt zugekehrt lag. Er entschied sich für das erstere. Es war verriegelt, aber nicht verschlossen. Er stieß es behutsam auf, und trat ein. Den Eindruck, den er auf dem Hügel gehabt hatte, daß der Friedhof wie eine Stadt wirkte, wurde hier bestätigt, die Grabmäler rings um ihn herum stiegen hoch empor. Ihre Größe und, jetzt da er sie eingehender betrachten konnte, ihre Verzierungen verblüfften ihn. Welche großen Familien hatten die Stadt oder ihre Umgebung bewohnt, wohl-habend genug, daß sie ihre Toten in solchem Prunk begraben konnten? Die kleinen Gemeinden der Prärie klammerten sich für ihren Unterhalt an das Land, aber es machte sie selten reich; und wenn es gelegentlich doch vorkam, durch Öl oder Gold, dann nie in solc h großer Zahl. Und doch befanden sich prachtvolle Grüfte hier, Reihe für Reihe, die in allen möglichen Stilrichtungen erbaut worden waren, von Klassik bis Barock, und die –
doch war er hier nicht sicher, ob seine erschöpften Sinne ihm keinen Streich spielte n – mit Motiven widerstreitender Theologien geschmückt waren.
Das verstand er nicht. Er brauchte Schlaf. Die Gräber standen seit einem Jahrhundert oder länger; das Rätsel würde bei Einbruch der Dämmerung auch noch da sein.
Er suchte sich ein abseits gelegenes Bett zwischen zwei Gräbern und legte den Kopf nieder. Die Frühlingstriebe des Grases rochen süß. Er hatte auf ungleich schlechteren Kissen geschlafen, und er sollte es wieder tun.
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V
Ein anderer Affe
Der Laut eines Tieres weckte ihn, sein Knurren fand einen Weg in Träume vom Fliegen und holte ihn auf die Erde zurück. Er machte die Augen auf. Er konnte den Hund nicht sehen, aber er hörte ihn immer noch. War er hinter ihm? Die Enge der Grabmale warf Echos hin und her. Er drehte sich sehr langsam um und sah über die Schulter.
Die Dunkelheit war unergründlich, konnte aber nicht völlig eine schwarze Bestie verbergen, deren Art unmöglich zu bestimmen war. Doch der drohende Laut aus seinem Hals ließ keine Fehlinterpretation zu. Dem Klang seines Knurrens nach zu urteilen, gefiel ihm seine eingehende Betrachtung nicht.
»He, Junge...« sagte er leise, »schon gut.« Er wollte sich mit knirschenden Gelenken aufrichten, da er wußte, wenn er auf dem Boden blieb, konnte ihm das Tier mü-
helos an den Hals gehen. Weil er auf dem kalten Boden gelegen hatte, waren seine Glieder ungelenk geworden; er bewegte sich wie ein Rheumakranker. Vielleicht hielt das das Tier von einem Angriff ab, denn es beobachtete ihn einfach, die weißen Sicheln seiner Augen – die einzigen Einzelheiten, die er erkennen konnte – wurden größer, als der Blick ihm beim Aufstehen folgte. Als er auf den Füßen stand, drehte er sich zu der Kreatur um, die auf ihn zuzugehen begann. Etwas an ihrem Gang erweckte den Eindruck in ihm, als wäre sie verwundet. Er konnte hören, wie sie ein Bein hinter sich herzog; der Kopf war gesenkt, der Gang ungleichmäßig.
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Worte des Trostes lagen ihm auf der Zunge, als sich ein Arm um seinen Hals legte und Worte und Atem gle ichermaßen erstickte.
»Eine Bewegung, und ich schlitze dich auf.«
Mit dieser Drohung kam ein zweiter Arm um seinen Körper, und Finger gruben sich mit solcher Heftigkeit in seinen Magen, daß er nicht daran zweifelte, der Mann würde seine Drohung mit bloßen Händen in die Tat umsetzen.
Boone atmete flach. Selbst diese winzige Bewegung führte dazu, daß der Todesgriff um Hals und Unterleib fester wurde. Er spürte, wie ihm Blut am Bauch hinab und in die Jeans lief.
»Wer, zum Teufel, bist du?« wollte die Stimme wissen.
Er war ein schlechter Lügner; die Wahrheit war sic herer.
»Mein Name ist Boone. Ich kam hierher... kam hierher, um Midian zu finden.«
Ließ der Griff um seinen Bauch etwas nach, als er sein Ansinnen aussprach?
»Warum?« wollte jetzt eine zweite Stimme wissen.
Boone brauchte nicht mehr als einen Herzschlag, um sich darüber klarzuwerden, daß die Stimme aus den Schatten vor ihm kam, wo die verwundete Bestie stand.
Tatsächlich sogar von der Bestie.
»Mein Freund hat dir eine Frage gestellt«, sagte die Stimme an seinem Ohr. »Antworte ihm.«
Boone, der nach dem Angriff desorientiert war, richtete den Blick wieder auf das, was im Schatten lauerte, und zweifelte an seinen Augen. Der Kopf dessen, der die Frage gestellt hatte, war nicht von fester Materie; er schien die üppigen Gesichtszüge beinahe zu inhalieren, ihre Substanz wurde dunkler und floß durch Augenhöhlen und Nasenlöcher und Mund in sich selbst zurück.
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Sämtliche Gedanken an die Gefahr, in der er schwebte, verschwanden; er wurde von einer Hochstimmung ergrif-fen. Narcisse hatte nicht gelogen. Vor ihm lag die verwandelnde Wahrheit seiner Worte.
»Ich bin gekommen, um unter euch zu sein...« sagte er und beantwortete damit die Frage des Wunders. »Ich bin gekommen, weil ich hierher gehöre.«
Eine Frage ging aus dem leisen Lachen hinter ihm hervor.
»Wie sieht er aus, Peloquin?«
Das Ding hatte sein Bestiengesicht hinuntergeschluckt.
Darunter befanden sich menschliche Züge – auf einem Körper, der mehr Reptil als Säugetier war. Das Glied, das er hinter sich hergezogen hatte, war ein Schwanz; sein verwundeter Gang war das Schleichen einer geduckten Eidechse. Auch der Körper befand sich im Wandel, als sich das Zittern der Veränderung die hervorstehende Wirbelsäule hinabbewegte.
»Sieht wie ein Natürlicher aus«, antwortete Peloquin.
»Nicht, daß es viel bedeuten würde.«
Warum konnte sein Angreifer das nicht selbst sehen, überlegte Boone.
Er betrachtete die Hand auf seinem Bauch. Sie hatte sechs Finger, die keine Nägel besaßen, sondern Krallen, die jetzt einen Zentimeter tief in seinen Muskeln vergraben waren.
»Tötet mich nic ht«, sagte er. »Ich habe einen langen Weg hinter mir, um hierher zu gelangen.«
»Hast du das gehört, Jackie?« sagte Peloquin, der sich mit seinen vier Gliedmaßen vom Boden abstieß, um auf -
recht vor Boone zu stehen. Seine Augen, die sich jetzt auf einer Ebene mit denen von Boone befanden, waren hell-blau. Sein Atem war so heiß wie die Luft aus einem offenen Feuerofen.
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»Was für eine Art Bestie bist du denn?« wollte er wissen. Die Verwandlung war so gut wie vollendet. Der Mann unter dem Monster war nicht bemerkenswert. Vierzig, schlaksig, blasse Haut.
»Wir sollten ihn nach unten bringen«, sagte Jackie.
»Lylesburg wird ihn sehen wollen.«
»Möglich«, sagte Peloquin. »Aber ich glaube, wir würden seine Zeit verschwenden. Das ist ein Natürlicher, Jackie. Ich kann das riechen.«
»Ich habe Blut vergossen...« murmelte Boone. »Habe elf Menschen umgebracht.«
Die blauen Augen betrachteten ihn abschätzend. Sie drückten Belustigung aus.
»Das glaube ich nicht«, sagte Peloquin.
»Das steht uns nicht zu«, warf Jackie ein. »Du kannst ihn nicht beurteilen.«
»Ich habe Augen im Kopf, oder nicht?« sagte Peloquin.
»Ich erkenne einen reinen Mann, wenn ich einen sehe.«
Er deutete mit dem Finger auf Boone. »Du gehörst nicht zur Nachtbrut«, sagte er. »Du bist Fleisch. Du bist du.
Fleisch für die Bestie.«
Während er sprach, verschwand die Belustigung aus seinem Gesicht und wurde von Gier ersetzt.
»Das können wir nicht machen«, protestierte die andere Kreatur.
»Wer erfährt es schon?« sagte Peloquin. »Wer wird es/e erfahren?«
»Wir brechen das Gesetz.«
Das schien Peloquin gleichgültig zu sein. Er entblöß te die Zähne, und dunkler Rauch quoll aus den Öff-nungen und stieg vor seinem Gesicht empor. Boone wußte, was als nächstes kommen würde. Der Mann atmete aus, was er vor Augenblicken inhaliert hatte: seine Echsenpersönlichkeit. Die Proportionen seines Kop-51
fes veränderten sich bereits andeutungsweise, als würde sich der Schädel unter der Fleischhülle zerlegen und neu ordnen.
»Ihr könnt mich nicht töten«, sagte er. »Ich gehöre zu euch.«
Kam da ein Nein aus dem Rauch vor ihm? Wenn ja, ging es in dem Verwandlungsprozeß verloren. Keine weiteren Diskussionen mehr. Die Bestie hatte die Absicht, ihn zu fressen...
Er verspürte stechende Schmerzen im Bauch und sah nach unten, wo sich die Krallenhand von seinem Fleisch gelöst hatte. Der Griff um seinen Hals wurde gelöst, und die Kreatur hinter ihm sagte:
»Geh!«
Er mußte sich nicht lange überreden lassen. Bevor Peloquin seine Rückverwandlung vollenden konnte, befreite sich Boone aus Jackies Umarmung und lief weg. In der Verzweiflung des Augenblicks verlor er jeglichen Orientierungssinn, den er gehabt haben mochte, eine Verzweiflung, der der Aufschrei der Wut von der hung-rigen Bestie hinter ihm zusätzliche Nahrung lieferte, sowie die – beinahe sofortigen, schien es – Laute der Verfolgung.
Der Friedhof war ein Irrgarten. Boone lief blind, duckte sich nach rechts und links, wo immer sich eine Öffnung darbot, aber er mußte nicht über die Schulter sehen, um festzustellen, daß der Verschlinger ihn einholte. Während er lief, hörte er sein Urteil im Geiste: Du gehörst nicht zur Nachtbrut. Du bist Fleisch.
Fleisch für die Bestie.
Diese Worte waren ein schlimmerer Schmerz als der in seinen Beinen und Lungen. Nicht einmal hierher gehörte er, zu den Monstern von Midian. Und wenn nicht hierher, wohin dann? Er lief, wie Beute schon immer gelaufen war, 52
wenn ihr die Hungrigen auf den Fersen waren, aber es war ein Rennen, das er nicht gewinnen konnte.
Er blieb stehen. Er drehte sich um.
Peloquin war fünf oder sechs Meter hinter ihm, sein Körper war noch menschlich, nackt und verwundbar, aber sein Kopf war völlig der einer Bestie, der Mund breit und von dornengleichen Zähnen gesäumt. Auch er blieb stehen, weil er vielleicht damit rechnete, Boone würde eine Waffe ziehen. Als keine zum Vorschein kam, streckte er seinem Opfer die Arme entgegen. Hin -
ter ihm tauchte stolpernd Jackie auf, und Boone sah den Mann zum ersten Mal. Oder waren es Männer? Sein unförmiger Kopf hatte zwei Gesichter, deren Züge beide vollkommen entstellt waren; schielende Augen, die überall hinsahen, nur nicht nach vorne, Münder, die zu einer einzigen Öffnung verschmolzen, Nasenschlitze ohne Knochen. Das war das Gesicht eines Fötus aus dem Gruselkabinett.
Jackie versuchte einen letzten Appell, aber Peloquins ausgestreckte Arme verwandelten sich bereits von den Fingerspitzen bis zu den Ellbogen, ihre Zierlichkeit wich bemerkenswerter Kraft.
Er näherte sich Boone, noch bevor der Muskel ausge-bildet war, und sprang sein Opfer an, um es zu Fall zu bringen. Boone stürzte vor ihm. Jetzt war es zu spät, seine Untätigkeit zu bedauern. Er spürte, wie Krallen an seiner Jacke rissen, um das feine Fleisch seiner Brust freizulegen. Peloquin hob den Kopf und grinste, ein Ausdruck, für den sein Mund nicht geschaffen war; dann biß er zu. Die Zähne waren nicht lang, aber es waren viele. Sie taten nicht so sehr weh, wie Boone erwartet hatte, bis Peloquin den Kopf zurückzog und einen Mundvoll Muskeln herausriß, zusammen mit Haut und Brustwarze.
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Die Schmerzen rissen Boone aus seiner Resignation; er fing an, unter Peloquins Gewicht um sich zu schlagen.
Aber die Bestie spie den Bissen aus dem Maul und suchte nach besseren Stücken, wobei sie ihrer Beute den Dunst von Blut ins Gesicht blies. Sie hatte Grund zum Ausat-men; mit dem nächsten Atemzug würde sie Boones Herz und Lungen aus der Brust saugen. Er schrie um Hilfe, und sie kam. Bevor Peloquin seinen tödlichen Atemzug machen konnte, packte Jackie ihn und zerrte ihn von seinem Opfer. Boone spürte, wie das Gewicht der Kreatur gehoben wurde, und er sah durch den Nebel der Schmerzen, wie sein Helfer mit Peloquin rang und sich ihre um sich schlagenden Glieder ineinander verhakten. Er blieb nicht, um den Sieger anzufeuern. Er drückte die Handfläche auf die Wunde an der Brust und stand auf.
Hier war keine Sicherheit für ihn; Peloquin war sicher nicht der einzige Bewohner mit Gier nach Menschenfleisch. Er konnte spüren, wie andere ihn beobachteten, während er durch den Friedhof stolperte; andere, die nur darauf warteten, daß er strauchelte und stürzte und sie ihn ohne Risiko zerreißen konnten.
Doch seine Körperfunktionen versagten trotz des Schocks ihren Dienst nicht. Seine Muskeln strotzten vor Kraft, wie er sie nicht mehr empfunden hatte, seit er sich selbst Gewalt angetan hatte, ein Ge danke, der ihn jetzt wie nie zuvor abstieß. Selbst die Verletzung, die unter seiner Hand pochte, besaß ihr Leben und feierte es. Die Schmerzen waren verschwunden, aber nicht von Taubheit ersetzt worden, sondern von einer Sinnlichkeit, die beinahe erotisch war und Boone verlockte, in die Brust zu greifen und sein Herz zu streicheln. Von derlei Unsinn abgelenkt, ließ er seine Füße vom Instinkt leiten, und sie führten ihn zum großen Doppelportal. Der Riegel widersetzte sich seinen blutverschmierten Händen, daher klet-54
terte er darüber und erklomm das Tor mit einer Leichtigkeit, die ihn zum Lachen brachte. Dann war er draußen und lief in Richtung Midian, er lief nicht aus Angst vor einer Verfolgung, sondern der Freude wegen, die seine Glieder an der Bewegung und seine Sinne an der Geschwindigkeit hatten.
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VI
Tönerne Füße
Die Stadt war tatsächlich verlassen, wie er es schon vorher geahnt hatte. Auf eine Entfernung von einer halben Meile hatten die Häuser ausgesehen, als wären sie in gutem Zustand, aber nähere Betrachtung zeigte, daß sie in schlimmer Verfassung waren, waren sie doch dem Wechsel der Jahreszeiten unbewohnt preisgegeben. Obwohl ihn immer noch ein Gefühl des Wohlbefindens erfüllte, fürchtete er, daß ihn der Blutverlust mit der Zeit fertigma-chen würde. Er brauchte etwas, um seine Verletzungen zu verbinden, wie primitiv auch immer. Auf der Suche nach einem Stück Vorhang oder einem zurückgelassenen Bett-tuch öffnete er die Tür eines Hauses und trat in die Dunkelheit im Inneren.
Erst als er drinnen war, wurde ihm bewußt, wie seltsam geschärft all seine Sinne geworden waren. Seine Augen durchdrangen das Dunkel mühelos, entdeckten den be-klagenswerten Abfall, den die ehemaligen Bewohner zu-rückgelassen hatten, welcher vom Staub trockener Erde bedeckt war – jahrelang durch zerbrochene Fenster und die verzogene Tür von der Prärie hereingeweht. Hier fand er Tuch; eine Bahn feuchtes Leinen, das er zwischen den Zähnen und der rechten Hand in Streifen riß, während er die linke auf der Verletzung ließ.
Damit beschäftigt, hörte er plötzlich das Knirschen von Dielen auf der Veranda. Er ließ den Verband aus den Zähnen fallen. Die Tür war offen. Auf der Schwelle stand ein Mann im Umriß, dessen Namen Boone kannte, ob-56
wohl sein Gesicht in Dunkelheit gehüllt war. Er roch Deckers Eau de Cologne; hörte Deckers Herzschlag; nahm Deckers Schweiß in der Luft zwischen ihnen wahr.
»So«, sagte der Doktor. »Hier sind sie also.«
Leute versammelten sich auf der sternenbeschienenen Straße. Mit übernatürlich scharfen Ohren hörte Boone die Laute nervösen Flüsterns, von Winden, die aufgewühlte Eingeweide freisetzen, von Waffen, die gespannt wurden, um den Verrückten zur Strecke zu bringen, sollte er versuchen, ihnen zu entkommen.
»Wie haben Sie mich gefunden?« sagte er.
»Narcisse, nicht?« sagte Decker. »Ihr Freund im Krankenhaus?«
»Ist er tot?«
»Ich fürchte, ja. Er starb kämpfend.«
Decker kam einen Schritt ins Haus.
»Sie sind verletzt«, sagte er. »Was haben Sie sich angetan?«
Etwas hielt Boone von einer Antwort ab. Waren die Geheimnisse von Midian so bizarr, daß man ihm ohnedies nicht glauben würde, war das der Grund? Oder ging ihre Natur Decker nichts an? Letztes sicherlich nicht. Deckers Hingabe, das Monströse zu verstehen, stand außer Zweifel. Wer wäre besser geeignet, die Offenbarung mit ihm zu teilen? Dennoch zögerte er.
»Sagen Sie es mir«, wiederholte Decker. »Wie sind Sie zu der Verletzung gekommen?«
»Später«, sagte Boone.
»Es gibt kein später. Ich glaube, das wissen Sie.«
»Ich werde überleben«, sagte Boone. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Wenigstens tut es nicht weh.«
»Ich meine nicht die Verletzung. Ich meine die Polizei.
Sie warten auf Sie.«
»Ich weiß.«
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»Und Sie werden nicht friedlich mitkommen, nicht?«
Boone war nicht mehr sicher. Deckers Stimme erinnerte ihn so sehr daran, in Sicherheit zu sein, daß er beinahe glaubte, es könne wieder möglich sein, wenn der Doktor es so haben wollte.
Aber jetzt sprach Decker nicht mehr von Sicherheit.
Nur von Tod.
»Sie sind ein mehrfacher Mörder, Boone. Verzweifelt.
Gefährlich. Es war schwer, Sie überhaupt zu überzeugen, mich in Ihre Nähe zu lassen.«
»Ich bin froh, daß Sie es getan haben.«
»Ich auch«, antwortete Decker. »Ich wollte die Möglichkeit, Lebewohl zu sagen.«
»Warum muß es so sein?«
»Das wissen Sie.«
Er wußte es nicht; eigentlich nicht. Er wußte nur mit wachsender Überzeugung, daß Peloquin die Wahrheit gesagt hatte.
Du gehörst nicht zur Nachtbrut, hatte er gesagt.
Und das stimmte; er war unschuldig.
»Ich habe niemanden umgebracht«, murmelte er.
»Ich weiß das«, antwortete Decker.
»Darum konnte ich mich an keines der Zimmer erinnern. Ich war nie dort.«
»Aber jetzt erinnern Sie sich«, sagte Decker.
»Nur weil...« Boone verstummte und sah den Mann im anthrazitfarbenen Anzug an. »...weil Sie es mir ge-zeigt haben.«
»Weil ich es Ihnen beigebracht habe«, verbesserte Decker ihn.
Boone sah ihn weiter an und wartete auf eine Erklä -
rung, die nicht mit der in seinem Kopf übereinstimmte. Es konnte nicht Decker sein. Decker war Vernunft. Decker war Ruhe.
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»Heute nacht wurden in Westlock zwei Kinder ermordet«, sagte der Doktor. »Man gibt Ihnen die Schuld.«
»Ich war nie in Westlock«, protestierte Boone.
»Aber ich«, antwortete Decker. »Ich habe dafür gesorgt, daß sie die Bilder sehen, diese Männer da draußen.
Kindsmorde sind das Allerschlimmste. Ich lasse Sie besser hier sterben, als Sie ihnen zu übergeben.«
»Sie?« sagte Boone. »Sie haben es getan?«
»Ja.«
»Alle?«
»Und noch mehr.«
»Warum?«
Decker überlegte einen Augenblick.
»Weil es mir Spaß macht«, sagte er gleichgültig.
Er sah immer noch so geistig gesund aus, mit seinem maßgeschneiderten Anzug. Nicht einmal sein Gesicht, das Boone mittlerweile deutlich sehen konnte, enthielt einen sichtbaren Hinweis auf den Wahnsinn darunter.
Wer, der den blutigen Mann und den sauberen sah, hätte Zweifel daran haben können, wer der Wahnsinnige und wer sein Heiler war? Aber der Schein konnte trügen. Es war nur das Monster, das Kind von Midian, das tatsächlich sein Fleisch verwandeln konnte, um sein wahres Selbst zu zeigen.
Decker zog eine Pistole aus der Innentasche seines Jacketts.
»Sie haben mir eine Waffe gegeben«, sagte er. »Falls Sie die Beherrschung verlieren.«
Seine Hand zitterte, aber auf diese Entfernung konnte er kaum danebenschießen. In wenigen Augenblicken würde alles vorbei sein. Die Kugel würde fliegen, und er würde tot sein, und so viele Geheimnisse waren unge-klärt. Die Verletzung; Midian; Decker. So viele Fragen, die er nie beantworten würde.
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Es gab keinen anderen Augenblick mehr als jetzt. Er schleuderte das Tuch, das er noch hielt, nach Decker, und warf sich dahinter zur Seite. Decker feuerte, der Schuß erfüllte das Zimmer mit Schall und Licht. Als das Tuch zu Boden fiel, schnellte Boone zur Tür. Als er einen Meter davon entfernt war, strahlte das Licht der Waffe wieder.
Und einen Augenblick später der Knall. Und damit ein Schlag in Boones Rücken, der ihn nach vorne schleuderte, durch die Tür auf die Veranda.
Deckers Ruf begleitete ihn. »Er ist bewaffnet!«
Boone hörte, wie sich die Schatten vorbereiteten, ihn zur Strecke zu bringen. Er hob die Arme zum Zeichen des Ergebens, machte den Mund auf, um seine Unschuld zu bekunden.
Die Männer, die hinter den Autos versammelt waren, sahen nur die blutigen Hände; Schuldbeweis genug. Sie feuerten.
Boone hörte die Kugeln in seine Richtung rasen – zwei von links, drei von rechts, eine direkt von vorn, die auf sein Herz zielte. Er hatte noch Zeit, darüber nachzudenken, wie langsam sie waren und wie melodisch. Dann trafen sie ihn: Oberschenkel, Lenden, Milz, Schulter, Wange und Herz. Er stand mehrere Sekunden aufrecht; dann feuerte jemand noch einmal, und nervöse Finger an Abzügen lösten eine zweite Salve aus. Zwei dieser Schüs-se gingen vorbei. Der Rest traf: Unterleib, Knie, zwei in die Brust, einer in die Schläfe. Dieses Mal stürzte er.
Als er auf den Boden fiel, spürte er, wie die Wunde, die ihm Peloquin beigebracht hatte, sich wie ein zweites Herz verkrampfte, und ihr Vorhandensein war in seinen letzten Augenblicken seltsam tröstlich.
Irgendwo in der Nähe hörte er Deckers Stimme, und seine Schritte, die näher kamen, als er aus dem Haus kam, um den Leichnam zu untersuchen.
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»Wir haben den Dreckskerl erwischt«, sagte jemand.
»Er ist tot«, sagte Decker.
»Nein, bin ich nicht«, dachte Boone.
Dann dachte er gar nichts mehr.
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