Kapitel 19
Als Pippa endlich wieder am Gutshaus ankam, schmerzte ihre Kehrseite vom Fahrradsattel. Während sie vergeblich versuchte, das Ziehen in ihren Waden zu ignorieren, war die Kraft der Hunde ungebrochen. Die drei Energiebündel trabten leichtfüßig zu ihren Hundehütten, und selbst Unayok, der Älteste, zeigte keinerlei Zeichen von Müdigkeit. Tuktu sprang sofort in das große Hamsterrad, offenbar wild entschlossen, den bereits gelaufenen Kilometern noch einige Dutzend hinzuzufügen.
»Ich sitze eindeutig zu viel am Schreibtisch«, murmelte Pippa, »das muss sich ändern. Es kann doch nicht sein, dass mich eine läppische Fahrradtour so umhaut!«
Severin junior fiel ihr ein, der jetzt vielleicht irgendwo in Alaska mit dem Hundeschlitten unterwegs war. Der Mann lässt dabei auch das Gespann die meiste Arbeit übernehmen, dachte sie, ich habe immerhin in die Pedale getreten … Sie kicherte innerlich. Zum Bremsen, wenn die Hunde zu schnell zogen.
Nach einem letzten neidischen Blick auf den kraftstrotzenden Tuktu, der mit heraushängender Zunge in seinem Rad tobte, ging sie quer durch den Garten zum Haus. Schon von weitem sah sie etwas leuchtend Rotes mit schwarzer Schleife an der Klinke der Terrassentür des Esszimmers baumeln. Es entpuppte sich als Ei aus Plastik, doppelt so groß wie ein Hühnerei – von der Sorte, in der kleine Geschenke verpackt werden konnten. Die Schleifenbänder hingen bis auf die Erde herab. Wie bei einem Trauerkranz war eines davon mit goldenen Prägebuchstaben beschriftet: Für Pippa Bolle, zum Nachdenken stand darauf.
Ungewöhnlich, dachte sie und runzelte die Stirn, wer macht mir denn ein Geschenk? Neugierig öffnete sie das Ei und fand darin einen Zettel. Sie zuckte zusammen, als sie die getippten Worte las: Halt dich raus, Pippa Bolle! Sonst reist du zu Pfingsten nicht nach Pankow, sondern schon ab Ostern nirgendwo mehr hin!!!
Unwillkürlich suchte sie mit Blicken den Garten ab, allerdings ohne viel Hoffnung, den Überbringer der anonymen Botschaft noch zu entdecken. Da sie den ganzen Tag unterwegs gewesen war, konnte diese uncharmante Drohung hier schon seit Stunden hängen. Pippa nahm sich vor, Christabel zu fragen, ob sie etwas bemerkt oder gesehen hatte. Sie las die Nachricht noch einmal und schüttelte verärgert den Kopf.
Meine Gegner könnten ruhig mal etwas mehr Phantasie investieren, anstatt ewig den alten Gassenhauer zu bemühen, dachte Pippa. Ein Name wie meiner kann auch ein Fluch sein.
Blieb trotzdem die Frage, wem sie diesen Drohbrief zu verdanken hatte. Schnell lief sie durch Esszimmer und Eingangshalle bis ins Wohnzimmer. In der Tür blieb sie abrupt stehen, denn Christabel lag lang ausgestreckt auf dem Sofa und schlief.
Wie zerbrechlich sie aussieht, dachte Pippa, sie ist so klar und jung im Kopf, dass ich immer wieder vergesse, wie alt sie wirklich ist.
Sie ärgerte sich, die alte Dame alleingelassen zu haben. Hatte sie der Besuch von Julius Leneke zu sehr erschöpft? Pippa blickte nachdenklich auf das knallrote Ei in ihrer Hand. Timos Informationen hatten Zeit bis später, und das unangenehme Überraschungsei würde sie der alten Dame vorerst ganz verschweigen.
Auf Zehenspitzen schlich sie zu Christabel und breitete eine Decke über die Schlafende. Dann stellte sie die vierfüßige Gehhilfe, die neben dem Couchtisch auf ihren Einsatz wartete, hinter die Rückenlehne des Sofas, damit die alte Dame nicht darüber stürzte, wenn sie aufstand.
Keinesfalls lasse ich sie heute Abend das Konzert besuchen, dachte Pippa. Ruhe und Entspannung waren für ihren fast hundertjährigen Schützling jetzt wichtiger.
Um Christabel nicht zu wecken, setzte Pippa sich leise in eine gemütliche Ecke des Wohnzimmers und blätterte in der Chronik, die sie im Bücherbus ausgeliehen hatte.
Rasch stellte sie fest, dass sie keines der üblichen Jahrbücher mit offiziellen Grußworten und seitenlangen Statistiken in den Händen hielt. Stattdessen bestand das Buch aus von verschiedenen Bürgern verfassten Kapiteln, in denen sie in chronologischer Reihenfolge jeweils einen Monat ihres Lebens in Storchwinkel beschrieben. Einer schilderte seinen Januar, der Nächste seinen Februar und so weiter. Bei der Anzahl der mitwirkenden Bewohner Storchwinkels ergab das locker fünf Jahre Dorfchronik. Sie vermutete, dass es sowohl aus den vorhergehenden als auch den nachfolgenden Jahren weitere Bände gab, laut Einband behandelte das ihr vorliegende Buch die Jahre 1990 bis 1995.
Ein kollektives Tagebuch der Wendejahre, dachte Pippa, eine großartige Idee.
Neugierig suchte sie nach Leuten, die sie bereits kennengelernt hatte, und fand als Erstes den Beitrag von Hermann, der mit ihr und einigen anderen an der Haltestelle des Bücherbusses darauf gewartet hatte, dass Timo die Tür öffnete.
»Endlich ist nach vier Jungen meine erste Tochter geboren. Mutter und Kind sind wohlauf«, las sie, »obwohl die Zeit nicht reichte, ins Krankenhaus zu fahren. Aber das war eher beruhigend, denn im Storchendreieck ist es ja seit langem gefahrloser, ein Kind zu Hause zu bekommen als im Kreißsaal in Storchhenningen. Ich war also ziemlich erleichtert, dass die Kleine es so eilig hatte.«
Oh-oh, dachte Pippa, wenn Waltraut Heslich da schon das Zepter im Kreißsaal geschwungen hat, wird sie diesen Kommentar nicht gerne gelesen haben.
Sie blätterte weiter bis zu einem Kapitel, als dessen Verfasserin Hilda Krause verantwortlich zeichnete. Die Bäckerin berichtete von ihrem Alltag in der Ade-Bar: »Endlich ist die bestellte Baumkuchenwalze eingetroffen, und sie funktioniert einwandfrei. Das wissen jetzt alle, die ich zu den ersten Ergebnissen meiner Backkunst eingeladen habe. Übrigens: Die Schokoladenüberzugfraktion hat das Wettessen gewonnen – und richtet das nächste Fest aus!«
Pippa seufzte beim Gedanken an das unrühmliche Ende der Baumkuchenwalze, deren Einweihung so fröhlich gefeiert worden war.
Die nächsten Kapitel der Chronik überflog sie lediglich, erst dem Beitrag von Harry Bornwasser schenkte sie wieder mehr Aufmerksamkeit.
»Jetzt im November ist es wieder ganz besonders ärgerlich, dass meine Mitbürger sich standhaft der Notwendigkeit widersetzen, endlich die Gehwege vor ihren Häusern zu pflastern. Blätter und tiefer Matsch verschmutzen Schuhe und Hosensaum, wenn man gezwungen ist, zu Fuß durchs Dorf zu gehen.« Es folgten eine detaillierte Kosten-Nutzen-Rechnung und ein ärgerliches Fazit, in dem er den Dorfbewohnern bescheinigte, dass sie sich mehr für die ersten Reisen ins Ausland interessierten, als vor ihrer eigenen Tür zu kehren und damit alles auf Vordermann zu bringen.
Bornwasser hatte sein Kapitel nicht nur mit einer schwungvollen Unterschrift, sondern zusätzlich mit einem Stempel versehen. Pippa beugte sich tiefer über den Abdruck, um die winzigen Buchstaben zu entziffern, und stutzte: Der Stempel identifizierte Harry Bornwasser als Notar.
Hatte er seinen Beruf als Gerichtsvollzieher erst später ergriffen? Viele Menschen waren nach der Wende gezwungen gewesen, beruflich umzusatteln. In seinem Fall war der Wechsel hervorragend gelungen, sonst besäße er nicht so viele Immobilien. Fest stand allerdings, dass die neue Tätigkeit seine Beliebtheit bei seinen Mitbürgern nicht gerade gesteigert hatte.
Pippa wusste aus Gesprächen mit Ede Glassbrenner mehr über Notare der DDR, als ihr lieb war. Glassbrenner spuckte Gift und Galle, wenn er über die Willkür der Rechtspflegeorgane zeterte, deren Opfer er geworden war. Seiner Meinung nach waren die wenigen freiberuflichen Notare damals nichts weiter als der verlängerte Arm der ihm verhassten Regierung.
Und Bornwasser war einer von ihnen, dachte Pippa. Das ist mir mindestens so unsympathisch wie sein Beitrag zur Chronik.
Neugierig suchte Pippa nach einem Beitrag von Christabel. In ihrem Kapitel schilderte die alte Dame ihre Empfindungen, als sie nach der Maueröffnung aus Westdeutschland in ihre alte Heimat zurückkehrte. Erstaunt las Pippa, dass Christabel damals Haus Nummer 2 gekauft hatte, in dem heute Mandy Klöppel mit ihrer kleinen Tochter Lucie wohnte.
Würde mich gar nicht wundern, wenn sie Mandy das Haus zu einer äußerst günstigen Miete überlässt. Pippa lachte leise vor sich hin. Ich sollte mal herausfinden, was dabei für Christabel herausspringt. Umsonst ist bei ihr ja nichts.
In ihrem Kapitel beschrieb Christabel außerdem zwei Spaziergänge mit ihren Hunden, und sie hatte – wie andere auch – ihren Beitrag mit Fotos illustriert. Eins zeigte zwei bildschöne Schlittenhunde vor Heinrichs Mühle, und auf zwei weiteren war ein halbwüchsiger Junge zu sehen, der mit den Tieren herumtollte.
Das könnte Severin sein, überlegte Pippa. Stammt seine Leidenschaft für Schlittenhunde etwa schon aus dieser Zeit?
Die Bilder der Mühle und des Jungen veranlassten Pippa, nach einem Kapitel von Eva Lüttmann zu suchen. Sie schlug viele Seiten zurück, bis sie den gesuchten Eintrag fand. Pippa rechnete rasch nach: Severins Mutter musste ihn kurz vor ihrem tragischen Unfalltod verfasst haben. In knappen, pragmatischen Worten beschrieb Eva Lüttmann darin ihren Arbeitsalltag zwischen ihrer Praxis in Storchwinkel und dem Krankenhaus in Storchhenningen.
»Eva Lüttmann war Ärztin?«, rief Pippa unwillkürlich aus.
Christabel öffnete die Augen und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, dann richtete sie sich auf. »Was haben Sie gesagt?«
»Das tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte Pippa verlegen.
Mit beiden Händen richtete Christabel ihre derangierte Frisur. »Ich bin trotz Mittagsschlaf wieder eingeschlafen. Wie ärgerlich. Ich werde alt.« Sie deutete auf das Buch, das aufgeschlagen auf Pippas Schoß lag. »Haben Sie sich das bei Timo geholt? Das wäre nicht nötig gewesen. In meinem begehbaren Safe steht ein Bücherregal mit sämtlichen Ausgaben der Chronik. Sie können sie jederzeit haben.«
»Gerne, vielen Dank! Eine wunderbare Idee, so ein Tagebuch eines Ortes.«
»Severins Vater wollte nach der Wende in Storchwinkel etwas ganz Besonderes fördern und rief alle auf, ihre Ideen einzubringen. Hilda machte den Vorschlag mit der Fünf-Jahres-Chronik. Die Bücher sind mittlerweile zu einem festen Bestandteil unseres dörflichen Lebens geworden. Und dank Hildas Überredungskünsten machen wirklich alle mit.« Christabel lächelte. »Ich will allerdings nicht ausschließen, dass ihr Baumkuchen gelegentlich dabei geholfen hat, Widerspenstige zu überzeugen.«
Pippa schlug Christabels Beitrag auf. »Mir gefallen die Fotos in Ihrem Kapitel sehr. Ist das Severin junior?«
Auf einen Wink von Christabel reichte Pippa ihr das Buch, und die alte Dame betrachtete die Bilder liebevoll.
»Schade, dass ich nicht mehr gut sehe. Fotografieren hat mir wirklich Freude bereitet«, sagte sie leise und seufzte. »Das Lästige am Älterwerden ist nicht, dass man gebrechlich wird. Oder gar krank – das trifft auch jüngere Menschen. Schlimm ist, dass so viele liebgewordene Hobbys und Gewohnheiten ihre Mühelosigkeit verlieren. Sie entspannen nicht mehr, sondern werden zu einer Anstrengung, der man nicht mehr standhält.«
Hat sie meine Frage nicht gehört?, dachte Pippa und wiederholte sie deshalb. »Ist das Severin junior? Auf den Bildern?«
»Als ich mit meinen Hunden ins Dorf zog, waren sie eine Attraktion. Besonders bei den Kindern. Ich war nie allein bei meinen Spaziergängen, ich hatte immer einen Schwarm Kinder dabei. Severin war von Anfang an Feuer und Flamme für meine Vierbeiner. Er war damals in der Pubertät.« Sie blickte nachdenklich in den Garten hinaus, dann fuhr sie fort: »Und er war stets froh, aus dem Haus zu kommen. Ich denke, damals entstand bei ihm der Wunsch, selbst Schlittenhunde zu besitzen.«
»Tiere können ein wunderbarer Trost sein.«
Christabel sah erstaunt auf und nickte dann. »Nach dem Tod von Eva Lüttmann wurden meine Hunde für ihn noch wichtiger. Wenn ich es recht bedenke, haben sie zunächst mich und den Jungen und dann seinen Vater und mich zusammengeführt. Ihnen verdanke ich also mein derzeitiges Leben.«
Warum heiratet ein Mann in den besten Jahren eine deutlich ältere Frau?, fragte Pippa sich nicht zum ersten Mal. Christabel musste damals fast achtzig gewesen sein.
»Wenn Sie mir die Frage erlauben, Christabel: Warum hat er die Manufaktur Ihnen hinterlassen und nicht seinem Sohn?«
»Ihre Fragen werden häufiger und kühner«, stellte Christabel amüsiert fest.
Pippa bekam einen roten Kopf und verfluchte innerlich ihre unstillbare Neugier.
»Sie haben ganz recht, wenn Sie keine Liebesheirat vermuten«, fuhr Christabel ungerührt fort. »Aber Verstand und Freundschaft können auch eine solide Grundlage für Zusammenleben bilden.«
»Und ich dachte schon, es ging um Geld«, murmelte Pippa.
Wieder einmal musste sie feststellen, dass Christabels Gehör noch immer tadellos funktionierte, denn diese lachte laut und herzlich über Pippas Bemerkung.
»Sie haben sich verschätzt, meine Liebe: Bei mir sind es lediglich die Augen und die Knochen, die immer schwächer werden.«
Dann darf ich für meine Frechheit wohl jetzt meine Koffer packen, dachte Pippa, aber Christabel belehrte sie eines Besseren.
»Natürlich haben Sie wieder ins Schwarze getroffen. Geld spielt immer eine Rolle, ganz gleich, ob es um den Verstand, um Freundschaft oder um Liebe geht. Severin senior hatte kein Geld, ich hatte recht üppig geerbt und wollte es sinnvoll ausgeben. Insofern haben wir uns auch da perfekt ergänzt.«
Christabel las in Pippas skeptischer Miene wie in einem Buch und fuhr fort: »Ich nehme an, jemand hat Sie eingeweiht. Jetzt fragen Sie sich natürlich, warum mein Gatte dann ausgerechnet auf dem Rückweg von seiner Geliebten den Weg … allen Fleisches genommen hat.«
»Nun ja … ich …«, stammelte Pippa verlegen.
Christabel winkte lässig ab. »Und dabei hätte ich gedacht, dass ich ausgerechnet Ihnen mit Ihrer italienischen Vorgeschichte nicht erklären muss, was einem erschöpften Liebhaber auf dem Heimweg zur treusorgenden Ehefrau alles passieren kann. Das, meine Liebe, hat nämlich nichts mit dem Alter zu tun, auf jeden Fall nicht mit dem Ihrigen.«
Verdammt, dachte Pippa, kein Wort mehr über untreue Ehemänner, sonst schneide ich mir noch tiefer ins eigene Fleisch.
»Ich werde Florian und Julius Bescheid geben, dass Sie und ich heute Abend zu Hause bleiben«, sagte Pippa. »Ich sehe doch, dass Sie sich heute verausgabt haben. Sie müssen sich ausruhen. Das Konzert ist zu anstrengend.«
Lediglich durch ein fast unmerkliches Heben der Augenbrauen zeigte Christabel, dass sie die Absicht hinter dem abrupten Themenwechsel bemerkt hatte. »Ich habe den Eindruck, Melitta Wiek hat Sie ein wenig zu gut eingearbeitet«, erwiderte sie. »An jedem anderen Abend würde ich vielleicht sogar nachgeben – aber nicht heute. Florian spielt zum ersten Mal ein Solo, und das will ich hören. In angemessener festlicher Umgebung.«
»Wollen Sie sich vergewissern, dass er gut genug ist, um bei Ihrem Hundertsten aufzutreten? Oder wollen Sie als moralische Unterstützung im Publikum sitzen, weil seine Mutter nicht dabei sein kann?«
Die alte Dame kicherte. »Ach was, ich habe nur deshalb so viel Geld in ihn investiert, damit er auf meiner Beerdigung allen Anwesenden noch mal so richtig den Marsch blasen kann.«
Pippa lachte, blieb aber streng. »Florian wird verstehen, wenn Sie zu müde sind, um auf das Konzert zu gehen.«
Christabel drohte scherzhaft mit dem Finger. »Sie haben Angst, dass ich Ihnen wegen Altersschwäche unter den Händen wegsterbe, Pippa! Wie charmant! Aber lassen Sie sich gesagt sein: Sterben mitten in einem Konzert passt wesentlich besser zu mir, als in meinem Bett einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Obendrein ist heute in Salzwedel schneller ein Arzt zu finden, der es wagt, mich zu retten, als in Storchwinkel. Maik Wegner ist über das Osterwochenende zu seinen Eltern nach Süddeutschland gefahren.«
Pippa stieg auf ihren scherzhaften Ton ein. »Verstehen Sie mich bitte: Ich will nicht das ganze Dorf am Hals haben, wenn die Jahrhundertfeier ausfällt, nur weil ich nicht auf Sie aufgepasst habe! Lassen Sie mich also wenigstens versuchen, Sie halbwegs gesund bis zu Ihrem hundertsten Geburtstag zu begleiten.«
»Ich bin von bösen Krankheiten in meinem Leben verschont geblieben. Gott sei Dank«, sagte Christabel leise und wurde plötzlich ernst. »Bis auf die Verbrennungen, die ich vor mir und der Welt verberge.«
Sie zog ihre Handschuhe aus, und Pippa starrte auf schwer vernarbte bräunliche Handflächen.
Deshalb trägt sie Handschuhe!, dachte Pippa entsetzt.
»Danach war es für mich vorbei mit Schlittenhunderennen«, sagte Christabel.
»Reibungshitze durch Hundeleinen?«
Die alte Dame nickte. »Falsch gehandhabt. Und trotz eisiger Kälte ohne Handschuhe. Ich hätte es besser wissen müssen. Jeder ist mal leichtsinnig. Ich habe dafür bezahlt.« Sie gluckste. »Mit vielen teuren Handschuhen.«
»Haben Sie denn gar keine Angst vor Krankheit … oder dem Tod?«
»Früher einmal.« Christabel zuckte mit den Schultern. »Aber dann habe ich begriffen, dass Angsthasen tausend Tode sterben und Mutige nur einen. Ich habe mich dem Club derer angeschlossen, die ihre hundert Jahre Lebenszeit in vollen Zügen genießen. Alles Menschen, die sich nicht in Watte gepackt, sondern jede Sekunde voll ausgekostet haben. Bis zum Schluss.«
»Leider sind Sie das einzige Mitglied dieses Clubs, das ich kenne.«
»Vielleicht das einzige, das Sie persönlich kennen, aber sonst … Der Architekt Oscar Niemeyer, der die Hauptstadt Brasiliens geschaffen hat, starb zehn Tage vor seinem hundertfünften Geburtstag. Die französische Reiseschriftstellerin und Entdeckerin Alexandra David-Néel wurde beinahe hunderteins. Auch Irving Berlin, dessen wundervolles White Christmas uns bis heute erfreut, schaffte die Hunderteins. Elly Beinhorn, die berühmte Flugpionierin, hörte erst mit knapp achtzig Jahren mit dem Fliegen auf und wurde hundert. Heidi Oetinger, in deren Jugendbuchverlag die Bücher von Astrid Lindgren erschienen, ebenfalls. Und wir wollen Ihre halb-englische Herkunft nicht vergessen, meine Liebe. Wie alt wurde Ihre hochverehrte Queen Mum? Hundertzwei Jahre!« Sie zwinkerte Pippa zu. »Soll ich weitermachen?«
Pippa hob beschwörend die Hände. »Genug! Ich verstehe, was Sie mir sagen wollen!«
»Glauben Sie mir, Pippa: Meine einzige Angst ist, dass es im Himmel langweilig ist. Deshalb tue ich jetzt noch alles, um nicht hineinzukommen. In diesem Fall, indem ich Sie ärgere und darauf bestehe, in dieses Konzert zu gehen.«
»Was schlagfertige Argumente betrifft, haben Sie einfach sechzig Jahre länger Übung. Ich gebe auf«, sagte Pippa.
»Ich habe mir den besten Wahlspruch zu eigen gemacht, den D. H. Lawrence zu bieten hat: Tod ist der unverfälschte, wunderschöne Ausklang einer großen Leidenschaft.«
»Schön gesagt. Leider ist er trotzdem keine hundert geworden.«
»Leider nein, aber ich.« Christabel lächelte spitzbübisch. »Und zwar vor einem Jahr.«
Pippa verschlug es fast die Sprache. »Sie sind schon hundert? Aber warum haben Sie denn über Ihr Alter gelogen?«
»Die anderen haben halt nicht richtig aufgepasst. Bei der Achtundsiebzig bin ich einfach zwei Runden gefahren.«
»Aber warum denn bloß?«
Christabel seufzte und suchte nach Worten. Dann sagte sie: »Meine Mutter starb mit achtundneunzig und geistig fit. Sie war eine wunderbare Frau. Ich habe sie sehr geliebt. Die Vorstellung, dass es plötzlich niemanden mehr gibt, der auch nur eine kleine Erinnerung aus meiner Kindheit mit mir teilt, war traurig. Ich brauchte einfach ein ganzes Jahr, um mich damit abzufinden.«
Die alte Dame wirkte auf einmal sehr zerbrechlich, und Pippa hatte einen Kloß im Hals. Während sie noch nach tröstenden Worten suchte, stellte sie jedoch fest, dass Christabel sich längst wieder gefangen hatte.
Mit breitem Grinsen sagte sie: »Außerdem: Jede Frau macht sich gern ein wenig jünger! Auch ich.«