Elven hatte nicht übertrieben. Bereits am Morgen nach ihrem Streit in den Gärten verkündete er seine Pläne, die allein Engils Schutz dienen sollten. Zu diesem Zweck hatte er beschlossen, den Tempel des Blutgottes wieder aufbauen zu lassen! Lin hatte ihn angefleht, von diesem unsinnigen Plan abzulassen. Doch Elven hatte nur geheimnisvoll gelächelt und erwidert: »Ich sagte dir, dass du es nicht verstehen würdest.«
Seit einem Mondumlauf trugen die Männer nun schon auf Elvens Geheiß die Steine des alten Bluttempels zusammen, welche sie erst vor weniger als zwanzig Jahresumläufen abgetragen hatten. Jene Steine, die bereits von der Zeit zerstört worden waren, sollten später durch neue ersetzt werden.
Lin hoffte insgeheim, dass Elven bald mit einem Trupp ins Taligebirge aufbrechen würde, um das Schlagen neuer Steine für den Tempel selbst zu überwachen. So gäbe es für sie eine Möglichkeit, noch einmal den Rat der Waldfrauen einzuholen und sie um Hilfe zu bitten, die Errichtung eines neuen Bluttempels für den dunklen Gott zu verhindern.
Bisher begnügte sich Elven allerdings damit, die vorhandenen Steinquader verbauen zu lassen und den Fortgang der Arbeiten in Engil zu beobachten.
Wie um sie zu bestrafen, hatte er Salas Tempel schließen lassen und erlaubte ihren Priesterinnen nicht mehr, ihn zu betreten. Er ließ verbreiten, dass Salas Tempel von Muruk verflucht worden sei – erst wenn der Zorn des dunklen Gottes gestillt sei, dürfe der Tempel Salas wieder geöffnet und ihr Geschenke dargebracht werden. Allein aus diesem Grund, so versicherte er den verängstigten Engilianern, mussten sie Muruks Tempel wieder aufbauen. Der Gott forderte seinen eigenen Tempel in Engil und einen Platz, an dem er verehrt wurde.
Seit Tagen beobachteten Lin und Jevana besorgt den Fortgang der Arbeiten an Muruks neuem Tempel; meist versteckten sie sich hinter den Getreidespeichern und sahen zu, wie der Bluttempel langsam wuchs.
In ihrem Versteck hinter dem Getreidespeicher stieß die zweite Priesterin Lin in die Seite. Ihre Stimme troff vor Verachtung. »Zweifelst du noch immer daran, dass Elven ein Diener des Blutgottes ist? Ich frage mich, was er als Nächstes tun wird; Salas Tempel niederreißen und die Steine in seinem neuen Bluttempel verbauen?«
Lin fuhr erschrocken zu ihr herum und schüttelte den Kopf. Sie bemühte sich, überzeugt zu klingen, doch es gelang ihr nicht. »Das wird er nicht wagen.«
Jevana rieb sich die Unterarme, als wäre ihr kalt – eine Geste der Hilflosigkeit. Hastig zog sie Lin in den Schatten des Silos, weil eine Gruppe Engilianer mit einem Falbrindkarren vorbeiging. Die Männer schienen sorglos; keinem der Arbeiter schien es etwas auszumachen, dass Elven sie einen Tempel für den dunklen Gott errichten ließ, in dem er Blutopfer … Menschenopfer … abzuhalten gedachte.
Lin runzelte die Stirn. Um sie bei Laune zu halten, ließ Elven diesen faulig schmeckenden Gewürzwein unter ihnen verteilen, welchen er die Engilianer gelehrt hatte zu keltern. Sie tranken ihn, als wäre er Wasser. Bei dem Gedanken an das Gebräu verzog Lin angeekelt den Mund. Vielleicht waren die Männer ständig betrunken, dass sie so bereitwillig an Elvens neuem Tempel bauten. Aber das alles schien keine wirkliche Erklärung für das selbstvergessene Verhalten der Männer zu sein. Alle waren sie mit ihren Gedanken ganz woanders, und ihre Blicke schweiften umher, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Sogar einige der Diener im Palast waren ungewohnt fahrig. Sie verrichteten ihre Arbeit und gingen dabei aneinander vorbei, ohne Blicke oder gar Worte zu wechseln. Der Palast war unheimlich still geworden, wo er früher von fröhlichen Stimmen und Lachen erfüllt gewesen war. Erst gestern hatte Ilana lächelnd bekundet, dass es klug von Elven war, dem Gott einen neuen Tempel zu errichten.
Lin war entsetzt gewesen, diese Worte aus dem Mund ihrer Mutter zu hören, da gerade sie die Schrecken des Schwesternthrons und Muruks Blutherrschaft am eigenen Leib erfahren hatte. Lin fühlte sich mittlerweile, als lebe sie im Palast unter Fremden. Elven schlug alle in seinen Bann – nur sie selbst, Jevana und Salas Priesterinnen ließen sich nicht von ihm blenden, und in der Unterstadt bei den Falbrindbauern und einfachen Händlern wurde Elvens Name ebenfalls noch mit Furcht oder mit Groll ausgesprochen.
Aufmerksam sah Lin sich um, während sie hinter dem Silo darauf wartete, dass die Arbeiter aus ihrem Blickfeld verschwanden. Elven ließ sie beobachten … von den Dienern, von Braam … und als ob das nicht genug gewesen wäre, schlich auch Vay ihr heimlich hinterher, als suche sie nach einer Gelegenheit, ihr zu schaden.
Elven schien niemandem zu trauen außer Braam. Er wurde niemals müde und brauchte keine Ruhe. Seinem aufmerksamen Blick entging nichts.
»Lin …«, warnte Jevana sie leise und zog sie weiter zum nächsten Silo.
Braam kam die Anhöhe herauf, direkt auf sie zu – wahrscheinlich um sich hinter den Getreidespeichern zu erleichtern. Er fühlte sich unübersehbar wichtig und zeigte dies durch seinen ausladenden Gang und seine wachsamen Blicke.
Lin nickte Jevana zu und wies in die Richtung, in der Salas Tempel lag. Es war Zeit zu verschwinden. So leise es ging, liefen sie den Hang hinunter, bis sie den verlassenen Tempelbezirk erreichten. Hier fühlten sie sich sicher. Lin seufzte, und Jevana blickte sehnsüchtig zu dem verschlossenen Tempelportal hinüber. »Es ist ein Jammer, dass wir nicht hinein dürfen. Ein Blick in Salas Feuer würde dir vielleicht Elvens wahre Pläne offenbaren.«
Schnell schüttelte Lin den Kopf. »Ich habe kein Bedürfnis danach, die wahren Pläne meines falschen Gefährten zu erfahren. Mir würde es reichen zu wissen, wie ich ihn aus Engil vertreiben kann.« Um nichts in der Welt wollte sie noch einmal eine Vision heraufbeschwören.
Um Jevana von ihren gefährlichen Einfällen abzulenken, hakte Lin sich bei ihr unter. Gemeinsam schlugen sie den Weg zur Unterstadt ein. Je mehr Abstand sie zwischen sich und Elven wusste, desto gelöster fühlte Lin sich. In der Unterstadt, in der Händler, Schankwirte und Bauern lebten, die kaum in Elvens Nähe kamen, waren die Menschen noch nicht in seinen Bann geraten.
Jevana wusste, dass Lin bei den Waldfrauen gewesen war. Diese Tatsache war es gewesen, die sie nach ihrem Streit wieder versöhnt hatte. »Sehr vorausschauend von dir«, hatte Jevana ihr geantwortet. »Denk an Liandra und ihr schreckliches Ende.«
Lin dachte oft an Liandra, doch aus anderen Gründen, als Jevana das tat. Liandra war vor ihr Hohepriesterin der Sala und die Mutter der Greifin Xiria gewesen – jener Greifin, der Degan verfallen war. Als Xiria mit Degans Hilfe aus ihrem Gefängnis hinter dem Tempel entkommen war, hatte sie ein Meer aus Blut hinterlassen, und ihr erstes Opfer war ihre eigene Mutter gewesen. Liandra war beim Überfall auf Engil in ihrer Jugend von einem Greif vergewaltigt worden und hatte die Schändung verschwiegen. Elven war kein Greif, doch wer wusste schon, welche Art Nachkommen der Samen eines Murukdieners zeugte.
Während sie mit Jevana die Brücke über den Sandfluss überquerte, wurde Lin immer wieder von Menschen angesprochen, die verängstigt fragten, wann Salas Tempel wieder geöffnet werde und warum der Prinz von Engil einen neuen Tempel für Muruk errichten ließ. Lin versuchte, so gut sie es vermochte, die Menschen zu beruhigen. In den meisten Augen lag Furcht, aber auch Ärger, da Lin augenscheinlich nichts gegen diesen Irrsinn unternahm. Es kostete sie große Mühe, Erklärungen für etwas zu finden, was eigentlich unerklärlich war.
Doch Lin und Jevana hatten beschlossen, alles zu tun, um Angst und Panik unter den Engilianern zu vermeiden. Lin hatte keine Ahnung, was Elven tun würde, wenn man offen gegen ihn rebellierte oder die Menschen versuchten, aus Engil zu fliehen. Niemand wusste, wie groß seine Macht wirklich war. Bisher bestand Lins Plan darin, zu den Waldfrauen zu gehen, sobald Elven ins Taligebirge aufbrach, um die fehlenden Steine für den Tempel schlagen zu lassen … falls er nicht Braam schickte und so ihren Plan zunichtemachte.
Jevana zog sie weiter und entschuldigte sich bei den aufgebrachten Menschen mit der Ausrede, dass sie von einer werdenden Mutter erwartet wurden, um für das Neugeborene ein Schutzamulett anzufertigen.
»Alles Reden bringt nichts«, flüsterte sie Lin ins Ohr. »Mittlerweile bin ich selber froh, dass du niemandem von deinen Visionen erzählt hast. Sie würden über dich herfallen wie Schjacks und dir die Schuld an allem geben. So ist der Pöbel nun einmal. Ihr Ärger sucht sich immer das wehrloseste Opfer.«
Lin nickte und war froh, dass sie in Jevana eine Vertraute hatte. Die Menschen um sie herum gaben unwillig den Weg frei. »Hilf uns, Tochter von Engil!«, riefen sie fordernd hinter ihr her. Lin spürte ihre Wut und ihre Angst beinahe körperlich.
Als sie die Unterstadt erreicht hatten, vernahmen sie plötzlich verängstigte Rufe, die vom Stadttor zu ihnen herüberhallten. Lin blieb stehen. »Was ist das?«
Die zweite Priesterin hob die Brauen und sah besorgt in Richtung des Stadttores. »Ich weiß nicht, aber es hört sich nicht gut an.«
Gemeinsam liefen sie zu dem großen Platz vor dem Tor, wo sich ein Ring aus Menschen gebildet hatte. Lin hielt Jevana am Arm fest. Sie schienen etwas oder jemanden in ihrer Mitte eingekesselt zu haben und riefen wild durcheinander. Wut und Gewalt lagen in der Luft. Falbrindbauern hielten ihre Mistgabeln wie Speere und streckten sie dem unsichtbaren Feind in ihrer Mitte entgegen. Einige Männer waren in ihre Häuser gelaufen und kamen mit Schwertern zurück – es waren alte Krieger, Taluk, die noch von Tojar mit ihrer Sippe nach Engil geführt worden waren.
Lin und Jevana tauschten fragende Blicke. Da stand ein rebellischer Haufen, der bereit war, sich und Engil bis zum Tod zu verteidigen. Doch gegen was oder wen? Die Torwachen waren nirgends zu sehen, wahrscheinlich waren sie in Anbetracht der sich aufheizenden Stimmung geflohen.
Plötzlich starrte Jevana mit offenem Mund; sie bekam kaum noch einen Ton heraus. Lin versuchte noch immer, einen Blick in den Ring aus Leibern zu erhaschen. Sie reckte den Kopf, jedoch vergeblich.
Jevana stammelte: »Bei Sala, das ist doch nicht möglich!«
Einige der Männer bemerkten Lin, lösten sich aus dem Belagerungskreis und kamen auf sie zugestürmt. Ihre Stimmen überschlugen sich. »Du musst etwas tun! Sie behaupten, dass der Prinz ihnen erlaubt hat, hier zu sein. Aber das kann nicht sein! Schick sie fort!«
»Wen?«, gelang es Lin zu stammeln, während Jevana auf den Kreis wies. »Lin, was hat das zu bedeuten?«
Endlich öffnete sich der Verteidigungsring der aufgebrachten Menschen. Lin konnte eine Gruppe hochgewachsener Gestalten in dunklen Umhängen erkennen, deren Köpfe von Kapuzen bedeckt waren. Als einer von ihnen den Überwurf zurückschlug, verstand Lin, was die Engilianer und auch Jevana aus der Fassung gebracht hatte. Wahrscheinlich hatte die Gruppe gehofft, sich mit Hilfe der Umhänge unbemerkt nach Engil einschleichen zu können. Sie musste sich beherrschen, nicht laut aufzuschreien. »Warum sind sie hier … haben sie das gesagt?«
Der Mann neben ihr schüttelte heftig den Kopf. »Sie verlangen, zu Elven gebracht zu werden.« Er sah sie mit vor Angst aufgerissenen Augen an. »Tu etwas, Tochter von Engil!«
Lin winkte denjenigen zu sich, der seine Kapuze abgenommen hatte, obwohl alles in ihr sich dagegen sträubte. Sie musste jetzt unbedingt einen klaren Kopf bewahren. Die Engilianer gaben ihm den Weg frei, während sie seine Gefährten weiter mit ihren Mistgabeln bedrohten und den Ring um sie schnell wieder schlossen. Als hätte das etwas genutzt … Lin spürte ihr eigenes Blut in ihren Ohren rauschen. Der Anführer der Gruppe blieb vor ihr stehen und starrte sie an. Als er zu sprechen begann, klang seine Stimme samtig. »Jayamon ist gekommen, weil der Prinz von Engil ihn gerufen hat.« Er musterte sie mit Augen, so blau wie der Himmel über Engil. Sein weißes, fast hüftlanges Haar rahmte das makellose Gesicht. Er war ein Greif! Nur langsam sickerte die Tragweite dieser Erkenntnis in ihren Verstand. Elven hatte Greife nach Engil gerufen?
Lin trat einen Schritt zurück, um Abstand zwischen sich und Jayamon zu bringen. »Ihr seid in Engil nicht willkommen.«
Jayamon lächelte nicht, war aber auch nicht beleidigt. Ein derartiges Gefühlsbewusstsein besaß ein Greif nicht. Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, antwortete er: »Elven hat Jayamon gerufen, weil er Steine für seinen Tempel braucht. Jayamon ist bereit, ihm Steine aus dem Mugurgebirge nach Engil zu bringen. Also führe Jayamon zu Elven, damit er den Handel besiegeln kann.«
Lin überlegte, was sie tun sollte. Um sie herum standen verängstigte Menschen, die hören wollten, dass der Prinz von Engil die Greife nicht gerufen hatte. Auch die sonst selbstbewusste Jevana hatte sich in ihren Arm gekrallt und wagte kaum noch zu atmen. Der Greif starrte Lin an, noch immer geduldig, aber ohne einen einzigen Schritt zurückzuweichen. Ihr kam ein schrecklicher Gedanke. Ihre Stimme klang dünn, obwohl sie versuchte, unerschrocken zu wirken. »Was hat euch der Prinz von Engil als Gegenleistung dafür versprochen, dass ihr ihm Steine für den Tempel bringt?«
Jayamon antwortete bereitwillig. »Dass Jayamon und seine Sippe in Engil an sieben Tagen des Mondumlaufes willkommen sind – zu den Opfertagen des Gottes, und dass sie in Engil Silber gegen Waren eintauschen dürfen.«
Lin wunderte sich über die Kühnheit, mit der sie Jayamon am Arm packte und ein Stück weit mit sich fortzog, so dass Jevana und die anderen sie nicht mehr hören konnten. Überraschenderweise fühlte sich die Haut des Greifen glatt und warm an. War Xirias Haut auch warm gewesen? Hör endlich damit auf, dir selbst weh zu tun, wies sie sich selbst zurecht.
Sie blieb stehen und sah dem Greif in die kalten Augen: »Und welche Tauschware begehrt ihr für euer Silber?«
Jayamon musterte sie von oben bis unten. Das erste Mal schien er darüber nachzudenken, weshalb sie ihn ausfragte. »Wer ist diese Menschin, dass sie Jayamon so viele Fragen stellt?«
Lin überlegte fieberhaft. Es widerstrebte ihr zuzugeben, dass sie Elvens Gefährtin und trotzdem machtlos war. Sie warf einen Blick hinüber zu Jevana. »Ich bin die zweite Priesterin Salas, und in Abwesenheit von Lin, der Hohepriesterin und Tochter Engils, dazu berechtigt, dich zu fragen.«
Dem Greif schien ihre Antwort zu genügen, denn er konnte sich nur schwer vorstellen, angelogen zu werden. Greife sahen im Allgemeinen keinen Sinn im Lügen. »Elven hat uns Menschinnen versprochen, um Jayamons Sippe zu vergrößern … weil der Halbgreif Degan so viele Greife verwandelt hat. Jayamons Sippe braucht Nachkommen. Elven hat uns Menschinnen für Silber und Steine versprochen.« Er sagte es ohne den Anflug eines schlechten Gewissens oder ohne Verständnis der Ungeheuerlichkeit seiner Worte.
Lin wurde übel, als sie daran dachte, dass Elven bereitwillig Frauen an Greife verschacherte. Was für einen Menschen hatte sie da nur zum Gefährten genommen? Warum war sie so blind gewesen! Jayamon schien ihr blasses Gesicht falsch zu deuten, denn er sagte: »Salas Priesterinnen gehören nicht zu dem Handel.«
Braam packte Vay an den Haaren und zog sie hinter den Getreidespeicher. Sie stieß einen Schrei aus und trat nach ihm. Zu seiner Überraschung schwieg sie jedoch, als sie ihn erkannte. Immerhin ein Weib, das wusste, wo sein Platz war! Braam fühlte sich bestätigt und entschloss sich, die Gelegenheit zu nutzen. In eindeutiger Weise griff er Vay an die Brüste und spürte, wie sein Glied hart wurde. Viel zu lange hatte er sich mit Schenkenhuren oder hässlichen Bauerntöchtern begnügen müssen. Es war Zeit, sich etwas Besseres zu gönnen … Lins Dienerin! Mit einem Grunzen drängte er Vay an die Wand des Silos und raffte ihr kurzes Kittelkleid, während er gleichzeitig am Zugband seiner Beinkleider zerrte.
Sie wehrte sich nicht. Stattdessen fauchte sie ihn an: »Wenn du das tust, wirst du auf weitaus größere Freuden verzichten müssen!«
Ihre Furchtlosigkeit überrumpelte ihn. Doch kein williges Weib, das seinen Platz kennt … Entweder war die kleine Stechmücke dumm, oder sie hatte wirklich etwas zu bieten, was über den kurzweiligen Genuss ihres Körpers hinausging. Braam beschloss, es herauszufinden. »Kühne Worte«, lockte er sie deshalb, drängte sie dabei jedoch weiter an die Lehmwand des Silos.
Ihre Stimme klang noch immer alles andere als eingeschüchtert. »Ich helfe dir, wenn du mir hilfst!«
Er ließ sie endgültig los und ärgerte sich über ihren respektlosen Blick. Sie musste sich ihrer Sache sehr sicher sein. Was suchte sie überhaupt hier? »Solltest du nicht um diese Zeit bei deiner Herrin sein?«, raunzte er sie an.
»Solltest du nicht bei deinem Herrn sein?«, äffte Vay ihn nach, was ihr eine harte Ohrfeige einbrachte. Ihr Kopf schlug gegen das Silo, und ihre Wange lief feuerrot an. »Sei nicht so unverschämt.« Langsam verlor Braam die Geduld.
Vay bedachte ihn mit einem wütenden Fluch und rieb sich die schmerzende Wange. »Vielleicht interessiert es den Prinzen von Engil, dass er vergeblich auf ein Kind von meiner Herrin hofft!«
Braam horchte auf. Ihm kam der Tag in den Sinn, als sie das tote Falbrindkalb in Salas Tempel gefunden hatten – Vay und Lin waren im Wald von Isnal gewesen, und Lin hatte irgendetwas zu verbergen gehabt. »Rede weiter!«
Zufrieden warf sie den Kopf in den Nacken, sicher, nun seine Aufmerksamkeit zu besitzen. Dann jedoch verzog sie ihren Mund zu einem verschlagenen Lächeln. »Ich rede nur mit Elven! Geh zu ihm und sag ihm, was ich dir gesagt habe.«
Braam holte mit der flachen Hand aus. Wie konnte die kleine Stechmücke es wagen, so mit ihm zu reden? Sie wich dem Schlag nicht aus, stattdessen hob sie trotzig ihren Kopf und sah ihn herausfordernd an. »Diesen Verrat aufzudecken wird dich in seiner Gunst steigen lassen. Aber ich will auch etwas von dem Wohlwollen des Prinzen für mich.«
Seine Hand verharrte in der Luft. Er glotzte sie an – zuerst ratlos … und dann wurde ihm klar, worum es Vay wirklich ging. Dumme Weiber! Lachend ließ er seine Hand sinken. »Du willst in sein Bett … seinen Schwanz zwischen deinen Schenkeln.«
Vay lief tiefrot an. Ein Zeichen für Braam, dass er genau richtig lag mit seiner Vermutung.
»Ich liebe ihn«, fuhr sie ihn mit vor Wut zitternden Lippen an, »seit dem ersten Tag, als ich ihn sah, habe ich Elven geliebt; im Gegensatz zu derjenigen, der er vertraut und der er seine Zuneigung schenkt! Aber was versteht ein Bauer schon von der Liebe?«
Braam spürte, wie seine Fäuste sich wie von selbst ballten. Sie ging zu weit – eindeutig!
»Wenn du mich schlägst, sage ich kein Wort«, zischte Vay schnell, als sie erkannte, dass er kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren.
Braam hielt sich zurück. »Wie du willst, kleine Stechmücke«, flüsterte er. »Dann sollst du bekommen, wonach es dich so sehr verlangt.«
»Geh hinter ihnen her und beobachte sie. Dann versteck dich bei deiner Sippe in der Unterstadt. Ich komme zu dir, sobald ich mehr weiß.« Lin sah den Männern hinterher, die sich wohl oder übel dazu bereit erklärt hatten, den Greif Jayamon zu Elven zu führen, während sie mit Jevana vor dem Stadttor zurückblieb.
»Was willst du nun tun?«, flüsterte die zweite Priesterin besorgt.
»Ich werde mit Ilana reden. Sie kann nicht einfach dulden, dass Elven den Greifen engilianische Frauen verspricht.« Insgeheim betete Lin dafür, dass diese Neuigkeit den Verstand ihrer Mutter zurück brachte.
Jevana war nicht überzeugt. »Wenn Elven jetzt bereit ist, sein wahres Gesicht zu offenbaren, wird er vielleicht noch zu ganz anderen Dingen fähig sein.«
»Keine Sorge! Er ist ja einstweilen mit Jayamon beschäftigt.« Lin fiel es schwer, den Namen der verhassten Kreatur auszusprechen. Sie versprach Jevana, dass sie auf sich achtgeben würde, und lief los. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Ilana war eine Frau … sie musste einfach verstehen, worum es hier ging.
Lin machte einen großen Bogen um die Tempelstadt, damit sie Elven nicht über den Weg lief – obwohl sie außer Atem war, rannte sie den Palasthügel hinauf, ohne auch nur einmal anzuhalten. Besorgte Blicke folgten ihr, wohin sie auch kam. Bereits jetzt wussten die meisten, dass Greife in der Stadt waren. »Werden die Greife hier bleiben … in Engil?«, rief ihr eine junge Mutter zu, die ihren kleinen Sohn an der Hand hielt.
»Nein!«, antwortete Lin so überzeugt, wie es ihr möglich war. »Das werden Ilana und Tojar niemals zulassen … und ich auch nicht!«
Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Sandalen auszuziehen, als sie den Palast betrat. »Wo ist meine Mutter?«, rief sie einer Dienerin im Laufen zu, die nur stumm auf eine verschlossene Tür wies. In ihrem Räumen … wie immer. Seit Elven hier ist, verlassen meine Eltern ihre Räume kaum noch. Der Diener ihrer Mutter ließ sie ein. Ilana saß wie eine Puppe auf dem Empfangsstuhl. Sie war blass und wirkte geistesabwesend. In der Hand hielt sie einen Fächer aus Greifenfedern. Obwohl es bereits Mittag war, trug Ilana noch ihr Nachtgewand. Die Federn des Fächers, die sie anstarrte, waren ungewöhnlich lang und dunkel – Lin ahnte, dass sie von Dawon stammen mussten, dem dunklen Greif, der ihrer Mutter lange Zeit ein Freund gewesen war. Ilana reagierte kaum auf sie, als Lin vor sie trat. Trotzdem ließ sie sich nicht beirren. »Mutter, wir müssen etwas tun … Greife sind in Engil. Elven selbst hat sie gerufen.«
Ihre Mutter sah matt von ihrem Fächer auf. Der Blick, mit dem sie Lin ansah, grenzte an Stumpfsinn. Anscheinend war Ilana in ihre Tagträumereien und Erinnerungen vertieft. Langsam fuhr sie mit dem Finger über die Federn des Fächers. »Ich vermisse Dawon sehr. Er war so anders als diese gefühllosen Kreaturen.« Sie seufzte müde. »Meine Kopfschmerzen bringen mich um. Jeden Tag plagen sie mich, so dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Sie sind wie Nebel, der mich umhüllt. Deshalb bitte ich dich … lass uns über etwas Schönes sprechen … die Vögel, die Blumen oder ein neues Gewand.«
Lin ging vor ihrer Mutter in die Knie, wobei sie aus Versehen Ilanas Silberkelch umstieß. Schwarzer dickflüssiger Gewürzwein sickerte in die Fugen zwischen die Bodenplatten. Sofort stieg ihr der faulig gärige Geruch des Weines in die Nase. Seit ihrem Verbindungsfest tranken alle im Palast diesen furchtbaren Wein, den Lin nicht einmal riechen konnte, ohne dass ihr übel wurde.
»Warum trinkst du dieses ekelhafte Gebräu?«, wollte sie von Ilana wissen und legte ihre Hände auf deren Knie. Ilana starrte den Fächer in ihrer Hand an. Lin wusste, dass sie nicht aufgeben durfte. »Mutter, hast du gehört, was ich gesagt habe? Elven hat Greife nach Engil geholt, damit sie Steine für den Bluttempel bringen. Als Belohnung hat er ihnen Frauen versprochen … engilianische Frauen.«
Tatsächlich schienen die Worte langsam zum Verstand ihrer Mutter durchzudringen. Sie runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und hatte offenbar Mühe, das Gesagte zu verstehen.
Lin nahm die Hände ihrer Mutter in ihre und sprach eindringlich weiter. »Mutter, bitte! Du kannst nicht mehr schweigen. Elven hat uns alle getäuscht.«
Die Hände ihrer Mutter begannen zu zittern. Ilana wollte sie ihr entziehen, doch Lin ließ sie nicht los.
Die Stimme ihrer Mutter war kläglich. »Bitte, Lin, ich will das nicht hören!«
Lins Herz schlug schneller. Ilana schien endlich zu verstehen, also drückte sie die Hände ihrer Mutter noch fester … beinahe schmerzhaft. »Verstehst du, was ich sage?«
Ilanas Augen klärten sich. Wie aus einem langen Schlaf erwacht, sah sie sich in ihren Räumen um. Sie schien unsicher, was mit ihr geschehen war. Erstmals schien sie ihre Tochter wirklich wahrzunehmen. »Lin? Alles war so weit fort. Ich konnte dich hören, aber der Sinn deiner Worte blieb mir verborgen. Ist das alles wirklich wahr?«
Lin nickte und konnte nicht verhindern, dass Tränen aus ihren Augen liefen. Es war an der Zeit, die gesamte Wahrheit zu offenbaren. Jevana hatte recht gehabt. Sie hätte es viel früher tun sollen, anstatt Elven zum Gefährten zu nehmen. Sie erzählte ihrer Mutter von ihren Visionen und der falschen Prophezeiung, mit der sie Elven zum Prinzen von Engil gemacht hatte. Es tat gut, endlich die Wahrheit zu sagen. »Ich habe gelogen. Aus Angst … ich glaubte, wenn ich Elven zum Gefährten nehme, würde das Engil Schutz bringen und ich könnte meine Visionen verheimlichen. Ich bin furchtbar dumm gewesen.«
Ihre Mutter stand auf und warf den Fächer beiseite. Je länger Lin gesprochen hatte, desto wacher war Ilanas Verstand geworden. Der Stumpfsinn war aus ihren Augen verschwunden. Sie ging ein paar Schritte auf und ab und blieb dann stehen. »Meine Kopfschmerzen sind fort, ebenso wie der Nebel, der mich in meinen Tagträumereien gefangen hielt.« Aufgeregt wandte sie sich ihrer Tochter zu. »Vielleicht hast du recht … vielleicht hat Muruk Elven tatsächlich mit Gaben ausgestattet, und Engil liegt unter einem Zauberbann.« Ilana ging zu ihrer Truhe und zerrte ein Gewand hervor. Lin musste ihr beim Ankleiden helfen, während ihre Mutter sich von ihr erzählen ließ, was im letzten Mondumlauf geschehen war. Lin verschwieg auch ihre Angst vor Elven und seine Gewalttätigkeiten ihr gegenüber nicht. »Er verbirgt sein wahres Wesen vor uns allen, aber an diesem Tag im Garten hat er es mir offenbart.«
Während Ilana ihr zuhörte, kämmte sie sich das Haar mit solch zorniger Inbrunst, dass Lin Angst bekam. Schließlich warf sie den Kamm aus geöltem Holz an die Wand, wo er zerbrach. Ilana war zornig. »Ich werde Elven sagen, dass eure Verbindung gelöst ist. Engil gehört nicht ihm. Meine Tochter gehört ihm nicht! Wir brauchen keine Greife, und wir brauchen auch keinen Bluttempel – ich kann mich gut daran erinnern, wie es einst war. Engil ist eine Stadt Salas und steht unter ihrem Schutz. Wie kann er es wagen, Salas Tempel zu schließen und dem Greifenpack Frauen anzubieten?«
Lin versuchte ihre Mutter zu beschwichtigen. »Du kennst Elven nicht. Er ist gefährlich. Ich halte es für falsch, ihm zu drohen. Wir sollten die Waldfrauen um Hilfe bitten – heimlich.«
Ilana schüttelte den Kopf. »Das dauert zu lange. Außerdem kommt keine von uns ungesehen aus Engil heraus, wenn Elven so misstrauisch ist, wie du sagst.« Sie legte Lin die Hand auf die Schulter und sprach mit fester Stimme. »Ich fürchte, dieses Mal sind wir wirklich auf uns gestellt. Tojar ist alt, Nona und Dawon sind seit vielen Jahresumläufen verschwunden, ebenso wie Degan … und die Lalufrauen wurden ausgelöscht. Aber wir haben schon schlimmere Bedrohungen erlebt … das Greifenweib oder der Angriff der Greife unter Sasalor und dem Blutpriester Karok …« Ilana stemmte die Hände in die Hüften – ein Zeichen dafür, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte. »Ich selbst werde die Greife fortschicken und Elven gleich mit ihnen.«
Lin versuchte, es ihr auszureden, doch Ilana wehrte ab. »Keine Sorge. Ich werde Elven nicht ohne eine angemessene Leibwache empfangen.«
Lin war alles andere als überzeugt. »Die Leibwache ist mehr schöner Schein als hilfreich. Das weißt du! Ich bleibe bei dir.«
»Nein!«, entgegnete Ilana streng. »Du gehst in deine Räume und wartest. Verschließe die Tür von innen. Morgen früh ist Elven fort, dann werde ich dich holen.« Sie fuhr Lin über das Haar. »Für heute warst du mutig genug. Vertraue mir … ich kenne die Ränke des dunklen Gottes zu gut, als dass ich mich noch einmal von ihm blenden lassen würde.« Ilana runzelte die Stirn, ein Zeichen dafür, dass sie nicht ganz so zuversichtlich war, wie sie Lin glauben machen wollte. »Du hast doch noch Salas Schutzkette … ihre drei Tränen?«
Lin nickte. Sie hatte die Kette, die Degan ihr überlassen hatte, nicht mehr getragen, seit sie aus Dungun zurückgekehrt war, bewahrte sie aber in einer Truhe unter ihren Gewändern auf.
»Leg sie an. Sie wird dich beschützen.«
Lin versprach, sie zu tragen. »Mutter«, sagte sie leise, während Ilana einen letzten Blick in ihren Rotmetallspiegel warf. »Was ist, wenn Elven Engil nicht verlassen will … was, wenn er sich weigert, mich freizugeben?«
Ilana zog die Brauen hoch und legte den Spiegel beiseite. »Das kann er nicht, Lin. Du bist nicht sein Eigentum.«
Lin schickte die überraschte Vay aus ihren Räumen und verschloss die Tür hinter sich. Lieber wollte sie in dieser Nacht allein bleiben, als eine eifersüchtige Dienerin, die ihr nicht gewogen war, in ihrer Nähe wissen. Sie durchsuchte ihre Truhen, bis sie endlich das Stück Tuch fand, in das sie Salas Tränen eingeschlagen hatte. Langsam fuhr sie mit dem Finger über den roten Stoff. Es war ein Stück von einer Gürtelzier, die sie für Degan angefertigt hatte. Er hätte sie bei ihrer Verbindungsfeier in Salas Tempel tragen sollen. Lin warf den Stoff zurück in die Truhe und legte das zarte Kettengebilde aus Laluhaar um ihren Hals. Vorsichtig befühlte sie die winzigen Tränen der Göttin. Drei Tränen hatte Sala einst für ihre ermordete Tochter Tjama vergossen. Drei Tränen und eine einzige Lalufrau waren alles, was vom Licht der Göttin geblieben war. Und diese winzigen Tränen sollten sie und ganz Engil nun vor Elven schützen?
Lin lauschte angespannt den Dienerinnen und am Abend Elvens Schritten auf dem Gang, als er in den Palast zurückkehrte. Angst kroch ihr ins Herz. Was würde er tun, wenn er ihre Tür verschlossen vorfand? Doch er kam an diesem Abend nicht. Lin wurde unruhig und begann, in ihren Räumen auf und ab zu gehen. Immer wieder legte sie ihr Ohr an die Tür, um etwas zu hören. Doch bis auf die Schritte der Diener, Vays herrische Stimme, die eine jüngere Dienerin zurechtwies, und eine Wache, die laut verkündete, dass die Nachtschale des Stundenmessers halb gefüllt sei und somit die Nachtruhe begonnen habe, geschah nichts.
Lin ging hinüber zur Fensteröffnung und sah hinaus in die ungewöhnlich düstere Nacht. Der Himmel war wolkenverhangen und mondlos, so dass sie nicht bis hinunter zum Tempelplatz sehen konnte. Sie spürte, dass die Greife dort waren. Würde es ihrer Mutter tatsächlich ganz allein auf sich gestellt gelingen, sowohl die Greife als auch Elven aus Engil zu vertreiben? Vielleicht sollte sie einfach zu ihr gehen. Ilana wäre wütend, aber sie würde sich besser fühlen. Lin zögerte, legte sich auf ihr Lager und starrte die Decke ihrer Räume an. Es war die erste Nacht, in der Elven nicht zu ihr kam. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Lin legte eine Hand an ihre Halskette. Sie fühlte sich warm auf ihrer Haut an. Bitte Sala … hilf Ilana heute Nacht …
Kurze Zeit später stand sie wieder vom Lager auf – sie konnte nicht mehr warten. Als Lin gerade den Riegel ihrer Tür lösen wollte, klopfte es. Sie erschrak so sehr, dass sie nicht antwortete. Schon rüttelte jemand ungeduldig von außen an der Tür, offensichtlich nicht gewohnt, ausgeschlossen zu werden. Lin lehnte sich mit klopfendem Herzen an die verschlossene Tür. Was sollte sie tun? Öffnen? Fragen, wer dort war? Und wenn es nun Elven war! Das Rütteln wurde noch ungeduldiger. Zitternd legte sie ihre Hand auf das Holz, als könne sie spüren, wer davor stand. Dann plötzlich fiel die Angst von ihr ab. Elven besaß eine fast unmenschliche Kraft. Er hätte den schwachen Hakenriegel längst aus der Verankerung gerissen. Das Rütteln kam von einer Frauenhand! Mutter …
Lin hob den Riegel an und öffnete die Tür einen Spalt weit. Sie blickte in das verärgerte Gesicht Vays, die mit wirrem Haar dastand. Ihre Dienerin trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
Lin tat, als hätte sie geschlafen. »Was ist los?«
Vay legte die Arme um den Oberkörper, um zu zeigen, dass sie fror und dieser Umstand allein Lins Schuld war. »Du musst mitkommen. Es ist etwas passiert. Warum hast du deine Tür verschlossen? Ich musste hier draußen in der Kälte stehen.«
Lin blieb ihr eine Antwort schuldig und fragte stattdessen: »Was ist denn so wichtig, dass du nachts an meine Tür hämmerst?« Sie hoffte darauf, dass Vay ihr sagen würde, dass Elven verschwunden wäre, unauffindbar, seine Räume leer …
Doch stattdessen gelang es Vay kaum, ihren Neid zu verbergen. »Du bist die Königin von Engil … ist das Grund genug?«
Lin spürte, wie ihr schwindlig wurde. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, und ihre Hände wurden klamm. »Wie … wie meinst du das?«
Vay kannte kein Erbarmen. Ungerührt zuckte sie mit den Schultern. »Deine Eltern sind tot. Die Diener haben sie auf ihren Lagern gefunden, als sie ihnen ihren Schlaftrunk bringen wollten.« Mit einem Funkeln in den Augen flüsterte Vay: »Lang lebe Lin, Königin von Engil … und Elven, König von Engil!«
Ihre Dienerinnen hatten Ilanas Körper neben dem von Tojar auf seiner Liege aufgebahrt. Die Haut ihrer Eltern war aschfahl und fühlte sich kalt an. Sie mussten bereits einige Zeit tot sein. Lin versuchte zu weinen, doch ihr Entsetzen war zu groß für Tränen. Erst am Vorabend hatte sie noch mit Ilana gesprochen … da war sie voller Tatkraft und Leben gewesen. Jetzt lag sie mit geschlossenen Augen da. Ihre Mutter trug noch immer das mattgrüne Gewand, in das sie ihr geholfen hatte, ihr Vater seinen grausilbernen Umhang über den Nachtkleidern. Sein weißes Haar wirkte fein wie Spinnweben. Die Diener hatten es eilig gehabt, die Toten aufzubahren. Die Hitze der Tage würde es nicht erlauben, sie lange dem reinigenden Feuer Salas vorzuenthalten.
Lin stand vor dem Totenlager ihrer Eltern und konnte weder sprechen noch trauern … jede Faser ihres Körpers und ihrer Seele schien erstarrt, und sie fühlte sich vollkommen leer. Ilana … Tojar … Mutter … Vater …
Dienerinnen brachten Feuerschalen und stellten sie an das Fußende der Liege, damit ihre Eltern Licht auf dem Weg zu Sala hätten. Sie verbeugten sich langsam vor Lin – einerseits um ihr Mitgefühl auszudrücken, andererseits da sie nun ihre Königin war. Dann verließen sie auf leisen Sohlen den Raum. Lin blieb alleine zurück in einer Stille, die nie wieder durch Ilanas Lachen oder Tojars dunkle Stimme durchbrochen werden würde … nie wieder!
Hinter ihr öffnete sich erneut die Tür, und jemand trat ein. Wieder eine Dienerin, die irgendetwas brachte, was ihren Eltern nicht mehr helfen würde. Warum hatte sie auf ihre Mutter gehört? Warum hatte sie sich nicht durchgesetzt und sie von ihrem wahnwitzigen Plan abgehalten? Lin machte sich Vorwürfe. Sie wusste, dass es Elven gewesen war! Er hatte ihre Eltern getötet, auch wenn ihre Körper keine Wunden aufwiesen.
Hände legten sich auf ihre Schultern – sie waren heiß. Fast meinte Lin, sie würden ihr durch den Stoff ihres Nachtgewandes die Haut verbrennen. Sie schloss die Augen, um es ertragen zu können.
»Lin … es tut mir sehr leid!«
Die Lüge besaß eine freundliche Stimme und einen Namen: Elven! Er war hier – natürlich war er das. Er war nun der König von Engil und sie seine Königin. Lin trat einen Schritt vor, so dass seine Hände von ihren Schultern glitten. Überraschenderweise blieb sie gefasst. »Ich weiß, dass du es warst.«
»Das ist Unsinn«, vernahm sie ihn leise in ihrem Rücken. »Warum sagst du so etwas? Ich habe geschlafen, genau wie du. Die Diener haben es mir gesagt, und ich bin sofort zu dir gekommen.«
Schon wieder lag seine Hand auf ihrer Schulter; dieses Mal zwang Elven sie dazu, sich umzudrehen und ihn anzusehen. Der düstere Blick seiner Augen passte nicht zu seinen freundlichen Worten. Doch im Angesicht ihrer toten Eltern fehlte ihr jede Angst vor ihm. »Ich weiß nicht, wie du es getan hast … Ich weiß nur, dass du es warst.«
Ihre Anschuldigungen perlten von ihm ab wie Wasser. Stattdessen fuhr seine Hand ihren Hals hinab, dann zuckte er plötzlich zurück. Das erste Mal konnte Lin eine Gefühlsregung in seinem Gesicht lesen – Überraschung?
Sie fuhr mit der Hand über jene Stelle, die ihn abgestoßen hatte, und spürte die drei kleinen Tränen einen kurzen Augenblick glühend heiß auf ihrer Haut. Elven starrte auf die Kette und hielt sich seine schmerzende Hand. Lin spürte, dass es vorbei war mit dem Versteckspiel. »Also ist es wahr. Du bist ein Diener des Muruk, ein Blutpriester, und du hast meine Eltern getötet, um Engil an dich zu reißen!«
Elven machte keine Anstalten zu widersprechen. Er sah sie an, und er hätte schön sein können, wenn nicht alles an ihm Lüge gewesen wäre. Lüge! Schließlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und es war, als würde er seine Maskerade aufgeben. »Lin, du verstehst nicht … Du glaubst, du kennst die Wahrheit, doch du stehst allein in der Dunkelheit. Es ist so viel komplizierter. Mir läuft die Zeit davon, dich von meiner Liebe zu überzeugen.«
»Mir reicht diese eine Wahrheit, Elven!«, widersprach sie voller Abscheu. »Du bist ein Diener des Muruk und der Mörder meiner Eltern. Engil wird dich niemals anerkennen. Ich werde dich niemals anerkennen!«
Er lachte! Nur leise, doch er wagte es, im Angesicht ihrer toten Eltern zu lachen. Lins Knie drohten nachzugeben.
»Wie willst du das beweisen, Lin? Außerdem ist es allein deine Schuld! Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst deine Eltern mit deinen Narrheiten verschonen?« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast mir keine Wahl gelassen.«
Lin spürte die Taubheit von sich abfallen und an ihrer Stelle glühenden Hass in ihrem Herzen aufflammen. Gleich darauf vernahm sie eine boshafte Stimme in ihrem Kopf, die Elven recht gab. Unglückselige Lin! Sie hatte schon wieder etwas Dummes getan. »Worauf hoffst du, Elven? Dass ich schweige und den Mord an meinen Eltern hinnehme … dass ich zusehe, wie du engilianische Frauen zwingst, Greifen Nachkommen zu gebären? Was willst du? Eine Stadt, in welcher der Blutgott und die Lichtgöttin einträchtig miteinander leben? Ein Haus von Blut und Asche?«
Elven musterte sie lange, bevor er ernst antwortete: »Es ist der beste Weg für uns alle.«
»Das wird niemals geschehen«, flüsterte Lin. In ihrer Stimme lag so viel Schärfe, dass selbst er erkannte, wie ernst es ihr war. »Ich will deinen Tod … Ja, wirklich, so weit hast du mein friedliches Gemüt gebracht, dass ich an nichts anderes mehr denken kann als daran, dich tot zu sehen.«
Elvens Blick wurde finster, so finster, dass Lins Angst zurückkehrte. »Ich werde dich nicht freigeben, auch wenn du mich hasst. Ich habe mir Liebe gewünscht, doch wenn dies nicht möglich ist, gebe ich mich mit Hass zufrieden. Auch Hass ist ein starkes Gefühl … voller Leidenschaft.«
Lin wollte schreien, doch dann fiel ihr Blick auf ihre toten Eltern. Zumindest einmal musste sie stark sein und das Richtige tun. »Ich werde eine Dienerin zur zweiten Priesterin Salas schicken, damit sie mit mir die Gebete für meine Eltern spricht. Da du den Tempel hast schließen lassen, werde ich mit Jevana die Rituale hier vollziehen.«
Elven sah sie mit einem Ausdruck an, den sie wieder einmal nicht deuten konnte. Belustigte ihn ihr Wunsch etwa? Doch ehe sie es hätte erraten können, wandte er sich ab und sagte: »Wenn es dich glücklich macht, meine Königin.«
Braam starrte hinüber zu den Stundenschalen. Die kleine Schale war übergelaufen, was ihm sagte, dass er schon den gesamten Vormittag hier stand und darauf wartete, dass Lin und die zweite Priesterin ihre Litaneien für das tote Herrscherpaar beendeten. Elven selbst hatte ihn angewiesen, darauf zu achten, dass es keine Schwierigkeiten gab. Braam war nicht gerade begeistert davon, wie ein Wachhund vor der geschlossenen Tür zu warten. Da drin wurden zwei Tote für das reinigende Feuer vorbereitet. Er war wütend, dass nicht einem der Diener diese unwichtige Aufgabe zugeteilt worden war, hatte es jedoch nicht gewagt, dies vor Elven auszusprechen. Nun hoffte er mit jedem Tropfen Wasser aus den Händen der steinernen Lalufrau, dass die beiden hinter der Tür bald fertig wären. Es war heiß und ging auf die Gluthitze des Nachmittags zu. Die Körper der Toten würden anfangen zu riechen. Seit seinem Erlebnis im Wald von Isnal war ihm der Gestank nach Tod unerträglich.
Ungeduldig trat Braam von einem Bein auf das andere. Wie lange waren sie schon da drin und vollzogen die Rituale? Er wusste es nicht. Elven hatte ihm befohlen, vor der geschlossenen Tür zu warten, so lange es eben dauerte.
Nach einer ihm endlos erscheinenden Zeit öffnete sich die Tür, und heraus trat eine Gestalt, gehüllt in einen grauen Kapuzenumhang, der ihr Gesicht bedeckte. Vor sich her trug sie eine Schale mit Wasser. Braam wurde misstrauisch. »Halt!«, wies er die Gestalt an und trat ihr in den Weg. »Was ist das?« Er wies auf die Schale in ihren Händen und nahm gleichzeitig einen süßlich-faulen Geruch wahr. Sofort waren die Bilder wieder da – der Wald, der abgetrennte verwesende Arm …
»Leichenwasser vom Waschen der Toten«, raunte die Gestalt, und Braam wurde klar, weshalb sie verhüllt war. Es war die gefährliche Aufgabe der zweiten Priesterin, das Totenwaschen zu übernehmen, während die Hohepriesterin die Gebete sprach. Sofort wich er einen Schritt zurück. Normalerweise wurden die Toten im Tempel gewaschen und auf ihre Reise zu Sala vorbereitet, um die Lebenden zu schützen. Niemand wollte mit den Gerüchen des Todes in Berührung kommen. Sie konnten einen gesunden Menschen zeichnen, so dass der Tod auf ihn aufmerksam wurde und sich ihm zuwandte.
»Bring das weg!«, blaffte er ungehalten.
Die Gestalt tat eine angedeutete Verbeugung und entfernte sich den Gang hinunter. Braam sah ihr mit gemischten Gefühlen hinterher. Die zweite Priesterin ging ein hohes Risiko ein, indem sie das Leichenwasser entsorgte. Sie musste es aus der Stadt bringen, um ganz sicher zu sein, den Tod nicht in die Stadt zu locken. Braam schnüffelte an seinen Ärmeln und den Händen. Hatte der Hauch des Todes sich bereits an ihm festgesetzt? Erleichtert atmete er auf, als er feststellte, dass dem nicht so war.
Er lehnte sich wieder an die Wand und wartete. Mittlerweile war es noch wärmer geworden – die Luft stand förmlich in den Fluren des Palastes. Sein Blick wanderte erneut zu den Stundenschalen. Tropfen für Tropfen fiel in die zweite Schale, die mittlerweile halbvoll war. Wie lange wollten sie die Leichen noch betrauern? Wenn sie noch länger warteten, würde der Totengeruch in den Räumen haften bleiben und das Unglück anziehen. Braam wurde unruhig – sollte er Elven unterrichten? Aber Elven war auf der Baustelle, um die Arbeiten am neuen Tempel zu überwachen, und wurde dabei nicht gerne gestört.
Eine Weile wartete Braam noch, dann legte er das Ohr an die Tür – kein Laut war durch das Holz zu hören. Ein weiterer Blick auf die Stundenschalen – die zweite Schale war nun zu drei Vierteln gefüllt. Die zweite Priesterin hätte längst zurück sein müssen. Langsam beschlich ihn das ungute Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Er nahm all seinen Mut zusammen und öffnete die Tür zur Totenkammer. Der süßlich-faulige Geruch stieg ihm in die Nase, und er musste ein Würgen unterdrücken. Das Herrscherpaar lag noch immer aufgebahrt. Doch warum trug der König auf dem Totenlager nur ein Nachtgewand? Lin kniete vor dem Lager ihrer Eltern, den Kopf mit einem Trauerschal verhüllt, und rührte sich nicht. Braam wagte sich ein paar Schritte in den Raum hinein. »Du musst zum Ende kommen. Der Gestank hier drin ist unerträglich … die Körper müssen ins Feuer.«
Lin reagierte nicht auf seine Worte, starrte nur weiter auf die beiden Toten.
»Lin«, sagte er schärfer und ging zu ihr. Ungeduldig packte er ihre Schulter und zog sie hoch. Sie wandte sich zu ihm um und sah ihn an. Braam blieben die Worte im Hals stecken. Sie war nicht Lin! Die Frau, die ihn ansah, war Jevana, die zweite Priesterin. »Wo ist Lin?«
Die Priesterin antwortete ihm nicht, und Braam bemerkte, dass sie Lins Hohepriesterinnengewand trug … sogar die Kette der Göttin, die Tränen Salas. Sein Verstand brauchte eine Weile, bis er begriff, dann lief er rot an. Sein Blick fiel auf den König im Nachtgewand. Der Umhang! Er hatte sich von den Weibern übertölpeln lassen.
»Wo ist sie?«, knurrte er die zweite Priesterin böse an.
Jevana bedachte ihn mit einem zufriedenen Lächeln. »Fort … und jetzt kannst du zu deinem Herrn laufen und ihm sagen, dass es keine Gefährtenschaft zwischen der Königin von Engil und einem elenden Diener des Muruk geben wird … und dass sie nicht zurückkehren wird, ehe sie ihn aus Engil vertrieben hat.«
Braam holte aus und schlug die Priesterin ins Gesicht. Sie taumelte rückwärts, fiel jedoch nicht. Die Tränen Salas funkelten an ihrem Hals. Braam spürte plötzlich einen brennend heißen Schmerz in seiner Hand und jaulte auf.
»Salas Tränen schützen mich«, ließ Jevana ihn mit Genugtuung wissen, während der Schmerz in seiner Hand langsam nachließ.
»Das werden wir noch sehen!«, schrie Braam, dann rannte er, so schnell er konnte, davon, um Elven zu unterrichten, dass seine Königin aus Engil geflohen war. Weit konnte sie noch nicht gekommen sein.