Alfred Bekker

Die Angst verfolgt dich bis ans Ende

 

Thriller

 

© 1996,2004 und 2012 by Alfred Bekker

Ein CassiopeiaPress E-Book.

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Lynne Davis atmete tief durch.

Die Musik war gleich zu Ende. Sie blickte nach links, wo Clark Grady, der Aufnahmeleiter hinter einem Glasfenster saß und ihr zunickte. Lynne strich sich eine Haarsträhne zurück.

Mein Gott, dachte die junge Frau. Ich mache diese Sendung nun schon fast drei Monate. Allmählich sollte sich wenigstens ein klein bißchen von dem einstellen, was man Routine nennt. Aber Lynne hatte noch immer vor jeder Sendung Schmetterlinge im Bauch.

Die Musik war zu Ende.

Ein rotes Licht ging an.

Jetzt war sie auf dem Äther und mindestens einige hunderttausend Ohrenpaare würden jetzt der Stimme von Lynne Davis lauschen.

"Und hier ist wieder Radio KLM, London und ich begrüße mal wieder alle Nachtschwärmer zur zweiten Hälfte von Lynne's Night-Talk. Heute zum Thema Reinkarnation und Wiedergeburt.

Glaubt ihr daran, daß es mehrere Leben gibt, daß die Seele vielleicht nach dem Tod des Körpers weiterexistiert - oder seit ihr der Meinung, daß nach dem Tod alles zu Ende ist?

Habt ihr schonmal gelebt? Es gibt Menschen, die davon überzeugt sind. Ganze Kulturen bauen auf diesem Glauben auf..."

Dann gab Lynne die Telefonnummer über den Sender. Zweimal, zum Mitschreiben.

Eine kurze Musikeinspielung folgte, dann der erste Anruf.

"Hallo, hier ist Lynne Davis. Wer spricht da?"

"Bill."

Die Stimme hatte einen seltsam dumpfen Klang, das fiel Lynne sofort auf. Aber sie dachte zunächst nicht weiter darüber nach.

"Bill, warum rufst du an? Was willst du uns erzählen?"

"Ich habe den ersten Teil der Sendung gehört - vor den Nachrichten. Und da dachte ich..." Er stockte. Seine Stimme klang wirklich merkwürdig... "Ich dachte, da muß ich mal anrufen. Es ist nämlich so, daß ich schonmal gelebt habe..."

"Du glaubst also an die Wiedergeburt."

"Ich weiß es, verdammt noch mal!"

Es war ein kleiner Ausbruch von unterdrückter Wut, der Lynne unwillkürlich einen Schauer über den Rücken jagte. Sie hörte ihn durch das Telefon atmen. "Entschuldigung", sagte er. "Aber es ist immer dasselbe, wenn man darüber redet. Man wird nicht ernstgenommen..."

"Ich würde das Thema nicht in meine Sendung nehmen, wenn ich es nicht ernst nähme", erwiderte Lynne. "Aber sag mal, was ist mit deiner Stimme? Man kann dich so schlecht verstehen?"

"Ich spreche durch ein Taschentuch. Ich will nicht, daß jemand, den ich kenne, meine Stimme wiedererkennt..."

"Verstehe", murmelte Lynne. Er war nicht der erste Anrufer, der anonym bleiben wollte. Und natürlich hieß er auch nicht Bill. Aber darauf kam es nicht an.

"Ich hatte viele Leben in verschiedenen Zeitaltern", sagte der Anrufer. "Die meisten waren nichts besonderes.

Durschnittsmenschen, Handwerker, Bauern. Aber vor hundert Jahren wurde ich als William Delaney geboren..."

Lynne verstand nicht, aber Bill hatte das so gesagt, als würde es etwas bedeuten.

"Wer war dieser Delaney?" fragte Lynne.

"Ein Mörder. Er hat neun Frauen der feinen Gesellschaft umgebracht. Ich habe immer die Bilder dieser Frauen vor mir..." In seine Stimme kam ein seltsames Vibrieren hinein.

"Wie kommst du zu der Überzeugung, daß du einmal ein Mörder warst?" fragte Lynne.

"Ich habe eine Reinkarnationstherapie mitgemacht, weil ich psychische Probleme hatte und mir eine normale Therapie nicht helfen konnte..."

Oh, mein Gott! Ein Verrückter! ging es Lynne unwillkürlich durch den Kopf. Wie hatte ihr Team den nur auf den Sender lassen können? Ein gutes Dutzend Mitarbeiter machten während der Sendung nichts anderes, als solche Anrufer auszufiltern.

"Eine Reinkarnationstherapie?" echote Lynne. "Was ist das?"

"Man geht davon aus, daß die Probleme, die man in diesem Leben hat, durch ungelöste Konflikte in früheren Leben verursacht sind. Der Therapeut versetzt den Patienten in Hypnose und geht mit ihm zunächst in die frühe Kindheit zurück. Dann zur Geburt, anschließend in die Zeit vor der Geburt und in frühere Leben. Ich war William Delaney, der neunfache Frauenmörder... Ich erlebte die Morde, ich sah die Opfer... Ich wurde hingerichtet, Lynne!"

Er brach ab.

"Hat dir diese Therapie denn geholfen?"

"Nein. Ich werde die schrecklichen Bilder nicht mehr los.

Jede Nacht sehe ich die Gesichter der Frauen vor mir, die ich umgebracht habe. Ich sehe sie in einer langen Reihe und als letztes sehe ich mein eigenes Gesicht - ich meine, das Gesicht, das ich damals, als William Delaney hatte - in der Reihe..."

"Bist du immer noch in dieser Reinkarnationstherapie?"

fragte Lynne.

"Nein. Ich habe sie abgebrochen."

"Bist du zu einem anderen Therapeuten gegangen? Einem Arzt?"

"Mir kann niemand helfen. Das weiß ich. Diese Bilder...

Niemand kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn man plötzlich erfährt, daß man ein Mörder ist..."

 

"Ich verstehe dich gut", sagte Lynne.

"Nein, das versteht niemand. Niemand wirklich. Und dann...

Da ist noch etwas..." Er stockte und machte eine kleine Pause. Einen Augenblick hatte Lynne schon den Verdacht, der Anrufer könnte raus aus der Leitung sein.

"Was ist da noch, Bill?" hakte sie nach.

"Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Also, ich habe Angst, daß der Mörder, der ich war, wieder hervorbricht...

Verstehst du, was ich meine?"

Bill hatte jetzt mit zitternder Stimme gesprochen.

"Erkläre es mir", erwiderte Lynne so sanft und ruhig sie konnte.

"Ich habe Angst, daß ich wieder der werde, der ich in einem früheren Leben schon einmal war! William Delaney, ein Serienmörder! Wenn ich diese High-Society-Frauen mit ihren Klunkern und Ketten um den Hals sehe... Ich beginne zu verstehen, weshalb ich - also ich meine Delaney - sie umbringen mußte..."

Er atmete schwer. Die Zeit, die für einen einzelnen Anruf zur Verfügung stand, war längst verbraucht.

Aber Lynne konnte Bill jetzt nicht sich selbst überlassen.

Wenn sie Glück hatte, konnte sie ihn dazu überreden, sich noch mit dem Psychologen, den sie im Sendeteam hatten, zu unterhalten - natürlich ohne, daß davon etwas über den Sender ging. Denn Hilfe brauchte dieser Mann ohne Zweifel.

"Bill, hier warten bereits einige andere Anrufer in der Warteschleife", sagte Lynne. "Vielleicht unterhältst du dich noch ein bißchen mit unserem Psychologen... Hallo?"

Es hatte klick gemacht.

"Bill? Bist du noch dran?"

Die Leitung war tot.

*

"Mein Gott, du bist ja kreideweiß", meinte Clark Grady, der Aufnahmeleiter, als die Sendung zu Ende war.

Lynne schluckte.

"Ich bin froh, daß die Sendung zu Ende ist", gestand sie und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Clark hatte ihr einen schwarzen Kaffee hingestellt. Lynne lächelte matt.

"Danke."

"Keine Ursache. Ich glaube, den brauchst du jetzt."

"Das kann man wohl sagen."

Grady setzte sich zu der jungen Frau. Lynne war Mitte zwanzig und sportlich gekleidet. Sie trug Jeans und Pullover. Aber das lange Haar, das sie hochgesteckt trug, gab ihr einen Hauch von Eleganz.

"Das mit diesem Irren hat dich ziemlih mitgenommen, nicht wahr Lynne?" hörte sie Gradys Stimme.

Grady war doppelt so alt wie sie und sie wußte genau, daß sie es nur zur einen Hälfte ihrem Talent zu verdanken hatte, daß sie diese Sendung seit drei Monaten moderierte.

Talent war die Voraussetzung. Die andere Seite der Medaille waren Menschen, die dieses Talent erkannten und förderten.

 

Und das war Grady gewesen.

"Da mußt du durch, Lynne."

"Dieser Mann ist krank, er braucht Hilfe."

"Ich weiß."

Eine attraktive Blondine tauchte auf und reichte Grady ein paar Unterlagen.

Lynne kannte sie. Es war Colleen McGray, eine aus dem Team, das die Anrufe entgegennahm.

"Wie konntet ihr diesen Verrückten auf den Äther lassen?"

knurrte Grady sie an.

Er konnte sehr jähzornig werden, das wußte Lynn aus eigener Erfahrung. Aber meistens meinte er es gar nicht so hart, wie er es sagte. Und irgend einer mußte den Laden schließlich zusammenhalten. Deshalb konnte Lynne ihm das nachsehen.

"Ich..." stotterte Colleen.

"Wozu werdet ihr eigentlich bezahlt?"

"Die Story dieses Mannes klang interessant und überzeugend.

Er wirkte sehr viel ruhiger, als er mit mir sprach..."

"Ja, ja..." Grady winkte ab und Colleen ging mit einem Schmollmund wieder davon. Sie schien wirklich beleidigt zu sein.

"Colleen kann doch nichts dafür!" versuchte Lynne sie zu verteidigen.

"Natürlich kann sie das! Sie soll besser aufpassen!"

Colleen ließ die Tür zuknallen.

Grady blickte Lynne gerade an. "Vergiß es so schnell du kannst, Lynne."

Sie lächelte matt.

"Spätestens zur nächsten Sendung!" versprach sie und warf einen kurzen Blick zur Uhr. Halb zwei in der Nacht. Zeit, daß ich nach Hause komme, dachte sie.

Wenig später, als sie das Gebäude des Senders verließ und die frische, kühle Nachtluft in sich aufsog, kam ihr eine Gestalt entgegen. Es war ein Mann mit wehendem Mantel, der ziemlich abgehetzt wirkte. Im Schein der Außenbeleuchtung erkannte sie ihn sofort. Es war niemand anderes als Joe Stapleton, einer der Techniker, die zum Team ihrer Sendung gehörte. Ein netter Kerl, aber manchmal etwas unzuverlässig.

Und Grady konnte so etwas auf den Tod nicht ausstehen, des-halb hatte es von Anfang an Reibereien zwischen den beiden gegeben.

Stapleton sah sie kurz an.

Dann verzog er das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.

"Hallo, Lynne!"

"Warst du gar nicht bei der Sendung dabei?"

"Ich bin im Verkehr steckengeblieben. Ein schwerer Unfall auf der Schnellstraße..." Er schluckte. "Wie ist Gradys Laune?"

"Nicht besonders gut", gestand Lynne. "An deiner Stelle würde ich da jetzt nicht hinaufgehen."

"Wenn ich's nicht tue, wird's nur schlimmer!" glaubte Stapleton und ging an ihr vorbei. Dann drehte er sich nochmal halb zu ihr herum und sagte: "Ich habe die Sendung im Autoradio gehört, während ich im Stau stand. Du warst gut. Wirklich gut."

Sie lächelte matt. "So was hört man gerne!"

"Es war das erste Mal, daß ich die Sendung nicht aus dem Studio mitgekriegt hab. Ich muß sagen, es wundert mich überhaupt nicht mehr, weshalb du Waschkörbe voll Fanpost bekommst..."

*

Lynne bewohnte eine Zwei-Zimmer-Wohnung im Obergeschoß eines Londoner Mietshauses, das so um die Jahrhundertwende erbaut worden sein mußte.

Seit zwei Jahren wohnte sie dort, seit sie bei dem kleinen Privatsender KLM angefangen hatte. Inzwischen war KLM um einiges gewachsen und Lynnes Ansprüche, was eine Wohnung anging, eigentlich auch. Aber es war nicht leicht, in London etwas zu finden. Zwar war es, seit sie ihre eigene Sendung hatte, kein finanzielles Problem mehr, aber sie hätte sich intensiver darum kümmern müssen.

Und im Moment fehlte ihr dazu die Zeit.

Nachdem Lynne die Wohnung betreten hatte, ließ sie sich in einen der weichen Sessel fallen und rieb sich die Schläfen.

Morgen war Samstag und das war gut so, denn es bedeutete, daß sie frei hatte. Lynne's Night-Talk wurde von Montags bis Freitags gesendet, jeweils um Mitternacht.

In dieser Nacht schlief Lynne wie ein Stein.

Es mußte irgendwann gegen Morgen sein, als sie plötzlich aus dem Schlaf hochschreckte. Ein düsterer Traum echote noch in ihr. Die offensichtlich verstellte Stimme des Anrufers, der sich Bill genannt hatte und sich für die Wiedergeburt eines Mörders hielt spukte noch in ihrem Kopf herum.

Aber dann merkte die junge Frau, daß es das Telefon war, daß sie geweckt hatte.

Im nächsten Moment war sie hellwach.

Wer rief um diese Zeit noch an? Sie sah auf die Uhr. Drei Uhr nachts.

Seit Lynne die Sendung hatte, war sie immer wieder von Anrufern belästigt worden und daher besaß sie eine Geheimnummer, die nur wenigen Vertrauten bekannt war. Ihre Eltern ge-hörten dazu, ihre beste Freundin, und Grady, ihr Chef beim Sender...

Lynne stand auf.

Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie den Hörer abnahm.

Dann griff sie entschlossen zu.

"Ja?"

Aber auf der anderen Seite der Leitung blieb alles tot.

Niemand sagte etwas. Es machte leise klick und dann war es vorbei.

Seltsam, dachte Lynne.

*

Am nächsten Tag war sie mit Mary Collins, ihrer besten Freundin, in der Eishalle verabredet. Mary war zwei Jahre jünger als Lynne, studierte noch und verdiente sich nebenbei ihr Geld als Model für Werbefotos.

 

Es war ein kühler, dunstiger Tag. Der Nebel hing wie eine grauweiße Suppe über London.

Lynne war etwas zu spät, aber sie hatte Glück. Mary wartete noch am vereinbarten Treffpunkt.

"Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt!"

maulte sie.

"Für wen hältst du mich?"

"Naja, es hat mich ja auch gewundert."

Lynne zuckte die Achseln.

"Ich habe schlecht geschlafen..."

"Oh. Dann bist du natürlich entschuldigt", lachte Mary, wobei sich auf ihren Wangen ein paar Grübchen zeigten.

Lynnes Lächeln geriet etwas dünn. Dann fragte sie: "Was hast du mit deinen Haaren gemacht? Ich hätte dich um ein Haar nicht wiedererkannt..."

Mary hob die Schultern.

"Ich habe Fotos gemacht - Werbung für eine Brillenfirma, um genau zu sein. Tja, und die von der Werbeagentur wollten nur mein Gesicht, nicht meine Haare, da mußte ich sie abschnei-den lassen. Bei den langen Locken käme die Brille nicht zur Geltung!"

"Steht dir aber auch!"

"Danke! Und nun laß uns endlich reingehen, sonst wird es so voll auf dem Eis, daß es keinen Spaß mehr macht!" Mary wollte sich schon zum Gehen wenden, aber Lynne faße sie am Arm.

"Einen Moment noch."

"Ja?"

"Hast du heute nacht bei mir anzurufen versucht?"

Mary schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, wie kommst du darauf?"

"War nur eine Frage."

*

Anderthalb Stunden später waren sie ziemlich aus der Puste und saßen bei einer russischen Schokolade in dem Cafe, das zur Eishalle gehörte.

"Du bist nichts mehr gewohnt!" meinte Mary.

Lynne nippte an ihrer Tasse und erwiderte: "Ich weiß, meine Kondition ist miserabel."

"Seit du diese Sendung hast, kommst du zu fast nichts anderem mehr..."

"Ja." Lynne nickte. "Aber es ist eine einmalige Chance, so etwas muß man beim Schopf packen."

"Da hast du recht."

Lynnes Blick wurde nachdenklich. Sie hatte keine Lust, sich jetzt über den Sender zu unterhalten, auch wenn sie sonst mit Mary immer den neuesten Klatsch austauschte, den es von dort zu berichten gab. Aber nicht heute.

"Hör mal, Mary...", begann sie dann, brach aber im nächsten Moment wieder ab, als sie sah, daß die Augen ihres Gegenübers starr in eine Richtung blickten. "Was ist los?" fragte Lynne ihre Freundin und drehte sich herum.

Sie folgte Marys Blick, der in Richtung des Eingangs gerichtet war.

 

Gerade war dort ein Mann eingetreten. Er war Anfang dreißig, dunkelhaarig und trug unter seinem offenen Mantel einen Anzug, der sicher seine 300 Pfund Sterling gekostet hatte.

Er sah gut aus, fand Lynne, aber auf jeden Fall war er absolut unpassend für einen Besuch der Eishalle gekleidet.

Der Dunkelharige sah sich im Raum um, dann fiel sein Blick auf Mary und er ging geradewegs auf sie zu.

"So ein Zufall!" begrüßte er sie. "Ich hätte nicht gedacht, Sie hier wieder zu treffen..."

"Ja, ich..." Mary stammelte etwas Sinnloses vor sich hin.

Sie schien recht verlegen zu sein und ihr Gesicht wurde von einer leichten Röte überzogen. Aber nach ein paar Sekunden hatte sie sich wieder im Griff. Sie wandte sich an Lynne.

"Lynne, darf ich dir Jack Gordon vorstellen? Er gehört zu der Werbeagentur, mit der ich die Brillen-Serie gemacht habe.

Jack, das ist..."

"Sie müssen Lynne Davis sein", wurde Mary von Jack Gordon unterbrochen. Er bedachte Lynne mit einem seltsamen Blick. In seinen dunklen Augen war etwas, das die junge Frau vom ersten Moment an faszinierte, ohne daß sie genau hätte sagen können, was es war. "Die berühmte Lynne Davis von Radio KLM. Diese Stimme würde ich unter tausenden heraushören..."

"Sie überteiben, Mr. Gordon."

"Nennen Sie mich Jack."

"Jack."

"Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?"

Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab, sondern setzte sich einfach. "Wußten Sie, daß ich Ihre Sendung niemals verpasse? Zumindest nicht, wenn es sich irgendwie einrichten läßt. In unserer Branche gehören die meisten nicht zu den Frühaufstehern, wenn Sie verstehen, was ich meine."

"Sie sind in der Werbung, hat Mary gesagt", murmelte Lynne, eigentlich nur, um auch etwas zu sagen.

Er nickte.

"Stimmt. Ich habe zusammen mit einem Partner eine Agentur.

Es läuft ganz gut." Er fixierte Lynne mit einem Blick, der ihr durch und durch ging. "Sie haben ein interessantes Gesicht, Lynne. Wollen Sie sich nicht auch mal für irgend etwas ablichten lassen?"

"Nein, danke", schüttelte die junge Frau entschieden den Kopf. "Dazu hätte ich auch gar keine Zeit..."

"Schade..."

Inzwischen kam die Bedienung und Jack Gordon bestellte eine Tasse schwarzen Kaffee.

Dann wandte er sich wieder an Lynne.

"Ihre letzte Sendung geht mir nicht aus dem Kopf", sagte Jack.

"Ach, ja?"

Lynne war alles andere als begeistert, daß er gerade auf dieses Thema kam.

"Dieser Mann, der behauptete, die Wiedergeburt eines Mörders zu sein..."

"Hören Sie, Jack, können wir nicht über etwas anderes reden?" fiel Lynne unvermittelt dazwischen, aber Jack fuhr dennoch fort.

"Ich habe Sie sehr bewundert", erklärte er und es klang aufrichtig.

"Bewundert?" echote Lynne.

"Ihr Einfühlungsvermögen. Sagen Sie, wie ist Ihre persönliche Meinung zu dem Thema? Was das angeht, haben Sie sich sehr zurückgehalten - ganz im Gegensatz zu ihrer sonstigen Art. Glauben Sie an die Wiedergeburt?"

Lynne war überrascht.

Dann lächelte sie und zuckte die Achseln.

"Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Einerseits halte ich es grundsätzlich für möglich, aber auf der anderen Seite gibt es noch keinen Beweis!"

"Und diese Reinkarnationstherapien, bei denen Patienten in frühere Leben zurückgeführt werden? Ist das kein Beweis?"

"Fest scheint nur zu stehen, daß die Betroffenen irgend etwas sehen", meinte Lynne. "Aber ob das Erinnerungen an frühere Leben sind oder Dinge des Unterbewußtseins - wer will das beurteilen?"

"Ausschließen würden Sie aber nicht, daß dieser Mann tatsächlich die Wiedergeburt von William Delaney ist..."

Lynne schluckte unwillkürlich.

"Natürlich nicht."

Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile, wobei Mary kaum etwas dazu beitrug. Sie bestellte sich noch eine zweite Schokolade und saß ziemlich gelangweilt da.

Dann blickte Jack plötzlich auf die Uhr und gab an, noch einen Termin zu haben.

"Am Samstag?" fragte Lynne verwundert.

Jack lachte.

"Der Kunde ist nunmal König, auch wenn er sehr ungeduldig ist und seine Werbekampagne am liebsten schon vorgestern hätte... Vielleicht sehen wir uns irgendwann mal wieder..."

"Vielleicht", murmelte Lynne.

Dann verabschiedete Jack Gordon sich.

"Meine Güte, den hast du aber beeindruckt!" staunte Mary.

Lynne machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Du übertreibst", war sie überzeugt.

"Wieso? Ich war doch völlig Luft für ihn!"

Lynne wirkte auf einmal nachdenklich. Dann fragte sie ihre Freundin: "Was ist das für ein Mann?"

Mary machte ein unbestimmtes Gesicht.

"Er ist kreativ und schon recht erfolgreich, obwohl er wohl erst ganz am Anfang steht. Soll ich dir seine Telefonnummer geben?"

"Sehr witzig!"

Mary lachte.

"Das war ganz ernst gemeint!"

Später, als Lynne wieder in ihre Wohnung kam, erlebte sie eine Überraschung. Auf dem Wohnzimmertisch fand sie einen Bund Rosen vor, die mit Draht zusammengehalten wurden. Der Draht war dabei zu einer seltsamen Schlinge geformt...

*

Am Montag nachmittag ging Lynne wieder in den Sender. Eine Redaktionskonferenz war angesetzt.

"Na,schönes Wochenende gehabt?" begrüßte Colleen McGray sie mit einem säuerlichen Lächeln.

"Es ging", erwiderte Lynne. "Jedenfalls hatte ich dringend die freien Tage nötig."

"Verstehe. Aber sei gewarnt. Grady ist mal wieder auf hundertachtzig."

"Oh", machte Lynne.

"Hast du es schon gehört?" flüsterte Colleen dann, während die Frauen den Sitzungsraum betraten.

Lynne wandte sich herum. "Nein, was denn?"

"Grady hat dafür gesorgt,daß Joe aus dem Team genommen wurde. Er sei zu unzuverlässig. Jetzt ist er in einer anderen Abteilung des Senders."

"Das ist schade."

Colleen nickte. "Sei nur froh, daß dir so etwas nicht passieren kann."

Lynne sah verwundert drein-. "Wie kommst du darauf?" fragte sie erstaunt.

Colleen lächelte freundlich. "Du bist doch inzwischen so etwas wie das Markenzeichen der Sendung geworden, da kannst du dir mehr rausnehmen. Denn im Zweifelsfall würde sich KLM

vermutlich eher von Grady als von dir trennen!"

Lynne zuckte die Achseln.

"Aber nur, solange genug Leute das Radio anmachen, wenn ich im Äther bin!"

Colleen lachte.

"Das sowieso, Lynne!"

"Ach, Colleen..." Lynne nahm sie etwas zur Seite.

"Was ist denn?"

"Hast du eine Ahnung, wer auf die Idee gekommen sein könnte, mir ein paar Rosen in die Wohnung zu legen, während ich nicht zu Hause war?"

Colleen wirkte ziemlich erstaunt. "Keine Ahnung. Muß jemand sein, der Schlüssel hatte, oder?"

"Da gibt es keinen, der in Frage kommt."

"Wer was davon versteht, kommt auch so in jede Wohnung rein", meinte Colleen leichthin. "Vielleicht jemand aus deinem Publikum!" fing sie dann an zu necken. "Das liebt dich doch inzwischen abgöttisch..."

Aber Lynne fand das alles andere als witzig.

*

Die Konferenz dauerte etwa eine Stunde. Lynne hatte bis ungefähr um elf Uhr abends noch Zeit und überlegte, ob sie nicht etwas essen gehen sollte.

Natürlich nur etwas Leichtes und vor allen Dingen nichts, von dem man hinterher aufstoßen mußte. Schließlich wäre es nicht gerade ihrem Image förderlich gewesen, wenn sie mitten in der Sendung, womöglich während einer herzzerreißenden Schicksalsbeichte, ein unappetitliches Geräusch über die Lippen gehen ließ.

Aber Lynne hatte sich längst daran gewöhnt, in diesen Dingen Disziplin zu halten.

 

Lynne erreichte den Parkplatz des Senders, um zu ihrem Wagen zu gelangen, den sie ein paar Augenblicke später erreicht hatte.

Sie hatte gerade den Schlüssel ins Türschloß gesteckt, da ließ eine Stimme sie herumfahren.

"Hallo, Lynne - ich darf Sie doch so nennen. Schließlich nennen alle Ihre Hörer Sie so!"

Lynne blickte in das freundlich lächelnde Gesicht von Jack Gordon, dessen warme, dunkle Augen sie aufmerksam musterten.

Lynne lächelte zurück.

"So ein Zufall."

"Das ist kein Zufall", erklärte Gordon und umrundete dabei den Porsche, mit dem er offenbar gekommen war. Werbung mußte ein einträgliches Geschäft sein, ging es Lynne durch den Kopf.

"Kein Zufall?" echote sie.

"Ich habe auf Sie gewartet, Lynne."

"Ich hoffe nicht, daß Sie zu den zwei Dutzend Leuten gehören, die mir pro Woche einen Heiratsantrag machen wollen...", scherzte Lynne.

Jack grinste.

"Nein, eigentlich wollte ich Sie nur zum Essen einladen.

Aber... Sie bringen mich da auf einen interessanten Gedanken."

"Hören Sie bloß auf!"

Sie lachten beide. Und bei dem Blick, den Jack ihr dann zuwarf, fühlte Lynne ein seltsames Kribbeln.

Jack öffnete indessen die Beifahrertür des Porsches.

"Steigen Sie schon ein! Sie wollten doch essen, oder? Und bis zu Ihrer Sendung haben Sie doch noch ein bißchen Zeit...

Ich werde Sie ganz bestimmmt wieder pünktlich hier absetzen!"

"Sie lassen nicht locker, was?" Lynne strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.

Warum eigentlich nicht? dachte sie dann.

Dieser Jack schien ein interessanter und sympathischer Mann zu sein. Und nachdem sie in der letzten Zeit fast ausschließlich für ihre Arbeit gelebt hatte, war es vielleicht an der Zeit, sich mal wieder etwas Privatleben zu gönnen.

"Also gut", sagte sie dann.

*

Es war ein französisches Restaurant der oberen Kategorie, in das Jack die junge Frau ausführte. Lynne wollte erst protestieren, weil sie meinte, daß sie dafür eigentlich nicht passend angezogen sei.

Aber Jack bestand darauf. Und er setzte sich mit seiner Hartnäckigkeit schließlich auch durch.

"Warum nicht spontan sein", meinte er zu ihr. "Mal den Augenblick zu dem nutzen, wofür er geschaffen ist!"

"Schön gesagt, aber...

"Kein Aber, Lynne! Kommen Sie!"

Und dabei faßte er ihre Hand.

Als sie dann am Tisch saßen und der Ober den Wein gebracht hatte, fragte Lynne plötzlich: "Woher wußten Sie, daß Sie mich da auf dem Parkplatz antreffen?"

Er lächelte.

"Ich habe mich erkundigt."

"Niemand kann wissen, wann so eine Konferenz zu Ende ist!"

"Ich habe auf Sie gewartet, Lynne."

"Sind Sie immer so zielstrebig?"

"Nur in Ihrem Fall, Lynne."

Sie stießen mit den Gläsern an.

"Auf die Zukunft!" sagte Jack und Lynne hatte nichts dagegen einzuwenden.

"Meinetwegen", kam es leise über ihre Lippen.

Während des Essens unterhielten sie sich über alles Mögliche, wobei Lynne feststellte, daß sie den Großteil davon bestritt. Sie erzählte Jack, daß sie erst seit einem halben Jahr in London sei, daß es schwer war, hier Anschluß zu finden, welches Glück sie gehabt hatte, als sie den Job bei KLM und wenig später sogar eine eigene Sendung bekommen hatte...

Ihr Redefluß schien ihn nicht zu stören.

Im Gegenteil, er hörte ihr aufmerksam zu.

"Ich langweile Sie sicher mit meinem Gerede!" sagte Lynne dann scließlich, etwas verlegen.

Aber Jack schüttelte ganz entschieden den Kopf.

"Nein, ganz bestimmt nicht."

"Wirklich nicht?"

"Sie sind eine faszinierende Frau, Lynne und ich höre Ihnen gerne zu. Hatte ich das Ihnen nicht schon einmal gesagt?"

Er lächelte. "Schließlich war das der Grund, weshalb ich Sie kennenlernen wollte!"

"Weil Sie meine Stimme im Radio gehört haben, ich weiß", murmelte Lynne. "Und jetzt haben Sie mich live gegenüber!"

"Richtig und das ziehe ich dem Hören Ihrer Sendung bei weitem vor!"

Sie lachten. Und Lynne fühlte wieder dieses eigentümliche Kribbeln. Dieser Mann interessierte sie, es hatte keinen Sinn, das länger leugnen zu wollen.

Seine Art, sein sicheres Auftreten gepaart mit dem Verständnis, das er signalisierte, das gefiel ihr. Und außerdem hatte er Charme.

Dann entstand eine Gesprächspause, in der sich ihre Blicke begegneten.

Lynne fühlte, wie ihr Puls schneller ging.

"Sie wissen jetzt schon so viel über mich", stellte sie dann etwas verlegen nach einigen Augenblicken des Schweigens fest, um die Stille endlich zu brechen. "Wie wär's, wenn Sie auch mal etwas über sich erzählen, Jack!"

Er zuckte die Achseln.

"Da gibt es nicht viel zu erzählen, denke ich."

Lynne zog die Augenbrauen hoch und beugte sich etwas vor.

"Und das sagt ein Mann, der in einer Branche arbeitet, die sich selbst als kreativ bezeichnet?"

Er beugte sich ebenfalls etwas vor und erwiderte mit einem leicht spöttischen Gesichtsausdruck: "So wird die Werbebranche nur von Außenstehenden bezeichnet!"

Lynne zeigte einen Ausdruck gespielten Erstaunens.

"Ach - Sie sind kein kreativer Mensch?" lächelte sie.

"Ich bin völlig einfallslos!" erwiderte Jack und versuchte dabei einen unbestimmten Gesichtsausdruck aufzusetzen, was ihm gründlich mißlang.

"Wie kommt es nur, daß ich das Gefühl habe, Sie nehmen mich auf den Arm, Jack?"

*

Als sie das Restaurant verließen, war es schon dunkel.

Sie gingen Arm in Arm durch nebeligen Straßen Londons. Es war kühl und feucht und inzwischen war ein scharfer Wind von Westen her aufgekommen.

Die Kälte schnitt ohne Schwierigkeiten durch Lynnes Mantel hindurch.

Aber das alles machte ihr im Augenblick nichts aus. Sie spürte wie ein warmes Glücksgefühl ihren gesamten Körper durchströmte.

Liebe auf den ersten Blick gibt es nicht! sagte sie sich.

Aber vielleicht auf den zweiten... Jedenfalls fühlte sie sich in Jack Gordons Gegenwart so wohl wie schon lange nicht mehr.

Jack hatte den Wagen in einer Nebenstraße geparkt, die sie nach wenigen Minuten erreicht hatten.

Hinter dem Scheibenwischer steckte ein Strafmandat wegen Falschparkens, das Jack, ohne daraufzusehen in die Manteltasche steckte.

Dann brachte er sie zurück zum Gebäude von Radio KLM.

"Ich würde Sie gerne wiedersehen, Lynne", sagte Jack, bevor die junge Frau aus dem Wagen stieg.

"Gut."

"Also, bis demnächst!" lächelte Jack.

Lynne sah auf die Uhr. Es wurde Zeit. Sie wollte keines von Gradys gefürchteten Gewittern auf sich herabbeschwören.

"Ich muß jetzt gehen", sagte sie. Jack gab ihr zum Abschid einen zurückhalten Kuß auf die Wange.

"Ich werde mir Ihre Sendung anhören!" versprach er.

Ein paar Augenblicke später stand Lynne dann da, sah Jacks Porsche davonfahren und ärgerte sich darüber, daß sie ihn weder nach seiner Adresse noch nach seiner Telefonnummer gefragt hatte.

Ich bin ein Schaf, dachte sie. Andererseits eine Werbeagentur, die so wenig Werbung für sich machte, daß sie nicht einmal im Telefonbuch stand war kaum denkbar.

*

"Hör' mal, wo bist du mit deinen Gedanken, Lynne?" fragte Grady etwas unwirsch über den Kopfhörer.

Es war mitten in der Sendung, allerdings lief gerade eine Musik-Einspielung über den Äther.

"Was ist denn los?" fragte Lynne, obwohl sie es natürlich genau wußte.

"Konzentriere dich mehr auf deine Gesprächspartner! Weiß der Teufel was dir im Kopf herumgeht - es hat da jetzt nichts zu suchen, kapiert?"

"Klar."

Und dann kam das rote Signal. Lynne war wieder an der Reihe. "Hier ist Radio KLM mit Lynne's Night-Talk, der heute wieder einmal für alles offen ist, das heißt es gibt kein bestimmtes Thema, um das es in dieser Nacht geht, sondern ihr könnt euch zu allem äußern, was euch so bewegt... Und da ist auch schon der Anrufer... Mit wem spreche ich?"

"Hallo, Lynne... Wir haben schonmal miteinander gesprochen."

Lynne fröstelte unwillkürlich bei dem dumpfen Klang der ziemlich undeutlich sprechenden Stimme.

"Sagst du mir deinen Namen?"

"Ich bin es, Bill!"

"Bill! Schön, daß du nochmal anrufst." Und dann faßte Lynne in einem Halbsatz für die Hörer zusammen, worum es in dem ersten Gespräch mit Bill gegangen war. "Beim letzten Mal sind wir ziemlich plötzlich unterbrochen worden", stellte die junge Frau dann fest.

"Ja", kam es dumpf durch die Telefonleitung.

"Was ist passiert..."

"Es wird übermächtig...", flüsterte der Anrufer nach einigem Zögern. "Ich kann nicht mehr dagegen an. Nein, ich will es auch nicht, aber ich weiß, daß es nicht gut ist... Es bricht hervor..." "Was bricht hervor, Bill?"

Ein röchelndes Atmen war zu hören. Dreimal holte der Anrufer namens Bill Luft, ehe er schließlich antwortete.

"Der Drang zu töten, Lynne. Derselbe Drang, den auch William Delaney vor hundert Jahren gespürt hat... Ich habe hier eine Drahtschlinge, verstehst du? Ich bin in einen Hobbymarkt gegangen und habe mir Draht besorgt... William Delaney hat mit Draht getötet... Mein Gott!"

Lynne hörte ihn schlucken.

"Leg nicht auf Bill!" beschwor sie ihn.

Ein paar bange Sekunden lag war nichts weiter als ein Knacken durch die Leitung zu hören.

Dann meldete sich Bill wieder. "Ich werde jemanden töten... Schon sehr bald. Ich fühle es."

"Bill, wo bist du jetzt?" fragte Lynne.

Auf der anderen Seite herrschte wieder einen Moment Schweigen. "Ihr wollt mich ins Gefängnis stecken! Ihr wollt mich einsperren! Ihr wollt..."

"Ich will dir helfen!" sagte Lynne.

"Wahrscheinlich habt ihr schon die Polizei verständigt, was? Und jetzt versucht ihr, den Anruf zurückzuverfolgen....

"Bill, selbst wenn wir das wollten! Es wäre so schnell gar nicht möglich! Glaub mir!"

"Pah!"

"Bill!"

Lynne spürte, wie ihr die Sache gänzlich entglitt.

"Aber ich bin nicht auf den Kopf gefallen!" hörte sie den Anrufer krächzen. "Nein, das bin ich nicht, ich..." Eine kurze Pause entstand, dann fragte er: "Haben dir übrigens die Rosen gefallen?" Ein irres Lachen folgte. Dann machte es klick und das Gespräch war unwiderruflich zu Ende. Und Lynne fühlte sich, als hätte ihr so eben jemand voller Wucht ein Brett vor den Kopf geschlagen.

 

*

Es dauerte nicht lange und im Sender war der Teufel los. Ein halbes Dutzend Beamten von Scotland Yard waren da und vernahmen alle Beteiligten.

Der Mann, der die ganze Aktion leitete, hieß McGill und war Chief Inspector. Er war klein, rundlich und trug einen ziemlich unmodernen Mantel mit Fischgrätmuster.

Die Sendung war aufgezeichnet und McGill hatte sich das Band - soweit es den Anrufer betraf, der sich Bill genannt hatte - schon dreimal angehört.

"Dieser Mann hat zweifellos einen Mord angekündigt", meinte er düster. "Und wie es scheint, gibt es nichts, was man dagegen tun kann, daß er seine Wahnvorstellungen in die Tat umsetzt..."

"Vielleicht ruft er nochmal an", meinte Lynne.

Der Chief Inspector nickte.

"Eine schwache Hoffnung", gestand er ein. "Aber möglich wäre es durchaus. Wir werden eine Fangschaltung legen, sofern Sie nichts dagegen haben."

"Gut."

Lynne lief auf und ab und rieb sich dabei nervös die Hände.

"Es ist ein scheußliches Gefühl, so dasitzen zu müssen, zu wissen, daß etwas Schreckliches passiert und nichts tun zu können."

McGill zuckte die Achsel.

"Vielleicht haben wir Glück und es handelt sich nur um einen Wichtigtuer, der auf sich aufmerksam machen will..."

"Meinen Sie?"

"Es wäre nicht das erste Mal, daß jemand einen Mord nur ankündigt, ihn aber nicht ausführt."

Die Tür ging auf und Colleen kam herein. Sie brachte Kaffee für den Inspektor.

"Möchtest du auch eine Tasse, Lynne?" wandte sie sich an die Moderatorin der Sendung. "Ist ja eigentlich ein bißchen spät..."

Lynne zuckte die Achseln. "Ich werde den Rest der Nacht ohnehin kaum schlafen können..."

*

Irgendwann gegen zehn Uhr am Vormittag wurde Lynne durch ihren Radiowecker geweckt. Erst kam Musik, dann die Nachrichten. Als von einer Frau berichtet wurde, die in den frühen Morgenstunden mit einem Stück Draht erdrosselt worden sein mußte, horchte Lynne auf.

Mit einem Schlag war sie hellwach.

Sie sprang aus dem Bett und stellte das Radio lauter. Die Tote war in einem Park von einem Jogger gefunden worden, der daraufhin die Polizei alarmiert hatte.

Dann war die Meldung auch schon zu Ende und es wurde für den heutigen Tag ein scheußliches Wetter angesagt. Kalt und nebelig, so wie es auch schon an den letzten Tagen gewesen war.

Er hat es also tatsächlich wahrgemacht! ging es Lynne durch den Kopf. Er hat es wirklich getan!

Dieser Wahnsinnige...

Lynne öffnete ein wenig das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Ihr Blick ging über das schier unendliche Häusermeer, daß sich jedoch ziemlich bald im Nebel verlor.

Irgendwo da draußen lief dieser Mann herum. Bill - oder William Delaney, ganz wie man wollte.

Es klingelte an der Tür.

Vielleicht die Post mit einem Einschreiben oder dergleichen. Lynne zog sich einen Morgenmantel über und blickte durch den Spion.

Draußen stand niemand anderes als Jack Gordon.

Irgendwie mußte er ihre Adresse herausgefunden haben. Lynne öffnete. "Guten Morgen, Jack..."

"Guten Morgen, Lynne." Er hob eine weiße Plastiktüte in die Höhe. "Ich habe Zutaten für ein kräftiges Frühstück mitgebracht. Was halten Sie davon?"

"Naja..."

"Also sind Sie einverstanden! Das ist gut!"

Er drängte sich an ihr vorbei in die Wohnung und sie ließ es geschehen. Warum nicht? überlegte sie.

"Vielleicht gestatten Sie, wenn ich mich ersteinmal anziehe", meinte Lynne.

"Sicher. Zeigen Sie mir die Küche und ich werde inzwischen Ham und Eggs braten."

"Die Küche ist die zweite Tür da vorne!"

*

Wenig später saßen sie dann zusammen beim Frühstück. Jack hatte üppig eingekauft und es duftete köstlich. Aber Lynne hatte dennoch nicht so recht Appetit.

"Hast du meine Sendung gestern gehört?" fragte sie schließlich in einem vertraulicherem Tonfall, nachdem sie ihren schwarzen Kaffee getrunken hatte.

"Ja." Jack nickte und sein Gesicht, daß soeben noch so heiter gewirkt hatte, bekam jetzt einen ernsten Ausdruck. "Du meinst die Sache mit diesem wiedergeborenen Mörder, nicht wahr?"

"Er hat gedroht, jemanden zu töten!"

"Ja, aber er hat es nur gesagt und das ist noch nicht strafbar!"

"Er hat seine Drohung wahrgemacht, es kam gerade in den Nachrichten. Eine Frau ist erdrosselt aufgefunden worden."

"Und woher weißt du, daß es dieser mysteriöse Anrufer war?

In London passieren jeden Tag ein paar Morde. Einer so abscheulich wie der andere - aber..."

Er faßte ihre Hand und sah sie an.

"Ja, du hast recht", mußte sie zugeben, "ich weiß es nicht.

Aber, andererseits scheint alles übereinzustimmen..."

"Du solltest erst einmal abwarten, was die Polizei dazu sagt", meinte Jack.

 

Lynne lehnte sich etwas zurück.

"Du meinst, ich bin hysterisch, nicht wahr?"

"Nein", stellte Jack klar. "Das will ich damit auf keinen Fall sagen."

"Was willst du dann damit sagen?"

"Vielleicht wäre es an der Zeit, daß du mal ein bißchen Urlaub nimmst!" Er beugte sich vor und strich ihr zärtlich über das Haar, als er das ärgerliche Funkeln in ihren Augen bemerkte. Ihre Züge entspannten sich daraufhin deutlich.

"Ich will mich nicht streiten", sagte sie. "Es ist so schön, daß du hier bist. Woher hast du meine Adresse?"

"Aus dem Telefonbuch."

"Da steht sie nicht drin."

Jack zuckte die Achseln und machte ein unbestimmtes Gesicht, das er zu einer Grimasse verzog, als er seinen Orangensaft leertrank. "Ich weiß sie eben. Was weiß ich, woher. Ist doch nicht so wichtig, oder?"

"Nein."

Vermutlich hatte er alles von Mary, überlegte Lynne. Das ist mir eine schöne Freundin, die alles über einen ausplaudert! ging es ihr durch den Kopf.

Aber so richtig ärgerlich sein konnte sie ihrer Freundin auch nicht. Schließlich hatte sie es zum Teil ihr zu verdanken, daß sie Jack überhaupt kennengelernt hatte. Und obwohl das erst ein paar Tage her war, schien dieser Mann schon ganz selbstverständlich zu ihrem Leben zu gehören. Lynne wunderte sich über sich selbst.

Aber wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte sie gar nichts dagegen einzuwenden, daß er auch weiterhin dort eine wichtige Rolle spielte.

"Unternehmen wir heute etwas zusammen?" fragte sie.

"Tut mir leid. Ich muß gleich weg und habe dann den Tag voll mit Terminen."

"Schade."

"Du weißt doch selbst, wie das ist!"

Sie nickte. "Sicher. Aber es ist trotzdem schade." Sie stand auf, ging zu ihm hin und legte ihm die schlanken Arme um den Hals. Jack umfaßte zärtlich ihre Taille und zog sie an sich. Im nächsten Moment fanden sich ihrer beider Lippen zu einem Kuß voller Leidenschaft.

*

Als Lynne an diesem Abend, kurz vor ihrer Sendung ins Studio ging, hatte sie ein mulmiges Gefühl. Sie war nervös. Jemand hatte ihr einen Kaffee hingestellt, den sie hastig austrank und dabei ein wenig verschüttete.

Grady, der bärbeißige Aufnahmeleiter sah das, als er hereinkam.

"Du wirst die Sendung doch durchstehen, oder?"

"Sicher, Mr. Grady."

"Weißt du, wie die Einschaltquoten inzwischen in die Höhe geschnellt sind? Ich sag's dir besser nicht, sonst wirst du am Ende noch eingebildet. Und unsere Werbespots gehen weg wie warme Semmeln!" Dann trat Grady etwas näher an Lynne heran und fuhr mit gedämpftem Tonfall fort: "Sollte der Kerl noch einmal anrufen, dann ist alles bereit. Ein Team von Scotland Yard ist da und es braucht nur ein Knopf gedrückt zu werden, um die Fangschaltung zu aktivieren."

Lynne seufzte.

"Gut."

"Du mußt ihn in ein möglichst langes Gespräch verwickeln, hörst du?"

"Ich werde mein Bestes versuchen!" versprach Lynne.

Die Sendung begann. Das Thema interessierte Lynne nicht sonderlich, wenn sie ganz ehrlich war, aber es war "in". Es ging um Piercing. Soll man sich Ringe durch Nasenflügel, Bau-chnabel oder beliebige andere Körperteile schießen lassen?

Ist das eher erotisch oder abstoßend? Seit Wochen schon bombardierten die Zuhörer die Redaktion von KLM mit Briefen, in denen gefordert wurde, zu diesem Themna doch endlich einmal eine Sendung zu machen.

Lynne's Night-Talk plätscherte so vor sich hin, unterbrochen von Nachrichten, Musik und etwas Werbung.

Dann drang eine Stimme durch die Leitung, die Lynne inzwischen nur zu gut wiedererkannte. Sie klang dumpf und verstellt, wie durch ein Taschentuch gesprochen. Lynne fröstelte unwillkürlich und fühlte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Es war Bill..

"Ich habe es getan", sagte Bill einfach nur.

"Was hast du getan?" echote Lynne und machte Grady ein Zeichen. Aber der hatte längst verstanden, was los war.

"Ich habe die Frau erwürgt, die heute Morgen gefunden wurde."

"Warum? Hat sie irgendetwas getan?"

"Nein. Ich kannte nicht einmal ihren Namen."

"Warum hast du sie dann umgebracht, Bill?"

"Ich mußte es. Ich konnte nicht anders. Ich war wieder William Delaney. Und ich werde wieder töten... Ich fühle es.

Ich kann nicht dagegen an..."

"Und jetzt? Bist du jetzt auch William Delaney?"

"Ja, nein, ich meine, weiß nicht. Ich bin Bill."

"Bill ist die Kurzform von William."

Er schwieg. Und das Schweigen verhieß nichts Gutes.

Vielleicht das Gespräch abbrechen. Lynne hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Irgend etwas, nur damit der Gesprächsfaden zwischen ihnen nicht abbriß... "Bill", sagte sie sanft und so behutsam, wie ihr das in dieser Situation möglich war. "Du möchtest doch sicher auch, daß dieser schreckliche Drang, wie du es nennst, aufhört..."

"Ja..." Es war kaum mehr, als ein dumpfes Ächzen, was da durch die Leitung kam.

"Dann laß dir helfen!" beschwor Lynne ihn.

Schweigen.

Dann ein Ausbruch. "Ihr wollt mich an den Galgen bringen!

Das wollt ihr, jawohl!"

"Niemand will das!"

"Natürlich!"

"Bill!"

"Erst dann wird es aufhören, das denkt ihr, nicht wahr?

Aber ich will nicht sterben. Ich will nur, daß es aufhört..."

"Heute wird bei uns niemand mehr an den Galgen gebracht", stellte Lynne sachlich fest. "Hörst du mich, Bill?"

Schweigen. Aber er war noch an der Leitung. Lynne konnte seinen Atem hören. "William?" fragte Lynne dann vorsichtig, einem vagen Instinkt folgend.

Es machte klick.

*

Die Sendung wurde durch Musikeinspielung unterbrochen.

McGill platzte ins Aufnahmestudio hinein. Der Chief Inspector von Scotland Yard machte ein ziemlich zufriedenes Gesicht.

"Großartig, Miss Davis!" rief er. "Das haben Sie prima hingekriegt."

Lynne hob skeptisch die Augenbrauen. "Glauben Sie, daß es reicht?"

"Ja, das kann gut sein."

"Ich hoffe, Sie kriegen den Kerl, bevor er noch einen Mord begeht!"

"Wir tun unser Bestes."

"Das weiß ich", versicherte die junge Frau.

Es dauerte nicht lange, dann stand das Ergebnis fest.

Bill hatte von einer Telefonzelle aus angerufen. Und ehe dort auch nur ein einziger Polizist auftauchte, würde Bill auf und davon sein.

"Was werden Sie jetzt tun?" fragte Lynne an Chief Inspector McGill gewandt.

McGill machte ein ziemlich resigniertes Gesicht und kratzte sich am Kinn. "Alles, was wir wissen ist, daß von der Telefonzelle Harlington Road Ecke Ladbroke Drive aus angerufen wurde. Ein paar Polizeiwagen werden hinfahren, aber das Ganze wird nichts bringen."

Lynne hob den Kopf und sah dem Chief Inspector geradewegs in die blauen Augen. "Er wird weiter morden, nicht wahr?

"Ja."

"Und es gibt nichts, was ihn daran hindern könnte..."

"Wir werden versuchen, alles, was wir über ihn wissen zusammenzutragen", erklärte McGill. "Wußten Sie, daß es diesen William Delaney wirklich gab?"

"Nein."

"1898 wurde er wegen neunfachen Frauenmordes am Galgen hingerichtet. Delaney war ein kleiner Prokurist einer Handelsagentur und liebte ein um zehn Jahre jüngeres Mädchen aus armen Verhältnissen. Er führte die junge Frau in die Mittelklasse-Gesellschaft ein, aber bevor es zur Heirat kam, zog die Dame es vor, sich einem hochgestellten Kolonialoffizier an den Hals zu werfen, der sie mit nach Indien nahm, wo sie mit Dutzenden von Hausangestellten das Leben einer Lady führen konnte..."

"Daher Delaneys Haß auf Frauen der Oberklasse."

McGill lachte rauh und etwas unpassend, wie Lynne fand.

Dann räusperte er sich und meinte: "Was diesen Punkt angeht, scheint er sich im Niveau verschlechtert zu haben, wenn man vom letzten Opfer ausgeht... Aber dieses Gerede von der Wiedergeburt ist ja wohl ohnehin nur etwas für Verrückte. Für Delaney eine Legende, um sich interessant zu machen. Die Informationen, die er bisher über Delaney geliefert hat, sind ja auch ziemlich oberflächlich. Die kann er sich überall angelesen haben..."

Da mußte Lynne ihm recht geben.

Andererseits waren die Rückführungen unter Hypnose ebenfalls eine Tatsache.

*

Lynne fühlte sich matt und ausgelaugt, als sie in ihre Wohnung kam. Sie zog die Schuhe aus, ging in die Küche, um sich aus dem Kühlschrank etwas zu trinken zu holen.

Dann läutete das Telefon.

Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie den Hörer ab.

"Hallo?"

Auf der anderen Seite der Leitung war nichts weiter, als ein etwas unregelmäßiges Atmen zu hören.

"So melden Sie sich doch", forderte Lynne ärgerlich, aber sie bekam keine Antwort.

Sie knallte den Hörer auf die Gabel.

Irgendjemand wollte ihr da wohl einen Schrecken einjagen.

Lynne fragte sich nur, wer das wohl sein konnte. Diese wahnsinnige Wiedergeburt von William Delaney, die da irgendwo in den Straßen Londons umherschlich und vielleicht schon seinem nächsten Opfer auflauerte, kam wohl in Frage. Und das beruhigte Lynne ein wenig.

Schließlich hatte sie ja eine Geheimnummer und woher sollte Bill diese schon wissen? Nein, das war zu unwahrscheinlich.

Andererseits - auch so eine Geheimnummer war kein unüberwindbares Hindernis. Und wer konnte schon dafür garantieren, daß all diejenigen, die diese Nummer kannten, auch wirklich dichtgehalten hatten.

Lynne zog sich aus und ging ins Bett.

Aber sie fand keinen Schlaf.

Die heutige Sendung hatte sie einfach zu sehr aufgewühlt.

Und dann ging erneut das Telefon. Ich werde nicht abnehmen!

war Lynne entschlossen. Sie wartete ab. Es klingelte genau achtmal, dann verstummte der Apparat.

Es war früher morgen, als das Telefon sie erneut weckte.

Lynne ging ran, schließlich konnte es um diese Zeit auch ein wichtiger Anruf sein. Wieder war nur das Atmen des Unbekannten zu hören.

Lynne war einige Augenblicke lang im Zweifel, was sie tun sollte. Die Versuchung war groß, den Hörer gleich wieder auf die Gabel zu knallen oder dem Unbekannten gehörig die Meinung zu sagen. Aber dadurch würde sie kein bißchen mehr wissen, als zuvor.

Sie wartete geduldig.

"Lynne?" fragte dann eine dumpfe Stimme. Eine Stimme, deren verfremdeten Klang Lynne inzwischen nur zu gut wiedererkannte. Es war, als ob eine kalte Hand sich ihr auf den Rücken legte.

"Bill", stellte sie kühl fest. "Oder soll ich besser Mr.

Delaney sagen?"

Auf der anderen Seite herrschte zunächst Schweigen.

 

"Ich werde weiter töten", erklärte er und in seiner Stimme war ein eigentümliches, irres Vibrieren. "Ich kann es nicht verhindern, Lynne, es passiert einfach so..."

Lynne schluckte.

"Wie kommst du an meine Telefonnummer?"

"Das ist doch unwichtig."

"Für mich nicht."

Er schwieg eine Weile. Im Hintergrund war das Geräusch eines Wagens zu hören. Es hörte sich an wie Lastwagen.

Jemand klopfte gegen eine Glasscheibe. Von der Akustik her rief Bill wieder aus einer Telefonzelle heraus an.

"Ich muß jetzt Schluß machen", ächzte er dann.

"Bill! Du mußt dir helfen lassen!"

"Nur noch eins Lynne: übermorgen."

Wie ein Blitz durchzuckte dieses Wort Lynnes Gehirn.

Übermorgen. "Was soll das bedeuten?"fragte sie mit erstickter Stimme, aber sie ahnte es längst.

"Übermorgen, Lynne. Übermorgen werde ich wieder töten."

Damit legte er wieder auf.

*

Lynne zögerte nicht lange. Sie zog sich schnell ein paar Sachen über und fuhr dann zu Scotland Yard, wo sie Chief Inspector McGill in dessen Büro aufsuchte, um ihm in kurzen Worten mitzuteilen, was geschehen war.

McGill runzelte die Stirn.

"Und das hat er genau so gesagt?" vergewisserte er sich, wobei in seinem Gesicht so etwas wie Unglauben zu lesen war.

"Ja. Übermorgen werde ich wieder töten."

"Gut", murmelte er. "Ich danke Ihnen sehr. Glauben Sie, daß er noch mal versucht, bei Ihnen anzurufen?"

"Vielleicht."

"Hätten Sie etwas dagegen einzuwenden, wenn wir Ihr Telefon anzapfen?"

Lynne schüttelte den Kopf.

"Nein, natürlich nicht. Wenn Sie dadurch etwas herausfinden... Wenn ich nach der Akustik gehe, dann war der letzte Anruf wieder aus einer Telefonzelle."

McGill nickte düster. "Der Kerl ist vorsichtig. Und Sie können sich nicht erklären, woher er Ihre Geheimnummer hat?"

"Nein. Aber er muß sie haben."

"Dann passen Sie in Zukunft gut auf sich auf, Miß Davis!"

"Glauben Sie, daß der Kerl es auf mich abgesehen haben könnte?"

McGill zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht. Zumindest sieht er Sie als Ansprechpartner. Wir werden verstärkt Poli-zeistreifen in der Nähe Ihrer Wohnung patrouillieren lassen."

"Das beruhigt mich sehr", erwiderte Lynne sarkastisch.

McGill machte eine Geste der Ohnmacht. "Seien Sie nicht ungerecht! Wir tun, was wir können."

"Natürlich."

Als Lynne wieder in ihrem Wagen saß, überlegte sie, was sie tun sollte. Sie konnte nicht einfach die Hände in den Schoß legen und abwarten. Das hielt sie nicht aus.

 

Außerdem hatte sie das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden. Mary, ihre beste Freundin war für ein paar Tage in Schottland, wo sie Aufnahmen für einen Versandhauskatalog machte. So blieb nur Jack. So, wie sie ihn bisher kennengelernt hatte, würde er sicherlich Verständnis dafür haben.

Selbst wenn sie ihn bei der Arbeit stören mußte.

Bei der nächsten Telefonzelle hielt sie an und suchte sich Jacks Adresse aus dem Telefonbbuch. Seine Firma stand natürlich drin, sogar etwas fetter gedruckt, damit er sich etwas von den Dutzenden von anderen Gordons, die es in London gab, abhob.

Lynne kannte die Gegend einigermaßen. Sie brauchte allerdings einige Zeit, um einen Parkplatz zu finden.

Schließlich mußte sie doch ihren Wagen im Halteverbot ab-stellen und konnte nur darauf hoffen, daß hier nicht gerade jetzt kontrolliert wurde.

Jack bewohnte das Penthouse eines zehnstöckigen Hauses, die Agentur lag in der Etage darunter. Weiter unten befanden sich die Praxen einiger Ärzte, das Büro eines Rechtsanwalts und eines Notars. Im Erdgeschoß war eine Bankfilialle unterge-bracht. Die Miete hier war sicher nicht billig, aber in der Werbung schien man genug verdienen zu können, um sich Räune in solcher Umgebung leisten zu können. Und wahrscheinlich war es auch notwendig, Kunden durch einen gewissen repräsentativen Rahmen zu beeindrucken.

Als Lynne die Büroräume der Agentur Gordon & Deemer betrat, geriet sie gleich an Joe Deemer, Jacks Partner. Deemer war um ein einiges älter als Jack. Er machte ein bißchen Small-talk, aber sein Interesse schien schlagartig geringer zu werden, als er merkte, daß Lynne keine Kundin war. "Gehen Sie duch die erste Tür da vorne!" knurrte er launig.

"Danke."

Lynne ging zu der Tür, auf die Deemer gedeutet hatte, klopfte zaghaft und ging dann, nachdem niemand geantwortet hatte einfach hinein.

"Jack?"

Jack Gorden stand gedankenverloren am Fenster und blickte hinaus auf das Verkehrsgewimmel der Riesenstadt London. Er schien weit, weit weg zu sein und erst nach und nach zu begreifen, daß jemand eingetreten war.

"Ich hoffe, ich störe dich nicht gerade in einem kreativen Moment", meinte Lynne.

Er drehte sich zu ihr herum und ein flüchtiges Lächeln ging über seine Lippen. "Nein, nein", versicherte er.

"Dann ist es ja gut."

"Die Wahrheit ist, daß mir im Moment nicht das Geringste einfällt", gab Jack zu und zuckte dabei die Schultern. "So etwas nennt man einen Writer's Block. Kommt bei den besten Leuten vor."

"Ich muß mit dir reden, Jack. Es ist etwas furchtbares passiert..."

Jack trat zu ihr und legte den Arm um ihre Schulter. "Laß uns nach oben, in meine Wohnung gehen. Und dann erzähl mir, was los ist..."

*

 

"Dein Penthouse ist traumhaft", meinte Lynne voller Anerkennung, nachdem Jack ihr alles gezeigt hatte.

Dann gingen sie hinaus auf den Dachgarten. Man konnte hinunterblicken und sah unter anderem auf eine Telefonzelle, die genau an einer Straßenecke aufgestellt war. Lynne streckte den Arm aus. "Von dort hat dieser Bill angerufen", stellte sie fest.

"Hat das die Polizei festgestellt?"

"Ja." Und dann erzählte Lynne Jack von dem zweiten Anruf.

"Möglich, daß du in Gefahr bist, Lynne", erklärte Jack ernst. "Wenn du willst, kannst du eine Weile bei mir unterkommen."

"Das ist sehr nett, Jack."

Er strich ihr über das Haar und sie lächelte matt.

"Es ist ernst gemeint, Lynne."

"Ich weiß. Aber ich kann nicht einfach vor der Tatsache fliehen, daß ich vielleicht die einzige Verbindung zu diesem mysteriösen Bill bin. Er weiß meine Geheimnummer, hat mich angerufen, mir seinen nächsten Mord angekündigt..." Sie deutete hinaus über die Dächer Londons. "Die Chance, diesen Kerl da draußen irgendwo zu finden ist mininmal, Jack!"

"Du willst dich doch nicht als eine Art Lockvogel benutzen lassen", runzelte Jack die Stirn.

"Dieser Mann wird nicht aufhören zu töten, Jack!"

Jack zuckte die Schultern. Was Lynne sagte, gefiel ihm nicht. Das war überdeutlich seinen Gesichtszügen abzulesen.

Dennoch meinte er: "Du hast Mut!"

"In Wahrheit habe ich große Angst!"

"Du kannst immer auf meine Hilfe zählen, Lynne." Er nahm ihre Hand. "Komm mit!"

"Wohin?"

Er zog sie mit sich und einen Augenblick später befanden sie sich wieder in Jacks großzügig angelegtem Wohnzimmer.

"Setz dich", sagte er und sie ließ sich in einen der breiten Ledersessel fallen.

Jack ging an seinen Bücherschrank und holte zielsicher einen bestimmten Band heraus. Dann ging er auf Lynne und reichte ihn ihr.

"Was ist das?"

"Ein Buch über berühmte Mörder. Ich dachte mir, daß es nicht schaden kann, etwas mehr über diesen Delaney zu wissen."

"Aber du glaubst doch nicht wirklich, daß dieser Anrufer die Wiedergeburt von Delaney ist!"

Jack zuckte die Achseln. "Ich habe keine Ahnung. Aber wer will das schon mit Sicherheit ausschließen? Und selbst wenn nicht, dann bleibt die Tatsache, daß dieser Wahnsinnige selbst der Überzeugung ist, Delaney zu sein."

Lynne klappte das Buch auf. William Delaney, geboren 1856

in Bristol hingerichtet 1899 in London, stand da zu lesen.

Im Wesentlichen stand da das schwarz auf weiß, was sie auch schon von McGill wußte.

Insgesamt zwei engbedruckte Seiten handelten von Delaney.

Jack schien sie sehr gründlich durchgearbeitet zu haben, denn überall waren Unterstreichungen und Anmerkungen am Rand zu finden. Die Notizen schienen aber älteren Datums zu sein, denn sie waren schon ziemlich verblaßt.

Das Telefon leutete.

Jack ging ran und wirkte ziemlich einsilbig.

"Was ist los?" erkundigte sich Lynne, nachdem das Gespräch zu Ende war.

"Ich muß runter in die Agentur. Mein Partner hat Ärger mit einem Kunden." Er lächelte und gab ihr einen Kuß. "Ich bin gleich wieder zurück..."

Sie umarmten sich,bevor er sich von ihr löste.

"Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt, Lynne!"

hauchte Jack ihr ins Ohr.

*

Lynne ging etwas auf und ab, während sie auf Jack wartete.

Sie fühlte eine angenehme Empfindung in sich aufsteigen und ihren ganzen Körper durchfluten. Es hat keinen Zweck, darum herum zureden! sagte sie sich selbst, während sie an dem Bücherschrank vorbeiging. Ich habe mich verliebt...

Die Minuten verrannen.

Lynnes Blick ging die Buchtitel entlang.

Sie war überrascht. Ein halbes Regal war mit Titeln zum Thema Wiedergeburt belegt, darunter auch ein Band über Reinkarnationstherpaie. Jack schien sich sehr intensiv damit befaßt zu haben. Lynne nahm einen der Bände heraus. Er war gespickt mit Zetteln.

Im nächsten Moment ging das Telefon.

Lynne zögerte, aber der Anrufer schien nicht aufzugeben. Er klingelte immer wieder. Offenbar war es ziemlich wichtig.

Oder es war Jack, der unten aus der Agentur anrief, um ihr zu sagen, daß es noch dauern konnte.

So ging die junge Frau zum Telefon und nahm ab.

Die Nackenhaare stellten sich ihr auf, schon bevor das erste Wort über die Leitung kam.

"Lynne? Lynne Davis?"

Es war die dunkle, verstellte Stimme jenes Manns, der sich für die Wiedergeburt William Delaney hielt.

Lynne antwortete nicht.

Sie fühlte den Puls bis zum Hals schlagen. Nur ruhig bleiben! versuchte sie sich zu sagen. Aber in ihrem Inneren quälte sie die Frage, wie dieser Mann wissen konnte, daß sie hier war.

"Was ist, erkennst du mich nicht wieder, Lynne? Ich bin es, Bill." Ein heiseres Lachen folgte. Ein Lachen, das die junge Frau schlucken ließ. "Ich weiß, das du jetzt am Apparat bist, Lynne! Ich weiß alles über dich, verstehst du? Alles, wirklich alles."

Ein paar quälende Augenblicke lang herrschte Schweigen.

Lynne hörte nur das Atmen des Anrufers. Sie nahm den Apparat und ging zum Fenster.Dann blickte sie hinab in Richtung der Telefonzelle, die dort unten an der Straßenecke zu sehen. Von dort hatte der Anrufer telefoniert, als die Polizei den Anruf zurückverfolgt hatte.

Und tatsächlich.

 

Dort telefonierte jemand!

Aber Lynne konnte konnte kaum etwas von dem Mann sehen. Ein paar Beine mit dunkler Hose, das war alles.

"Hören Sie, wer immer Sie auch sind - Sie müssen sich helfen lassen..." redete Lynne auf den Anrufer ein, ohne daß sie glaubte, damit auch nur irgend etwas ausrichten zu können. "Helfen?" echote er.

"Ja."

"Ich bin nicht verrückt", sagte er dann, viel ruhiger, viel gelassener als vorher.

"Aber Sie können nicht damit aufhören, zu töten..."

"Das stimmt. Du wirst von mir in der Zeitung lesen, Lynne..."

Ein irres, heiseres Gelächter folgte, dann knackte es in der Leitung. Die Verbindung war unterbrochen.Ein plötzliches Geräusch ließ die junge Frau unwillkürlich herumfahren.

Es war die Wanduhr.

Als Lynne dann in der nächsten Sekunde hinab zur Telefonzelle blickte, war dort niemand mehr. Der Mann jedenfalls hatte sie geglaubt, einen Mann zu sehen - war wie vom Erdboden verschluckt.

Lynne hängte den Hörer ein. Dann stellte sie den Apparat wieder an seinen Ort, auf ein kleines Tischchen neben dem Bücherschrank.

Das Adressenregister fiel ihr dabei zu Boden und ein Zettel rutschte heraus. Lynne wollte ihn wieder hineinstecken, da stutzte sie unwillkürlich als sie ihren Namen las. Lynne Davis. Und dahinter ihre Telefonnummer, die in keinem Telefonbuch stand. Außerdem ihre Adresse.

Für einen Augenblick kam ein schrecklicher Verdacht in ihr auf.

Was, wenn Jack und Bill ein und dieselbe Person waren?

Du bist eine Närrin! schalt sie sich dann selber.

Schließlich gab es auch näherliegende Erklärungen dafür, daß Jack ihre Geheimnummer besaß. Ihre Freundin Mary zum Beispiel, durch die sie beide sich kennengelernt hatten.

Aber ein gewisser Zweifel blieb...

*

Betäubt ließ sie sich in einen der Sessel fallen. Wie konnte der Anrufer wissen, wo sie sich befand. Offenbar beobachtete Bill sie ständig.

Es war gespenstisch.

Ein paar Minuten vergingen, dann tauchte Jack wieder auf.

"Alles in Ordnung", meinte er und runzelte dann die Stirn, als er Lynne so da sitzen sah. "Was ist los?" Jack setzte sich zu ihr.

Lynne sah zu ihm hinüber und registrierte, daß er dunkle Hosen trug, so wie der Anrufer unten aus der Telefonzelle.

"Es hat gerade jemand angerufen", sagte sie, fast tonlos.

"Ich bin drangegangen, vielleicht hätte ich das nicht tun sollen..."

"Wer war es?" fragte Jack eindringlich.

"Der Verrückte. Dieser Mann, der glaubt, er sei William Delaney... Er weiß, daß ich hier bin. Er sagte, er wüßte alles über mich."

Jacks Gesicht blieb unbewegt.

"Er beobachtet dich, Lynne."

"Scheint so."

"Vielleicht solltest du für eine Weile aus London verschwinden..."

"Daran habe ich auch schon gedacht."

"Ich kenne jemanden, der ein Landhaus in Kent besitzt.

Vielleicht..."

"Jack", unterbrach sie ihn und erhob sich dabei. Sie wich vor ihm zurück. Sie deutete auf das Bücherregal. "Du interessierst dich sehr für Wiedergeburt und alles, was damit zusammenhängt, nicht wahr?"

Jack hob die Schultern. "Ja, aber..."

"Hast du mal eine Reinkarnationstherapie mitgemacht?" Lynne hatte einfach ins Geratewohl gefragt und war dabei ihrem Instinkt gefolgt. Sie hoffte so sehr, daß sie sich irrte.

Aber diese Hoffnung wurde nicht erfüllt.

Jack nickte leicht.

"Ja", sagte er. Er erhob sich ebenfalls, kam ein paar Schritte auf sie zu. "In meinem Job hat man eine Menge Streß, wie du dir sicher denken kannst. Manchmal wochenlang hintereinander Sechzehnstundentage, dann der ständige Zwang, etwas Kreatives auszuspucken. Ich war ausgebrannt und da habe ich es eben mal damit probiert."

"Wie hieß der Therapeut?"

"Ein Dr. Ray Morgan. Da stehen ein paar Bücher von ihm...

Er hat mich in frühere Leben versetzt..."

Lynne hob das Kinn. "Was warst du in deinen früheren Leben?"

"Warum interessiert dich das?"

Jacks Stimme klirrte auf einmal wie Eis. Sie schien einen wunden Punkt erwischt zu haben. Er machte noch einen Schritt auf sie zu. Dann wischte er sich mit der Hand über das Gesicht. Er wirkte recht in sich gekehrt. "Das kann nur verstehen, wer es selbst erlebt hat, Lynne", flüsterte er. Seine Lippen bewegten sich beim Sprechen kaum. "Ich war viele", sagte er. "Viele verschiedene Gesichter, Männer, Frauen, manchmal bin ich schon im Kindesalter gestorben oder am Galgen..."

"So wie Delaney!" stellte Lynne flüsternd fest. Und über den war ja sowohl Jack als auch der geheimnisvolle Bill hervorragend informiert gewesen.

Je mehr sie darüber nachdachte, desto stärker wurde wieder der Verdacht. Sie wollte es nicht glauben, alles in ihr sträubte sich gegen den Gedanken, daß ausgerechnet der Mann, in den sie sich bis über beide Ohren verliebt hatte, ein wahnsinniger Mörder war...

Oder das Phantom aus einem anderen Leben.

Jack blickte sie an.

Seine Augen blitzten und Lynne erschrak unwillkürlich.

Der Mann, der ihr vor wenigen Minuten noch so nahe gewesen war, erschien ihr auf einmal sehr fremd. Als ob ein anderer jetzt durch seine Augen schaut, ging es der jungen Frau durch Kopf.

"Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt gehe", meinte sie. In ihrem Inneren setzte sich indessen alles zu einem Bild zusammen. Schon das erste Zusammentreffen mit Jack war kein Zufall gewesen, das hatte er selbst zugegeben.

"Was ist los, Lynne?"

"Ich bin wohl nur etwas durcheinander."

Er ging auf sie zu, faßte sie bei den Schultern. Aber dieselbe Berührung, die sie sonst als so angenehm empfunden hatte, ließ sie jetzt frösteln.

"Ich rufe dich an", versprach sie, ging an ihm vorbei. Sie erreichte die Wohnungstür und versuchte, sie zu öffnen.

Sie war verschlossen.

*

"Lynne!"

Es war Jacks Stimme.

Sie klang irgendwie dumpf. Lynne versuchte indessen noch einmal, die Tür zu öffnen. Panik stieg in ihr auf und schnürte ihr die Kehle zu. Sie begann verzweifelt, den Tür-knauf hin und her zu gehen.

"Laß mich raus!" rief sie.

Es war fast ein Schrei.

"Lynne!" Jack kam auf sie zu. Seine Arme waren ausgebreitet, wirkten aber jetzt eher wie eine Bedrohung.

"Beruhige dich, Lynne!"

"Warum ist die Tür abgeschlossen?"

"Eine Angewohnheit von mir, weiter nichts."

"Mach sie auf!"

Sie war nahe daran, den Verstand zu verlieren, das spürte sie selbst. Ihr Puls raste und in ihrem Hirn arbeitete es fieberhaft. Was sollte sie tun? Wie konnte sie sich vor Jack schützen.

Er hatte sich das fein ausgedacht...

Ich sitze in der Falle! wurde es Lynne klar.

Sie versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen.

Aber nach all dem, was sie in der letzten Zeit hatte durchmachen müssen, war sie dazu einfach nicht mehr in der Lage. Sie fühlte seinen Griff an ihren Oberarmen und versuchte, ihn abzuschütteln. Aber er war zu stark. Seine Hände waren wie Schraubstöcke. Sie konnte dem einfach nichts entgegen setzen.

"Laß mich!"

"Du kannst so nicht gehen, Lynne! Nicht in diesem Zustand!

Und vielleicht sagst du mir jetzt, was los ist!"

In der nächsten Sekunde klingelte es an der Tür und für den Bruchteil einer Sekunde sagte keiner von ihnen ein Wort. Ihre Blicke hingen einander und Lynne fagte sich, was wohl hinter der Stirn ihres Gegenübers vor sich gehen mochte.

Innerhalb eines einzigen Moments wirbelten tausend Dinge in ihr durcheinander. Vielleicht tat sie ihm Unrecht, aber genauso gut war es möglich, daß sie sich jetzt in den Händen eines Mörders befand.

Es klingelte ein zweites Mal.

Bevor Lynne Luftholen und schreien konnte, hatte Jack ihr die Hand auf die Lippen gedrückt.

"Ganz ruhig", sagte er.

 

Quälend lange Sekunden vergingen, dann nahm er die Hand wieder weg, holte den Schlüssel aus der Jackentasche und öffnete.

Draußen stand ein grauhaariger Mann in den Vierzigern. Er sah etwas geckenhaft mit dem kleinen Pferdeschwanz aus, zu dem er seine Haare zusammengefaßt hatte. Auf seinem breiten Gesicht stand ein joviales Grinsen.

"Hallo, Jack, ich sollte mich bei Ihnen wegen der Fotos melden!" erklärte er. Sein Gesicht veränderte sich dann ein wenig, als er Lynne sah. "Oh, Sie haben Besuch. Dann störe ich Sie ein anderes Mal, allerdings eilt die Sache etwas und wenn Sie nicht..."

"Kein Problem", sagte Lynne. "Ich wollte ohnehin gerade gehen." Und mit diesen Worten drängte sie sich dann durch die Tür.

"Lynne!" rief Jack ihr nach.

Bevor sich die Tür des Aufzugs öffnete, drehte sich Lynne noch einmal kurz um und blickte in Jacks weit aufgerissene Augen.

*

Als Lynne zu ihrer Wohnung zurückkehrte, wartete dort ein hochgewachsener Mittdreißiger auf sie.

Lynne erschrak im ersten Moment. Sie blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Dann erinnerte sie sich daran, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Er gehörte zum Team von Chief Inspector McGill.

"Guten Tag. Sind Sie Lynne Davis?" fragte er und lächelte dabei geschäftsmäßig.

Lynne nickte.

"Ja."

"Ich bin Sergeant Farrell von Scotland Yard und bin wegen Ihres Telefons hier..." Er zeigte ihr seinen Dienstausweis.

"Ich mache Ihnen auf."

Einen Augenblick später waren sie in der Wohnung.

"Wo ist Ihr Telefonanschluß?" fragte der Sergeant und ließ suchend den Blick schweifen.

"Neben der Kommode..." Die junge Frau deutete mit der Hand dorthin und ging dann ins Schlafzimmer, um sich ein paar bequemere Schuhe anzuziehen.

Drei Schritte hatte sie ins Schlafzimmer hinein gemacht, dann blieb sie abrupt stehen, als ihr Blick auf das Bett fiel. Es war, als ob sich eine eisige Hand um ihr Herz krallte und es unbarmherzig zusammenpreßte.

Auf dem weißen Kopfkissen lag etwas.

Es war ein Stück Draht, das zu einer Art Schlinge gebogen war.

Lynne atmete tief durch.

"Sergeant!"

*

 

"Ich frage mich, wie der Kerl hier hereinkommen konnte!"

meinte Lynne eine Viertelstunde später, nachdem Chief Inspector McGill eingetroffen war.

McGill machte nur eine wegwefende Geste.

"Eine Kleinigkeit", meinte er. "Ihr Türschloß ist für jemanden, der etwas davon versteht nicht gerade ein besonderes Hindernis, wenn Sie verstehen was ich meine.

Vielleicht hat er sich auch einen Nachschlüssel machen lassen, wer weiß..."

"Aber wie sollte er an so etwas herankommen?"

"Er ist doch auch an Ihre Geheimnummer gekommen!" stellte McGill kühl fest. "Dieser Kerl weiß eine Menge von Ihnen. Er muß Sie lange beobachtet haben. Oder er..." McGill sprach nicht weiter, sondern stockte. Sein Blick musterte Lynne aufmerksam.

"Oder was?" hakte sie nach.

McGill zuckte die Achseln und druckste dann etwas herum.

Dann meinte er schließlich: "Haben Sie schon einmal überlegt, daß jemand aus Ihrem Bekanntenkreis etwas mit der Sache zu tun hat?"

"Nein", erwiderte Lynne sehr schnell.

Sie dachte an Jack. Lynne hatte die Lippen schon halb geöffnet, um den Chief Inspector von ihrem Verdacht zu erzählen. Aber dann ließ sie es. Sie hatte im Grunde nichts Konkretes in der Hand. Nichts, außer einem vagen Unbehagen, das durch ein paar Indizien gespeißt wurde.

Ich werde Mary fragen, ob er die Geheimnummer von ihr hat, überlegte sie. Das würde vieles erklären.

Sie liebte Jack noch immer.

Und eigentlich, so sagte sie sich, gab es keinen vernünftigen Grund anzunehmen, daß ausgerechnet er jener Mann war, der durch die Straßen Londons ging und Frauen mit einer Drahtschlinge tötete.

Ein letzter Zweifel jedoch blieb.

Sie erinnerte sich an den festen Griff seiner Hände, an das seltsame, kalte Gitzern in seinen Augen... Unwillkürlich legte sich eine Gänsehaut über ihren Rücken.

"Was glauben Sie, was diese Drahtschlinge zu bedeuten hat?"

wandte sie sich dann an McGill. Und dann erzählte sie auch von den Rosen, die zuvor in ihrer Wohnung abgelegt worden waren. "Sieht nach einer Steigerung aus, nicht wahr?"

Der Chief Inspector zuckte die breiten Schultern. "Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es eine Drohung... Hören Sie, wir können Sie unmöglich rund um die Uhr bewachen. Sie sollten am besten eine Weile aus London verschwinden. Können Sie nicht irgendwo anders unterkommen? Bei Freunden vielleicht..."

Lynne blickte den Kriminalbeamten offen an.

"Ich werde darüber nachdenken", murmelte sie dann.

"Tun Sie das. Ach übrigens, dieser William Delaney hat wieder zugeschlagen..."

"Was?"

Jackson nickte und machte dabei ein sehr ernstes Gesicht.

"Vor einer Stunde ist die Leiche einer jungen Frau gefunden worden. Und der Mord trägt die Handschrift dieses Wahnsinnigen. Kaufen Sie sich eine Abendzeitung, vielleicht steht es dann schon drin."

 

*

"Du warst so schlecht wie noch nie!" tadelte Grady Lynne nach der Sendung. "Wirklich, wie eine blutige Anfängerin.

Einfach furchtbar. Ich hatte den Eindruck, du warst einfach nicht bei der Sache..."

Lynne nickte leicht.

"Vielleicht war ich das auch nicht", gab sie zu. Sie wußte selbst, daß das heute Abend keine ihrer Sternstunden gewesen war. Das Thema war Mobbing am Arbeitsplatz gewesen und es hatte nicht an den zahlreichen Anrufern gelegen, daß die Sendung nichts geworden war, sondern einzig und allein an Lynne.

"Colleen hat mir gerade eine Auswertung der ersten Zuschauerreaktionen auf die Sendung hingelegt... Wenn du so weitermachen solltest, ist dein Stern ganz schnell gesunken!"

Lynne zuckte die Achseln.

"Ich weiß", murmelte sie.

"Was ist los mit dir, Lynne?" fragte Grady dann in etwas versöhnlicherem Tonfall.

"Ich glaube, ich brauche etwas Urlaub", gestand sie dann ein, obwohl sie wußte, daß es gefährlich war so etwas zu sagen. Denn im Nu konnte es passieren, daß jemand anderes an ihrem Mikrofon saß und den Nighttalk machte. Dazu saß Lynne einfach noch nicht fest genug im Sattel. Sie hatte die ersten Hürden gut genommen und die Gunst der Hörerschaft im Sturm erobert. Aber sie wußte nur zu gut, daß noch sehr viel dazu fehlte, bis sie sich auf Dauer etabliert haben würde.

Grady nickt leicht.

Ein verständnisvoller Zug erschien auf einmal in seinen sonst so harten, leicht verkniffenen Zügen.

"Die Sache mit diesem Wahnsinnigen läßt dich nicht los, nicht wahr?"

"Er scheint es jetzt auf mich abgesehen zu haben!" platzte es aus ihr heraus. "Er scheint mich auf Schritt und tritt zu beobachten, er..."

"Schon gut, Lynne, wenn du deinen Urlaub brauchst, dann bekommst du ihn."

Ein mattes Lächeln huschte über ihre Lippen.

"Danke."

Grady hob die Augenbrauen und seine Lippen wurden sehr schmal. "Du weißt gar nicht, was du da von mir und dem Sender verlangst! Das wird unsere Firma bares Geld kosten. Die Werbeeinnahmen..." Er seufzte. "Wie lange?" fragte er dann genau so, wie es immer seine Art war - hart und knapp.

"Erstmal ein paar Tage. Sagen wir eine Woche."

"Und wohin geht's?"

Lynne zögerte. "Ich weiß noch nicht..."

"Ich wüßte etwas für dich. Etwas, wo du für ein paar Tage richtig abschalten könntest!" Gradys sonst so harter Umgangs-ton bekam jetzt fast sogar etwas Väterliches.

Lynne hob interessiert die Augenbrauen.

"Ja?"

"Ein Wochenendhaus an der Küste. Genauer gesagt in der Nähe von Poole. Interessiert?"

 

"Nun..."

Grady wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. Jemand in seiner Position war es nicht gewohnt, daß Vorschläge von ihm abgelehnt werden könnten. Er kam gar nicht erst auf den Gedanken. Daher meinte er: "Die Adresse ist 55 Sea Drive. Der Schlüssel liegt unter einem Stein neben der Eingangstür. Das Haus habe ich vor Jahren günstig erworben. Ab und zu mache ich da Urlaub."

Lynne lächelte verhalten. "Wann haben Sie das letzte Mal Urlaub gemacht, Grady?"

"Da waren Sie noch nicht hier, Lynne! Also, wenn Sie wollen..."

"Ich werd's mir überlegen, okay?"

"Du mußt mir schon irgend etwas hinterlassen", erklärte Grady nachdrücklich. "Eine Adresse, eine Telefonnummer.

Schließlich muß ich dich erreichen können."

"Ich rufe an", versprach sie.

Grady seufzte.

"Okay."

*

Es war gegen drei Uhr morgens, als Lynne das Gebäude von Radio KLM verließ. Inzwischen hatte es zu regnen begonnen und Lynne schlug ihren Mantelkragen hoch. An einen Schirm hatte sie nicht gedacht.

Einen Moment lang wartete sie im Portal, aber die Hoffnung, doch noch trocken bis zu ihrem Wagen zu gelangen, gab sie schon nach wenigen Augenblicken auf.

Vermutlich würde es die ganze Nacht durchregnen.

Lynne atmete tief durch und lief los. Der Asphalt zu ihren Füßen war glitschig.

Sie wich einer tiefen Pfütze aus und fühlte bereits, wie ihr die Haare am Kopf klebten, als sie den Wagen endlich erreicht hatte.

Sie suchte in der Manteltasche nach dem Wagenschlüssel, hatte ihn auch schließlich in der Rechten und steckte ihn ins Schloß. Als sie die Wagentür öffnete, nahm sie seitlich eine Bewegung war und drehte sich herum.

Eine Gestalt hob sich dunkel gegen den Schein der Außenbeleuchtung ab. Den Umrissen nach war es ein Mann. Groß, breitschultrig und mit einem Parka bekleidet. Die Kapuze war tief ins Gesicht gezogen. Seine Züge lagen in einem dunklen Schatten.

Der Mann stand ganz ruhig da und schien Lynne zu beobachten.

Der Regen schien ihn dabei nicht weiter zu kümmern, obwohl sein Parka längst völlig durchnäßt sein mußte.

Lynne fröstelte unwillkkürlich.

Als ob er auf mich gewartet hat! ging es ihr durch den Kopf, aber gleichzeitig fragte sich die junge Frau, ob sie sich nicht etwas einbildete.

Lynne achtete nun ebenfalls nicht mehr auf den Regen, der etwas heftiger geworden zu sein schien.

Ihr Blick ruhte auf der schemenhaften Gestalt, die völlig reglos dastand.

Sie schluckte.

"Bill?" fragte sie dann, laut genug, daß der Unbekannte sie hören konnte.

Es war einfach ein Versuch.

Ein Versuch, der sie allen Mut kostete, den sie aufbringen konnte. Aber die Ungewißheit darüber, wer sie quälte und offenbar auf Schritt und Tritt beobachtete, war einfach uner-träglich geworden.

"Bill?" fragte sie noch einmal. "Was wollen Sie von mir?

Wollen Sie, daß ich mich fürchte? Gut, das haben Sie erreicht. Ich kann nachts kaum noch schlafen und bin kaum noch in der Lage, meine Sendung zu machen. Was wollen Sie noch?" Sie redete einfach drauflos und ihre Angst verflog dabei mehr und mehr. Sie ging zwei, drei Schritte auf den Ge-heimnisvollen zu, in den auf einmal Unruhe gefahren zu sein schien.

Er wandte sich ab und ging davon.

"Bill, so bleiben Sie doch stehen!" rief Lynne. "Oder soll ich Mister Delaney sagen?"

Der Geheimnisvolle begann jetzt zu rennen. Er setzte zu einem Spurt an.

Er war ein guter Läufer.

Seine langen Beine trugen ihn mit raumgreifenden Sätzen über den Parkplatz. Er lief zwischen ein paar Sträuchern hindurch und war dann einen Augenblick später verschwunden.

"Bill", flüsterte Lynne und ließ den Blick schweifen. Aber sie konnte nirgends etwas sehen, was ihr einen Anhaltspunkt geben konnte.

"Mit wem redest du, Lynne?" fragte plötzlich eine Stimme in ihrem Rücken.

Es war eine weibliche Stimme.

Lynne wirbelte herum und blickte in das ziemlich verwunderte Gesicht von Colleen McGray, die mit einem Schirm in der Hand dastand.

"Es ist nichts", beeilte sich Lynne zu sagen. "Wirklich nichts."

Colleen zuckte die Achseln.

"Ich dachte nur."

"Es ist wirklich alles in Ordnung, Colleen."

Colleen strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und musterte Lynne zweifelnd. "Ich habe gehört, du machst eine Weile Urlaub...", sagte Colleen dann.

Lynne blickte sie verwundert an.

"Ach, ja?" versetzte sie spitz.

"Grady hat es mir gesagt."

"Solche Sachen machen ja schnell die Runde!" stellte Lynne etwas ärgerlich fest.

"Tut mir leid, es war nur eine Frage", erwiderte Colleen.

Lynne lächelte gezwungen. "Natürlich."

Einen Augenblick lang herrschte ein verlegenes Schweigen.

"Kann ich dir irgendwie helfen?" erkundigte sich Colleen dann. "Du brauchst nur etwas zu sagen."

Lynne nickte leicht.

"Okay."

 

*

Lynne fuhr zu ihrer Wohnung, duschte und zog sich um. Dann packte sie ein paar Sachen in einen Handkoffer und setzte sich eine Tasse starken und rabenschwarzen Kaffee auf.

Sie wollte noch in dieser Nacht London verlassen und dabei nicht am Steuerad ihres Wagens einschlafen.

Sie hatte kein bestimmtes Ziel im Auge und wußte eigentlich nur, daß sie an einen Ort wollte, an dem sie garantiert allein war. Dort würde sie wieder etwas Kraft sammeln. Sie trank ihren Kaffee aus, zog den Mantel über und wollte gehen, da klingelte das Telefon.

Viermal klingelte es, ehe Lynne sich entschließen konnte dranzugehen.

"Ja?"

Auf der anderen Seite der Leitung knackte es nur kurz, dann war die Verbindung unterbrochen. Lynne kroch es eiskalt den Rücken hinauf.

Für sie war keine Frage, was dieser Anruf bedeutete.

Er ist in der Nähe! zuckte es durch Meer ihrer düsteren Gedanken.

Sie legte den Hörer auf.

Ein paar Minuten später hatte sie ihre Wohnung verlassen und schleppte ihren Koffer zum Wagen. Sie öffnete den Kofferraum und verstaute ihn dort. Immer wieder blickte sich nach allen Seiten um. Aber da war niemand. In einem der parkenden Wagen glaubte sie, eine Bewegung zu sehen. Ein Schatten, mehr nicht.

Aber Lynne war sich nicht sicher.

Ich sehe schon Gespenster! schalt sie sich selbst.

Sie setzte sich hinter das Lenkrad und fuhr los. Sie fuhr ein paar Umwege durch die Stadt und zweimal glaubte sie, verfolgt zu werden. Als sie Greater London hinter sich gelassen hatte, hielt sie sich südwärts. Es war schon hell, als sie kurz an einer Tankstelle hielt.

Der Tankwart wirkte ziemlich verschlafen.

"So früh schon unterwegs?" meinte er, als Lynne ihre Benzinrechnung bezahlte. Er gähnte dabei.

"Wie weit ist es noch bis zur Küste?" fragte Lynne.

Der Tankwart grinste und zog eine Karte aus einem der Verkaufsständer. Er legte sie vor Lynne auf den Tresen.

"Kaufen Sie sich das da", grinste er. "Dann wissen Sie Bescheid!"

"Danke", erwiderte Lynne sarkastisch. Ein Gähnen konnte sie nur schwer unterdrücken. Der Tankwart quittierte das mit einem unverschämten Grinsen.

Wenig später saß Lynne wieder am Steuer.

Sie frühstückte in einem Kleinstadt-Gasthaus und erreichte gegen Vormittag die Küste. Sie hatte sich inzwischen entschieden, Gradys Angebot anzunehmen und zwar schon allein deswegen, weil sie hundemüde war und dringend ein paar Stunden Schlaf brauchte.

Volle anderthalb Stunden fuhr sie in und um die Stadt Poole herum, fragte mehrfach und kaufte sich schließlich in einer kleinen Buchhandlung einen Stadtplan. So war es schon fast Mittag, als sie Gradys Haus erreichte.

 

Es lag wirklich sehr einsam. Ganz in der Nähe war die Steilküste und das Meer, dessen Rauschen man Tag und Nacht hören konnte.

Es war ein diesiger Tag.

Nebel zog vom Ärmelkanal herauf.

Lynne parkte ihren Wagen neben der niedrigen Hecke, die das zum Haus gehörende Grundstück von der Straße trennte, die eigentlich kaum mehr als eine befestigte Piste war. Lynne ging zur Haustür und fand den Schlüssel unter dem Stein neben dem Eingang.

Es war alles, wie Grady gesagt hatte.

Sie öffnete und trat ein.

Das Haus hatte eine Küche, ein Schlafzimmer und einen Wohnraum. Telefon gab es auch.

Schön, dachte Lynne. Ein wirklich netter Ort, um Ruhe und Erholung zu finden. Wenn nur die Umstände andere gwesen wären, unter denen sie hier war...

Einen Augenblick lang überlegte sie, Grady anzurufen. Aber dann wurde ihr klar, daß er um diese Zeit sicher noch im Bett lag und schlief.

Lynne gähnte. Sie nahm ihren Koffer und ging ins Schlafzimmer. Erst jetzt wurde ihr bewußt, wie müde sie wirklich war. Sie zog ihre Schuhe und ihren Mantel aus und ließ sich auf das große Doppelbett fallen. Der Schlaf, in den sie schon wenige Minuten später gefallen war, war dumpf und traumlos.

Ein Schlaf der Erschöpfung.

*

Lynne erwachte irgendwann am Nachmittag durch das Klingeln eines Telefons. Sie öffnete die Augen und war innerhalb von Sekundenbruchteilen hellwach. Eiskalt kroch es ihr den Rücken hinauf.

Das ist unmöglich!

Sie lauschte, und saß dabei wie erstarrt auf dem Bett.

Nicht eine einzige Bewegung wagte sie. Vielleicht eine volle Minute lang saß sie einfach nur so da und horchte. Aber es war nichts zu hören.

Nichts, als das ferne Meeresrauschen und die Geräusche des Windes, der jetzt recht heftig um das Haus blies. Ein Fensterladen klapperte etwas.

Aber das Telefon machte keinen Laut mehr.

Lynne stand auf und atmete tief durch.

Ich bin schon völlig hysterisch! ging es ihr durch den Kopf. Wahrscheinlich habe ich nur davon geträumt, daß das Telefon klingelt.

Lynne spürte, daß sie sich langsam einer unmerklichen Grenze zu nähern begann - der Grenze zum Wahnsinn. Die junge Frau begann zu ahnen, daß sie auf der Hut sein mußte.

Du hast keinen Grund, Angst zu haben! sagte sie sich.

Niemand wußte davon, daß sie hier war und sie hatte bisher nicht einmal Grady angerufen. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie es tun sollte, entschied sich dann aber dagegen.

 

Das konnte noch warten, fand sie.

In ihrer Magengegend machte sich ein flaues Gefühl bemerkbar, das nur zur Hälfte durch die Aufregung kam. Sie hatte Hunger und das war kein Wunder. Schließlich hatte sie heute noch nichts richtiges gegessen.

So stieg sie kurzentschlossen in ihren Wagen und fuhr nach Poole, um ein paar Sachen einzukaufen. Schließlich hatte Gradys Haus eine voll funktionsfähige Küche. Und sich in ein Restaurant zu setzen, danach stand ihr im Moment einfach nicht der Sinn.

Sie bummelte etwas durch die Innenstadt von Poole, kaufte ein und verlor sich ansonsten beim Anblick von Schaufenstern und Angeboten.

Diese Ablenkung tat ihr gut.

Und hier, so weit ab von London, mußte sich auch nicht damit rechnen, daß der geheimnisvolle Bill sie beobachtete...

Und doch...

Ein Rest von Mißtrauen blieb.

Immer, wenn sie jemanden an einer Ecke herumstehen sah, der wie zufällig in ihre Richtung blickte, hatte sie sofort das Gefühl, beobachtet zu werden. Es ist Unsinn, Lynne! Es ist wirklich Unsinn, was da in deinem Kopf herumspukt!

Zwei Stunden später war sie wieder bei Gradys Ferienhaus.

Sie machte sich Spaghetti Bolognese. Als sie gegessen hatte, war es draußen schon ziemlich dämmrig. Es wurde rasch dunkler.

Der Wind nahm zu und heulte um das kleine Haus.

Regen setzte ein und klatschte gegen die Fensterscheiben.

Es würde eine ungemütliche Nacht werden.

Lynne blätterte etwas in einer Zeitschrift, die sie in einer Ablage gefunden hatte.

Dann ging plötzlich das Telefon.

Und diesmal war es kein Traum. Deutlich und klar war das Klingeln zu hören und drang wie ein Messerstich in ihr Bewußtsein.

*

Lynne blickte wie gebannt auf das Telefon. Es war ein ziemlich altmodisches, schwarzes Modell mit einer drehbaren Wählscheibe und einer geweihartigen Gabel. Fast ein Museumsstück.

Sie näherte sich dem Apparat vorsichtig. Dann griff sie zu und hatte den Hörer in der Hand.

Sie sagte keinen Ton.

Aber das schien auch gar nicht nötig zu sein. Der Anrufer wußte auch so, wen er an der Leitung hatte. Es war gespenstisch.

"Lynne? Ich weiß, daß du dran bist, Lynne." Es war die verstellte Stimme von Bill - oder William Delaney, ganz wie man wollte.

Lynne zwang sich dazu, ruhig zu bleiben, obgleich in ihrem Kopf alles durcheinanderwirbelte. Woher konnte dieser Kerl nur wissen, wo sie sich befand.

So sehr Lynne sich auch das Gehirn zermarterte, sie fand einfach keine plausible Erklärung dafür.

"Ich werde wieder töten", flüsterte die dumpfe Stimme. "Ich kann nicht damit aufhören. Und mittlerweile will ich es auch gar nicht mehr. Ich bin William Delaney. Der, der ich vorher war ist fast völlig aus mir gewichen..."

Lynne versuchte, aus der Hintergrundakustik irgendwelche Anhaltspunkte zu finden, die ihr Auskunft darüber geben konnten, von wo aus der Anruf kam. Eine Telefonzelle schien es nicht zu sein.

"Ich werde dir sagen, wer mein nächstes Opfer ist, Lynne.

Hörst du mich noch?" Er lachte heiser. "Natürlich hörst du mich. Deine Ohren müssen geradezu vor Neugier glühen..."

Eine Pause entstand.

Lynne atmete schließlich tief durch und fragte: "Warum quälst du mich?"

"Tue ich das?" fragte Bill zurück.

"Ja."

"Ich verspreche dir, daß deine Qual bald ein Ende hat.

Deine Qual und meine Qual." Der Klang seiner verstellten Stimme hatte sich bei den letzten Worten etwas verändert. Er war schneidend geworden.

Ein Frösteln schüttelte Lynne.

Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Ein schabendes, kratzendes Geräusch, dessen Klang ihr in diesem Moment durch Mark und Bein fuhr. Aber als sie zum Fenster blickte, begriff sie, daß es nur ein vom Wind hin und her bewegter Ast war, der ein paar Zoll oberhalb des Fenstersturzes an der Außenwand entlangkratzte.

Ist er hier, irgendwo in der Nähe? Oder in London?

Während sie das dachte, hörte sie erneut die dumpfe Stimme auf sie einreden. Der Anrufer schien Freude dabei zu haben, sie zu quälen und ihr Angst zu machen.

"Vielleicht errätst du, wer mein nächstes Opfer sein wird... Es ist eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens.

Eine Frau, von der bis vor kurzem, noch niemand gehört hatte, die aber jetzt in aller Munde ist. Zumindest bei Menschen, die spät ins Bett zu gehen pflegen..." Ein irres Kichern folgte. "Du hast mich sehr enttäuscht, Lynne", erklärte er dann in sehr ernstem, fast ärgerlichem Tonfall. Der schneidende Unterton war wieder da.

"Enttäuscht?" echote Lynne, weil ihr nichts besseres einfiel. "Wieso habe ich dich enttäuscht? Das mußt du mir erklären, Bill!"

"Ich habe bei dir angerufen. In deiner Sendung. Und ich habe dir vertraut. Ich habe dir auch später vertraut, aber du... Du hast mit denen zusammengearbeitet, die mich zu fangen versuchen... Dafür wirst du sterben, Lynne. Dafür..."

"Bill!"

"Aber gleichgültig, ob ich gefangen werde - William Delaney wird immer wiedergeboren werden und in einem nächsten Leben das zu vollenden wissen, was ihm in seinem gegenwärtigen versagt blieb! Daran solltest du immer denken, Lynne! Du kannst mir nicht entkommen..."

Und dann war die Verbindung unterbrochen und Lynne stand da, als hätte ihr gerade jemand mit einem Brett vor die Stirn geschlagen.

 

*

Einen Augenblick lang stand Lynne wie konsterniert da, dann faßte sie einen Entschluß.

Sie mußte hier weg, das stand für sie fest.

Bill - oder wie immer der Kerl auch in Wirklichkeit heißen mochte - wußte genau, wo sie war. Und sie hatte nicht die Absicht, erst zu warten, bis er hier auftauchte und versuchte, sie umzubringen.

Sie ging ins Schlafzimmer und packte schnell ihre Sachen zusammen. Dazu brauchte sie keine zwei Minuten, schließlich hatte sie nur eine einzige Sporttasche mit.

Dann warf sie sich ihren Mantel über und ging hinaus zu ihrem Wagen.

Es regnete.

Der Wind trieb die Wolken in dichter Folge vor sich und bog Bäume und Sträucher nach Nordosten.

Lynne öffnete den Kofferraum, pfefferte ihre Tasche hinein, schlug ihn wieder zu und setzte sich dann ans Steuer. Mit einer entschlossenen Bewegung steckte sie den Zündschlüssel ein und drehte ihn herum. Aber der Motor machte nicht mehr als ein klägliches Geräusch.

Sie versuchte es noch einmal, aber es gelang ihr auch diesmal nicht, den Wagen zu starten.

Schließlich machte er überhaupt kein Geräusch mehr.

Lynne fühlte nackte Panik in sich aufsteigen. So ein verfluchtes Pech! ging es ihr ärgerlch durch den Kopf.

Ausgerechnet jetzt versagte der Wagen. Ausgerechnet jetzt, da vielleicht ihr Leben davon abhing.

Zufall?

Sie machte einen letzten Versuch, dann stieg sie aus und schlug wütend die Tür hinter sich zu. Sie öffnete kurz die Motorhaube und warf einen Blick hinein. Aber erstens verstand sie so gut wie nichts von dem, was da vor sich ging und zweitens war es viel zu dunkel, um überhaupt etwas zu sehen.

Nicht einmal den Ölstand hätte man bei diesen Lichtverhältnissen ablesen können. Also machte sie die Haube wieder zu.

Vielleicht finde ich im Haus eine Taschenlampe! überlegte sie, während ihr die Haare bereits am Kopf klebten.

Das Wetter war wirklich scheußlich.

Während sie sich mit schnellen Schritten in Richtung Eingangstür bewegte und dabei in eine Pfütze trat, glaubte sie, seitlich von ihr, zwischen ein paar Sträuchern eine Bewegung wahrzunehmen.

Ein dunkler Schatten, vielleicht der schemenhafte Umriß eines Menschen.

Lynne bemerkte, wie ein leichtes Zittern sie überkam, halb vor Kälte, halb vor Angst. Im nächsten Moment jagte ein Windstoß mit besonderer Wut vom Kanal her über das Land und riß an den Fensterläden. Äste kratzten an der Hauswand entlang, irgendwo knackte etwas und splitterte Holz.

Lynne blickte in die Finsternis und sah - nichts.

Sie ging zur Haustür. Als sie eintrat wurde ihr klar, daß sie in der Eile vergessen hatte abzuschließen.

 

Sie sperrte die Tür sorgfältig hinter sich zu und verriegelte sie auch mit der Vorhängekette, die zu diesem Zweck angebracht war.

Sicher war sicher.

Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren. Sie war sich sekundenlang nicht sicher, ob es ein Wagen oder das Brausen des Windes war, was sie da gehört hatte.

Dann ging das Telefon.

Aber diesmal ging die junge Frau entschlossen zum Apparat und nahm ab. Es hatte keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken. Dieser Wahnsinnige schien ein Spiel mit ihr zu spielen. Ein Spiel, dessen Einsatz ihre Leben war. Und wie es im Moment aussah, hatte sie wohl kaum eine andere Wahl, als es zumindest ein Stückweit mitzuspielen.

"Ja?" sagte sie.

"Lynne? Ich bin ganz in der Nähe..." Die Verbindung brach dann zwischendurch ab. Sie hörte nur noch Wortfetzen und plötzlich war ihr klar, woran das lag. Jemand rief mit einem Handy an. Und bei diesem Sturm und in dieser Einsamkeit konnte es da schonmal Probleme geben.

Er ist in der Nähe.

Sie legte auf.

Erst zwei Sekunden später wurde ihr langsam klar, daß sie gerade nicht die verstellte Stimme gehört hatte, die sie sonst vom anderen Ende der Leitung her gepeinigt hatte.

Diesmal hatte sich "Bill" diese Mühe nicht gemacht - aber vielleicht war das auch nur ein Teil seines perfiden Spiels mit ihrer Angst.

Lynne schluckte.

Es war Jack Gordons Stimme gewesen, ein bißchen verzerrt und verfremdet vielleicht, aber sie war es.

Lynne war sich absolut sicher.

Ein Kloß steckte ihr mit einem Mal im Hals. Ihr Verdacht war also richtig gewesen, so sehr sie der Gedanke daran auch schmerzte. Und sie konnte es im Grunde ihres Herzens noch immer nicht so recht fassen, daß der Mann, den sie liebte offensichtlich der gleiche war, der nach ihrem Leben trachtete.

Sie nahm den Hörer ab.

Irgendjemanden mußte sie jetzt anrufen. Die Polizei, einen Reparaturdienst für den Wagen, den Notruf... Sie hatte sich noch nicht entschieden, wen zuerst. Und wie es schien, war ihr diese Entscheidung inzwischen auch abgenommen worden.

Es ertönte nämlich kein Freizeichen mehr.

Jemand hatte die Leitung gekappt...

Im nächsten Moment ging dann auch noch das Licht aus. Und die tappenden Geräusche da draußen konnten kaum durch den Sturm oder irgendwelche Fensterläden verursacht werden...

Lynne stockte der Atem.

Nein, das waren ganz eindeutig Schritte.

*

Ein kräftiger Windstoß ließ einen Fensterladen klappern.

Ein Knarren mischte sich in dieses Geräusch und im nächsten Augenblick wurde Lynne klar, daß jemand versuchte, die Haustür zu öffnen.

Der Türgriff wurde hin und hergedreht.

Lynne überlegte fieberhaft, was sie tun konnte.

"Lynne?" rief eine Stimme, deren Klag durch die Geräusche des Windes nur undeutlich zu hören war. Geisterhaft und dumpf klang sie, wie aus einer anderen, jenseitigen Welt.

"Lynne..."

Dann folgte ein heftiger Schlag gegen die Tür.

Vielleicht würde er die Tür aufbrechen. Lynne sah sich um, aber sie fand nichts, womit sie sich wehren konnte. Und einfach aus dem Fenster steigen war auch nicht ratsam. Das würde Bill sofort bemerken.

Weit und breit wohnte hier kein Mensch.

Es hatte keinen Zweck, auf irgendwelche Hilfe zu hoffen.

Damit war nicht zu rechnen.

Lynne atmete schneller. Sie ging in den kleinen Flur und dann ins Schlafzimmer. Doch sie würde hier kaum sicherer sein. Es gab in diesem kleinen Wochenendhaus kam eine Möglichkeit, sich zu verstecken.

Lynne sah sich um.

Sie hatte kaum registriert, daß die Geräusche an der Tür inzwischen aufgehört hatten.

Jetzt sah sie durch das Fenster des Schlafzimmers eine Gestalt sich dunkel gegen das fahle Mondlicht abheben.

Lynne preßte sich in eine Ecke, während der Düstere seinen Kopf an die Scheibe preßte, um hineinzublicken, so als suchte er nach ihr.

Er weiß, daß ich hier bin! ging es ihr siedend heiß durch den Kopf. Schließlich war der Kerl ganz planmäßig vorgegan-gen und hatte dafür gesorgt, daß sie mit niemandem in Kontakt treten konnte.

Jack, dachte sie. Ich hätte es nie für möglich gehalten...

Die finstere Gestalt am Fenster, deren Gesicht in einem schwarzen Schatten verborgen blieb wandte sich nun zur Seite.

Er könnte es wirklich sein! dachte Lynne.

Er ging davon und verschwand in der Dunkelheit. Einen Augenblick später hörte sie ihn wieder an der Tür. Er versuchte jetzt offenbar sie gewaltsam zu öffnen.

Lynne fühlte sich wie in einem Käfig.

Sie machte eine Bewegung und kam gegen etwa Hartes, Metallisches. Lynne faßte danach und holte hinter dem Schrank ein langes, doppelläufiges Jagdgewehr hervor.

Sie hatte Grady mal erwähnen hören, daß er gelegentlich auf Entenjagd zu gehen pflegte. Die Waffe war vermutlich nicht geladen, jedenfalls nicht, wenn Grady auch nur einen Funken Verantwortungsgefühl hatte.

Und in dem Punkt konnte man ihm nun wirklich nichts nachsagen.

Lynne atmete tief durch.

Jetzt hier in der Dunkelheit auch noch Patronen zu finden war völlig illusorisch. Außerdem kannte sie sich überhaupt nicht mit Waffen aus. Vermutlich war die Gefahr viel größer, daß sie sich selbst verletzte anstatt ihren Gegner.

Andererseits...

Niemand konnte einer Waffe ansehen, ob sie geladen war.

So packte Lynne das Gewehr mit beiden Händen und ging in den Flur. Sie wollte es jetzt wissen und diesem Schrecken ein Ende setzen. Und sie wollte Gewißheit darüber, wer hinter diesem Terror steckte.

Ein schabendes Geräusch drang im nächsten Moment an Lynnes Ohr. Das Türschloß war offen, aber die Tür ging nicht weiter als einen Spalt auf. Die Vorhängekette verhinderte das. "Lynne!"

Die Stimme.

"Ich komme", sagte Lynne ruhig. Sie ging zur Tür, entfernte die Kette und trat sogleich zwei Schritte zurück. Das Gewehr hielt sie fest mit beiden Händen und richtete es in Richtung der Gestalt, die jetzt eintrat.

Das Mondlicht fiel auf das Gesicht.

Und nun gab es keinen Zweifel mehr.

"Jack..."

"Lynne, was..."

Jack blickte auf die offene Mündung des doppelläufigen Gewehrs und erstarrte mitten in der Bewegung. Er schluckte und brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, was er da vor sich sah.

"Lynne, was soll das?"

"Bleib, wo du bist, Jack! Ich rate es dir im Guten."

"Warum zielst du mit dem Ding auf mich? Lynne, du warst plötzlich aus London verschwunden und..." Er kam noch einen Schritt näher herein, aber Lynne hob jetzt die Waffe.

Sie versuchte so viel Entschlossenheit wie möglich in diese Bewegung zu legen.

"Ich warne dich", sagte sie. "Ich meine es ernst."

"Du wirst doch nicht auf mich schießen!"

"Warum sollte ich nicht? Du bist doch gekommen, um mich mit einem Stück Draht zu erwürgen..."

"Das ist nicht wahr, Lynne!"

"Halt!"

Er hatte versucht, noch einen Schritt auf sie zuzukommen, aber jetzt erstarrte er mitten in der Bewegung.

"Lynne", versuchte er es noch einmal.

"Du hast von einem Funktelefon angerufen, nicht wahr?" Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, die da über Lynnes Lippen kam.

"Ja", gab er zu. "Wir wurden unterbrochen..."

"Ich habe es einfach nicht glauben können", erklärte Lynne sehr ernst. "Aber es fügt sich alles zusammen. Du hast eine Reinkarnationstherapie mitgemacht, du warst über William Delaney gut informiert - und zwar lange vor dem ersten Anruf bei mir in der Sendung! Und die Anrufe kamen nie, während deiner Anwesenheit... Oh, Jack, ich dachte, wir würden etwas füreinander empfinden!"

"Aber das tue ich ja auch..."

"Keinen Schritt mehr!"

Jack seufzte. "Wie soll es jetzt weitergehen? Was hast du vor?"

"Ich werde die Polizei rufen. Du hast zwar dafür gesorgt, daß die Telefonleitung inzwischen tot ist, aber wir haben ja noch dein Funktelefon..."

"Lynne..."

"Gib es her!" forderte sie unmißverständlich. Der Klang ihrer Stimme bekam dabei etwas Metallisches.

 

"Lynne, das ist doch verrückt, ich..."

Ein Geräusch ließ ihn verstummen. Es waren schnelle Schritte.

"Da draußen ist jemand!" stellte Jack fest. Er hatte sich schon halb herumgewandt, da hielt Lynne ihm das Gewehr unter die Nase.

Ein dünnes Lächeln ging über seine Lippen.

"Du wirst nicht schießen", war er überzeugt. "Da draußen war jemand, vielleicht derjenige, der es in Wahrheit auf dich abgesehen hat, Lynne..."

Lynne wollte etwas erwidern, aber da war Jack bereits zur Tür hinaus. Lynne folgte ihm.

Sie sahen eine dunkle Gestalt davonlaufen, nur als Schatten erkennbar. Die Gestalt rannte querfeldein in Richtung eines größeren Umrisses, bei dem es sich um einen Pkw handeln konnte.

"Glaubst du mir vielleicht jetzt, daß ich nicht der Kerl bin, für den du mich hältst? Ich habe weder etwas mit den Anrufen zu tun, noch habe ich die Absicht dir Angst zu machen oder dich umzubringen."

Lynne war in ihrem Inneren hin und her gerissen.

Vielleicht hatte sie ihm Unrecht getan...

Indessen gingen die Scheinwerfer eines Wagens an. Ein Motor heulte auf.

"Er versucht zu entkommen!" stellte Jack fest und setzte augenblicklich zu einem Spurt an. Nur wenige Sekunden später saß er am Steuer seines eigenen Wagens, startete und setzte ihn ruckartig vorwärts. Einen Augenblick später hatte er ihn schräg auf die Straße gestellt, so daß es unmöglich war, daran vorbeizufahren. Er schaltete das Fernlicht ein, während der Unbekannte mit seinem Wagen heranraste.

Jack hatte ihm den Weg abgeschnitten.

Der Unbekannte brauste heran und trat dann in die Bremsen.

Mit quietschenden Reifen kam sein Wagen zu stehen. So schnell er konnte schaltete er in den Rückwärtsgang und ließ sein Gefährt nach hinten schnellen. Er versuchte zu drehen, aber auf der äußerst schmalen Straße war dafür nicht genug Platz.

Mit den Hinterreifen kam er von der Fahrbahn ab und blieb in einem Schlammloch stecken.

Der Boden war vom Regen aufgeweicht.

Die Reifen drehten durch und beförderten Händevoll Erde in die Luft,ohne daß der Wagen sich mehr als nur ein paar Zentimeter bewegte.

Der Unbekannte schien nach einem weiteren Versuch endlich einzusehen, daß es keinen Sinn mehr hatte. Er riß die Tür auf, stieg aus und wollte zu einem Spurt ansetzen. Aber Jack war bereits in seiner Nähe.

Der Unbekannte keuchte. Er schien zu ahnen, daß es kein Entkommen gab. So versuchte er, die Flucht nach vorn anzutreten und stürzte sich auf Jack.

Die dunkle Gestalt holte zu einem furchtbaren Faustschlag aus, dem Jack jedoch auswich, so daß er ins Leere ging. Durch die Wucht des eigenen Schlages taumelte der Unbekannte zu Boden. Und als er dann aufblickte, sah er Lynne mit dem Gewehr dastehen.

Lynne schluckte.

Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie in das Gesicht des Unbekannten sah.

"Joe!" flüsterte sie. "Joe Stapledon!"

"Du kennst den Mann?" fragte Jack Gordon erstaunt.

Lynne nickte.

"Ja, er arbeitet bei uns im Sender. Bis vor kurzem gehörte er zum Team meiner Sendung, bis er an einen anderen Posten versetzt wurde..." Lynne trat näher an ihn heran. "Hast du die Frauen ermordet?" flüsterte sie. "Warum nur? Und warum wolltest du mich töten?"

"Weil er wahnsinnig ist", stellte Jack kühl fest.

"Ich habe niemanden umgebracht", erklärte Joe Stapledon.

Aber es klang schwach und ohne jede Überzeugungskraft. "Du mußt mir glauben, Lynne!"

"Als jemand, der im Sender beschäftigt ist konntest du leicht an jede nur erdenkliche Information über mich kommen.

Angefangen von der Geheimnummer bis hin..." Plötzlich stockte sie. Woher konnte er wissen, daß sie hier, in Gradys Haus war? Hatte er sie belauscht, als sie mit Grady darüber gesprochen hatte? Möglich, sicher.

Und Jack? Woher konnte er das wissen?

Ihr Blick wanderte seitwärts, aber Jack schaute sie nicht an.

"Ich werde mal die Polizei rufen", erklärte er. "Mein Funktelefon liegt im Wagen!"

"Gut", murmelte Lynne.

Aber im Innersten war sie sich noch nicht ganz sicher, ob dieser Alptraum jetzt wirklich ein Ende hatte...

*

"Eine Tasse Kaffee?" fragte eine etwas heisere, aber freundliche Stimme und Lynne schreckte aus dem leichten Schlummer auf, in den sie gefallen war. Neben ihr saß Jack, an deren Schulter sie sich gelehnt hatte.

Lynne nickte knapp.

Zu mehr war sie noch nicht in der Lage.

Dann erinnerte sie sich dumpf an das, was in den letzten Stunden geschehen war.

Die örtliche Polizei hatte Joe Stapledon verhaftet und sie alle drei ins Präsidium gebracht. Die Aussagen wurden zu Pro-tokoll genommen und das Ganze hatte sich stundenlang hingezo-gen.

Jetzt mußte es weit nach Mitternacht sein.

Eigentlich schon früher Morgen, wenn man es genau nahm.

"Kommen Sie bitte in mein Büro", sagte die heisere Stimme.

Sie gehörte einem Inspektor Brady, der die Untersuchung leitete. Jack und Lynne folgten dem Polizeibeamten. Sie bekamen Kaffee, der zumindest einen Teil ihrer Lebensgeister wieder weckte.

"Warum hat Joe das getan?" fragte Lynne. "Haben Sie irgend etwas darüber herausfinden können? Ich kenne ihn schon seit einiger Zeit und er machte auf mich nie den Eindruck von jemandem, der..."

"Ein Mörder ist?" fragte Brady. Er lächelte nachsichtig.

"Das sieht man niemandem an. Mr. Stapledon hat übrigens zugegeben, für die Anrufe verantwortlich zu sein, mit denen Sie gequält wurden, Miss Davis", erklärte der Inspektor.

Lynne wußte nicht, was sie dabei empfinden sollte. Einerseits war sie schockiert darüber, daß jemand, den sie für einen guten Kollegen gehalten hatte, zu so etwas fähig war.

Andererseits räumte dieses Geständnis wohl auch den letzten Zweifel aus - den letzten Zweifel in Bezug auf Jack. Und das machte sie glücklich.

Ihre Hand tastete verstohlen nach der seinen und drückte sie fest.

Brady beugte sich indessen etwas vor und fuhr fort: "Er bestreitet allerdings ganz entschieden, etwas mit den Morden zu tun zu haben, vo denen jetzt die Zeitungen voll sind. Er behauptet, daß er Ihnen nur Angst einjagen und Sie nervlich in den Abgrund bringen wollte."

Lynne war verwundert. "Aus welchem Grund? Ich habe ihm nie etwas getan?"

"Kennen Sie eine Colleen McGray?"

"Sicher - sie gehört zum Team meiner Sendung bei Radio KLM! Sie ist mit Joe befreundet..." Lynne stockte; ihr begann einiges klarzuwerden.

Inzwischen fuhr der Inspektor fort: "Diese Colleen McGray hatte sich nach Aussage von Stapledon große Hoffnungen gemacht, für den Night-talk als Moderatorin genommen zu werden. Die Sache stand offenbar schon so gut wie fest, bis Sie auftauchten, Miss Davis. Sie sollten an den Rand des Wahnsinns gebracht werden, unfähig eine tägliche Radiosendung zu machen. Dann, so hoffte diese Colleen, würde der Platz für sie wieder freiwerden..."

Lynne runzelte nachdenklich die Stirn.

Es stimmte, daß zuvor Colleen für die Sendung im Gespräch gewesen war. Das meiste darüber wußte Lynne nur aus Erzählungen, von denen sie die meisten für schiere Gerüchte gehalten hatte.

"Joe Stapledon war also nur ein Helfershelfer?" fragte sie erstaunt.

"Ein Mann, der für seine Geliebte alles zu tun bereit war, ja." Der Polizeibeamte zuckte mit den breiten Schultern und fügte dann noch hinzu: "Vielleicht hat er sich auch einen gewissen Vorteil fü seine weitere Karriere versprochen, aber das scheint das weniger wichtige Motiv gewesen zu sein..."

"Und das glauben Sie ihm einfach so." Lynne war schon etwas verwundert darüber. "Klingt das nicht sehr nach jemandem, der nur um jeden Preis nicht in Zusammenhang mit einer Reihe von Morden gebracht werden will? Warum sollte er sonst Ihnen gegenüber so redselig sein, Inspektor?"

Brady nickte.

"Genau das war auch mein erster Gedanke, Miss Davis. Er hat ja nur das zugegeben, was man ihm ohnehin irgendwann nachweisen könnte. Die Telefonanrufe zum Beispiel, die ja wohl teilweise aufgenommen wurden. Selbst wenn die Stimme verzerrt war, kann man sie mit entsprechendem technischen Aufwand so bearbeiten, daß sich feststellen läßt, ob es sich bei dem Sprecher um Stapledon handeln könnte..."

Lynne sah den Inspektor offen an.

"Aber Sie glauben ihm dennoch", stellte sie fest. Sie spürte es schon am Tonfall ihres Gegenübers.

 

Brady nickte.

"Ja. Und zwar jedes Wort. Der Anlaß dafür ist allerdings recht traurig. Die Meldung hat mich erst vor etwa einer halben Stunde erreicht. Inzwischen ist sie sicher auch schon in den Nachrichten zu hören. Es hat wieder eine Tote in London gegeben. Und der Mord trägt ganz eindeutig die Handschrift jenes Mannes, der glaubt die Wiedergeburt dieses verrückten Serienkillers zu sein! Stapledon ist also nicht der Mann, der dafür verantwortlich ist. Für die Tatzeit hat er diesmal ein wirklich wasserdichtes Alibi! Er hat diesen Wahnsinnigen nur benutzt, um Ihnen Angst zu machen..."

Ein perfides , teuflisches Spiel, ging es Lynne schaudernd durch den Kopf.

Und dazu ein Spiel, das um ein Haar auch aufgegangen wäre...

*

"Wie hast du es geschafft herauszufinden, wo ich war?" fragte Lynne etwas erstaunt, als sie gemeinsam mit Jacks Wagen zu Gradys Haus fuhren.

"Von Grady", erklärte Jack. "Ich kenne ihn schon seit ein paar Jahren, seit ich wegen ein paar Werbespots mit ihm zu tun hatte, die wir in den den KLM-Studios aufnehmen ließen.

Seitdem habe ich ihn des öfteren auf Parties und zu Arbeitsessen getroffen."

"Ich habe ihn nicht angerufen. Also konnte eigentlich nicht einmal Grady mit Sicherheit wissen, daß ich hier bin..."

"Nein, aber wo solltest du sonst sein? Einen anderen Anhaltspunkt hatte ich ja nicht..."

Der Wagen raste durch die Dunkelheit. Mit traumwandlerischer Sicherheit lenkte Jack über die dunklen, immer kleiner und enger werdenden Straßen.

"Trotzdem", meinte Lynne. "Es wundert mich, daß er dir einfach so die Adresse genannt hat. Schließlich hatte ich ausdrücklich darum gebeten, niemandem etwas zu sagen..."

"Ich habe ihm die Situation erklärt", meinte Jack.

"Welche Situation?"

"Daß ich dich liebe."

"Hattest du von ihm auch meine Geheimnummer? Ich habe sie auf einem Zettel in deiner Wohnung gefunden..."

"Ja. Wie gesagt, ich hatte deine Stimme im Radio gehört und wollte dich unbedingt kennenlernen. Da ich mit Grady bekannt war, war es für mich kaum ein Problem, ihn ganz beiläufig über dich auszufragen. Als er sein Adreßbuch einmal für einen Augenblick unbeobachtet auf dem Tisch liegen ließ, habe ich einfach mal unter D wie Davis nachgeschaut..."

Ein mildes Lächeln ging über Lynnes Gesicht. Irgendwie konnte sie sich nur zögernd an den Gedanken gewöhnen, daß sie jetzt keine Angst mehr zu haben brauchte.

"Schon etwas ungewöhnlich, nicht wahr?" meinte sie dann, halb zu Jack, halb zu sich selbst.

Jack hob die Augenbrauen.

"Wovon sprichst du?"

"Davon, daß man sich in eine Radiostimme verlieben kann..."

 

Er nahm ihre Hand. Sie fühlte sich kalt an, so als ob jegliches Blut aus ihr geflohen war.

"Jack, ich hoffe du kannst mir verzeihen", sagte Lynne dann, während sie seine Hand festhielt.

"Verzeihen?" echote er.

"Ich habe schließlich ehrlich geglaubt, daß du dieser Wahnsinnige bist, der sich für die Wiedergeburt dieses Serienkillers hält..."

"Nun ist dieser Alptraum vorbei, Lynne. Aus und vorbei."

"Ich hoffe es!" seufzte Lynne.

"Verlaß dich drauf!"

Sie hatten jetzt Gradys Haus erreicht, wo sie den Rest der Nacht verbringen wollten. Viel mehr als ein paar Stunden waren es ja nicht. Morgen würden sie der Polizei von Poole noch einmal für Aussagen zur Verfügung stehen müssen, dann konnten sie nach London zurückkehren.

"Ist es dir viellecht lieber, wenn ich mir ein Hotelzimmer nehme?" fragte Jack, bevor sie ausstiegen. "Nach all dem, was passiert ist, könnte ich das verstehen.

Lynne schüttelte energisch den Kopf.

"Nein", erklärte sie voller Überzeugung. "Ich habe keine Angst mehr..."

Ihre Blicke trafen sich. Jack stellte den Motor ab.

Seine Hand berührte sanft ihre Wangen und im nächsten Augenblick fanden sich ihrer beider Lippen zu einem Kuß voller Leidenschaft.

"Jack...", flüsterte sie, als sie sich voneinander lösten.

Ihre Hand hielt sich an seinem muskulösen Nacken fest. "Jack, ich bin so froh, daß sich mein Verdacht als unbegründet herausgestellt hat..."

"Es wird alles wieder ins Lot kommen, Lynne", versprach Jack.

Seine Stimme hatte einen warmen, dunklen Klang.

"Nur eins gefällt mir nicht", meinte Lynne dann, nach einer kurzen Pause.

"Was?"

"Daß irgendwo in London offenbar noch immer ein Wahnsinniger herumläuft und tötet..."

*

"Ich verstehe nicht, wie Colleen und Joe so etwas tun konnten", meinte Lynne zwei Tage später, während sie Grady gegenübersaß.

Inspektor McGill von Scotland Yard war auch zugegen.

"Ich habe ihr vertraut", sagte Grady. "Möglich, daß Colleen unser Gespräch gehört hat... Mein Gott, wir sind hier auch nur bei einer Radiosendung nicht beim Geheimdienst! Tut mir leid, Lynne."

"Schon gut. Aber das Jack wußte, wo ich war, hat sich im Nachhinein ja als glückliche Wendung herausgestellt...", meinte Lynne. Sie wandte sich an McGill. "Was wird auf Colleen und Joe zukommen..."

"Der Sender wird sie vermutlich entlassen!" antwortete Grady anstelle des Inspectors.

Dieser hatte bereits tief Luft geholt und mußte dann ein zweites Mal ansetzen.

 

"Sie werden es mit dem Staatsanwalt ihrer Majestät zu tun bekommen", erklärte McGill. "Schließlich ist das, was sie angestellt haben, kein Kavaliersdelikt. Aber da sie auf keinen Fall mit den Morden in Verbindung gebracht werden wollen, sind sie äußerst kooperativ."

"Wichtig ist doch nur, daß die Gefahr jetzt vorbei ist", sagte Grady.

Aber der Scotland-Yard-Inspektor machte ein ernstes Gesicht. Er schien skeptischer zu sein, was diesen Punkt anging. "Ich will Sie nicht beunruhigen, Miss Davis, und wahrscheinlich ist die Sache für Sie ja auch ausgestanden..."

Er atmete und druckste etwas herum.

"Wovon sprechen Sie?" hakte Lynne nach.

"Davon, daß Sie weiter vorsichtig sein sollten. Zumindest in nächster Zeit. Wir werden die verstärkten Streifen in der Nähe Ihrer Wonung aufrechterhalten..."

"Aber..."

"Sie sollten ein Detail bedenken, Miss Davis!" fuhr McGill dann fort. "Der erste Anruf von diesem 'Bill', der hier einging war echt! Erst was danach kam, geht dann auf das Konto von Colleen McGray und Joe Stapledon..."

*

Als Lynne ihre Wohnung erreichte, wartete vor der Tür bereits jemand auf sie.

Es war niemand anderes als Jack Gordon, der sie mit einem gewinnenden Lächeln begrüßte.

"Hallo, Lynne!"

"Jack!"

"Ich dachte, du hättest vielleicht nichts gegen ein romantisches Abendessen zu zweit einzuwenden!" Jack deutete auf die braune Papiertüte, die er im Arm trug. "Ich hoffe, ich habe nichts Wesentliches vergessen..."

Lynnes Gesichtszüge entspannten sich. "Jack, ich freue mich, daß du da bist!"

Sie schlang ihre schlanken Arme um seinen Hals und küßte ihn.

"Du bist eine wunderbare Frau, Lynne!" hauchte Jack ihr ins Ohr.

"Und ich bin froh, daß ein gewisser Jack Gordon nachts Radio hört", meinte sie lachend.

Lynne holte schließlich ihren Türschlüssel aus der Manteltasche nd schloß die Wohnungstür auf. Sie traten ein.

Lynne schaltete das Licht ein, während Jack seine Tüte auf dem Tisch abstellte.

Lynne ging indessen zum Fenster und blickte hinaus.

Draußen war es bereits dunkel.

Einen Augenblick später spürte sie Jacks Hände, die sie bei der Schulter faßten. Sie ließ sich von ihm herumdrehen. "Was ist?" fragte er. "Du hast immer noch die Furcht, daß da draußen jemand ist, der dich auf Schritt und Tritt beobachtet und nur darauf wartet, dir eine Drahtschlinge um den Hals zu legen, nicht wahr?"

Lynne zuckte die Achseln.

 

"Das alles sitzt mir noch sehr in den Knochen!" mußte sie eingestehen.

"Es ist vorbei, Lynne."

"Vielleicht für mich. Aber es gibt da draußen einen Mann, der glaubt, die Wiedergeburt von William Delaney zu sein und vermutlich mit dem Mann identisch ist, auf dessen Konto die Morde gehen, von denen jetzt die Zeitungen voll sind... Ich frage mich, was dieser Delaney - Bill, wie er sich beim ersten Anruf nannte - jetzt macht."

"Lynne..."

"Ob er sein nächstes Opfer beobachtet, so wie Joe Stapledon mich beobachtet hat?"

"Lynne! Solche Gedanken führen zu nichts!" versuchte Jack sie zu überzeugen.

Lynne legte ihren Kopf an Jacks Schulter. Er hielt sie in den Armen und strich ihr sanft über das Haar.

"Er hat es sogar fertiggebracht, in meine Wohnung einzudringen und mich mit einer Drahtschlinge zu erschrecken, die er mir auf das Kopfkissen gelegt hat..."

"Ach, ja?" murmelte Jack kaum hörbar.

"Ich hatte immer gedacht, daß das Schloß an meiner Wohnungstür auf dem neuesten Stand ist..."

Er zuckte die Achseln. "Offenbar hast du dich geirrt!" Er nahm ihre Hand. "Die ganze Angelegenheit beschäftigt dich noch immer sehr, nicht wahr?"

"Ja, natürlich..."

"Ich hatte gehofft, dich ein wenig davon ablenken zu können!" Sein Lächeln war freundlich und offen. Nach kurzer Pause fügte er dann noch hinzu: "Aber vielleicht gelingt mir das ja doch noch!"

"Entschuldige", meinte sie. "Aber ich muß einfach darüber reden.Und wenn nicht mit mir, mit wem sonst?"

"Sicher. Also, was geht dir sonst noch so durch den Kopf?"

"Ach, alles mögliche..."

Jack holte eine der Rotweinflaschen, die er mitgebracht hatte und öffnete sie. Lynne holte Gläser, stellte sie auf den Tisch und Jack schenkte ein.

Dann hoben sie die Gläser und sahen sich an.

"Worauf trinken wir?" fragte sie.

"Auf uns."

"Gut!"

Sie stießen an. Dann fragte Lynne: "Du hast doch auch einmal eine dieser Rückführungen in frühere Leben mitgemacht, nicht wahr?"

Jack sah sie an. Für den Bruchteil eines Augenblicks umwölkte sich seine Stirn ein wenig, dann lächelte er.

"Ja, das stimmt."

"Wer warst du - in einem anderen Leben?"

Er trank das Weinglas leer, schluckte und schüttete sich nach. Um seine Mundwinkel erschien ein leicht verkrampfter Gesichtszug und Lynne bereute es schon, ihn überhaupt gefragt zu haben.

"Entschuldige", beeilte sie sich dann zu sagen. "Es war ein Fehler. So etwas hätte ich nicht fragen dürfen. Ich nehme an, daß es einfach zu privat ist..."

"Nein, ist es nicht", erklärte Jack dann. "Du kannst es gerne wissen. Es ist nur so, es war...", er zögerte und schien nach den richtigen Worten zu suchen, "...nicht sehr angenehm." Er blickte ins Leere. Lynne berührte ihn leicht an der Schulter, aber er schien es kaum wahrzunehmen. Sein Mund bewegte sich auf einmal wie atomatisch. "Ich wurde erwürgt", stellte er fest.

"Oh..."

"Über die näheren Umstände weiß ich nicht viel. Es muß irgendwann im Mittelalter gewesen sein... Ich spürte, wie sich eine Schlinge um meinen Hals legte und jemand ganz fest zuzog..." Jack mußte unwillkürlich schlucken.

"Wurdest du hingerichtet?"

"Nein, das glaube ich nicht. Es war ein Mord. Jemand hat mich umgebracht. Das letzte, was ich sah, war das Gesicht einer Frau, die kalt lächelnd zusah, wie ich umgebracht wurde."

"Wer war die Frau?" erkundigte sich Lynne.

"Ich glaube, es war meine Frau. Von dem Mörder konnte ich nichts sehen, er stand hinter mir und hielt mich in seinem Würgegriff. Vielleicht war es ihr Geliebter..."

Er zuckte die Achseln.

Seine Züge entspannten sich etwas. Er versuchte zu lächeln, aber das Ergebnis sah ziemlich verkrampft aus. Er strich Lynne über die Wange.

Seine Hand war eiskalt.

Es war ihm anzusehen, wie sehr es ihn mitgenommen hatte, über dieses Erlebnis zu reden.

"Was hat dein Therapeut dazu gesagt?" fragte Lynne.

Jack lachte heiser und rauh. Er lachte auf eine Art, wie Lynne es noch nie zuvor bei ihm gehört hatte. Sie erschrak unwillkürlich. Etwas Fremdes schien ihn auf einmal wieder zu umgeben...

Es ist Unsinn! versuchte Lynne sich einzureden. Aber die Saat des Mißtrauens war erneut gesät... Und diesmal ohne einen konkreten Anhaltspunkt oder auch nur den Hauch einer vernünftigen Begründung...

Die größte Gefahr scheint jetzt zu sein, daß ich den Verstand verliere! hämmerte es in ihr.

"Mein Therapeut?" hörte sie indessen Jack sagen. "Er meinte, daß dieses Problem aufgearbeitet werden müsse. Wir müßten ins Mittelalter zurück und..." Er schüttelte den Kopf und brach ab. "Dr, Morgan war der Ansicht, daß mich das schlechte Karma aus dem damaligen Leben bis heute verfolgen könne... Ich habe die Therapie abgebrochen. Sie hat mir nichts gebracht, außer ein paar Alpträumen hin und wieder..."

"Faszinieren dich deswegen Mörder, die ihre Opfer erwürgen?" fragte Lynne plötzlich.

Jack blickte sie einen Augenblick lang nachdenklich an.

Er kratzte sich am Hinterkopf.

Dann nickte er.

"Ja, eine Weile hat mich das fasziniert. Aber das ist schon lange her. Ich denke, ich bin drüber weg."

"Als wir uns kennenlernten, schienst du mir eher skeptisch, was die Wiedergeburt angeht", stellte Lynne dann etwas iritiert fest.

"Bin ich auch. Inzwischen. Ich weiß nicht, was ich da unter Hypnose erlebt habe. Vielleicht nur irgendwelche Bruchstücke aus dem Unterbewußten. Eine Art Traum. Ich hoffe es jedenfalls. Die Zweifel, ob es vielleicht doch Erinnerungen an Leben vor dem Leben sind werden mich natürlich nie loslas-sen... Ich kann dich nur davor warnen, je eine solche Rückführung machen zu lassen. Es ist wie eine Sucht. Man kommt nicht mehr davon los..."

"Aber du bist davon losgekommen!"

"Ich bin mir nicht sicher!" Mit diesen Worten ging Jack in die Küche. "Ich werde mal dafür sorgen, daß wir etwas zu essen bekommen..."

"Soll ich nicht..."

"Nein, Lynne, das werde ich machen. Zeig mir einfach nur, wie man deinen Elektroherd bedient..."

Lynne folgte ihm in die Küche und zeigte es ihm. "Du mußt auf die hintere Platte aufpassen. Wenn sie naß wird, gibt es einen Kurzen."

"Okay..."

Während Jack in der Küche herumhantierte, deckte Lynne den Tisch. Als sie damit fertig war, kehrte sie zurück und blieb in der Küchentür stehen. Sie beobachtete Jack eine Weile. Er schien ein geübter Koch zu sein.

Als er mit seinen Vorbereitungen fertig war, rieb er sich die Hände und sah sie an.

"Was gibt es denn?" erkundigte sich Lynne.

"Einfach abwarten!" erwiderte er.

Sie umarmten sich.

Ihre Lippen fanden sich zu einem Kuß, der erst zärtlich, dann leidenschaftlich und verlangend war. Lynnne schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn an sich.

"Ich möchte dich immer festhalten!" hauchte sie ihm ins Ohr, nachdem sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten.

Dann bemerkte sie, wie Jack mit stierem Blick auf ihren Hals starrte.

Lynne war irritiert.

"Was ist los, Jack?"

Sie griff sich mit der linken Hand an die Perlenkette, die sie um den Hals trug.

"Es ist nichts", behauptete er.

"Das ist nicht wahr!"

Er zögerte, bevor er weitersprach. Lynne studierte aufmerksam Jacks Gesicht und nahm jede Veränderung war, die sich darin abspielte. Seine Augenbrauen zogen sich wie unter einem unsichtbaren Druck zusammen. "Es hat mit der Rückführung zu tun, die ich mitgemacht habe", erklärte er dann. "Es ist mir bis gerade nicht aufgefallen, aber die Frau, die zusah, wie ich ermordet wurde, hatte eine Kette, die ganz ähnlich aussah..."

Lynne wollte etwas erwidern, aber sie kam nicht mehr dazu, denn in der nächsten Sekunde ging das Licht aus.

Es war stockdunkel.

*

Es dauerte einige Augenblicke, bis Lynne sich halbwegs an die Dunkelheit gewöhnt hatte.

Jack nahm sie bei der Hand zusammen tasteten sie sich ins Wohnzimmer, wo es nicht ganz so dunkel war. Von draußen leuchtete die Straßenbeleuchtung herein.

"Die Hauptsicherung ist raus", stellte Lynne fest.

Und Jack erwiderte: "Tut mir leid, ich hätte wohl mit der hinteren Herdplatte besser aufpassen müssen. Wo ist der Sicherungskasten?"

"Im unteren Flur. Aber ich kenne mich leider überhaupt nicht mit solchen Sachen aus..."

"Ich mich dafür um so besser", meinte Jack. "Hast du eine Taschenlampe?"

"Ja." Die Taschenlampe befand sich in der obersten Schublade einer Kommode. Lynne tastete sich dorthin und hatte sie wenig später in der Hand. Zum Glück waren die Batterien geladen.

Jack nahm sie ihr aus der Hand.

"Ich mach das schon", versprach er. Seine Hand tastete an ihrem Gesicht entlang. Lynne wollte etwas sagen, aber im nächsten Moment verschlossen seine Lippen die ihren. "Bis gleich", sagte er dann.

Sie sah ihn als schattenhaften Umriß davongehen.

Im nächsten Moment hörte sie, wie er die Tür öffnete und die Treppe hinabging.

Und dann wartete sie darauf, daß jeden Moment das Licht wieder anging. Aber nichts dergleichen geschah. Es blieb dunkel.

Als Lynne dann Schritte hörte, war sie etwas verwirrt.

"Jack?" fragte sie. Sie tastete sich bis zur Küche vor und blickte den kleinen Flur entlang bis zur Wohnungstür, die halb offen stand. Das Licht im Treppenhaus schien ebenfalls nicht zu funktionieren.

Der Strahl einer Taschenlampe leuchtete ihr direkt ins Gesicht. Sie war geblendet und konnte nichts sehen.

"Jack, was soll das?" schimpfte sie, halb ärgerlich.

Sie versuchte sich mit den Händen gegen das grelle Licht zu schützen und wich etwas zurück. "Jack, was ist los, warum machst du das? Warum ist das Licht nicht an?"

Ein eisiges Gefühl schlich Lynne den Rücken hinauf.

Noch einen halben Schritt machte sie rückwärts dann fühlte sie hinter sich eine Wand.

Das Licht kam näher.

Undeutlich sah sie die Gestalt eines Mannes auf sich zukommen. "Jack..."

"Lynne...", murmelte eine dumpfe Stimme, deren Klang Lynne das Blut in den Adern gefrieren ließ. "Ich bin es, Bill.

Oder William Delaney, ganz wie du willst."

"Oh, mein Gott..."

Lynne wich weiter zurück, tastete sich rückwärts die Wand entlang. Dann stolperte sie über irgend etwas, strauchelte und fiel zu Boden.

Sie wollte sich aufrappeln, aber Bill war bereits bei ihr.

Der Schein der Taschenlampe wirbelte wild herum . Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Lynne sehen, daß sich sein Gesicht unter einer Strumpfmaske befand. Deswegen klang seine Stimme so dumpf.

In panischer Furcht rappelte sie sich wieder hoch. Sie wußte, daß es jetzt um ihr Leben ging. Gerade hatte sie das Wohnzimmer erreicht, da hatte Bill sie eingeholt. Sie schlug um sich, aber ihr Gegenüber packte sie mit eisernem Griff von hinten.Die Taschenlampe fiel zu Boden, der Lichtkegel ging ins Nichts.

Sie wollte schreien, aber eine behandschuhte Hand ließ daraus kaum mehr als ein Ächzen werden.

"Schön ruhig...", flüsterte die dumpfe Stimme. Und dann spürte sie etwas Kaltes, schneidendes um ihren Hals.

Draht.

*

Die nächsten Sekunden erschienen Lynne wie eine Ewigkeit.

Sie wagte es kaum zu atmen.

"Einen Laut nur!" sagte Bill. "Einen Laut und du bist tot!" Das Flüstern der dumpfen Stimme klang wie das Zischen einer Giftschlange.

Lynne wußte nur zu gut, daß er seine Drohung innerhalb eines Augenaufschlags wahrmachen konnte, ohne daß es etwas gab, was sie dagegen tun konnte.

"Du wirst sterben, Lynne", stellte die Stimme kalt fest.

Die junge Frau spürte den Atem ihres Mörders.

"Warum?" wisperte sie dann. "Was habe ich dir getan, Bill?"

"Ich will es dir sagen! Ich habe mich hilfesuchend an dich gewandt. Ich habe in deiner Sendung angerufen, weil ich nicht mehr ein noch aus wußte..." Er stockte und sein Atem ging schneller. "Aber was hast du daraus gemacht, Lynne Davis!

Eine Show!"

"Wir hatten einen Psychologen, der bereitstand, um zu helfen", flüsterte Lynne.

"Ich spreche von dem zweiten Anruf! Es war euch nicht genug, daß einer wie ich daherkommt und sein Innerstes nach außen kehrt! Ihr mußtet noch eine billige Schmierenkommödie veranstalten!"

Lynne spürte, wie erregt dieser Mann war. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Nur dann hatte sie eine Chance, zumindest die nächsten Augenblicke zu überleben.

"Du hast die Frauen getötet, Bill?" fragte Lynne dann mehr um Zeit zu gewinnen.

Seine Antwort war keine Überraschung für sie.

"Ja. Ich konnte nichts dagegen tun. So wie auch William Delaney sich nicht gegen seinen inneren Zwang wehren konnte, so sehr er es auch wollte..."

Lynne spürte, wie der Draht ihr in den Hals schnitt.

Sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen.

Doch dieses Gefühl dauerte kaum länger als eine Sekunde.

Von irgendwoher drang ein Geräusch an ihre Ohren. Schnelle Schritte. Etwas viel zu Boden, dann ein Schlag.

Bill stöhnte auf.

Der Draht lockerte sich ebenso wie der eiserne Griff, mit der er sie umfaßt hatte.

Lynne riß sich mit aller Kraft los, strauchelte gegen einen ihrer Sessel und drehte sich im Fallen halb herum. Sie sah zwei schattenhafte Gestalten miteinander ringen. Dann folgte ein dumpfes Geräusch wie von einem harten Schlag.

Eine der Gestalten sackte zu Boden und blieb reglos liegen.

"Lynne?" hörte sie dann Jacks Stimme. Eine Sekunde später war er bei ihr und faßte sie bei der Hand. "Ist alles in Ordnung, Lynne?"

"Ja, Jack...", brachte sie heraus und schluckte.

"Ich war unten beim Sicherungskasten, da hat mich plötzlich jemand von hinten niedergeschlagen... Ich war zum Glück nur einen kurzen Moment weggetreten..."

"Es war wirklich im letzten Moment, Jack", gestand Lynne ein. "Er hatte seine Drahtschlinge schon um meinen Hals gelegt..." Jack legte den Arm um sie und drückte sie an sich.

"Ich habe gehört, was er gesagt hat", erklärte Jack. "Ich mußte mich so vorsichtig wie möglich heranschleichen...

Scotland Yard wird sich freuen, daß der wiedergeborene William Delaney jetzt nicht mehr durch Londons Straßen zieht..."

*

Nachdem Lynne die Polizei verständigt hatte, dauerte es nicht lange, bis Chief Inspektor McGill persönlich mit einigen Kollegen auftauchte. Schließlich wollte McGill es sich nicht nehmen lassen, die Verhaftung des schlagzeilenträchtigen Frauenmörders selbst zu übernehmen.

Bill hieß eigentlich Harold Tierney und hatte tatsächlich einmal eine Reinkarnationstherapie mitgemacht. Von der Idee, die Wiedergeburt des Frauenmörders William Delaney zu sein, war er jedoch erst bessesen, nachdem er eine Fernsehdokumen-tation über dessen Leben gesehen hatte. Diese Idee hatte ihn danach nie wieder losgelassen und war mehr und mehr zu einer Zwangsvorstellung geworden.

Alles würde vermutlich darauf hinauslaufen, daß er den Rest seines Lebens in irgendwelchen psychiatrischen Einrichtungen verbrachte.

Es war in einer dieser typischen Londoner Nebelnächte, als Jack Lynne auf dem Parkplatz vor dem Gebäude von Radio KLM

abpaßte.

"Hallo", sagte sie und lächelte.

Er nahm sie in den Arm.

"So hat alles angefangen, nicht wahr?"

"Ja. Und ich hoffe, es wird noch sehr, sehr lange anhalten...", erwiderte sie.

Sie küßten sich, während der Wind kühl von der Themse her kam. Aber das machte ihnen beiden nichts. Dann standen sie eng umschlungen einen Augenblick lang da, ohne daß einer von ihnen etwas sagte.

Vielleicht haben wir uns ja schon einmal geliebt. In einem früheren Leben! ging es Lynne durch den Kopf, aber sie scheuchte diesen Gedanken gleich wieder beiseite. Wichtig ist eigentlich nur dieses Leben, gleichgültig, was davor gewesen sein mag.

Einige Monate nachdem sich der Presserummel um den wiedergeborenen Killer gelegt hatte, konnte man dann in einigen Zeitungen auf der Gesellschaftsseite eine kleine Meldung darüber lesen, daß die bei Radio KLM beschäftigte Moderatorin Lynne Davis einen gewissen Jack Gordon geheiratet hatte, der in der Werbebranche tätig sei.

 

ENDE