BERNARD BECKETT
DAS NEUE BUCH GENESIS
FÜR RENÉ, IMMANUEL, LUDWIG UND ALAN
IST EINE SEELE MEHR ALS DAS SUMMEN IHRER TEILE?
DOUGLAS HOFSTADTER, EINSICHT INS ICH
Anax ging den langen Korridor hinunter. Es war vollkommen still bis auf das leise Zischen der Luftfilter über ihr. Die Lampen verströmten gedämpftes Licht, so wie es die neuen Bestimmungen vorschrieben. Sie erinnerte sich an hellere Tage, aber sie sprach nie darüber. Helligkeit als Vorzug der Vergangenheit zu betrachten, galt als einer der Großen Fehler.
Am Ende des Korridors bog Anax nach links ab. Sie überprüfte die Uhrzeit. Sie würden sie auf dem Weg zu ihnen beobachten, zumindest erzählte man sich das. Die Tür glitt auf, sanft und geräuschlos wie alles innerhalb der Räume der Akademie.
»Anaximander?«
Anax nickte.
Das Gremium bestand aus drei Prüfern, genau wie es in den Bestimmungen gestanden hatte. Anax war erleichtert. Die Einzelheiten der Prüfung waren streng geheim und unter den Bewerbern kursierten viele Gerüchte. »Fantasie ist das Mischlingskind von Zeit und Unwissenheit«, pflegte ihr Tutor Perikles zu sagen. Und dann fügte er jedes Mal hinzu: »Nicht dass ich etwas gegen Mischlinge hätte.«
Anax liebte ihren Tutor. Sie würde ihn nicht enttäuschen. Die Tür schloss sich hinter ihr.
Die Prüfer saßen hinter einem hohen Pult, dessen dunkle Holzoberfläche matt schimmerte.
»Bitte nehmen Sie Platz.« Der mittlere Prüfer sprach.
Er war der größte von ihnen, größer und kräftiger als jeder, den Anax je gesehen hatte. Daneben sahen die beiden anderen alt und schwach aus, doch spürte sie ihren scharfen und stechenden Blick. Heute würde sie keine Vermutungen anstellen. Noch standen alle Türen offen. Alles war möglich. Anax wusste, dass das Gespräch aufgezeichnet wurde.
PRÜFER: Für Ihre Prüfung sind fünf Stunden vorgesehen. Sollten Sie eine Frage nicht richtig verstehen, können Sie nachfragen. Allerdings werden wir dies bei unserem Gesamturteil berücksichtigen. Haben Sie mich verstanden?
PRÜFER: Gibt es noch etwas, das Sie wissen möchten, ehe wir mit der Prüfung beginnen?
ANAXIMANDER: Ich möchte gerne die Antworten wissen.
PRÜFER: Ich fürchte, ich verstehe nicht recht...
ANAXIMANDER: Das war nur ein Scherz.
PRÜFER: Oh. Ah ja.
Keine gute Idee. Keiner von ihnen zeigte auch nur den Anflug eines Lächelns. Anax fragte sich, ob sie sich entschuldigen sollte, doch der unbehagliche Moment war schon vorüber.
PRÜFER: Anaximander, ab jetzt läuft Ihre Zeit. Fünf Stunden über das Thema Ihrer Wahl. Das Leben und die Zeit von Adam Forde, 2058 bis 2077. Adam Forde wurde sieben Jahre nach Gründung von Platons Republik geboren. Können Sie uns die politischen Umstände erläutern, die zur Entstehung der Republik geführt haben?
War das ein Trick? Anax' Spezialgebiet bezog sich ausdrücklich auf die Zeit, in der Adam gelebt hatte. Der Ausschuss hatte den Antrag ohne Änderung angenommen. Natürlich wusste sie einige Dinge über den politischen Hintergrund, die wusste jeder, aber es war nicht ihr Spezialgebiet. Alles, was sie dazu sagen konnte, waren ein paar Sätze, die sie in der Schule gelernt hatte und die jeder Schüler auswendig kannte. Damit konnte sie unmöglich beginnen. Sollte sie den Prüfern widersprechen? War es das, was sie von ihr erwarteten? Forschend betrachtete sie die Gesichter, doch die Mienen der Prüfer waren wie versteinert. Das half ihr nicht weiter.
PRÜFER: Anaximander, haben Sie meine Frage verstanden?
ANAXIMANDER: Natürlich. Bitte entschuldigen Sie, es war nur... Es ist nicht so wichtig...
Anax versuchte, ihre Bedenken zu verdrängen. Fünf Stunden. Genug Zeit, um zu zeigen, wie viel sie wusste.
ANAXIMANDER: Die Geschichte beginnt am Ende des dritten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends. Wie in jedem Zeitalter mangelte es auch damals nicht an Weltuntergangspropheten. Erste gentechnische Versuche hatten große Teile der Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Die internationale Wirtschaft stützte sich noch auf Erdöl, doch man war sich einig, dass die Ölvorkommen bald zur Neige gehen würden.
Die Region, die damals als Naher Osten bezeichnet wurde, war politisch instabil und die Vereinigten Staaten - ich benutze der Einfachheit halber die damals üblichen Bezeichnungen - hatten sich in den Augen vieler in einen Krieg verstrickt, den sie nicht gewinnen konnten, gegen eine Kultur, die sie nicht verstanden. Sie gaben vor, die Demokratie zu verteidigen, doch ihre Definition war engstirnig und auf ihr System zugeschnitten, sodass sie sich schlecht übertragen ließ.
So nahm der Fundamentalismus auf beiden Seiten dieser Kluft zu, und als es im Jahr 2032 in Saudi-Arabien die ersten unmissverständlichen Anzeichen für westlichen Terrorismus gab, war dies in den Augen vieler der zündende Funke für ein Feuer, das nicht mehr gelöscht werden konnte. Europa wurde vorgeworfen, es habe seinen moralischen Kompass verloren, und die Unabhängigkeitskrawalle von 2047 galten als weiterer Beweis des säkularen Niedergangs. Die wachsende internationale Bedeutung Chinas und seine sogenannte »aktive Diplomatie« weckte bei vielen die Angst vor einem weiteren globalen Konflikt. Die wirtschaftliche Expansion bedrohte das ökologische Gleichgewicht der Erde, der Artenreichtum ging in nie da gewesenem Ausmaß zurück und die letzten Zweifler am Modell des Beschleunigten Klimawandels wurden durch die Sandstürme im Jahre 2041 eines Besseren belehrt. Mit anderen Worten: Die Welt stand vor vielen Herausforderungen und am Ende des fünften Jahrzehnts dieses Jahrhunderts war der öffentliche Diskurs von tiefem Pessimismus und einem Gefühl der Bedrohung geprägt.
Im Nachhinein ist man natürlich immer klüger. Von unserem jetzigen Standpunkt aus betrachtet steht jedenfalls fest, dass das Einzige, wovor sich die Bevölkerung wirklich fürchten musste, die Furcht selbst war. Die wahre Gefahr, die in jener Zeit für die Menschheit bestand, war das Schwinden ihrer Zuversicht.
PRÜFER: Definieren Sie Zuversicht.
Die Stimme des Prüfers hatte sich leicht verändert, so wie man es mit einem einfachen Filter bewerkstelligen konnte. Nur dass es keine Technologie war, die Anax hörte, sondern schlicht und einfach Beherrschung.
Jedes Zögern, jedes Aufflackern von Unsicherheit - nichts entging den Prüfern. Gewiss gab dies den Ausschlag für ihre Entscheidung. Anax fühlte sich plötzlich schwerfällig und unscheinbar. Sie hatte noch immer Perikles' letzte Worte im Ohr. »Sie wollen sehen, wie du auf die Herausforderung reagierst. Zögere nicht. Finde mit deinen Worten den Weg zum Verständnis. Vertraue den Worten.« Es hatte sich so einfach angehört. Nun spürte sie, wie sich ihre Gesichtsmuskeln anspannten, und sie musste sich einen Weg zu den Worten bahnen, so wie man im Gedränge nach einem Freund sucht, die Panik im Nacken.
ANAXIMANDER: Mit Zuversicht beziehe ich mich auf die vorherrschende Stimmung jener Zeit. Zuversicht ist die menschliche Fähigkeit, einer ungewissen Zukunft mit Neugier und Optimismus zu begegnen. Sie ist der Glaube daran, dass Probleme und Differenzen gelöst werden können. Sie ist eine Art Vertrauen. Und sie ist ein sehr zerbrechliches Gefühl. Furcht und Aberglaube können es leicht überschatten. Als der Konflikt im Jahr 2050 begann, war die Welt von Furcht und Aberglauben geprägt.
PRÜFER: Erzählen Sie uns mehr über diesen Aberglauben.
ANAXIMANDER: Aberglaube ist das Bedürfnis, die Welt in einfachen Zusammenhängen von Ursache und Wirkung zu sehen. Wie ich bereits erwähnt habe, nahm der religiöse Fundamentalismus stark zu, aber das ist es nicht, was ich mit Aberglaube meine. Der Aberglaube, der zu jener Zeit die Welt beherrschte, war der Glaube an einfache Ursachen.
Selbst das banalste Ereignis beruht auf einem Geflecht unzähliger Möglichkeiten und Verknüpfungen, doch diese Komplexität überfordert den menschlichen Verstand. Wenn in schwierigen Zeiten der Glaube an einfache Götter zerbricht, haben Verschwörungstheorien ein leichtes Spiel. So war es auch damals. Da die Menschen weder imstande waren, Unglücksfälle dem Zufall zuzuschreiben, noch dazu, ihre eigene Bedeutungslosigkeit im großen Ganzen zu akzeptieren, suchten sie nach Monstern in ihrer Mitte.
Je mehr die Medien die Angst anfachten, desto mehr verloren die Menschen die Fähigkeit, aneinander zu glauben. Für jedes neue Übel, das sie heimsuchte, fanden die Medien eine Erklärung und die Erklärung hatte immer ein Gesicht und einen Namen. Schließlich begannen die Menschen sich sogar vor ihren eigenen Nachbarn zu fürchten. Überall suchten sie nach Anzeichen für die Bosheit der anderen: beim Einzelnen, in der Gruppe und innerhalb des Landes. Und wohin sie auch blickten, immer entdeckten sie solche Anzeichen, denn wenn man sucht, dann findet man.
Darin bestand die wahre Herausforderung für die Menschen jener Zeit. Die Herausforderung, sich gegenseitig zu vertrauen. Und sie scheiterten. Das meinte ich vorhin, als ich sagte, dass die Zuversicht der Menschen schwand.
PRÜFER: Ich danke Ihnen für die Ausführungen. Kommen wir nun zurück zur Beschreibung der damaligen Zeit. Wie kam es zur Entstehung der Republik?
Es war genau, wie Perikles gesagt hatte. Der Klang ihrer eigenen Stimme trug Anax weiter. Deshalb war sie eine so gute Bewerberin. Ihre Gedanken folgten ihren Worten, jedenfalls sagte er das. »Jeder ist anders und das ist dein Talent.« Die Geschichte, die sie erzählte, kannte jeder. Zu oft schon war sie erzählt worden. Doch Anax hüllte sie in neue Worte und mit jeder neuen Schicht wuchs ihr Selbstvertrauen.
ANAXIMANDER: Der erste Schuss des Letzten Krieges wurde aufgrund eines Missverständnisses abgefeuert. Das war am 7. August 2050. Achtzehn Monate lang hatte die japanisch-chinesische Allianz versucht, ein Bündnis zur Bekämpfung der Erderwärmung zu schmieden. Durch die Emission von kühlenden Schwefelpartikeln sollte der Treibhauseffekt umgekehrt werden. Dass die Zusammenarbeit keine Fortschritte machte, lag an dem Misstrauen, das ich bereits erwähnt habe. Die USA blockierten die Initiative in dem Glauben, sie sei lediglich Teil eines größeren Plans mit dem Ziel, eine neue internationale Ordnung herbeizuführen. China wiederum glaubte, die USA trieben den Klimawandel absichtlich voran, um die chinesische Wirtschaft zu zerschlagen. Schließlich stellte China einen Plan für eine geheime unilaterale Maßnahme auf.
Das Flugzeug, das im Pazifik in amerikanischem Luftraum abgeschossen wurde, befand sich auf dem ersten Testflug zur Ausschüttung von Schwefelpartikeln, obwohl die USA, wie wir alle wissen, nie von ihrer offiziellen Erklärung abwichen, es habe sich um ein Militärflugzeug mit feindlichen Absichten gehandelt.
PRÜFER: Sie gehen besser davon aus, dass wir nichts wissen.
Anax senkte entschuldigend den Kopf und spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg. Sie wartete auf ein Zeichen, fortzufahren, aber nichts geschah. In jeder anderen Situation hätte sie sich über ihre Unhöflichkeit beschwert.
ANAXIMANDER: Platons Machtposition gründete auf seinem globalen wirtschaftlichen Interesse. Sein erstes Vermögen machte er mit Wasserstofftechnologie. Das wiederum investierte er gewinnbringend in der BioAufbereitungsindustrie. Durch seinen Reichtum und seine Beziehungen war Platon besser als die meisten in der Lage, den Ausgang eines eskalierenden Konflikts zwischen den Supermächten vorherzusehen. Da er schon immer ein vorsichtiger Mensch gewesen war, begann er, sein Geld auf eine Inselgruppe am Ende der Welt namens Aotearoa zu transferieren. Als der Krieg ausbrach, besaßen er und seine Gefolgsleute über siebzig Prozent der Volkswirtschaft der Insel und wandelten diese bereits in einen autarken, auf Hochtechnologie basierenden Staat um. Als sich die internationale Lage zuspitzte, konnte Platon die Bevölkerung seiner Wahlheimat davon überzeugen, dass sie ein besseres Verteidigungssystem brauchten. Elf Monate nach Beginn des Krieges, also 2051, wurde der Große Meereszaun der Republik fertiggestellt, der bis heute als herausragende Leistung des Ingenieurwesens im einundzwanzigsten Jahrhundert gilt.
Als am Ende des Jahres 2052 die ersten Seuchenerreger freigesetzt wurden, hatte sich die Republik bereits von der Welt abgekapselt. Platon wurde als Retter Aotearoas gefeiert, und als die Berichte aus der restlichen Welt immer düsterer wurden, galt er gar als Retter der Menschheit. Dann wurde im Juni 2053 die letzte Nachricht aus dem Ausland empfangen und schließlich glaubten die meisten Bewohner der Republik, ihre Insel sei das einzige noch bewohnbare Land des Planeten.
Natürlich rechnete man mit Flüchtlingen, und als sie kamen, wurden sie beseitigt. Flugzeuge wurden ohne jede Kontaktaufnahme abgeschossen und anfangs stellten sich die Leute noch auf die Klippen und sahen zu, wie die Geisterschiffe am Horizont explodierten, wenn sie durch das Minenfeld im Meer trieben. Allmählich wurden die Explosionen seltener und auch die Laserwaffen für den Luftraum mussten immer weniger eingesetzt werden. Daraufhin wandten sich die Menschen an Platon und baten ihn, sie in eine bessere Zukunft zu führen.
PRÜFER: Eine korrekte Zusammenfassung, Anaximander. Und dies ist dann also die Republik, in die Adam Forde, den Sie als Schwerpunktthema gewählt haben, geboren wurde. Ehe wir zu seinem außergewöhnlichen Leben kommen, können Sie uns bitte etwas über die Republik erzählen, die Platon erschuf?
ANAXIMANDER: Laut den Historikern versteht man die Republik am besten anhand ihres Leitspruchs »Vorwärts in die Vergangenheit«. Platon oder besser gesagt Platons Berater - denn die meisten glauben, dass Helena maßgeblich für die Gesellschaftsordnung der Republik verantwortlich war - predigten eine neue Form des Konservatismus. Danach sei es nur deshalb zum Niedergang gekommen, weil sich die Menschen zu weit von ihrem natürlichen Zustand entfernt hätten. Sie hatten sich unkritisch der Maxime des Wandels unterworfen und dabei das wesentlichste wissenschaftliche Gesetz außer Acht gelassen, dass nämlich Veränderung Verfall bedeutet. Platon erklärte den Menschen, sie könnten nur zum Ruhm der großen Zivilisationen zurückkehren, indem sie eine Gesellschaft schufen, die auf Stabilität und Ordnung gründete.
Platon nannte ihnen auch gleich die fünf großen Gefahren für die Ordnung: Unreinheit der Herkunft, Unreinheit des Denkens, Individualismus, Handel und Außenseiter. Seine Lösungen waren radikal, doch die Menschen hatten Angst und klammerten sich verzweifelt an seine Versprechungen. »Der Staat hat euch gerettet«, sagte Platon zu ihnen. »Nun ist es an euch, den Staat zu retten.«
Die Menschen wurden auf der Grundlage ihres Erbguts in vier Klassen unterteilt: Arbeiter, Soldaten, Facharbeiter und Philosophen. Kinder wurden unmittelbar nach der Geburt von ihren Eltern getrennt und erfuhren nie, wer ihre Vorfahren waren. Im Alter von einem Jahr wurde jedes Kind getestet und entweder einer Klasse zugeteilt oder eliminiert.
Alle Kinder unterlagen einer strengen Erziehung, sowohl körperlich als auch geistig. Ringen und Turnen waren Pflichtfächer, genauso wie Mathematik und Genetik. In den Sommermonaten blieben die Kinder unbekleidet, weil man glaubte, dies würde ihr Bedürfnis nach Individualität mindern.
Die besten Athleten konnten unabhängig von ihrem Erbgut von der Arbeiterklasse in die Klasse der Soldaten aufsteigen. Ebenso bestand für die besten Denker die Möglichkeit, in die Klasse der Facharbeiter aufzusteigen, aber niemals weiter. Die Klasse der Philosophen blieb den wenigen Auserwählten vorbehalten.
Männer und Frauen lebten voneinander getrennt und aßen und schliefen in ihren Arbeitsgemeinschaften. Liebesbeziehungen waren erlaubt, und sobald das Ministerium für Genetische Variation einem Paar die Genehmigung erteilte, durfte es sogar heiraten. Doch auch nach der Heirat lebten die Ehepartner weiterhin in ihren jeweiligen Gruppen und mussten sich Gutscheine verdienen, um Zeit miteinander verbringen zu können.
Ich glaube, damit wären die wesentlichen gesellschaftlichen Aspekte der frühen Republik zusammengefasst.
Anax begriff allmählich, dass sie keinerlei Bestätigung vonseiten des Gremiums erhalten würde. Trotzdem konnte sie nicht anders, als zu ihnen aufzublicken, so wie ein Schulkind in der ersten Woche zu seinem Lehrer oder seiner Lehrerin aufsah. Natürlich erhoffte sie sich kein Lob von ihnen, aber wenigstens eine Spur von Anerkennung. Doch sie war nicht in der Schule. Sie war in der Akademie.
PRÜFER: Wer ist Ihr Tutor, Anaximander?
ANAXIMANDER: Perikles. Die meiste Zeit jedenfalls. Natürlich wurde ich auch in der Schule unterstützt. Außerdem habe ich sehr viele eigene Nachforschungen angestellt, aber -
PRÜFER: Perikles.
Der Prüfer sprach den Namen aus, als übe er besondere Macht über ihn aus. Anax konnte nicht sagen, ob das gut oder schlecht war. Sie wartete auf die nächste Frage, in der Hoffnung, dass sie bald zu dem Thema kommen würden, bei dem sie sich am besten auskannte: Adam Fordes außergewöhnlichem Leben.
PRÜFER: Hat Platon Ihrer Meinung nach seine Ziele erreicht?
ANAXIMANDER: Das kommt darauf an, wie man seine Ziele definiert. Wenn es ihm um persönliche Macht und Status ging, was meiner Ansicht nach eine berechtigte Einschätzung seiner Motivation ist, dann war er zumindest zu seinen Lebzeiten in der Lage, erheblichen Einfluss auszuüben. Wenn Sie jedoch wissen wollen, ob es ihm gelungen ist, einen idealen Staat zu schaffen, in dem das Volk und die Gesellschaft ihr Potenzial am besten verwirklichen konnten, dann ist die Antwort weniger einfach. Vielleicht wäre es den Historikern leichter gefallen, Platon zu beurteilen, wenn es Adam Forde nie gegeben hätte.
Allein seinen Namen auszusprechen, entspannte sie. Drei lange Jahre hatte sie sich fast unaufhörlich mit Adam beschäftigt. Obwohl er lange vor ihrer Geburt gestorben war, hatte Anax das Gefühl, ihn so gut zu kennen wie sonst kaum jemanden. Sie hatte so viele Protokolle studiert, so viele Aufzeichnungen heruntergeladen. Am wichtigsten war jedoch, dass sie, wie Perikles es nannte, ein »Gespür für ihn« hatte. Wenn es ihr jetzt nicht gelang, die Prüfer zu beeindrucken, dann würde es ihr nie gelingen. Und dann - aber darüber wollte sie sich keine Gedanken machen. Sie hatte Perikles fest versprochen, nicht darüber nachzudenken.
Anax war noch niemandem begegnet, der seinen Namen aussprechen konnte, ohne angesichts seiner Bedeutung kurz innezuhalten. Die neuen Denker begannen, ihm einen geringeren Stellenwert beizumessen. »Es muss nichts Besonderes an dem Streichholz sein, das das Feuer entzündet«, pflegten sie zu sagen. »Bis auf die Tatsache, dass es das Streichholz ist, das das Feuer entzündet.« Doch auch sie hielten kurz inne, wenn sie seinen Namen aussprachen.
PRÜFER: Anaximander, zuerst möchte ich etwas über Adams Hintergrund erfahren. Wer waren seine Eltern, wie sahen seine ersten Lebensjahre aus? Jeder weiß, was an jenem Abend geschah, als er Wache hielt. Jedes Kind kann die Geschichte Wort für Wort wiedergeben, doch Adams Leben begann nicht an jenem Abend. Erzählen Sie uns, wie er der Mann wurde, der er war.
ANAXIMANDER: Adam wurde im Jahr 2058 geboren. Sein erstes Lebensjahr verbrachte er in der Tana-Kinderkrippe. Der Legende nach ersann seine Mutter eine Methode, mit der sie ihr Baby kennzeichnete, und ließ sich anschließend in seine Krippe versetzen, um in seiner Nähe zu sein, aber das ist wahrscheinlich nur eine Geschichte. Auch so ein typisches Beispiel für den verzweifelten Versuch, einfache Erklärungen für ein Ereignis zu finden. Für jene, die gerne verstehen möchten, was Adam zu dem machte, was er war, ist die Antwort »Alles und deshalb nichts« nicht leicht zu akzeptieren.
Was wir wissen, ist, dass Adam in die Klasse der Philosophen geboren wurde. Am Ende seines ersten Jahres wurde er den üblichen physiologischen Tests unterzogen und auch sein Erbgut wurde untersucht. Sein Entwicklungsstatus war zufriedenstellend, allerdings wurde eine Warnung in seine Akte eingetragen. Mindestens zwei genetische Marker deuteten auf die Möglichkeit unberechenbaren Verhaltens hin. Clarks legendäre Aktennotiz verwies gar darauf, die Elimination in Erwägung zu ziehen. Unter normalen Umständen hätte man Adam zwei Monate später noch einmal getestet. Doch im Jahre 2059 verbreitete die zweite große Seuchenwelle Angst und Schrecken, und als Clark starb, vernichtete man vorsichtshalber ihren vollständigen Nachlass, sodass der Test niemals wiederholt wurde. Als man den Fehler schließlich entdeckte, hatte Adam bereits seine ersten Sprachtests absolviert und Elimination kam nicht mehr infrage. In der allgemeinen Verwirrung, die hinsichtlich Adams Akte herrschte, wurde der Warnhinweis auf die genetischen Marker übersehen und die Information wurde niemals an die Schulbehörden weitergeleitet.
PRÜFER: Das heißt, er nahm ohne Umschweife die Ausbildung der Philosophen auf?
ANAXIMANDER: Ja. Laut Aufzeichnungen war er ein herausragender Schüler mit beeindruckenden Leistungen, insbesondere in Mathematik und Logik. Außerdem war er ein ausgezeichneter Ringer. Mit dreizehn Jahren trat er für seine Stadt beim jährlichen Wettkampf an. Bei diesem Turnier fiel zum ersten Mal seine individualistische Neigung auf, die schließlich zu seiner bedeutendsten Rolle führen sollte.
Er begegnete einem Mädchen namens Rebekah, das ebenfalls am Wettkampf teilnahm, und beschloss, dass sie Freunde sein sollten. Dass sie nicht in derselben Stadt oder auch nur auf derselben Insel lebten, kümmerte ihn nicht. Adam verbarg sich zwischen Rebekahs Mannschaftsgepäck und es gelang ihm, siebenhundert Kilometer weiter nach Süden zu reisen, als ihm erlaubt war. Mit Rebekahs Hilfe blieb er drei Tage lang unentdeckt, bis ihn ein Koch im Vorratsraum von Rebekahs Kommune erwischte.
Adam bekam einen negativen Vermerk und wurde nach Hause geschickt. Nach diesem Muster verlief auch sein weiteres Leben. Er hatte sich als streitlustiger, impulsiver Junge erwiesen, der keine Angst vor Bestrafung hatte und sich zum weiblichen Geschlecht hingezogen fühlte. Normalerweise wäre ein Jugendlicher bei einer solchen Überschreitung automatisch in die Arbeiterklasse versetzt worden, doch Adams Lehrerin setzte sich für ihn ein und bat um eine Ausnahme, da sie ihren Schüler für außergewöhnlich begabt hielt. Die zuständigen Behörden willigten ein und beschlossen, ihn stattdessen an eine Elite-Militärakademie der Republikanischen Wache zu schicken. Wenn man so will, hat diese Entscheidung die Geschichte für immer verändern.
PRÜFER: Gesetzt den Fall, wir glaubten an einfache Ursachen.
Anax errötete erneut. Schon wieder so ein dummer Patzer. Sie hatte gehört, man dürfe bei der Prüfung nicht mehr als zwei solcher Fehler machen. Aber wahrscheinlich war das auch nur wieder ein Gerücht, wie so vieles andere. Es war jedenfalls nicht der richtige Moment, um darüber nachzudenken. Sie hatte sich von der Geschichte mitreißen lassen. Perikles hatte sie gewarnt, dass dies passieren könne. Sie beschloss, sich Kommentare dieser Art zu verkneifen.
ANAXIMANDER: Was wir natürlich nicht tun. Verzeihung.
Keiner der Prüfer ging auf ihre Entschuldigung ein. Anax fragte sich, was wohl geschehen musste, um überhaupt eine Reaktion von ihnen zu bekommen. Ob sie zu Hause auch so waren?
PRÜFER: Schildern Sie uns, wie es zu Adams Verhaftung kam.
ANAXIMANDER: Adam war damals siebzehn Jahre alt. Man schrieb das Jahr 2075. Er hatte die Militärakademie mit Auszeichnung abgeschlossen und dort auch weiterhin begeistert Sport getrieben.
Da Sie mich gebeten haben zu schildern, wie es zur Verhaftung kam, möchte ich nur kurz erwähnen, dass er während seiner Ausbildung an der Akademie vier negative Einträge in seine Akte erhalten hatte, und das war auch der Grund, weshalb er einen Posten auf einem Wachturm an der Südküste der Nordinsel bekam. Inzwischen wurden nur noch vereinzelt Geisterschiffe gesichtet und die Gefahr, dass Flüchtlinge versuchen würden, hier an Land zu gehen, schien mittlerweile gebannt.
Im Norden hingegen sah die Situation ganz anders aus. Dort waren drei neuartige Fluggeräte gesichtet worden, was allerdings offiziell nicht bestätigt wurde. Wachposten hatten von einem Objekt berichtet, das gegen Abend am Horizont aufgetaucht sei und wie ein Luftschiff ausgesehen habe. Obwohl die Medien in der Republik streng kontrolliert wurden, sprach sich die Beobachtung wie ein Lauffeuer herum. Vorsichtshalber schickte man die besten Soldaten nach Norden und verstärkte das Training an den Laserwaffen und bei der Flugabwehr. Unterdessen mussten Soldaten wie Adam, die frisch von der Schule kamen und keine makellosen Zeugnisse vorweisen konnten, in den abgelegenen Türmen an der Südküste Wache schieben.
Adam hatte dort sieben Monate ohne ein einziges Vorkommnis Wache gehalten. Bei der Gerichtsverhandlung erklärte er, er habe sich zu Tode gelangweilt, und das ist wahrscheinlich keine Übertreibung.
Die Wachposten arbeiteten in Zweiergruppen; ihre Aufgaben waren genau festgelegt und wurden überwacht. Jeder Wachturm bestand aus einem kleinen Beobachtungsraum an der Spitze eines durch einen Elektrozaun gesicherten Metallgestells. Eine einzelne Leiter gewährleistete den Zugang.
Der Beobachtungsraum war so eng, dass sich die beiden Männer dort kaum umdrehen konnten. Ihre Aufgabe war einfach und klar. Sie mussten den Großen Meereszaun überwachen, einen riesigen Maschendrahtzaun, der sich fünfzig Meter hinter der Niedrigwassermarke befand und die komplette Insel umspannte. Der Zaun ragte dreißig Meter aus dem Meer. Seine Oberkante war mit Stacheldraht gesichert und er war von kleinen Seeminen gesäumt. Sobald die Wachmänner irgendetwas entdeckten, das sich dem Zaun von außen näherte, war ihr Auftrag unmissverständlich.
Handelte es sich um ein größeres Schiff, was äußerst unwahrscheinlich war, da die meisten durch die satellitengesteuerten Minen des vorgelagerten Verteidigungssystems abgefangen wurden, mussten die Wachmänner Alarm schlagen. Innerhalb von fünf Minuten schwebten Hubschrauber mit Laserwaffen über dem fremden Schiff und jeder Krankheitserreger, den es möglicherweise mitgebracht hatte, war vernichtet.
Was die kleineren Boote betraf, die gelegentlich dem Zaun mit zwei oder drei ausgemergelten Gestalten an Bord entgegentrieben, war die Aufgabe für die Wachposten anspruchsvoller. Als Erstes mussten sie der Sicherheitszentrale ihre Entdeckung melden. Dann musste einer von beiden den Wachturm verlassen und sich zum Schießposten begeben. Dort bediente er eine kleinere Laserwaffe, die mit einem Zufallscode gesichert war, den der Wachposten jeden Morgen auswendig lernen musste, und eliminierte das Objekt.
Der zweite Wachmann blieb so lange im Wachturm und zielte mit dem Gewehr auf den Hinterkopf seines schießenden Kollegen. Die Anweisungen waren eindeutig. Beim geringsten Anzeichen, dass der erste Wachmann bei der Ausführung seines Auftrags zögerte, musste ihn der zweite Wachmann ohne jede Rückfrage sofort erschießen. In Wachpostenkreisen kursierten viele Anekdoten darüber, wie ein Streit unter Wachleuten auf diese Weise endete, und deshalb wusste auch jeder, dass man sich nur mit seinem Kollegen anlegte, wenn man lebensmüde war.
PRÜFER: Und welcher Art war das Verhältnis zwischen Adam und seinem Kollegen?
ANAXIMANDER: Sämtliche Gespräche zwischen Wachposten wurden überwacht und aufgezeichnet. Deshalb haben wir eine Vorstellung von der Beziehung zwischen Adam und seinem Kollegen Joseph. An dieser Stelle möchte ich hinzufügen, dass die Wachposten während des Dienstes verpflichtet waren, an ihrem Computer verschiedene Tests zu absolvieren, um sicherzustellen, dass ihre Aufmerksamkeit nicht nachließ. Sie mussten zum Beispiel veränderte Computerbilder im Vergleich zum Echtbild korrigieren oder computergesteuerte Anweisungen auswendig lernen und wiederholen. Ich erzähle Ihnen das, weil ich, wenn Sie nichts dagegen haben, gerne ein Gespräch zwischen Joseph und Adam wiedergeben möchte, das am Tag vor dem entscheidenden Ereignis stattgefunden hat.
PRÜFER: Wenn Sie der Ansicht sind, dass dies für die Beantwortung der Frage von Belang ist.
Anax zögerte. Perikles hatte ihr versichert, es sei eine gute Idee, auch wenn auswendig gelernte Szenen ein einfacher Trick waren und viele Bücher, die auf die Prüfung vorbereiteten, davon abrieten, mit solchen Dingen seine Zeit zu verschwenden. Wollten sie Anax zu verstehen geben, dass sie es besser bleiben lassen sollte? Am besten machte sie sich einfach keine Gedanken darüber. Sie würde Perikles' Rat beherzigen. Er würde stolz auf sie sein.
ANAXIMANDER: Dieses Gespräch wurde um 18 Uhr 40 aufgezeichnet. Zwei Stunden nach Beginn der Acht-Stunden-Schicht.
J Siehst du was?
A Ja.
J Was?
A (mit erhobener, Stimme) Ein riesengroßes Schiff, das genau auf den Zaun zusteuert. Jetzt steigt es sogar aus dem Wasser. O mein Gott, es kann fliegen, wir haben es mit einem fliegenden Schiff zu tun! Sie haben Waffen. Sie zielen genau auf unsere Köpfe. Großer Gott, wir werden alle sterben!
J Okay, war nur eine Frage. Du weißt schon, dass unsere Gespräche aufgezeichnet werden?
A Die hört sich kein Mensch an.
J Woher willst du das wissen?
A Glaubst du nicht auch, dass schon längst jemand etwas zu mir gesagt hätte, wenn sie sich den Mist, den ich hier verzapfe, tatsächlich anhören würden?
J Mensch, du bist wirklich ein Genie.
A Ich weiß.
J Du musst jetzt einmal auf Gelb drücken und dann auf Orange.
A Ich weiß. Ich warte noch ein bisschen.
J Mach schon, bevor es so kompliziert wird, dass du es dir nicht mehr merken kannst.
A Orange, dann Blau, dann Grün und jetzt pass auf, zweimal Orange. Ich glaube, das schaffe ich.
J (aufgeregt) Drück endlich auf die Tasten!
A Drück du sie doch.
J Das ist nicht erlaubt. Es sind deine Tasten.
A Wer soll das schon wissen?
J Ich.
A Mach schon.
J Ich weiß die Reihenfolge aber nicht mehr.
(Ein lautes Summen ertönt.)
J Das ist der Zehn-Sekunden-Warnton. Adam, das ist nicht fair! Wir werden beide bestraft.
A Wir werden nicht bestraft.
J Drück auf die Tasten!
A Schon gut. (absichtlich langsam) Ich mach ja schon. Gelb, Orange, Blau, Grün, Orange, Orange, Grün, Gelb und kommt jetzt Rot oder Grün, weißt du das?
J Ich bring dich um! Ich schwör's!
A Rot.
(Das Summen hört auf.)
A Siehst du, du hast dich umsonst aufgeregt.
J Warum machst du das immer?
A Weil ich mich langweile. Das hält mich wach.
(Schweigen. Man hört nur das Tippen auf der Tastatur.)
J Glaubst du, da draußen ist noch jemand?
A Wie lange machst du das hier schon?
J Seit fünf Jahren.
A Auf wie viele musstest du schießen?
J Auf drei oder vier. Aber das waren nur harmlose kleine Boote. Ich meine, du weißt schon...
A Angeblich haben sie im Norden vor Kurzem neue Luftschiffe gesehen.
J Ich dachte, das wäre nur eine Geschichte.
A Alles ist nur eine Geschichte.
J Wie lange ist das mit der Seuche jetzt schon her? Diejenigen, die noch übrig sind, sind bestimmt immun, oder? Das heißt, sie regenerieren sich langsam wieder. Das könnte doch sein.
A Oder es dauert nur sehr lange, bis sie sterben.
J Die letzten, die ich gesehen habe, sahen nicht besonders krank aus.
A Du weißt schon, dass unsere Gespräche aufgezeichnet werden?
J (besorgt) Aber du hast gesagt, dass niemand sie anhört.
A Es sei denn, es passiert etwas.
J Was meinst du mit etwas?
A Ich könnte durchdrehen und dich erschießen.
J Dann ist es mir sowieso egal, ob sie sich die Gespräche anhören oder nicht.
A Also brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.
J Und glaubst du, dass sie sich wieder regenerieren?
A Fragst du dich jemals, warum die Leute nie zurückschießen? Ich glaube, der Krieg und die Seuche haben sie in ihrer Entwicklung um tausend Jahre zurückgeworfen. Ich glaube, die neuen Luftschiffe, die sie sehen, sind nur große Ballons. Das ist wahrscheinlich alles, wozu sie imstande sind.
J Weißt du, auf was ich jetzt gerade Lust habe?
A Worauf denn?
J Auf eine Cola.
A Darauf bin ich nicht so scharf.
J Das verstehe ich nicht. Du hast doch bei den öffentlichen Feiern bestimmt auch welche bekommen.
A Es ist nur ein Getränk.
J Weißt du, dass das Rezept beinahe verloren gegangen wäre? Erst kurz bevor alle Verbindungen abgebrochen wurden, hat jemand daran gedacht, es sich zu besorgen. Alle anderen sind einfach davon ausgegangen, dass es bestimmt jemand kennt.
A Du glaubst auch wirklich alles. Es ist nur ein Getränk.
J Es ist nicht nur ein Getränk ... Worauf hättest du denn Lust?
A Auf eine Frau.
J Eine Frau?
A Ja, hier und jetzt sofort. Du könntest zusehen. Wie oft siehst du deine Frau?
J Du weißt, dass wir darüber nicht reden dürfen.
A Es gibt viele Dinge, die wir nicht tun dürfen, Joseph. Weißt du was? Ich wette, ich habe mehr Zeit mit Frauen verbracht als du. Und ich bin nicht einmal verheiratet.
J Du gibst nur an.
A Du hast recht, Joseph. Ich gebe nur an.
An dieser Stelle endet das überlieferte Gespräch.
PRÜFER: Und was zeigt uns dieses Gespräch Ihrer Meinung nach?
ANAXIMANDER: Es sagt etwas über Adams Charakter aus.
PRÜFER: Etwas Bewundernswertes?
ANAXIMANDER: Etwas Wichtiges.
PRÜFER: Warum ist es mehr als belangloses Gerede?
Zwei gelangweilte Männer, die sich die Zeit vertreiben.
ANAXIMANDER: Es zeugt von Persönlichkeit.
PRÜFER: Erläutern Sie das näher.
ANAXIMANDER: Adam ist der jüngere Wachmann von beiden. Joseph ist der dienstältere und verfügt über mehr Erfahrung. Wenn man sich jedoch das Gespräch anhört, könnte man meinen, es wäre umgekehrt. Ich glaube, Adam geht in jeder Situation von seiner eigenen Überlegenheit aus. Das ist sehr wichtig. Es ist Teil des Problems.
PRÜFER: Erzählen Sie uns, was dann geschah.
ANAXIMANDER: Am nächsten Tag haben sie das Boot gesehen. Laut den Aufzeichnungen begannen Joseph und Adam ihre Schicht um 15 Uhr 30. Es war ein warmer und sonniger Tag. Das Meer war ruhig. Ihr Wachturm befand sich über einer Klippe mit Blick über die Meeresenge auf die Südinsel. Ihr Überwachungsbereich erstreckte sich über zehn Seemeilen. An einem Tag wie diesem konnte man den nächsten Wachturm weiter nördlich mit bloßem Auge erkennen. Laut Protokoll hielt Joseph Wache, während Adam die Geräte überwachte, dennoch war es Adam, der zuerst etwas entdeckte.
A Na also, endlich mal was Neues.
J Was soll das denn schon wieder heißen?
A Augen rechts, mein Freund. Siehst du's?
J Was soll ich sehen?
A Ich dachte, man muss einen Sehtest machen, ehe man diesen Posten bekommt?
J Mit meinen Augen ist alles in Ordnung.
A Dann muss es etwas mit dem Gehirn zu tun haben.
J Okay, jetzt sehe ich es. (mit erhobener Stimme) Ich sehe es!
A Schon gut. Beruhige dich.
J Gib Alarm.
A Es ist winzig.
J Ich weiß nicht.
A Dann schau auf deinen Bildschirm, du Idiot.
J Du weißt schon, dass dieses Ding hier geladen ist?
A Du weißt schon, dass es Verrat ist, einen Kameraden zu bedrohen?
J Sie würden es mir verzeihen.
A Nein, es ist winzig. Da sind höchstens zwei oder drei Personen drin. Sei froh, dass du deine Kugeln nicht für mich verschwendet hast.
J Laut Dienstplan bist du dran.
A Umso besser.
Die beiden Männer blickten abwechselnd auf ihren Kontrollbildschirm und auf das Meer vor ihnen. Das Bild wurde klarer. Es war tatsächlich ein kleines Boot. Ein Wachposten vom südlichsten Turm meldete sich über eine knisternde Leitung bei ihnen.
W Habt ihr das gesehen?
J Klar, Ruth, es gehört uns.
W Schnappt sie euch.
A Da ist nur einer drin.
J Sei trotzdem vorsichtig. Vielleicht verstecken sich noch andere.
A Hast du jemals gehört, dass sie sich versteckt hätten?
J Möglich wäre es. Das ist alles, was ich damit sagen wollte. Bist du bereit? Dann leg mal los. Ich konzentriere mich so lange auf deinen Hinterkopf.
A Warte noch einen Augenblick.
J Du musst es jetzt tun.
A Ich will nur sehen, womit ich es zu tun habe.
J Ich sag dir Bescheid, wenn ich etwas Ungewöhnliches sehe.
A Nur noch eine Sekunde.
Adam starrte gebannt auf den Bildschirm. Das verstieß gegen die Vorschrift. Der zuständige Schütze musste den Wachturm verlassen, ehe das Zielobjekt identifiziert werden konnte. Sobald der Soldat sah, womit er es zu tun hatte, musste ihm bewusst sein, dass eine Waffe auf seinen Hinterkopf gerichtet war. Eine äußerst sinnvolle Regelung. Ein Soldat konnte noch so gut ausgebildet sein, es bestand immer die Möglichkeit, dass er zögerte, wenn er ein hilfloses Opfer erschießen sollte. Und in einer Zeit der Seuchen durfte der Staat kein Risiko eingehen.
J (während er zu seiner Waffe greift) Du weißt, wie meine Anweisungen lauten.
A O Gott, sieh doch nur. Es ist ein Mädchen. Nur ein kleines Mädchen. Wo zum Teufel kommt das her?
Beide starrten auf den Bildschirm. Das Boot war wirklich winzig. Es war schwer zu glauben, dass es überhaupt so weit gekommen war. Adam sah ihr in die Augen. Zumindest sagte er das später vor Gericht aus. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie verständnislos auf den riesigen Metallzaun, der vor ihr aus dem Meer ragte. Das provisorische dreieckige Segel ihres kleinen Bootes hing in Fetzen herunter. Das Boot schaukelte gefährlich nahe an den Seeminen vorbei.
J (mit zitternder Stimme) Mensch, geh jetzt endlich da raus. Bitte. Sonst muss ich dich erschießen.
A Joseph, es gibt da etwas, das ich dir hätte sagen sollen.
J Was denn?
A Ich habe das noch nie zuvor getan.
J Aber ich habe deine Akte gesehen.
A Die habe ich gefälscht.
J Wie denn?
A Es ist besser, wenn du das nicht weißt.
J Na schön, dann ist es heute eben dein erstes Mal. Keine Angst. Es ist gar nicht so schwer. Es ist genau wie beim Training. Sobald du das Ziel anvisiert hast, musst du nicht einmal hinschauen.
A Ich glaube, ich kann das nicht.
J Aber du hast keine Wahl.
A Es ist doch nur ein Mädchen.
J Ich werde dich erschießen, wenn es sein muss.
A Lass mich lieber zusehen.
J Wie meinst du das?
A Mach du es. Und ich sehe dir dabei zu. Wenn ich dieses Mal zuschaue, kann ich es beim nächsten Mal bestimmt selbst machen. Ganz sicher. Komm schon, das ist immer noch leichter, als mich zu erschießen.
Joseph gab ihm recht. Es war einfacher, eine Fremde zu töten, die schon halb tot und womöglich mit einem gefährlichen Virus infiziert war, als seinen Kollegen kaltblütig in diesem winzigen Raum zu erschießen. Es war die einzige Alternative. Adam wusste das. Vor Gericht sagte er später aus, er sei sich ganz sicher gewesen, dass Joseph zustimmen werde. Immer wieder betonten die Medien, wie kaltblütig und berechnend er gehandelt habe.
PRÜFER: Ist das Ihre Meinung? Halten Sie die Tat auch für kaltblütig?
Endlich eine Frage, die Anaximander vollständig beantworten konnte. Das war ihr Spezialgebiet.
ANAXIMANDER: Für das, was als Nächstes geschah, gibt es zwei mögliche Interpretationen, obwohl Adam darauf beharrte, dass die Version, die er bei seiner Verhaftung zu Protokoll gab, die einzig wahre sei.
Er saß im Wachturm und richtete seine Waffe den Vorschriften entsprechend auf seinen Kollegen. Er beobachtete, wie Joseph zur Laserabwehr ging und diese auf das Boot richtete. Er hatte noch nie gesehen, wie jemand erschossen wurde, und während ein Teil von ihm den Blick abwenden wollte, spürte er gleichzeitig eine grausame Faszination. Er ließ Joseph nicht aus den Augen und sah zu, wie dieser den Sicherheitscode eingab und die Laserwaffe lud. Dann warf Adam vorschriftsgemäß einen Blick auf den Bildschirm, um sicherzugehen, dass die Passagiere an Bord des Bootes keine unmittelbare Gefahr für seinen Kollegen darstellten. Und so kam es, dass er ihr noch einmal in die Augen sah, und dieses Mal konnte er nicht wegsehen. Sie war etwa sechzehn Jahre alt, nur ein Jahr jünger als er selbst. Ihr Gesicht war ausgemergelt nach drei Monaten auf See, sie war abgemagert und dem Tode nah.
Adam zoomte auf ihr Gesicht. Das bestätigen die Aufzeichnungen. Er sah ihren Gesichtsausdruck: Verwirrt blickte sie auf den riesigen Zaun, den sie nur noch verschwommen wahrnahm. Das tödliche Ende ihrer langen Reise.
Adam erklärte später, die Erkenntnis habe ihn wie der Blitz getroffen. Er habe nicht die Entscheidung gefällt zu schießen. Vielmehr hallte plötzlich der Schuss seiner Waffe in dem Raum wider. Er blickte zur Laserabwehr und sah seinen zusammengesunkenen Kollegen mit einer Schusswunde im Hinterkopf.
Sofort meldete sich die Sicherheitszentrale. Adam war kurz davor, in Panik auszubrechen.
s Wir haben einen Schuss verzeichnet. Wir bitten um sofortige Berichterstattung.
A Hier spricht Adam. Joseph ist tot. Vor dem Zaun befindet sich ein kleines Boot mit einem Mädchen an Bord. Joseph hat gezögert, Sir.
s Und es ist sicher nur ein einziger Passagier?
A Ja, Sir.
s Dann müssen Sie die Sache erledigen, Adam.
A Ich weiß, Sir.
s Berichten Sie uns, sobald Sie Ihre Aufgabe erledigt haben. Wir schicken Ihnen einen Ersatzmann. Ich gratuliere Ihnen, Adam. Die Republik dankt Ihnen.
A Danke, Sir.
Adam wusste, dass er nicht viel Zeit hatte. Sie warteten auf das Abfeuern der Laserwaffe.
Er zwängte sich an seinem gefallenen Kollegen vorbei und kletterte den schmalen Pfad zum Meer hinunter. Das kleine Boot schaukelte auf den Wellen und konnte jeden Moment gegen eine Seemine stoßen. Adam winkte, um das Mädchen auf sich aufmerksam zu machen. Er hatte keine Ahnung, ob sie ihn hören konnte oder ob sie überhaupt seine Sprache sprach.
»Kannst du schwimmen?«, rief er. »Kannst du schwimmen?«
Sie sah ihn an, ohne etwas zu erwidern. Sie war so weit weg, dass Adam ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte.
Er rief noch einmal. »Du musst aus dem Boot raus! Schwimm da entlang. Richtung Norden!« Er deutete in die Richtung. »Ich komme gleich zu dir. Es gibt eine Stelle, an der ich dich hereinlassen kann. Ein kleines Tor. Warte dort auf mich. Und du darfst auf keinen Fall die Bojen berühren, hörst du? Ich muss jetzt dein Boot zerstören. Bitte gib mir ein Zeichen, damit ich weiß, dass du mich verstanden hast.«
Er spähte zu ihr hinüber und wartete ungeduldig auf eine Reaktion. Nichts. Er winkte noch einmal. Das Mädchen winkte unsicher zurück, eine scheue Geste, die alles Mögliche bedeuten konnte. In der verzweifelten Hoffnung, dass sie ihn verstanden hatte, kehrte Adam zum Schießstand zurück. Die Laserwaffe war noch geladen. Er schob Joseph beiseite und warf einen prüfenden Blick auf das Boot. Das Mädchen war verschwunden. Hatte sie seine Anweisungen verstanden oder war sie nur vor Erschöpfung umgekippt? Er konnte es nicht sagen. Er feuerte und sah zu, wie das Boot in einem Wirbel aus schäumendem Wasser verdampfte.
Adam meldete sich bei der Sicherheitszentrale. Die Meldung war nüchtern, aber seine Stimme zitterte. »Hier spricht Adam, Wachturm 621N. Auftrag erledigt. Objekt eliminiert.«
»Gut gemacht, Adam. Der Ersatzmann wird in zehn Minuten da sein. Bleiben Sie an Ihrem Platz. Wir kümmern uns um die Leiche.«
»Danke, Sir.«
Doch Adam blieb nicht an seinem Platz. Im Meereszaun befanden sich in regelmäßigen Abständen kleine Wartungstore. Diese waren mit einem ferngesteuerten Schließmechanismus gesichert und konnten theoretisch nur geöffnet werden, wenn der Techniker vor Ort und der zuständige Kollege in der Sicherheitszentrale des Verteidigungszentrums gleichzeitig den Code eingaben.
Adam wusste, wie man das System überlisten konnte, obwohl er zuerst behauptete, das Tor habe einfach nicht richtig funktioniert. Die Frage, wie er an die notwendige Information gelangt war, löste eine heftige Debatte aus, aber man darf nicht vergessen, dass Adam ein wissbegieriger und schlauer junger Mann war. Deshalb kann ich mir gut vorstellen, dass er während seiner Ausbildung Informationen aufschnappte, an die ein gewöhnlicher Soldat nicht herangekommen wäre.
Andere haben darauf verwiesen, dass Adam bei Frauen sehr beliebt war, und so kann man in einer Gesellschaft, in der Beziehungen grundsätzlich im Verborgenen geführt wurden, nicht ausschließen, dass er auf diesem Wege an inoffizielle Informationen gelangt ist. Manche Historiker gehen sogar so weit, festzustellen dass seine Ringerbekanntschaft Rebekah später Expertin für elektronische Sicherheit wurde. Sie vermuten, die beiden seien möglicherweise in Kontakt geblieben, obwohl das nie bewiesen werden konnte.
Wie dem auch sei, jedenfalls ist es Adam gelungen, das Wartungstor zu öffnen. Er rannte über das felsige Ufer und schwamm bis zum Zaun. Das war alles andere als einfach. Zwar war die See an diesem Tag ungewöhnlich ruhig, doch die Tore befanden sich an den unzugänglichsten Stellen des Zauns.
Später berichtete Adam, zuerst habe er geglaubt, er komme zu spät. Das Mädchen hatte sich auf der anderen Seite des Zauns festgeklammert, doch ihr Körper war halb untergetaucht und ihr Kopf auf die Brust gesunken. Er berichtete von dem Moment, als sie aufsah und sich ihre Blicke durch den Maschendraht trafen. Er schilderte, wie er sie durch das Tor zog und sie zum Ufer zurückschleppte. Sie sprach kein Wort, aber angesichts der Tatsache, dass sie nicht im Boot war, wusste er, dass sie ihn verstanden hatte.
Er brachte sie in eine kleine Höhle am Fuße der Klippen, in der er sie sicher verstecken konnte. Er gab ihr einen Rationsriegel von seinem Gürtel und versprach ihr, bald wiederzukommen. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Felswand, und ehe sie die Augen schloss, lächelte sie ihm dankbar zu. Zumindest hat er das so erzählt.
Der Ersatzmann fand ihn schließlich im Schießstand, schluchzend und nass bis auf die Knochen über seinen toten Freund gebeugt. Josephs Ersatz hieß Nathaniel und war ein gutherziger Mann, der kurz vor der Pensionierung stand. Er nahm an, der junge Wachmann wäre an der Ausführung seiner Befehle zerbrochen, und versprach ihm, niemandem etwas von dem zu erzählen, was er gesehen hatte. Adam dankte ihm und hielt weiter Wache.
In der Nacht kehrte er in die Höhle zurück und brachte Wasser, Essen und Decken mit. Bis zum nächsten Abend war das fremde Mädchen schon wieder so weit zu Kräften gekommen, dass es sich aufsetzen und ihm in stockendem Englisch seine Geschichte erzählen konnte.
PRÜFER: Sie haben vorhin erwähnt, es gebe zwei Versionen dieser Geschichte. Erzählen Sie uns mehr über die zweite Variante.
ANAXIMANDER: Die Ermittler haben Adams Geschichte von Anfang an misstraut: seine detaillierten Kenntnisse der Sicherheitsmechanismen und des Geländes, die Geschicklichkeit, mit der er den Ersatzmann zu täuschen vermochte, und die Art und Weise, wie er Joseph manipuliert hatte. Deshalb glaubten einige Ermittler, die gesamte Aktion einschließlich der Ankunft des Mädchens sei von langer Hand geplant gewesen. Die Tatsache, dass die Sicherheitsvorkehrungen unterlaufen worden waren, löste großes Entsetzen aus und ließ die absurdesten Theorien entstehen.
PRÜFER: Die Sie jedoch für unzutreffend halten?
ANAXIMANDER: Die Geschichte hat uns immer wieder gezeigt, wie sinnlos Verschwörungstheorien sind. Komplexität verursacht Fehler und je mehr Fehler geschehen, desto größer werden unsere Vorbehalte.
PRÜFER: Sie klingen wie Perikles.
ANAXIMANDER: Die Worte mögen von ihm stammen, doch die Gefühle sind meine eigenen. In Adams Fall halte ich es für klüger zu glauben, dass sich alles so abspielte, wie er gesagt hat. Eine einfache menschliche Reaktion auf eine unerwartete Situation. Die Verschwörungstheorie würde nahelegen, dass alles nur so und nicht anders passieren konnte. Dass das gesamte Ereignis im Voraus geplant und bis ins Kleinste überwacht wurde. Doch bei dem Boot handelte es sich um kaum mehr als eine Nussschale. Wie fand es den Weg zu genau dem richtigen Wachturm zur genau richtigen Zeit? Und wie wurden die detaillierten Informationen, die ein solches Unterfangen voraussetzt, jemals übermittelt? Dazu gibt es keinen einzigen vernünftigen Vorschlag. Obwohl die Reaktion der Sicherheitszentrale auf den Vorfall größtenteils festgelegt war, gab es genügend Spielraum für Abweichungen. Je nachdem, wie schnell Ersatzpersonal zur Verfügung stand, konnte es unterschiedlich lange dauern, zu Adams Wachturm zu gelangen. In diesem Fall brauchten sie fünfzehn Minuten, aber es hätte genauso gut auch zwei Minuten oder eine Stunde dauern können. Hätte Adam die Rettung des Mädchens im Voraus geplant, hätte er mit Sicherheit Proviant, Kleidung und Medikamente bereitgestellt. Doch wie wir wissen, erweckte Adam unter anderem dadurch Verdacht, dass er in aller Eile die besagte Ausrüstung zusammenstellte. Nein, ich glaube, es war so, wie Adam gesagt hat. Er sah ihr in die Augen und hatte das Gefühl, handeln zu müssen.
PRÜFER: Und musste er?
ANAXIMANDER: Ich glaube, darüber muss sich jeder Einzelne eine eigene Meinung bilden.
PRÜFER: Eine Fremde kommt aus einem Land, von dem man weiß, dass dort die schlimmste Seuche der Menschheitsgeschichte grassiert. Es gibt strikte Vorschriften, was in einer solchen Situation zu tun ist. Adam jedoch beschließt aus einer sentimentalen Laune heraus, seinen Freund zu töten und die Sicherheit seines Landes aufs Spiel zu setzen. Haben wir Sie richtig verstanden, dass Sie glauben, man könne dieses Verhalten unterschiedlich beurteilen?
Anax zögerte. Auf diese Art von Fragen war sie nicht vorbereitet. Ihr Spezialgebiet war Geschichte und nicht Ethik. Sie konnte erklären, wie man die einzelnen Elemente von Adams Geschichte zu einem Ganzen zusammengefügt hatte, aber sie kannte keine Methode, mit der man diese Geschichte beurteilen sollte. Natürlich hatte sie ihre eigene Meinung. Die hatte jeder. Wer hatte diese Diskussion nicht geführt: zu Hause, in der Schule, im Freizeitzentrum? Aber sie war nicht darauf vorbereitet, sie zu verteidigen, nicht offiziell. Sie war nicht dazu qualifiziert. Perikles hatte ihr geraten, jede Frage möglichst vollständig und wahrheitsgemäß zu beantworten. Er hatte ihr gesagt, sie würden versuchen, sie zu verunsichern, und sie mit unerwarteten Perspektiven überraschen. Sie wog jedes Wort ab.
ANAXIMANDER: Ich glaube, jeder weiß, dass viele in der Gemeinschaft Adam Sympathie entgegenbringen. Und das ist auch kaum verwunderlich, wenn man bedenkt, welche entscheidende Rolle er in unserer Geschichte gespielt hat. Ich halte es für verständlich, dass manche in ihm einen Helden sehen. Ich glaube, das sagt uns eine innere Stimme.
PRÜFER: Und sagt Ihnen Ihre innere Stimme das auch?
ANAXIMANDER: Ich meinte damit, dass wir alle diese innere Stimme haben. Was Sie vermutlich wissen möchten, ist, ob ich es für richtig halte, auf diese Stimme zu hören oder sie zu kontrollieren. Adam hatte Mitleid mit dem hilflosen Mädchen. Man hatte ihm befohlen, dieses Mitleid zu ignorieren, und die Gründe für diese Anweisung waren sehr vernünftig. Auch wenn er vielleicht glaubte, dass die Bedrohung durch die Große Seuche vorüber war, war es unvernünftig, eine Entscheidung von solcher Tragweite für die Nation ganz allein zu treffen. Er war kein Virologe. Dennoch glaube ich, dass jene, die Adams Verhalten nachvollziehen können, instinktiv begreifen, wie wichtig Mitgefühl ist. Damit eine Gesellschaft erfolgreich funktionieren kann, ist vielleicht ein Maß an Mitgefühl nötig, das nicht korrumpiert werden kann.
Zum ersten Mal war bei allen drei Prüfern eine Veränderung erkennbar. Sie strafften sich. Der mittlere wirkte noch bedrohlicher. Ihre Augen glühten.
PRÜFER: Wollen Sie damit sagen, eine von der Seuche zermürbte Gesellschaft ist besser als eine von Gleichgültigkeit zerrüttete Gesellschaft?
ANAXIMANDER: Das ist eine gute Art, die Frage zu formulieren.
PRÜFER: Und wie lautet Ihre Antwort?
ANAXIMANDER: Ich glaube, in Anbetracht der damaligen Umstände kann man Adams Verhalten und seine romantische Verklärung unmöglich gutheißen, obwohl wir angesichts unserer Geschichte allen Grund haben, ihm dankbar zu sein.
Stille. Sie wollten noch mehr von ihr hören, doch Anax wusste, dass sie gerade noch einmal davongekommen war, und schwieg. Sie war fest entschlossen, nicht noch einmal in die Schusslinie zu geraten.
PRÜFER: Eine interessante Antwort.
ANAXIMANDER: Es war eine interessante Frage.
PRÜFER: Bestimmt haben Sie die Zeit mit verfolgt. Die erste Stunde der Prüfung ist vorüber. Wir werden Sie gelegentlich bitten, draußen zu warten, damit das Gremium beratschlagen kann.
ANAXIMANDER: Soll ich jetzt hinausgehen?
PRÜFER: Wenn Sie nichts dagegen haben.
ANAXIMANDER: Und was ist mit der Zeit?
PRÜFER: Die wird so lange angehalten.
Anax spürte, wie die Türen hinter ihr aufglitten. Wieder eine unerwartete Entwicklung. Eine Stunde hatte sie hinter sich. Bleiben noch vier, sagte sie sich. Ruhe bewahren.
Neben der Tür des Wartezimmers stand ein Wachposten, vermutlich um sicherzugehen, dass sie mit niemandem draußen Kontakt aufnahm. Er war älter als sie. Sie lächelte ihm zu. Er wandte sich ab.
Anax versuchte, die Zeit für sich zu nutzen. In Wahrheit war die Unterbrechung genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Sie hatte sie angelogen. Sie hatte es erst gemerkt, als sie gezwungen war, es laut auszusprechen, und das Gefühl war so merkwürdig, dass es den Prüfern kaum entgangen sein konnte. Ja, Adams Verhalten war romantisch gewesen, unvernünftig, unvertretbar. Und doch, als Anax gezwungen war, Position zu beziehen, hatte sie gelogen.
Sie wusste nicht, ob sie genauso gehandelt hätte, wenn sie an seiner Stelle im Wachturm gesessen hätte. Sie wusste nur, dass das, was Adam getan hatte, nicht falsch war. Sie versuchte, das neue und gefährliche Wissen zu verdrängen und sich auf den weiteren Verlauf der Prüfung zu konzentrieren. Bestimmt sollte sie als Nächstes die Einzelheiten von Adams Verhaftung und der Verhandlung schildern. Sie rief sich noch einmal ins Gedächtnis, dass sie gut vorbereitet war. Wie viel es ihr bedeutete, die Prüfung zu bestehen, und welches Gesicht Perikles machen würde, wenn sie ihm das Ergebnis mitteilte.
»Wissen Sie, wie lange sie einen hier draußen warten lassen?«, fragte Anax, nachdem eine halbe Stunde vergangen war, ohne dass sie etwas von den Prüfern gehört hatte. Der Wächter drehte sich zu ihr um. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er nicht damit gerechnet hatte, von ihr angesprochen zu werden.
»Woher soll ich das wissen?« Seine Stimme klang unerwartet sanft und leise. Überhaupt nicht wie die Stimme eines Wachpostens. »Ich dachte nur, wenn Sie das hier öfter machen ...« »Aber ich war noch nie hier«, erwiderte er. »Ich bin heute zum ersten Mal da.« »Aber Sie bewachen mich doch, oder?« »Wie bitte?« Er sah sie verständnislos an. »Sie sind doch ein Wächter, oder nicht? Sie sind hier, damit ich nicht versuche, jemanden zu kontaktieren.«
»Wie sollte das gehen?«, antwortete er. »Das Gebäude wird komplett überwacht. Sämtliche elektronischen Verbindungen sind unterbrochen.«
»Ich weiß. Ich dachte nur, Sie seien eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme.« Der Wächter brach in schallendes Gelächter aus »Was ist denn?«, fragte Anaximander. »Was ist so komisch?«
»Weil ich das Gleiche über dich gedacht habe«, antwortete er.
Erst jetzt bemerkte sie die zweite Tür. »Dann bist du auch ...«
»Genau. Da drin.«
»Und wie läuft es?«
»Schwer zu sagen. Ich habe nicht gedacht, dass es diese Pausen gibt.«
»Ich auch nicht. Macht einen ganz schön nervös, was?«
»Ein bisschen.«
»Ich heiße übrigens Anax.«
»Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Sokrates. Sok.«
»Was ist dein Spezialthema?«
»Meinst du, wir sollten darüber reden?«
»Hätten sie uns in denselben Raum geschickt, wenn sie das nicht wollten?«
»Vielleicht beobachten sie uns«, meinte Sok.
Anax mochte ihn. Sie konnte andere gut auf den ersten Blick einschätzen. Sein Verhalten war freundlich, Er war bestimmt sehr nett. »Haben sie dir schwierige Fragen gestellt?«, fragte Anax.
»Die meisten waren in Ordnung«, antwortete er. »Nur eine Frage zu Ethik hat mich ein bisschen aus dem Konzept gebracht. Das ist nicht mein Spezialgebiet. Vielleicht sagt das schon alles.«
»Bei mir war es genauso«, sagte Anax.
Das schien ihn zu beruhigen. Sok betrachtete Anax forschend, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen. Dann beugte er sich plötzlich zu ihr vor und Anax zuckte überrascht zurück. Er senkte seine Stimme zu einem fast lautlosen Flüstern.
»Sei vorsichtig«, raunte er. »Sie wissen mehr, als du glaubst.«
Er lehnte sich wieder zurück und sah sie an, doch sie antwortete ihm nicht. Er war ein Fremder. Für wen hielt er sich? So ein Risiko einzugehen! Wie um die Gefahr noch zu verdeutlichen, glitt in diesem Moment die Tür hinter ihr auf.
Anax vermied es, Sok anzusehen, und ging schweigend in den Prüfungsraum zurück. Sie blickte zum Gremium auf und war nervöser als vorher. Es sah so aus, als hätten sie sich überhaupt nicht bewegt. Sie fragte sich, worüber sie wohl gesprochen hatten.
Der Hauptprüfer wartete, bis sie wieder ihren Platz eingenommen hatte. Dann stellte er ihr die nächste Frage, als hätte sie die Unterbrechung nur geträumt.
PRÜFER: Wie kam es zu Adams Verhaftung?
ANAXIMANDER: Adams Verhaftung war eher unspektakulär. Wie ich bereits erwähnt habe, weist vieles in seinem Verhalten darauf hin, dass sein Versuch, das Mädchen zu retten, das später aus naheliegenden Gründen als Eva bekannt wurde, spontan und nicht geplant war.
Im Falle einer Zwangsexekution untersuchte man stets die Aufzeichnungen über die Zeit, die dem Vorfall unmittelbar vorausgegangen war. So war es auch bei Josephs Tod und die Tatsache, dass die beiden Männer ihre Positionen getauscht hatten, erregte sofort Verdacht.
Man schickte Experten aufs Wasser, um den Meereszaun zu untersuchen, und fand eindeutige Hinweise auf Sabotage. Man überwachte Adams Verbrauch von Lebensmitteln, und obwohl er sich das zusätzliche Essen und Wasser mit einer gestohlenen Registrierkarte verschaffte, wurde eine 24-Stunden-Überwachung angeordnet. Sein Überwachungschip wurde aktiviert, und als er in der folgenden Nacht aus dem Schlafsaal schlich, folgte ein Quarantäne-Sondereinsatzkommando jeder seiner Bewegungen.
PRÜFER: Finden Sie es nicht ungewöhnlich, dass jemand, der technisch so versiert ist wie Adam, nichts von den Überwachungschips wusste?
ANAXIMANDER: Es gibt die unterschiedlichsten Spekulationen über Adams Beweggründe zu diesem Zeitpunkt. Ich betone noch einmal, das Problem an Verschwörungstheorien ist die Annahme, die Leute könnten selbst komplizierteste Ereignisse kontrollieren. Ich dagegen glaube, dass komplexe Situationen schnell und unerwartet eintreten. Es ist besser, sich Adam zu diesem Zeitpunkt als einen Mann vorzustellen, der große Angst hat. Er hat etwas getan, was er für richtig hält, und nun merkt er, wie er die Kontrolle über die Situation verliert.
PRÜFER: Eine romantische Interpretation.
ANAXIMANDER: Nein, eine pragmatische. Adam verlor den Boden unter den Füßen. Er wusste, dass es niemanden gab, an den er sich wenden konnte, und nach seiner fatalen Entscheidung war er für das Leben eines jungen Mädchens verantwortlich, das er gerettet hatte. So kam es, dass er die Sicherheitskräfte, ohne es zu ahnen, zu der Höhle führte, in der sie sich verbarg. Sie mussten diese nur noch stürmen.
PRÜFER: Was geschah in der Höhle?
ANAXIMANDER: Ich bezweifle, dass wir das jemals mit Gewissheit sagen können. Die Sicherheitskräfte hatten die strikte Anweisung, sowohl Adam als auch Eva lebend festzunehmen, so groß war die Angst, die beiden könnten Teil größerer Machenschaften sein.
Im offiziellen Verteidigungsbericht stand, es sei ein raffinierter Hinterhalt vorbereitet worden. Ich muss wohl kaum darauf hinweisen, dass die Behörden allen Grund hatten, diese Interpretation zu verbreiten. Eine andere Erklärung wäre nämlich, dass sie nicht damit gerechnet hatten, dass die Höhle mehrere Gänge hatte und sie ihren Angriff einfach im falschen Höhlengang begannen.
Adam befand sich mit Eva am Ende des kürzeren Tunnels, als er hörte, wie die Sicherheitskräfte die Höhle stürmten. Er hatte Josephs Waffe bei sich, die er am Vortag in der Höhle zurückgelassen hatte. Blieb er, wo er war, würde man ihn entdecken. Voller Angst stand er vor zwei Möglichkeiten. Er konnte Eva zurücklassen und versuchen zu fliehen, ehe die Soldaten ihren Irrtum bemerkten, oder er konnte Eva mitnehmen.
Obwohl er wusste, dass Eva wegen ihres angeschlagenen Gesundheitszustands eine Belastung für ihn war, beschloss er, sie mitzunehmen. Später sagte sie aus, sie habe ihn angefleht, sie zurückzulassen, doch er habe sich geweigert.
Seine Chancen waren gleich null. Am Höhleneingang waren Wachposten aufgestellt und es dauerte nicht lange, bis die Einsatztruppe ihren Irrtum bemerkte und kehrtmachte. In der Höhle war es dunkel, die zerklüfteten Felswände schluckten das Licht der Taschenlampen und die Kommandos der Soldaten hallten in den engen Gängen wider. Adam gab später an, er habe das Gefühl gehabt, von beiden Seiten angegriffen zu werden. Wie dem auch gewesen sein mag, jedenfalls suchte er hinter den Felsen Deckung und eröffnete das Feuer auf die zurückkehrenden Soldaten.
Schnell reihte sich Fehler an Fehler. Man hatte nicht bedacht, welche Auswirkungen Betäubungswaffen in einem Höhlengewölbe hatten. Die Schockwellen prallten von den Felswänden ab, sodass die Angriffstruppe auf sich selbst schoss. Adam hingegen war im Besitz einer tödlichen Waffe. Die Tatsache, dass Adam elf Soldaten getötet hat, bedeutete deshalb, wie manche behaupten, noch lange nicht, dass er von einer geheimen Zelle Aufständischer aus der Außenwelt in fortgeschrittenen Kampftechniken geschult worden war. Es handelte sich schlicht um eine Situation, die damals beim Militär gemeinhin als »Lage normal, alles im Arsch« bezeichnet wurde.
Adam und Eva wurden in ein Quarantänezentrum gebracht, in dem ausführliche Tests zeigten, dass keiner von ihnen mit den bekannten Seuchenvarianten in Berührung gekommen war. Dieses Ergebnis wurde der Öffentlichkeit jedoch vorenthalten und die Daten manipuliert. Man gab vor, Eva weise ein anormales Antikörperprofil auf, das auf eine hochansteckende Form der Krankheit hindeute. Die Behörden versicherten den Bürgern, sie selbst sei zwar keine Trägerin, doch es spreche alles dafür, dass die Seuche in der restlichen Welt nach wie vor tobe.
Und so kam es zur berühmtesten Gerichtsverhandlung in der Geschichte der Republik.
PRÜFER: Eine Verhandlung war nicht zwingend notwendig. Der Wunsch der republikanischen Behörden, die Gefangenen zu verhören, ist zwar verständlich, aber es ist nicht so, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als die beiden vor Gericht zu stellen.
Da es sich um brisante Informationen handelte, muss es verlockend gewesen sein, das Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen. Mehrere Historiker haben darauf hingewiesen, dass es nicht einmal vorgeschrieben gewesen wäre, die Bevölkerung überhaupt über den Vorfall zu informieren. Es war eine bewusste Entscheidung, die Verhandlung als öffentliches Ereignis zu inszenieren. Erklären Sie, warum es zu diesem Entschluss kam.
ANAXIMANDER: Ich möchte noch einmal auf das Gespräch zurückkommen, das Joseph und Adam am Tag vor dem fatalen Ereignis im Wachturm geführt haben. In diesem Gespräch erwähnt Joseph, er halte es für möglich, dass die Seuchengefahr vorüber sei. Dies war meiner Ansicht nach eine typische Sichtweise der jüngeren Generation.
Zu diesem Zeitpunkt waren über zwanzig Jahre seit der Errichtung des Meereszauns vergangen. Die erste Generation der Republik hatte noch Liveübertragungen der Kriegsschrecken gesehen. Sie kannten das Filmmaterial über die ersten biologischen Angriffe und ihre verheerenden Folgen, sie hatten die spektakulären Sonnenuntergänge gesehen und die endlosen Winter von 2031 und 32 überstanden. Sie hatten alles erlebt: die plötzliche Stille, das Ende aller Übertragungen, die Zeit der Ungewissheit. Sie wurden mit Atemschutzmasken groß, ließen den Großen Zaun nicht aus den Augen und fürchteten sich vor dem Tag, an dem der Feind am Horizont auftauchte. Wenn der Wind aus Norden wehte, brachte er die Angst vor Krankheitserregern aus der Außenwelt mit.
Unter diesen Bedingungen war es für die Republik ein Leichtes, ihre Strukturen zu erhalten. Die Bewohner taten, was man ihnen sagte, weil sie zusammenhielten und sich auf eine gemeinsame Bedrohung, einen gemeinsamen Feind konzentrierten. Doch die Zeit vergeht. Angst wird zur Erinnerung. Furcht wird zur Gewohnheit und verliert ihren Schrecken.
Die Menschen begannen, Fragen nach der Außenwelt zu stellen. Andere stellten sogar die Republik selbst infrage. Es gab Proteste und Unmutsäußerungen. Nur drei Wochen vor Adams Festnahme wurde eine Frau auf der Straße erschossen, weil sie versucht hatte, die Tötung ihres Kindes zu verhindern.
Und vor allem stellte man die Führung des Landes infrage. Die Republik hatte versprochen, die Besten und Klügsten unter ihnen würden Philosophen und nach einer sorgfältigen Ausbildung würden diese Denker kluge politische Strategien ersinnen, von denen alle Bewohner profitierten. Man hatte große Versprechungen hinsichtlich des Forschungsprogramms für künstliche Intelligenz gemacht. Man behauptete, eine neue Art intelligenter Roboter würde die kommende Generation von der Mühsal der Arbeit befreien. Der Wahlspruch »Ihre Kinder werden keine Arbeiter sein« wurde vehement verbreitet, aber wie so oft: Je größer das Versprechen, desto katastrophaler das Versagen.
2068 kamen dreizehn Soldaten ums Leben, als der Prototyp eines Grabungsroboters aufgrund eines technischen Defekts eine Kontrollstelle überrollte. Als Reaktion darauf entstand ein Forschungsprojekt, bei dem ein Philosoph namens William einen neuen Ansatz des sozialisierten Lernens entwickelte. William erkannte die Grenzen der herkömmlichen Netzwerke, die auf der Rückmeldung des Benutzers basierten. Der radikale Denker experimentierte mit einem neuen Modell, das auf dem Prinzip chaotischer Emergenz beruhte. Dabei wurde das Programm des Roboters durch das Lernumfeld geschrieben.
2073 interagierte ein erster Prototyp mit Philosophenkindern in einer der Kinderkrippen im Norden. Sechs Monate lang imitierte seine Entwicklung in vorhersehbarer Weise die Entwicklung der Kinder, mit denen er zu tun hatte. Der Roboter entwickelte sprachliche Grundkenntnisse und beherrschte ausreichende motorische Fähigkeiten, um bei einfachen Spielen und Aktivitäten mitzumachen.
Die Medien der Republik berichteten ausführlich über den beachtlichen Fortschritt und in der Klasse der Philosophen stieg der Druck, seine Kinder in der besagten Krippe unterzubringen.
PRÜFER: Sie hatten vorhin erwähnt, die Republik habe es Eltern nicht erlaubt, ihre Kinder zu behalten.
ANAXIMANDER: Urinstinkte verfügen über erstaunliche Kräfte und so wurde im Jahre 2068 ein Gesetz erlassen, das die Klasse der Philosophen von der Regelung ausnahm. Dies erklärt vielleicht auch, warum einige die Ereignisse im Sommer 74 als eine Art ausgleichende Gerechtigkeit ansahen. Der neue Roboter trug den Namen Evolution Drei. Während eines simplen Versteckspiels griff der Roboter plötzlich seine Klassenkameraden an. Die Ironie dabei war, dass das Spiel inszeniert und gefilmt wurde, um mit der Aufnahme Williams Finanzierungsantrag an den Regierungsrat zu unterstützen. Sieben Kinder wurden getötet und ein Lehrer schwer verletzt, ehe die Maschine abgeschaltet werden konnte. Das Forschungsprogramm wurde sofort eingestellt, was einen weiteren Rückschlag für die Klasse der Philosophen und ihre Verantwortung für die Republik bedeutete.
Viele Historiker sehen Adam als Auslöser für den Zusammenbruch der Republik, doch in Wirklichkeit bröckelte die Republik bereits und die Gerichtsverhandlung war der letzte Versuch der Philosophen, die Revolution zu verhindern.
Anaximander war überrascht, wie schnell die letzten dreißig Minuten vergangen waren. In diesem Stoffgebiet kannte sie sich aus und sie wusste, dass sie allmählich selbstsicherer klang.
PRÜFER: Sie geben uns eine plausible Begründung, warum die Republik Adams Verhandlung öffentlich gemacht hat. Dennoch ist immer noch ungeklärt, warum sich die Verhandlung anders entwickelte als vorgesehen. Wie kam es zu dieser Schieflage?
ANAXIMANDER: Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber vermutlich hatten sie einfach nur Pech.
Meiner Meinung nach kann man klug und kompetent sein und trotzdem an den Umständen scheitern. Auch hier komme ich wieder zu meinem Hauptargument zurück: Die Verschwörungstheorie versagt deshalb, weil sie davon ausgeht, dass es allein in der Hand der Menschen liegt, ihre Ziele zu erreichen.
Obwohl die Verhandlung zweifellos scheiterte, glaube ich nicht, dass es am Vorgehen der Republik lag. Tatsächlich haben die Verantwortlichen sich wohl angesichts der damaligen Situation, das heißt schwindender öffentlicher Unterstützung, zunehmender Aufweichung der Regeln und ihrer Befolgung sowie dem Geruch von Revolution in der Luft, für die beste Maßnahme entschieden. Aber manchmal ist selbst der beste Plan zum Scheitern verurteilt.
Der Konflikt, dem sich der Rat der Philosophen gegenübersah, war unvermeidlich. Die Republik hatte in ihren Anfängen die Saat für ihre eigene Zerstörung gesät. Platons erste Maxime, die am Anfang der Charta der Republik stand, lautet folgendermaßen: »Nur im Staat findet das Volk seinen vollständigen Ausdruck. Denn das Volk ist der Staat und der Staat ist das Volk.«
Die Gründer der Republik versuchten, den Einzelnen zu verleugnen, und haben dabei eine schlichte Wahrheit ignoriert.
Das Einzige, was Individuen miteinander verbindet, sind Ideen. Ideen verändern und verbreiten sich. Sie verändern ihre Wirte genauso, wie ihre Wirte sie verändern.
Die Gründer glaubten, wenn sie Kinder von ihrer Familie und Partner voneinander trennten, dann könnten sie die herkömmlichen Bindungen verhindern und sie durch eine Bindung an den Staat ersetzen. Dabei kam es jedoch zu unzähligen ungewollten Nebenwirkungen. Die Bewohner wurden gezwungen, in großen gleichgeschlechtlichen Gemeinschaften zu leben. Sie aßen, spielten, schliefen und arbeiteten zusammen und sie sprachen miteinander. Die Republik hatte einen Brutkasten für neue Ideen geschaffen. Obwohl die Republik die Informationen, die in die Kommunen gelangten, kontrollieren konnte, konnte sie nicht kontrollieren, wie sich die Informationen in den Köpfen der Frauen und Männer veränderten.
Platon war zu diesem Zeitpunkt schon ein alter Mann und Helena war tot. Platons Stellvertreterin, Aristoteles, traf alle wichtigen Entscheidungen. Ihre persönlichen Notizen, die sie in jener Zeit regelmäßig machte, zeigen, dass sie sich sehr wohl darüber im Klaren war, welche Art von Ideen sich mehr und mehr durchsetzten. In einer Notiz, die sie vier Monate vor Adams Verhandlung an Platon richtete, schrieb sie:
»Wir möchten, dass das Volk zuerst dem Staat und dann sich selbst dient, doch wir haben die Grenzen dieser Gleichung erst spät bemerkt. Selbst das zahmste Tier wird wild, wenn man seine Bedürfnisse vernachlässigt. Die Menschen glauben nicht länger an die Bedrohung, die einmal über ihnen schwebte, und haben sich an den Lebensstandard, der ihnen ermöglicht wurde, gewöhnt. Die Menschen sind selbstgefällig geworden und ihre Gedanken haben sich anderen Dingen zugewandt. In den Kommunen kursiert ein Flüstern. Es wird lauter und drängender, doch noch verbirgt es sich. Die Menschen sprechen von Selbstbestimmung, von Freiheit. Sie sprechen davon, ihre Welt zu verändern.«
Dies beweist, vor welcher enormen Herausforderung der Rat stand. Sie konnten sie niemals bewältigen, doch sie mussten es zumindest versuchen.
In der öffentlichen Verhandlung sollte der Bevölkerung eine neue Bedrohung suggeriert werden. Man fingierte Beweise, um Adam als Teil einer größeren Verschwörung darzustellen.
Die Verantwortlichen wollten die Menschen beunruhigen. Die Bevölkerung sollte glauben, die Seuche sei zu einer noch gefährlicheren Form mutiert und Adams Fall sei nicht der erste Verstoß dieser Art gewesen. Sie wollten den Menschen weismachen, die Fremden weilten bereits unter ihnen und planten eine gewaltige Invasion.
Oder anders ausgedrückt: Die Menschen sollten wieder so besorgt und verunsichert sein wie zur Zeit der Gründung der Republik. »Wandel bedeutet Niedergang« lautete die zweite Maxime. Adams Profil machte ihn zum perfekten Kandidaten für einen Sündenbock Er war in der Vergangenheit mehrmals negativ aufgefallen und galt als unabhängiger, rebellischer Einzelgänger. Doch die Führer der Republik begingen einen entscheidenden Fehler: Sie urteilten allein von ihrem eigenen Standpunkt aus. Sie glaubten, weil Adam alles verkörperte, was sie selbst fürchteten, würde ihn auch das Volk fürchten. Aber sie unterschätzten seinen Charme. Sie rechneten nicht damit, dass die Menschen einen Helden aus ihm machen würden.
Die Verhandlungen wurden in jeder Kommune gezeigt. Gebannt verfolgten die Leute das Verfahren genau wie es sich der Rat erhoffte, doch ihre Ansichten wichen schon bald von den Plänen der Machthaber ab.
In den Augen des Volkes wirkte Adam nicht wie ein Verräter. Er war ein attraktiver Mann mit einem entwaffnenden Lächeln. Vor Gericht sagte er aus, als er beobachten musste, wie das Mädchen hilflos auf die Seeminen zutrieb, habe er in ihr die Schwestern gesehen, die er nie kennenlernen würde, und die Geliebten, die er nicht in der Öffentlichkeit treffen durfte. Er sagte, er habe auf sein Herz gehört. Er sagte, dass das wahrhaft Gute nur im eigenen Innersten zu finden sei. Er sagte, eines Nachts habe er im Gefängnis vom Zusammenbruch des Großen Meereszauns geträumt.
Die Verhandlung entpuppte sich als Katastrophe für den Rat. Eigentlich war geplant, das Verfahren mit einer öffentlichen Hinrichtung abzuschließen, doch schon in der zweiten Woche wurde klar, dass dies enormen Protest oder sogar Unruhen hervorrufen würde. Der Rat war in seine eigene Falle getappt und genau in diesem Moment wandte sich Philosoph William an die Führer.
Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich zur Erläuterung etwas weiter ausholen. Obwohl Evolution Drei in einer Katastrophe geendet hatte und die Forschungsarbeiten zu künstlicher Intelligenz offiziell eingestellt worden waren, führte man das Programm heimlich weiter.
Viele Entscheidungsträger glaubten noch immer, man könnte die Republik retten, wenn es gelänge, eine neue Roboterart zu entwickeln, die imstande war, die Aufgaben der Arbeiter und Soldaten zu übernehmen. Ihrer Ansicht nach hatten nur die Angehörigen der unteren Klassen Grund zur Rebellion. Eine Gesellschaft ohne Unterschicht hingegen wäre stabil. Aristoteles gehörte zwar nicht zu den führenden Vertretern dieser Haltung, dennoch war sie den Argumenten nicht abgeneigt.
Ehe ich erkläre, was das alles mit Williams Forschungsarbeit zu tun hat, will ich noch kurz einige technische Einzelheiten erläutern. Als die künstliche Intelligenz noch in den Kinderschuhen steckte, das heißt mindestens bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, war das Hauptproblem auf diesem Gebiet die mangelnde Vorstellungskraft der Wissenschaftler. Damals nahmen die Forscher irrtümlicherweise an ihre frühen Computer seien gute Modelle für die Funktionsweise des Gehirns, und deshalb konzentrierten sie sich auf die Programmierung von Denkmaschinen. Erst als Wissenschaftler und Künstler im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts zusammenarbeiteten begannen sie das Wesen der sogenannten emergenten Komplexität zu verstehen. »Wir können keine Maschine so programmieren, dass sie denken kann«, lautete der Leitsatz des Pionierunternehmens Artfink, in dem William sein Metier erlernte, »aber wir können eine Maschine so programmieren, dass sie durch Denken programmiert wird.«
Von dieser Erkenntnis bis zur Entwicklung funktionsfähiger Arbeitsmodelle war es immer noch ein gewaltiger Schritt und die ersten Versuche waren unausgereift und überwiegend erfolglos. Trotzdem hatte sich Philosoph William nicht von seiner Forschungsarbeit abbringen lassen. Als Adam vor Gericht gestellt wurde war William sicher, bei Artfink einen neuen Typus entwickelt zu haben, der imstande war, echte interaktive Intelligenz zu entwickeln.
Williams Problem war, dass sein Programm, ähnlich wie ein Kind, intensive menschliche Interaktion erforderte. Der Artfink brauchte einen Gefährten, den er beobachten, mit dem er sprechen und von dem er lernen konnte. Philosoph William hatte seinen neuen Prototypen vier Jahre lang heimlich betreut und dessen Entwicklung hatte all seine Erwartungen übertroffen.
Dennoch befürchtete William, dass sein Prototyp mit dem Spitznamen Art schon bald keine Fortschritte mehr machen würde. Warum, beschreibt der folgende Tagebucheintrag:
»Obwohl ich Art erschaffen habe, verstehe ich es nicht. Das immerhin ist das Ergebnis meiner Forschungen. Arts Entwicklung hat mich täglich überrascht, doch in letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass die Überraschungen abnehmen. Dass Arts Verhalten mittlerweile einem vorhersehbaren Muster folgt, ist an und für sich nicht alarmierend, schließlich würden wir uns eine solche Entwicklung auch für ein Kind wünschen. Was mir jedoch Sorge bereitet, ist, dass dieses Stadium so schnell erreicht wurde. Mag sein, dass ich nun wie ein überstolzer Vater klinge, aber ich bin mir sicher, dass meine Erfindung viel mehr erreichen könnte. Meiner Meinung nach liegt das Problem darin, dass ich das Programm geschrieben habe und gleichzeitig für seine Entwicklung verantwortlich bin. Dass Art mich nicht mehr überrascht, liegt zum Großteil gewiss daran, dass ich Art nicht mehr überrasche. Er muss unbedingt einem neuen Stimulus ausgesetzt werden, ehe seine Mechanismen zur Anpassung und Neuorientierung einschlafen und er einem unterforderten Kind gleicht, dessen Neugierde allmählich erschlafft. Leider wird es nach dem Vorfall in der Kinderkrippe nicht leicht sein, eine geeignete Testperson für diese Aufgabe zu finden.«
Dann sah Philosoph William Adams Verhandlung und hatte plötzlich die ideale Lösung.
William schlug dem Rat vor, bei Adams Verurteilung einen Kompromiss einzugehen. Adam sollte weder exekutiert noch unter normalen Bedingungen inhaftiert werden. Stattdessen bekäme er eine Chance zur Wiedergutmachung, indem er für seine Gesellschaft einen einzigartigen Beitrag leistete. Er sollte Arts Gefährte werden, rund um die Uhr überwacht in einem sicheren Umfeld.
Adams Fürsprechern konnte man diese Lösung als mildernde Umstände und Anerkennung seiner einzigartigen Fähigkeiten schmackhaft machen. Seinen Kritikern hingegen würde die Maßnahme als Haftstrafe erscheinen, wenn man das für ihn bestehende Risiko übertrieben darstellte.
Bei diesem Vorschlag ging es William ganz sicher nicht um die Zukunft der Republik. Da er nicht mehr der Jüngste war, wollte er einfach nur noch miterleben, wie Art sein volles Potenzial entwickelte.
Adam war zweifellos ein kluger und provokativer Mensch, also genau die Art von Anregung, die Art benötigte. Und das Beste war: Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Dies war auch der Grund, warum der Rat angesichts William‘s Vorschlag keine Sekunde darüber nachdachte, welche Auswirkung Adam auf das innovative Computerprogramm haben könnte. Für sie zählte nur, dass es ihr einziger Ausweg aus der Misere war.
PRÜFER: Und wie reagierte Adam auf den Vorschlag?
ANAXIMANDER: Soweit ich weiß, waren seine genauen Worte: »Das ist mir viel lieber, als zu sterben.«
Der Hauptprüfer richtete sich unvermittelt auf und wandte sich zuerst seinem linken und dann seinem rechten Kollegen zu. Er nickte.
PRÜFER: Die zweite Stunde ist vorüber. Ich schlage vor, wir machen eine weitere Pause.
Die Tür glitt auf und dieses Mal verließ Anax den Raum in besserer Stimmung. Den Prüfern die Geschichte zu erzählen, fühlte sich nicht anders an, als wenn sie diese Perikles in einer ihrer endlosen Übungsstunden schilderte.
Dieses Mal war außer ihr niemand anderes im Wartezimmer und Anax ließ ihre Gedanken schweifen. Sie musste unweigerlich an ihren Tutor denken und daran, wie sie sich zum ersten Mal gesehen hatten.
Anax hatte einen Lieblingsplatz auf einem der Hügel vor der Stadt. Nach der Schule ging sie oft dorthin. Normalerweise tat sie das allein. Sie war keine Einzelgängerin, aber ihre Freunde gingen nicht gern spazieren. »Ihr verpasst einen grandiosen Sonnenuntergang«, textete sie ihnen, doch die Antwort war immer die gleiche: »Dann lad ihn doch runter.« Die Standardbeleidigung dieser Jahre.
Gegen Ende ihrer Schulzeit wurde Anax allmählich klar, dass sie anders als die anderen war. Sie verstand die unterschwellige Gleichgültigkeit nicht, die eines Tages urplötzlich auftauchte und sich wie die Seuche unter ihren Klassenkameraden ausbreitete. Es war, als hätte sie ein Entwicklungsstadium komplett verpasst.
Sie versuchte, es ihrem besten Freund Thales zu erklären. »Ich glaube, mit mir stimmt etwas nicht.« »Wie meinst du das?«
»Na ja, ich glaube, ich bin nicht wie ihr. Mir gefällt immer noch, was ich lerne. Ich verstehe nicht, worüber ihr redet. Euer Getratsche. Ich vermisse die alten Zeilen. Mir fehlen die Spiele.«
»Du brauchst nur ein bisschen länger, um erwachsen zu werden«, antwortete Thales voller Gewissheit, dass dies bald geschehen würde. Doch Anax war sich da nicht so sicher.
So kehrte sie in jenem Sommer abends nach der Schule nicht wie alle anderen in ihr Apartment zurück, um sich den oberflächlichen Freizeitveranstaltungen anzuschließen, sondern wanderte zu den Hügeln hinauf. Sie tat es nicht nur wegen der Sonnenuntergänge, obwohl diese in den länger werdenden Tagen, wenn sich der Dunst im Norden ausbreitete, immer spektakulärer wurden. Es war die Brise, die vom Meer herüber wehte, die sie hierher lockte. Das Gefühl, am Ende der Welt zu stehen. Der Blick. Vom Hügelkamm konnte man das Wasser sehen, silbern glitzernd in der Sonne, aber dunkel vor den riesigen Umrissen der rostigen Pfeiler, die einst den Großen Meereszaun gestützt hatten. Im Westen ruhten die überwucherten Ruinen der Altstadt, die allmählich wieder zu Erde wurden. Auch das war ein schöner Anblick, dachte Anax, obwohl sie noch nie gehört hatte, wie es jemand auf diese Weise beschrieb.
Während des letzten Schuljahres ermunterte man die besseren Schüler dazu, sich in einem Fachgebiet zu spezialisieren. Anax war eine gute Schülerin, auch wenn sie nicht zu den besten gehörte. Ihre Entscheidung, sich auf Adams Geschichte zu konzentrieren, war alles andere als originell. Jeder Grundschüler kannte die Geschichte in- und auswendig. Aber die anderen waren nicht so von der Geschichte fasziniert wie Anax.
Das war der wahre Grund, warum sie immer wieder zu ihrem Hügel zurückkehrte. Der Blick über das Meer -sein Blick, den er vom Wachturm aus gehabt hatte. Die tote Stadt - jener Ort, an den er jeden Abend zurückgekehrt war, um dort zu essen, zu diskutieren und zu verführen. Die Überreste des Großen Meereszauns - Adams Zaun. Jeden Tag dachte sie in der Schule über sein Leben nach und dann wanderte sie auf den Hügel hinauf und grübelte weiter.
Anax war dort oben noch nie jemandem begegnet. Der Pfad war schmal und schlecht ausgeschildert. Nervös scannte sie den Fremden aus der Entfernung. Natürlich konnte sie die anderen im Notfall antexten und sie um Hilfe bitten, doch es würde sowieso viel zu lange dauern, bis sie bei ihr wären. Es waren friedliche Zeiten, dennoch kamen einem immer wieder Geschichten zu Ohren und es konnte nicht schaden, vorsichtig zu sein.
Er scannte zurück, dann wandte er sich offensichtlich zufrieden wieder um und betrachtete den Sonnenuntergang. So sah sie Perikles zum ersten Mal: das Gesicht dem Meer zugewandt, im seltsam grünen Schein eines sterbenden Himmels, sein langes Haar vom Wind zerzaust.
Sie sprach zuerst. »Ich heiße Anax.«
»Das hat mein Scanner auch gesagt.«
»Ich wollte nur höflich sein. Und du bist Perikles?«
»So ist es.«
»Und was machst du hier oben?« »Ich sehe mir den Sonnenuntergang an.« »Ich habe dich hier noch nie gesehen.« »Ich dich auch nicht.«
»Ich komme jeden Tag hierher.«
»Ich nicht. Das wird wohl der Grund sein, warum wir uns noch nicht begegnet sind.«
Das war ein typisches Gespräch zwischen ihnen. Reden war für Perikles wie ein Spiel, und wenn man einmal mitgespielt hatte, war man süchtig danach. Perikles sprach nicht über die albernen Dinge, über die ihre Freunde sprachen. Er wählte seine Worte sorgfältig, achtete auf ihren Klang und die Gestalt der Ideen, zu denen sie sich formten. Zumindest beschrieb er es so.
Er war fünf Jahre älter als sie und sah sehr gut aus. Gemeinsam sahen sie zu, wie die Erde der Sonne den Rücken kehrte. Dann ging er mit ihr zurück zur Neustadt. Als sie am Fuß des Hügels ankamen, wusste Anax, dass sie ihn wiedersehen musste. Normalerweise war sie nicht so forsch, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie hörte die Worte über ihre Lippen kommen, und als er seinen Mund zu einem breiten Lächeln verzog, fiel ihr ein Stein vom Herzen.
»Wirst du morgen wieder hier sein?«
»Wenn du auch hier sein wirst«, antwortete er.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich jeden Tag hier bin.«
»Dann also bis morgen.«
Ihren Freunden erzählte Anax nichts von Perikles. Sie erzählte überhaupt niemandem von ihrer Begegnung. Das Gefühl war zu neu, zu ungewohnt und zu zerbrechlich. Bestimmt würde es zerspringen, wenn sie es in die Welt hinausließe.
Am nächsten Tag war er da und am übernächsten ebenso. Anax erzählte ihm von ihren Studien, von Adam, von all den Orten, die mit ihm zusammenhingen. Da sagte er ihr, er sei Tutor für die Akademie. Sie kam sich lächerlich vor und entschuldigte sich dafür, ihn mit ihrem Geplapper über Dinge gelangweilt zu haben, mit denen er sich bestimmt viel besser auskannte. Lächelnd schüttelte er den Kopf und erklärte, ihre Kenntnisse und ihre Begeisterung seien bemerkenswert. Sie glaubte ihm kein Wort, wusste, dass er nur höflich sein wollte, und dennoch wurde ihr warm ums Herz. Schließlich schlug er ihr vor, sich bei der Akademie zu bewerben. Er sagte, wenn sie wolle, werde er gerne ihr Tutor.
Zuerst dachte Anax, er machte sich über sie lustig. Nur die Besten der Besten durften an der dreijährigen Vorbereitung auf die Prüfung der Akademie teilnehmen. Und am Ende wurde weniger als ein Prozent der Bewerber aufgenommen. So eine erstklassige Schülerin war sie nicht. Das war nicht ihre Liga.
»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, widersprach Perikles.
»Selbst wenn ich gut genug wäre, könnte ich mir den Unterricht niemals leisten.« »Ich könnte einen Sponsor für dich finden.« »Hör endlich auf damit. Das ist nicht witzig. Du machst dich über mich lustig, stimmt's? Das ist gemein. So etwas tut man nicht.«
»Aber nein«, widersprach er mit der ruhigen, schönen Stimme, die die nächsten drei Jahre ihres Lebens füllen sollte. »Ich mache keine Scherze. Das würde ich nie tun.«
Er hielt sein Wort. Er gab ihr Unterlagen zum Lernen und vereinbarte eine Vorprüfung. Zu ihrer eigenen Überraschung und der ihrer Lehrer und Klassenkameraden erzielte sie eines der besten Resultate überhaupt. Einen Sponsor zu finden war daraufhin ein Kinderspiel.
Danach aber war es mit den Spielereien vorbei. Die Vorbereitungen auf den heutigen Tag waren härter, als sich Anax vorgestellt hatte. Doch sie und Perikles stellten sich der Herausforderung gemeinsam, und wenn ihr alles zu viel wurde, stiegen sie den Hügel empor und blickten schweigend über die Vergangenheit.
In Gedanken wanderte sie zu ihrem Platz. Sie spürte, wie sie ruhiger wurde. Die Akademie war die Elite, sie vereinte die brillantesten Köpfe des Landes unter ihrem Dach. Die politischen Führer vertrauten auf den Rat ihrer Mitglieder. Nur sie führten Experimente durch, erweiterten das Wissen. Sie legten das Fundament für die Zukunft.
Perikles hatte ihr immer wieder gesagt, in ihr stecke mehr, als sie ahne, und nun, da der Tag der Prüfung gekommen war, konnte sie endlich aufhören, daran zu zweifeln. Sie kannte die Geschichte in- und auswendig. Sie konnte sich nicht vorstellen, sie noch besser zu kennen. Sie würde ihn nicht enttäuschen.
Als Anax hörte, wie sich die Türen leise öffneten, schlug sie die Augen auf. Sie nahm wieder ihren Platz vor den Prüfern ein.
PRÜFER: Im nächsten Teil der Prüfung möchten wir näher auf die Zeit eingehen, die Adam mit Art verbracht hat. Haben Sie die Hologramme vorbereitet?
ANAXIMANDER: Ja. Beide sind geladen und zur Projektion bereit.
Die Bewerber mussten für die Prüfung zwei Hologramme erstellen, die jeweils einen Aspekt ihres Spezialgebiets veranschaulichten. Perikles hatte vorgeschlagen, als Erstes Adams und Josephs Unterhaltung im Wachturm zu verwenden, doch Anax hatte darauf bestanden, sich auf die Gespräche zwischen Adam und Art zu konzentrieren.
PRÜFER: Welche Quellen haben Sie für das Studium dieser Zeit verwendet?
ANAXIMANDER: Ich habe natürlich die Aufzeichnungen herangezogen, die von der Offiziellen Versammlung zur Verfügung gestellt werden. Gleichzeitig habe ich so viele Kommentare gelesen, wie ich finden konnte. Außerdem habe ich mit zwei Verfassern der neuesten Interpretationen korrespondiert. Allerdings habe ich all das bereits in meinem Prüfungsantrag erwähnt, sodass Sie vielleicht auf etwas anderes hinauswollen.
Vor der Erstellung des Hologramms habe ich mit meinem Tutor Perikles ausführlich über die Protokolle gesprochen. Wir haben darüber spekuliert, was sich wohl in den vielen Gesprächen abgespielt haben mag, die nicht aufgezeichnet wurden. Unsere Interpretationen haben wir mit der Sokratischen Methode überprüft, uns also gegenseitig in die Enge getrieben, um die Wahrheit im Gegenspiel von Frage und Antwort zu ergründen. Auf das, was ich herausgefunden habe, bin ich gestoßen, indem ich es zuerst in Zweifel gezogen habe. Ist es das, was Sie wissen wollten?
PRÜFER: Worin bestand Ihrer Meinung nach die größte Schwierigkeit bei der Programmierung des Hologramms?
ANAXIMANDER: Dieses Problem hat wohl jeder, der eine solche Präsentation vorbereitet. Die Protokolle, die mir vorlagen, waren lediglich Worte auf Papier. Sie sagten nichts darüber aus, wie sich die Beteiligten ansahen, während sie miteinander sprachen, wie ihre Stimmen klangen, ob sie schnell oder langsam sprachen oder welche Haltung sie einnahmen.
PRÜFER: Und wie haben Sie dieses Interpretationsproblem gelöst?
ANAXIMANDER: Ich habe versucht, die Absichten der Gesprächsteilnehmer zu verstehen. Ich glaube, von den Absichten leitet sich alles andere ab.
PRÜFER: Die Absichten beider Gesprächspartner?
ANAXIMANDER: Ja, beider Gesprächspartner.
PRÜFER: Wir werden Ihnen weitere Fragen stellen, wenn wir uns das Hologramm angesehen haben. Wir werden es jetzt abspielen.
Anax sah, wie Mensch und Maschine vor ihren Augen Gestalt annahmen, jene Bilder, die sie so gewissenhaft zum Leben erweckt und in endlosen Stunden überarbeitet und verbessert hatte. Bei der Vorbereitung hatte Perikles ihr nicht helfen dürfen, das war gegen die Vorschriften. Vielleicht erklärte dies die Leidenschaft, mit der sie Adam nachgezeichnet hatte. Anax hatte sich auf Bilder aus Akten gestützt, doch als sie nun auf den Mann vor ihr blickte, machten sie die Freiheiten, die sie sich gegenüber der Vorlage erlaubt hatte, verlegen.
Adams hellblondes Haar war im Alter von achtzehn Jahren schon dunkler geworden, doch sie hatte ihm seine frühere Leuchtkraft zurückgegeben. Seine Augen, die auf den Fotos dunkel waren, waren bei ihr strahlend blau und passten zu seiner Sträflingskleidung. Anax hatte noch nie ein Hologramm gesehen, das so scharf wiedergegeben wurde wie ihres nun von dem Projektor im Prüfungsraum. Überwältigt von der Klarheit des Bildes trat sie einen Schritt zurück. Es war, als stünden sie beide vor ihr: Mensch und Maschine.
Adams Hände waren auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt. Er saß mit angezogenen Knien auf dem Boden, hatte das Gesicht von Art abgewandt und starrte die Wand an. Er ignorierte den Androiden demonstrativ.
Bei Art hatte sich Anax weniger Freiheiten herausgenommen. Er besaß einen stämmigen Metallkörper, der Adam bis zu den Knien reichte und auf einer beweglichen Schienenkonstruktion befestigt war, wie sie einst für die Abfallindustrie entwickelt worden war. Am Ende seiner beiden langen, sehnigen hydraulischen Arme befanden sich Hände mit drei Fingern - ein Verweis auf Williams Vorliebe für vorklassische Comics. Den krönenden Abschluss bildete der Kopf des Roboters. Art besaß das Gesicht eines Orang-Utans. Seine großen wachsamen Augen und sein ewig spöttisch grinsender Mund wurden von leuchtend orangeroten Haaren umrahmt.
Die beiden Gestalten verharrten reglos zwischen Anax und dem Gremium.
PRÜFER: Welchen Zeitpunkt repräsentiert das Hologramm?
ANAXIMANDER: Es stammt vom allerersten Tag. Genau zwanzig Minuten nachdem man Adam ins Labor gebracht hatte. Bis jetzt hat keiner von beiden ein Wort gesprochen.
PRÜFER: Ich danke Ihnen.
Art drehte hinter Adam mit schief gelegtem Kopf seine Runden und betrachtete ihn betont neugierig. Das Surren seines Bewegungsmechanismus erfüllte den Raum. Adam biss die Zähne zusammen. Trotzig senkte er den Kopf und beachtete Art nicht. Als Art sprach, klang seine Stimme etwas höher, als man erwartet hätte, und die Wörter waren unnatürlich abgehackt. (Dies entsprach der angeblich einzigen noch existierenden Aufnahme, die Anax nur nach wochenlangem zähem Verhandeln bekommen hatte.)
»Das ist also dein Plan?«, fragte der Android. Adam starrte auf die Wand vor ihm, ohne zu reagieren.
»Vielleicht solltest du deine Taktik noch einmal überdenken«, fuhr Art fort. »Falls du austesten willst, wer von uns beiden länger durchhält, dann bin ich mit meinem Programm eindeutig im Vorteil.« Art wartete, doch Adam rührte sich noch immer nicht. Er umrundete Adam und zwang diesen, ihn anzusehen. Adam warf einen flüchtigen Blick auf das künstliche Affengesicht, dann senkte er seine Augen wieder.
»Ich will damit nur sagen, dass ich mehr Geduld als du habe«, stichelte Art. »Durch Nichtstun kannst du nicht gewinnen.«
»Wenn du so geduldig bist«, murmelte Adam kaum hörbar, »warum redest du dann mit mir? Was ist so falsch daran, einfach abzuwarten?«
»Geduld ist nicht meine einzige Stärke. Ich bin auch taktisch äußerst geschickt.«
»Hört sich so an, als bräuchtest du mich überhaupt nicht.«
»Nein, aber du brauchst mich.« »Ich glaube, da irrst du dich.«
Der Android wich zurück, ohne Adam aus den Augen zu lassen. Er blieb stehen und beobachtete ihn aufmerksam, ohne ein Lebenszeichen bis auf ein irritierendes gelegentliches Zwinkern.
»Was glaubst du wohl, was sie tun werden, wenn sie sehen, dass du nicht kooperierst?«
»Falls sie mich exekutieren wollten«, sagte Adam mit vor Wut bebender Stimme, ohne den Kopf zu heben, »dann hätten sie das längst getan. Es geht um Politik.«
»Aber da du schon mal hier bist, wäre es doch schade, die Gelegenheit nicht zu nutzen.« »Das sehe ich leider anders.«
»Warum siehst du mich nicht an? Hast du Angst vor mir?«
»Ich weiß, wie du aussiehst. Warum sollte ich dich noch einmal ansehen?«
Art surrte durch den Raum und suchte sich einen neuen Standort. Adam beobachtete ihn argwöhnisch. Lange Zeit sprach keiner von ihnen ein Wort. Das Schweigen dauerte mindestens eine Minute. Davon hatte nichts in den Aufzeichnungen gestanden. Anax hatte improvisiert. Jetzt machte sie die lange Pause nervös.
»Wir könnten Freunde werden, weißt du?«, sagte Art schließlich und klang plötzlich nicht mehr so selbstbewusst.
»Du bist eine Maschine.«
»In der Not frisst der Teufel Fliegen.«
»Genauso gut könnte ich mich mit meinen Handschellen oder mit der Wand anfreunden.« Adam hatte den Blick auf die Wand gerichtet, so als dächte er nur laut nach.
Anax sah zu, wie Arts große Augen einen traurigen Ausdruck annahmen, und konnte nicht anders, als Mitleid für ihn zu empfinden. Sie schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich darauf, was die Prüfer wohl als Nächstes fragen würden.
»Du musst wissen, was du tust«, sagte Art.
»Du sagst es.«
»Dann will ich dich und deine Handschellen nicht weiter stören. Du weißt ja, wo ich bin, falls du es dir anders überlegst. Ich warte so lange. Ich habe sehr viel Geduld ... und wir haben sehr viel Zeit.«
Adam versuchte umständlich, auf dem Boden eine bequemere Position einzunehmen. Er holte tief Luft und stieß einen langen Seufzer aus. Er schloss die Augen.
»Du und deine Handschellen, ihr scheint euch sehr nahezustehen. Ich nehme an, das ist gut so. So sollte es bei Freunden auch sein.« »Mir wäre es lieber, du wärst still.« »Ist dir bewusst, dass du ein Häftling bist?«, erwiderte Art leicht gereizt. »Und dass es keinen interessiert, was du gerne hättest?«
Adam drehte sich blitzschnell zu dem Androiden um. Art rollte ein Stück zurück, als habe ihn die Bewegung überrascht.
»Pass auf, ich schlage dir ein Geschäft vor«, sagte Adam.
»Aber ich bin doch nur eine Maschine«, erwiderte Art. »Mit einer Maschine kann man keine Geschäfte machen.«
Adam ging nicht auf den Seitenhieb ein. »Wenn ich jetzt zehn Minuten mit dir rede, versprichst du mir dann, den restlichen Tag zu schweigen?« »Fünfzehn Minuten.«
»Dein Programmierer war wohl ziemlich gründlich, was?«
»Ich programmiere mich selbst. Danke für das Kompliment.«
»Es gibt nichts, was sich selbst programmieren kann.«
»Doch, dich.«
»Ich bin keine Maschine.«
Art surrte plötzlich nach vorn und seine Augen leuchteten aufgeregt. Adam wich zurück. »Darüber würde ich gern reden«, sagte Art. »Wie bitte?«
»Was aus einer Maschine eine Maschine macht. Sobald wir mit unseren fünfzehn Minuten beginnen.«
»Sie haben bereits begonnen.«
»Dann bist du also mit den fünfzehn Minuten einverstanden?«
Adam lächelte. »Ja, aber sie haben schon vor fünf Minuten begonnen.«
»Ich verstehe. Der Punkt geht an dich.«
»Weißt du eigentlich, wie hässlich du bist?« Adam beugte sich beim Sprechen nach vorn, wie ein Boxer, der den Abstand zu seinem Gegner abschätzt. Art verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. Auf seiner Unterlippe glänzte Speichel - eine Zurschaustellung last abstoßend fähiger Ingenieurskunst.
»Ich bin so programmiert, dass ich mir selbst gefalle.«
»Gerade eben hast du noch behauptet, du würdest dich selbst programmieren.«
»Eine weise Entscheidung, findest du nicht?«
»Du bist trotzdem hässlich. Ganz egal, was du darüber denkst.«
»Eine interessante Aussage. Begründe sie.«
»Wenn zwanzig Leute hier reinkämen«, erklärte Adam, »dann würden sie alle das Gleiche sagen. Nämlich dass du hässlich bist.«
»Bring zwanzig Exemplare von meiner Sorte hier rein«, erwiderte Art, »und wir würden alle beteuern, dass dein Hintern schöner ist als dein Gesicht.«
»Es gibt aber keine zwanzig Exemplare von dir.«
»Nein, da hast du recht. Ich bin einzigartig. Deshalb kann ich auch unbesorgt behaupten, dass dich alle Androiden hässlich finden. Aber nicht alle Menschen finden mich hässlich. Nach objektiven Maßstäben sehe ich also besser aus als du.«
Adam betrachtete Art forschend, als suchte er in der äußeren Hülle nach einem Anhaltspunkt, der ihm half, dieses sonderbare Ding zu begreifen. Arts Augen folgten Adams Blick.
»Du musst mit mir reden. Sonst zählt es nicht. Wenn du schweigst, halte ich die Uhr an.«
Adam antwortete nicht. Er drehte sich wieder zur Wand um. Auf seiner Stirn erschienen tiefe Falten. »Das ist lächerlich«, murmelte er.
»Was ist lächerlich?«
»Mit dir zu reden. Ich mache das nicht. Es ist zwecklos.«
»Ist es nicht«, widersprach Art. »Vergiss nicht, dass wir eine Abmachung haben. Nur wenn du mit mir redest, werde ich später schweigen.«
»Wenn ich nicht mit dir rede, funktioniert es genauso.«
»Ich glaube, du wirst dich noch wundern, wie lästig ich werden kann. Warum willst du denn nicht mit mir reden?«
»Das weißt du genau.«
»Weil du Vorurteile hast, stimmt's? Du hast Vorurteile gegenüber künstlicher Intelligenz.«
»So etwas gibt es gar nicht«, erwiderte Adam, offensichtlich wütend darüber, dass Art ihn gegen seinen Willen dazu gebracht hatte, wieder mit ihm zu reden. »Das ist ein Widerspruch in sich.«
»Wenn ich eine Frau wäre, würdest du dich nicht weigern, mit mir zu sprechen.«
»Wenn du eine Frau wärst und so ein Gesicht hättest, bräuchte ich erst einmal ein Bier. Kannst du das? Kannst du mir ein Bier besorgen?« »Du weißt genau, dass es Soldaten untersagt ist, Alkohol zu trinken.«
»Ich bin kein Soldat mehr. Sie haben mich degradiert.«
»Ich glaube kaum, dass sie es gutheißen würden, wenn mich ein Betrunkener programmierte.«
»Ich programmiere dich nicht.«
»Tust du doch. Durch meine Interaktion mit anderen lerne ich, wer ich bin. Bis jetzt hatte ich nur William. Bitte versteh mich nicht falsch. Ich liebe ihn wie einen Vater, aber irgendwann muss jedes Kind seinen eigenen Weg gehen, findest du nicht auch? Tut mir leid, es war unsensibel von mir, das Wort Vater zu erwähnen. Williams Fehler. Er ist in anderen Zeiten aufgewachsen. Wünschst du dir manchmal, du wärst vor der Republik geboren worden?«
»Glaub bloß nicht, dass ich mit dir über Politik diskutiere.«
»Warum nicht?«, fragte Art und legte erneut betont neugierig den Kopf schief.
»Weil sie uns beobachten. Ich bin nicht blöd. Ich weiß genau, was hier gespielt wird.«
»Was denn?«
»Na, was wohl? Das hier ist Propaganda. Sie zeigen es in den Gemeinden, hab ich recht?«
»Ein erstaunlich paranoider Standpunkt.«
»Du kannst jetzt den Mund halten. Für heute hat es sich ausgespielt.«
»Aber die Zeit ist noch nicht um.«
»Sie haben mir keine Uhr gegeben. Ich kann nur schätzen. Es kommt mir vor wie eine Stunde. War es eine Stunde?«
»Sieben Minuten.«
»Plus die anderen fünf. Gleich ist die Zeit um.« »Irgendwann wirst du mich mögen und dann wirst du immerzu mit mir reden wollen.«
»Hat dir das dein Papa William erzählt? Sein letzter Roboter war ein Kindermörder, nicht wahr?« »Macht dich das nervös?« »Ich habe wirklich andere Sorgen.« »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Sie haben die Störung gefunden. In den ersten vierzig Jahren hat sich die Erforschung der künstlichen Nachbildung bewusster Zustände -« »Es gibt kein künstliches Bewusstsein.« »Ich habe ein Bewusstsein.«
»Hast du nicht.« Adams Augen funkelten. »Du bist nur ein kompliziertes Gebilde aus elektronischen Schaltern. Ich mache ein Geräusch, das Geräusch gelangt in deine Datenbank, entspricht einem aufgezeichneten Wort und dein Programm wählt eine automatische Antwort. Na und? Ich spreche mit dir, du machst ein Geräusch. Ich trete gegen die Wand, sie macht ein Geräusch. Wo ist der Unterschied? Oder willst du mir etwa erzählen, die Wand hätte auch ein Bewusstsein?«
»Ich weiß nicht, ob die Wand auch ein Bewusstsein hat«, antwortete Art. »Warum fragst du sie nicht?«
»Verpiss dich!«, knurrte Adam, doch Art ließ sich nicht entmutigen.
»Ich glaube, dass ich ein Bewusstsein habe. Was willst du mehr?«
»Das liegt nur daran, wie du programmiert wurdest.« »Das bestreite ich ja gar nicht. Woher weißt du denn, dass du über ein Bewusstsein verfügst?« »Das müsstest du nicht fragen, wenn du echte Gedanken hättest. Hättest du ein Bewusstsein, würdest du es wissen.«
»Ich glaube, ich habe eins«, sagte Art. »Ich glaube, ich weiß es.«
»Die Zeit ist um«, verkündete Adam.
»Ich habe noch eine Minute.«
»Dann werden wir uns in dieser Minute über die Genauigkeit deiner Uhr unterhalten.«
»Ich habe immerhin eine Uhr.«
»Ich habe leise mitgezählt.«
»Warum redest du dann noch mit mir, wenn die Zeit längst um ist?«
Adam starrte den Androiden mit grimmigem Grinsen an. Eine spannungsgeladene Stille erfüllte den Raum. Eine einzelne Träne trat aus Arts Auge und glitt über sein dunkles, haariges Gesicht.
Die Prüfer hielten das Hologramm an und das Bild verharrte schwebend in der Luft, seine Umrisse leicht verschwommen. Anax drehte sich zum Gremium um. Sie versuchte, das merkwürdige Gefühl hinunterzuschlucken, das sie jedes Mal befiel, wenn sie sich diesen Teil des Hologramms ansah. Ein Gefühl, das sie nicht erklären konnte.
PRÜFER: Das war eine interessante Veranschaulichung. Wir unterbrechen, wenn wir es für notwendig halten, Ihnen Fragen zu Ihrer Interpretation zu stellen. Warum weint Art an dieser Stelle? Davon steht nichts in den Aufzeichnungen.
ANAXIMANDER: In den Protokollen werden nur selten Gefühlsäußerungen ausdrücklich erwähnt. Doch mir scheint, die Programmierer möchten Adam unbedingt dazu bringen, mit Art zu interagieren, und nutzen dazu jeden erdenklichen Kniff.
PRÜFER: Die Historiker haben unterschiedliche Vermutungen angestellt, was Adam seinem mechanischen Gefährten gegenüber empfindet. Was genau geschieht Ihrer Meinung nach in diesem frühen Stadium?
ANAXIMANDER: Adam ist zornig. Das geht eindeutig aus den Aufzeichnungen hervor. Die Aggression in seinen Sätzen lässt keine andere Schlussfolgerung zu. Die Frage ist: Warum ist er zornig? Ist es der Zorn des Helden? Geht es ihm ums Prinzip? Ich glaube nicht. Ich habe mich entschieden, an diesem Punkt den Widerspruchsgeist, der ihm so oft bescheinigt wird, zu vernachlässigen. Ich glaube nicht, dass sich Adam auflehnt. Ich glaube, er hat Angst.
PRÜFER: Und wie schätzen Sie persönlich diese Schwäche ein?
ANAXIMANDER: Es war mir nicht klar, dass eine persönliche Einschätzung erwünscht ist. Als Historikerin versuche ich lediglich -
PRÜFER: Welche Gefühle empfinden Sie, wenn Sie ihn so sehen?
Der Prüfer unterbrach sie ungehalten und Anax war verunsichert. Eine persönliche Antwort? Gewiss war es für eine Historikerin nicht angebracht, eine persönliche Einschätzung abzugeben. Es wäre töricht, dies zu tun, selbst wenn sie Anax ausdrücklich dazu aufforderten. Sie versuchte, die Frage zu umgehen.
ANAXIMANDER: Ich bin mir unsicher. Deshalb war es für mich auch nicht leicht, das Hologramm zu erstellen. Ich weiß nicht, was ich fühle. Meine Gefühle sind zwiespältig. Egal, wie ich Adam porträtiere, immer habe ich das Gefühl, einen Aspekt seines Verhaltens zu vernachlässigen. Ich fühle mich wie ein Kind, das versucht, ein Puzzle zusammenzufügen, ohne zu ahnen, dass ein Puzzleteil fehlt. Es tut mir leid, ich weiß, es klingt, als wollte ich der Frage ausweichen.
PRÜFER: Ihr Hologramm sagt bereits sehr viel über Ihre Gefühle aus. Dann wollen wir uns ansehen, wie Sie das, was als Nächstes geschieht, umgesetzt haben.
Das Bild wurde wieder klarer, die beiden Figuren verharrten noch immer regungslos in der Luft.
PRÜFER: Was glauben Sie, wie sich Adam in genau diesem Moment fühlt?
ANAXIMANDER: Ich glaube, Adam ist wütend auf sich selbst, dass er sich mit dem Androiden auf ein Gespräch eingelassen hat. Er hält dies für falsch. Wie Sie wissen, lege ich bei Adam eher eine intuitive als eine berechnende Verhaltensweise zugrunde. Er empfindet es als ungerecht, dass man ihn verhaftete, nur weil er auf die Stimme seines Herzens gehört hat. Und vermutlich glaubt er, seinen Standpunkt am besten zu vertreten, wenn er sich dem Urteil widersetzt und sich weigert zu kooperieren.