SECHSTES KAPITEL

 

Gegen Mittag des nächsten Tages erreichte ich die Abzweigung der Autostraße diesseits von San Diego. Nachdem Kathie mich mit einem Frühstück versorgt und sich dann beglückt dem zweiten Vers ihrer Ballade zugewandt hatte, verließ ich sie. Ich mußte ihr das feierliche Versprechen geben, sie über jeden Fortschritt, den ich machte, zu informieren, so daß sie mit ihrer Ballade auf dem laufenden bleiben konnte. Ich tauschte dieses Versprechen vergnügt gegen ein anderes ein — wenn ich sie über meine Fortschritte informierte, so mußte sie dafür sorgen, daß das riesige Messingdings nie mehr klemmte.

Nach weiteren zwanzig Minuten Fahrt war ich in San Lopar. Ich war stark erleichtert, festzustellen, daß die mikroskopische Stadt wirklich existierte und nicht nur ein Traumgebilde Pete Bliss’ aus einer jener düsteren Nächte war, in denen er auf seine Jenny gewartet hatte.

Ich fuhr im Schrittempo um die nächste Kurve, und da stand das große Haus auf dem Hügel mit seiner hohen Backsteinmauer, gerade vor mir. Zwei Querstraßen weiter stieß ich auf ein Restaurant, vor dem ich anhielt, um zu essen. Solange ich da war, gab es nur einen Gast — und der war ich — , und so sah mir die Kellnerin mit einer Art brütender Konzentration zu, wie ich mich durch ein Steak-Sandwich hindurcharbeitete, die etwas Entnervendes hatte. Als sie mir eine zweite Tasse Kaffee eingoß, ließ ich ihr ein strahlendes Lächeln zukommen, das zu genau nichts führte.

»Eine nette kleine Stadt haben Sie hier«, sagte ich im Plauderton.

»Wenn Sie sie haben wollen, können Sie sie kriegen«, sagte sie gleichgültig. »Ich wickle Sie Ihnen sogar noch in Geschenkpapier ein, wenn Sie bloß versprechen, sie sofort mitzunehmen

»Sie machen sich nichts aus ihr wagte ich zu fragen.

»Hm — « Sie zuckte auf vollendete Weise die Schultern. »Die Woche über ist es ruhig, aber samstags nachts ist hier vielleicht was gefällig — da lassen sie die Straßenlampen bis Mitternacht an

»Warum gehen Sie nicht woandershin regte ich an.

»Mister sagte sie mit gequältem Aufschrei. »Dieses Dreckslokal hier gehört mir. Machen Sie mir ein Angebot, ich nehm’s an und hau’ sofort ab

»Vermutlich muß doch wenigstens einer hier florieren: der Bursche, dem das große Haus auf dem Hügel gehört sagte ich.

»Old Rand?« Sie schnupfte verächtlich. »Wenn er was verdient, dann gibt er’s bestimmt nicht in San Lopar aus Sie focht einen schnellen, stillen Kampf mit sich aus, und die Gerechtigkeit siegte. »Ich glaube, es ist nicht fair, so was von ihm zu sagen«, gab sie zu. »Er hat das Geld verdient, bevor die Steuern einem nichts mehr übrigließen wie heute, und ich kann’s ihm nicht verdenken, daß er dort hängengeblieben ist. Vielleicht würde er noch immer Filme machen, wenn er das Bein nicht gebrochen hätte

»Rand sagte ich vorsichtig. »Sie meinen doch nicht etwa Lee Rand, den Schauspieler

»Na klar, Sally die Fächertänzerin meine ich nicht fuhr sie mich an. »Klar, ich meine Lee Rand - den, der vor dreißig Jahren all die großen Western gemacht hat — denselben

Ich bezahlte vergnügt die Rechnung und hinterließ zwei Dollar als Trinkgeld. »Dann hat ja San Lopar etwas, womit es prahlen kann, was sagte ich.

»Sie können sich’s wahrscheinlich leisten, so was zu sagen«, brummte sie. »Man merkt, daß Sie nicht hier leben Sie nahm die beiden Dollarscheine und warf sie mir wieder hin. »Sie haben zuviel bezahlt

»Das ist das Trinkgeld«, sagte ich nervös.

Sie erstarrte für vielleicht zehn Sekunden in einer Art Katalepsie, bis sich ihr Nervensystem von dem Schock erholt hatte.

»Sie können unmöglich alle Tassen im Schrank haben«, sagte sie verwirrt. »Die ganze Rechnung hat nur anderthalb Dollar ausgemacht. Das heißt, Ihr Trinkgeld macht«, ihre Augen quollen beim Ausmaß dieser Vorstellung heraus, »hundertzwanzig Prozent aus

»Ich stamme aus Texas«, sagte ich und strebte dann eilig der Tür zu.

»He!« Ihre Stimme verfolgte mich bis auf die Straße. »Geben Sie mir noch drei Dollar, und der Bums gehört Ihnen

Ich fuhr langsam zu dem Haus auf dem Hügel hinauf, zufrieden bei dem Gedanken, daß Joe Kirk zweihundert Dollar für eine Information verlangt hatte, die weniger wertvoll war, als sie mir die Wirtin für zwei Dollar hatte zukommen lassen. Nun, nachdem ich wußte, daß es sich um Lee Rands Haus handelte, war eine ganze Reihe Fragen mit einem Schlag beantwortet. Irgendwo in meinem Unterbewußtsein nagte nur die eine Sorge, alles könnte zu einfach ineinanderpassen; und das ist etwas, das einfach nie passiert.

Das anmutige schmiedeeiserne Tor stand weit offen, so daß ich hineinfuhr und dann die gewundene Auffahrt hinauf, die sorgfältig so angelegt war, daß sie dem Besucher die beste Aussicht auf die das Haus umgebende Landschaft bot.

Ein betagter Butler öffnete mir die Tür und schien um ein paar Zentimeter einzuschrumpfen, als ihn das starke Sonnenlicht mit brutalem Gleichmut traf.

»Mein Name ist Rick Holman«, sagte ich höflich. »Ich möchte gern Mr. Rand sprechen

»Sind Sie mit ihm verabredet, Mr. Holman Seine Stimme klang wie das Geräusch dürren Laubs, das im Spätherbst auf dem Boden raschelt.

»Nein«, gab ich zu. »Aber ich bin überzeugt, Mr. Rand wird mich sprechen wollen, wenn Sie ihm mitteilen, es handle sich um einen gemeinsamen Freund — einen Mr. William Holt aus San Diego

Er murmelte den Namen ein paarmal vor sich hin und neigte dann langsam den Kopf. »Bitte warten Sie hier, Mr. Holman, während ich mich erkundige

Er schloß sachte die massive Bronzetür vor meiner Nase, und ich konnte nichts tun als warten. Gut fünf Minuten später öffnete sich die Tür erneut, und er forderte mich höflich auf, ihm in die Bibliothek zu folgen, wo Mr. Rand mich kurz empfangen wolle.

Die Bibliothek war ein massiv wirkender, gruftartiger Raum, in dem drei Wände mit Büchern vollgepflastert waren, die ebenso unerwünscht wie ungelesen wirkten. Ein lebensgroßer in Bronze gegossener Colonel William Cody stand bewegungslos in der Fensternische, und sein wilder Blick unterdrückte jeden Gedanken an Aufstand und Empörung von seiten des makellosen Rasens oder des kunstvollen Felsengartens draußen vor dem Fenster. Ich fand das nicht fair; wenn es sich ein Mann leisten konnte, einen lebensgroßen Buffalo Bill in seiner Fensternische stehen zu haben, so könnte er es sich auch leisten, einen lebensgroßen Büffel auf den Rasen hinauszustellen, damit er was zum Ansehen hätte.

Ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und wandte mich ihr erwartungsvoll zu, worauf ich einen noch schlimmeren Schock erhielt als den, den ich bei der Restaurantbesitzerin ausgelöst hatte. Es war natürlich völlig meine eigene Schuld. Nur in der menschlichen Erinnerung spielt Zeit keine Rolle, und die Lee-Rand-Vorstellung, die ich in mir trug, stammte von einem vierzehnjährigen Jungen und war nie revidiert worden. Bis zu dem Augenblick also, als die Bibliothekstür aufschwang, stand Lee Rand noch immer da, gut zwei Meter groß und den gesamten Wilden Westen zu seinen Füßen.

Ich hatte zuversichtlich erwartet, einen sehr männlich wirkenden Gentleman von Mitte Dreißig anzutreffen, mit einem Schopf unordentlichen schwarzen Haares und einem scharfgeschnittenen Kinn, das unheildrohend hervortreten konnte, wann immer ein Mensch mit einem großen schwarzen Hut in die Stadt einritt. Ein Mann, der leichtfüßig war wie ein Panther, ein Mann, bei dem man instinktiv wußte, daß er am gefährlichsten war, wenn seine gedehnte Sprechweise die Worte beinahe versiegen ließ.

Die erste Ankündigung der Wirklichkeit war das langsame, schleppende Geräusch eines Stocks, kurz bevor Rand die Bibliothek betrat. Dann begann ich, einfältig zu glotzen. Vielleicht lag es an dem steifen Bein, das seiner Gestalt etwas Verbogenes gab und viel dazu beitrug, ihn älter erscheinen zu lassen, als er war. Die klare Kinnlinie hatte sich in herabhängende Hautsäcke verwandelt. Das gespannte, wettergebräunte Gesicht war kreuz und quer von tief eingeschnittenen Furchen durchzogen. Er konnte höchstens sechzig sein, aber sein Haar war weiß, und er hatte die Haltung eines sehr, sehr alten Mannes. Er kam langsam auf mich zu, wobei er erst sein Gewicht auf den Stock legte und dann sein steifes Bein hinter sich herzog.

»Sie wollten mich sprechen, Mr. Holman Die Stimme war noch immer kräftig, zuversichtlich und von peinlicher Höflichkeit.

Aber wohin war sein gedehnter Westerndialekt verschwunden, den zehn Millionen Jungen bei den Samstagmatinees so geliebt hatten? Er sprach mit einem scharfen, gebildeten östlichen Akzent, was schlimmer war als Ketzerei, es war Verrat! Er wartete geduldig auf meine Antwort, und der Ausdruck milder Neugierde verwandelte sich in den höflichen Erstaunens, als die Zeit verging und ich nur dastand und ihn mit leerem Blick anstarrte. Dann glitt langsam ein Ausdruck amüsierten Verständnisses über sein Gesicht.

»Ah!« Er lachte ehrlich. »Sie sind sicher einer meiner Fans gewesen, Mr. Holman Ich nickte wie betäubt. »Erinnern Sie sich, in welchem Jahr das war, als Sie mich zum letztenmal in einem Film gesehen haben

»Neunzehnhundertzweiundvierzig«, murmelte ich »oder vielleicht dreiundvierzig

»Gut zwanzig Jahre«, sagte er und nickte. »In dieser Zeit haben Sie sich von einem Jungen in einen ausgewachsenen Mann verwandelt, nicht wahr? Es scheint mir kaum fair von Ihnen, zu erwarten, ich sei noch immer der am schnellsten schießende, am härtesten reitende hombre des Westens. Oder?«

Mein Gehirn unternahm eine letzte quälende Anstrengung, sich den Tatsachen anzupassen, wobei ich ihn verlegen angrinste. »Sie müssen mich für unglaublich einfältig halten und für ebenso unhöflich, Mr. Rand«, sagte ich aufrichtig. »Ich weiß nicht, wo ich mit meinen Entschuldigungen anfangen soll

»Es passiert alle naselang«, sagte er behaglich. »Wenn man selber beginnt, alt zu werden, nimmt man die Tatsache hin, daß andere auch alt werden. Aber der Knabe im Mann erinnert sich immer an den Helden aus der Kindheit — und der wird nie älter

Er zog sich einen Stuhl heran und ließ sich dankbar darauf nieder. »Bitte, entschuldigen Sie mich. Dieses steife Bein hier wird immer fauler

»Natürlich«, sagte ich.

»Rick Holman.« Er nahm eine dünne, schwarze Zigarre aus seiner Brusttasche und rollte sie sachte zwischen den Fingern. »Es besteht wohl keine Möglichkeit, daß Sie vielleicht nicht der Holman sind, den ich im Kopf habe

»Ich glaube kaum, Mr. Rand

»Ah!« Er zündete sich die Zigarre an und paffte einen dünnen Strom schwarzen Rauchs gegen die hohe gewölbte Decke. »Dann stecke ich also in Schwierigkeiten? «

»Von meinem Gesichtspunkt aus nicht, Mr. Rand«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Aber vielleicht von Ihrem eignen aus

Er hob plötzlich seinen Stock hoch in die Luft und ließ ihn in einem bösartigen Bogen über die Klingelanlage in der Mitte des Tisches sausen. »Setzen Sie sich, Mr. Holman. Ich glaube, wir brauchen etwas zu trinken

Der betagte Butler kam ein paar Sekunden später hereingeschlurft, und Rand blickte mich fragend an.

»Rye auf Eis wäre großartig«, sagte ich.

»Für mich dasselbe, Taptoe«, sagte Rand munter. »Vom guten, ja?«

»Natürlich, Mr. Rand.« Der Butler zog sich langsam zurück.

Lee Rand zog langsam an seiner Zigarre, während er seinen eigenen Gedanken nachhing und Buffalo Bill nach wie vor das Fenster gegen Angriffe von irgendwoher überwachte, ohne zu merken, daß der Feind bereits im Haus war.

»Ich glaube nicht, daß es viel Sinn hat, mit Ihnen Katze und Maus spielen zu wollen, Mr. Holman. Das Kennwort, das Sie dem armen alten Taptoe für mich mitgegeben haben, beweist das

»Die Leiche Jenny Holts wurde im Leichenschauhaus von ihrem Vater William Holt aus San Diego angefordert«, sagte ich. »Wir beide wissen, daß der wirkliche Name des Mädchens Jennifer Monteigne war und daß sie den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen hatte, als ihr Vater sie enterbte. Aber niemand kann einfach in ein Leichenschauhaus hineinspazieren und behaupten, er habe ein Anrecht auf eine Tote. Er muß es zuerst beweisen. Daraus ergibt sich eine interessante Situation, Mr. Rand

Der Butler brachte die Drinks auf einem silbernen Tablett und stellte sie neben den Ellbogen seines Herrn auf den Tisch. Nachdem er verschwunden war, winkte mir Rand, eines der Gläser zu nehmen, hob dann sein eigenes ins Licht des Fensters und betrachtete anerkennend den bernsteinfarbenen Inhalt.

»Soll ich Ihnen etwas verraten, Mr. Holman? Um ein angenehmes Alter zu haben, müssen Sie anfangen zu planen, noch bevor Sie vierzig sind. Suchen Sie sich Ihren Arzt mit immenser Sorgfalt und mit Bedacht aus, sofern Sie in Ihren späteren Jahren die Annehmlichkeiten guten Alkohols und guter Zigarren zu genießen wünschen. Der Arzt ist der entscheidende Faktor — nach Geld natürlich — , um im reifen Alter das Leben noch zu genießen.«

»Was mich bedrückt, Mr. Rand: Wie kann ich genügend Geld zusammenbringen, nachdem die Steuern einem heutzutage nichts mehr übriglassen

Er kicherte vergnügt. »Daran müssen Sie arbeiten, solange Sie noch wirklich jung sind — sorgen Sie dafür, daß Sie nicht in der falschen Ära geboren werden

Ich kostete den Rye, und meine Geschmacksnerven schnurrten förmlich bei dem milden Aroma des ausgezeichneten Whiskys.

»Erzählen Sie mir ein bißchen mehr über dieses Mädchen Jenny«, sagte er in beiläufigem Ton.

»Sie pflegte am Anfang jeden Monats immer für zwei Tage zu verschwinden«, sagte ich. »Sie weigerte sich, ihrem Ehemann zu erzählen, wo sie gewesen war, aber sie kam immer mit tausend Dollar in bar zurück. Als er sie fragte, woher sie es habe, lachte sie ihm ins Gesicht und sagte, von einem Mann. Später, als sie Johnny Fedaro wegen Pete Bliss verließ, verschwand sie nach wie vor jeden Monat diese beiden Tage. Vielleicht war es ihr zur Gewohnheit geworden, aber sie machte einen psychologischen Fehler und wurde sorglos

»Was meinen Sie damit, Mr. Holman fragte Rand milde.

»Solange sie mit genügend Geld zurückkam, um Fedaro die Notwendigkeit zu ersparen, selbst welches zu verdienen«, sagte ich, »war Johnny einigermaßen zufrieden. Aber Bliss war ein anderer Typ - ein rasend eifersüchtiger Mann, der sie allein besitzen wollte —, der Typ, der herausfinden mußte, wo sie diese beiden Tage im Monat ohne ihn zubrachte

»Ah!« Rand stippte verächtlich die Asche von seiner Zigarre auf den makellosen und prächtigen Perserteppich. »Er folgte ihr also

»Er verlor sie ein paar Kilometer von diesem Haus entfernt aus den Augen«, sagte ich. »Aber er hielt es für möglich, daß dies hier das Haus sei, das sie aufsuchte — und wenn man einmal dicht genug daran ist, genügt der Name des Besitzers.«

»Mr. Holman«, in seiner Stimme lag ein formeller Unterton, den sie zuvor noch nicht gehabt hatte, »ich würde Ihnen gern noch eine weitere Frage stellen, und ich würde es sehr begrüßen, wenn ich eine ehrliche Antwort darauf bekäme

»Mr. Rand«, sagte ich höflich, »bitte fragen Sie

»Was haben Sie, genaugenommen, für ein Interesse an all dem

»Mein Kunde möchte einen detaillierten Bericht darüber, wie Jenny die beiden letzten Jahre ihres Lebens zugebracht hat«, sagte ich.

»Das heißt also, daß Ihr Kunde Axel Monteigne ist Er hob die Hand. »Ich erwarte natürlich nicht, daß Sie das beantworten

»Ich hatte es auch nicht vor«, sagte ich.

»Das dachte ich mir«, sagte er trocken. »Würden Sie mir bitte eine Minute Zeit lassen, Mr. Holman, um meine Gedanken zu sammeln

»Natürlich.«

Ich zündete mir eine Zigarette an und blickte aus dem Fenster. Ein Vogel schoß plötzlich nah an der Fensterscheibe vorbei, was einen kratzenden, zitternden Laut gab. Buffalo Bill blinzelte nicht einmal. Ich war innerlich damit beschäftigt, in meiner Erinnerung nach den dort aufbewahrten spärlichen Kenntnissen über Lee Rand zu forschen.

Das steife Bein war das Resultat eines Sturzes, nachdem das Pferd auf ihn gerollt war; es war wahrscheinlich im Jahr sechsundvierzig passiert. Danach hatte er sich zurückgezogen, obwohl sein Studio ihn angefleht hatte zu bleiben, das steife Bein mache nichts aus und könne sich in späteren Jahren vielleicht sogar als Aktivposten erweisen... Von den sterblichen Überresten Marian Holts war damals, genau wie von den übrigen Passagieren der Maschine, nur Asche übriggeblieben, so daß Axel Monteigne nur einen Gedächtnisgottesdienst in Hollywood für sie hatte abhalten lassen, zu dem Lee Rand nicht eingeladen worden war... Das nächste Bild war ein wenig verschwommen, ich hatte irgend etwas über »Tochter eines berühmten Produzenten läuft von exklusiver Privatschule weg« gelesen. Sie wurde zwei Wochen später in einer hundertfünfzig Kilometer südlich von der Schule entfernten Stadt entdeckt. — Vielleicht in San Diego?

Dann war da noch eine Sache, etwas noch Verschwommeneres — ein Bild in einer der Gesellschaftsspalten. Ich konzentrierte mich angestrengt und war fast davon überzeugt, das Mädchen auf dem Bild sei der selbstsicher wirkende Teenager Jennifer Monteigne gewesen, aber das Gesicht des Mannes wollte nicht mehr vor mir auftauchen. Mein Erinnerungsfonds tischte mir vier Nieten auf, dann erschien sechsmal hintereinander der Name Rand. Ich hielt das für verrückt, denn ich wußte, daß ihr Begleiter ein junger Mann gewesen war, und Rand war älter als ihr Vater —

»Ich glaube, wir können hier zu einer Art Kompromiß kommen, Mr. Holman Rands Stimme riß mich wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Ein Kompromiß, Mr. Rand?«

»Wir können eine vorläufige Vereinbarung treffen Er lächelte leicht. »Wenn ich Ihnen gewisse Informationen gebe, die in keiner Weise ein Licht auf die beiden letzten Jahre Jennys werfen — können wir uns dann darauf einigen, daß Sie diese Informationen nicht an Ihren Kunden weitergeben

»Wenn Sie mich selbst beurteilen lassen, ob Ihre Informationen für den detaillierten Bericht, den mein Kunde wünscht, wesentlich sind oder nicht: ja«, sagte ich.

»Einverstanden«, sagte er, ohne zu zögern. »Ich freue mich, mich auf Ihre Reputation verlassen zu können, Mr. Holman Er trank noch einen Schluck Rye und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Nun sind Sie wohl an der Reihe, Fragen zu stellen, denke ich

»Wie haben Sie es geschafft, Jennifer Monteignes Leiche aus dem Leichenschauhaus herauszubekommen fragte ich geradeheraus.

»Ich muß weit zurückgreifen, um Ihnen diese Frage zu beantworten«, sagte er freundlich. »Meine erste Frau starb neunzehnhundertfünfunddreißig bei der Geburt unseres Sohnes Edgar. Zwei Jahre später heiratete ich Marian Holt, und obwohl wir uns beide dringend Kinder wünschten, bekamen wir nie welche. Neunzehnhundertvierzig ließ sich Marian von mir in Mexico City scheiden und heiratete, eine Woche nachdem sie das Scheidungsurteil in Händen hatte, in New York Axel Monteigne

»Ich hoffe, die Sache wird nicht noch komplizierter, als sie ohnehin schon ist«, flehte ich.

»Ich glaube nicht«, sagte er zuversichtlich. »Aber die Daten sind wichtig. Sie sind nicht alt genug, um dieselben Erinnerungen haben zu können, wie sie ein Altersgenosse Marians haben kann. Sie war eine prachtvolle Frau, Mr. Holman. Schön, intelligent, vital, großzügig — und ihre Fehler bewegten sich auf derselben prächtigen Ebene. In den drei Jahren, die wir miteinander verheiratet waren, liebten wir uns und lagen uns, wie ich glaube, mit der gleichen Leidenschaftlichkeit in den Haaren.

Monteigne, das wußte ich, war entschlossen, mir Marian abzujagen — ich glaube, sie war die einzige Frau, die er jemals hatte oder haben wollte — , aber ich war mir meiner überlegenen Anziehungskraft auf sie absolut bewußt. Natürlich unterschätzte ich ihn bei weitem. Eine mit sehr viel Sex behaftete französische Schauspielerin schaffte es, aus Frankreich zu flüchten, kurz bevor die Nazis kamen, und das Studio nahm sie kurzfristig unter Vertrag. Ich hatte von jeher eine Schwäche für französische Frauen — es zeugt von jugendlicher Unreife — , und sie tat nichts anderes, als eine geschlagene Woche lang mit diesem bestimmten Ausdruck in den Augen hinter mir herzurennen.

Wie kam ich schon dazu, mir wegen einer Schauspielerin, die einem sozusagen als milde Gabe mitgeliefert wird, Gedanken zu machen? Ich ging eines Abends mit ihr aus und wollte sie mit ins Appartement eines Freundes nehmen, aber sie bestand darauf, daß ihr eigenes besser sei. Eines der wenigen Dinge, die sie aus Paris hatte mitbringen können, war ein äußerst sinnreiches System von Spiegeln und Lichtern in ihrem Boudoir, so vertraute sie mir an, und sie hatte es eben in ihrem neuen Appartement installiert. Es war unwiderstehlich!

Natürlich war alles von Anfang an von Monteigne inszeniert worden. Die Spiegel und die Beleuchtung waren in der Tat sinnreich — und die dazwischen versteckten Kameras erst recht. Axel sorgte dafür, daß Marian sechs Serien von jeder Pose bekam — und eine Serie hatte ungefähr achtundsiebzig Abzüge. Wenn Sie heute noch eine Serie bekommen können: Sie sind auf dem Erotika-Markt rund fünftausend Dollar wert, habe ich mir sagen lassen

»Mr. Rand«, sagte ich und lächelte ihn freundlich an, »ich möchte nicht, daß Sie glauben, ich hätte meine ursprüngliche Frage vergessen oder ich würde sie je vergessen

»Ich muß mich an die Tatsachen halten Er schüttelte betrübt den Kopf. »Ein weiteres Laster, das einen befällt, Mr. Holman — man schweift ab! Marian stürmte in wilder Wut davon, als sie die Bilder sah, nahm das nächste Flugzeug nach Mexico City und blieb dort, bis die Scheidung ausgesprochen war. Ich wußte, daß ich keine Chance hatte, sie zurückzubekommen; aber ich ging trotzdem zur Verhandlung, in der vagen Hoffnung, ich könnte beweisen, daß der ganze Zwischenfall von Monteigne arrangiert worden war. Es war natürlich hoffnungslos, es gab keine Beweise.

In der ersten Nacht nach unserer Scheidung rief ich Marian in ihrem Hotel an und...«

»Mr. Rand«, unterbrach ich ihn, »diese Sorte Beweismaterial in einer Scheidungsverhandlung zwischen zwei Hollywood-Spitzenstars hätte die gesamte Welt durcheinandergebracht — ob Krieg oder nicht. Aber ich erinnere mich nicht, etwas davon gehört zu haben

»Haben Sie auch nicht Er lächelte bedrückt. »Marian ließ sich auf Grund seelischer Grausamkeit von mir scheiden, und das blieb unbestritten. Ich wollte die Chance wahrnehmen und versuchen nachzuweisen, daß das Ganze erstens von Anfang an arrangiert war — und daß zweitens Monteigne der Initiator war. Aber das Studio hatte ein ganzes Regiment von Rechtsanwälten aufgeboten, die nur dafür sorgten, daß ich noch nicht einmal auf hundert Meter Entfernung an das Gerichtsgebäude herankam

Er nahm eine frische Zigarre heraus und rollte sie leicht zwischen den Fingern. »Nun — wo war ich stehengeblieben? Ach ja, die erste Nacht nach unserer Scheidung. Ich rief Marian an und redete ihr vernünftig zu. Wir seien doch beide zivilisierte Menschen; nun, nachdem alles vorüber sei, könnten wir uns doch zusammensetzen und als eine Art informeller Abschiedsfeier ein paar Gläser zusammen trinken. Sie hielt es für eine wundervolle Idee. Brauche ich Ihnen zu sagen, daß wir uns beide unglaublich betranken? Es gibt da ein Souvenir, das ich die ganzen Jahre über aufgehoben habe — «

Er stand schwerfällig von seinem Stuhl auf, legte sein Gewicht auf den Stock und ging, sein steifes Bein nachziehend, zu einem Sekretär hinüber, der in eines der Bücherregale eingebaut war. Ich wartete, während er vorsichtig die oberste Schublade aufschloß und ein gerahmtes Dokument herauszog und mir dann zuwinkte, ich solle herüberkommen und es ansehen.

Es war eine aus dem Gästeregister des Pepper Tree Hotels in Mexico City herausgerissene und vom neunten November neunzehnhundertvierzig datierte Seite. Auf dem ganzen Blatt gab es nur zwei Eintragungen. Die erste war mit ordentlicher Schrift geschrieben und hieß Emanuel Lopez, und darunter stand in riesiger spinnenartiger Handschrift Marian Lopez. Unter der Rubrik »Beruf« erschien neben Emanuels Namen die Bezeichnung »Pferdehändler«.

»Ist das nicht köstlich, Mr. Holman Rand schüttelte sich vor Lachen. »Was für ein mieses Hotel das war!« Er schleppte sich zu seinem Stuhl zurück und ließ sich nieder. »Es gab einen riesigen gußeisernen Nachttopf unter dem Bett, und wenn man aus Versehen dagegen stieß, gab er einen erschreckenden Lärm von sich — so etwa wie ein mittelalterlicher Ruf zu den Waffen

Er entschloß sich schließlich, seine Zigarre anzuzünden, und grinste mich durch den schwarzen Qualm an. »Wissen Sie, ich glaube, das war die schönste Nacht meines ganzen Lebens, Mr. Holman. Was nach drei Jahren legaler Ehe die Neigung hatte, prosaisch zu werden, wurde plötzlich zutiefst erregend durch die veränderte Situation. Sie verzeihen mir hoffentlich, wenn ich sage, daß wir uns in dieser Nacht geliebt haben wie nie zuvor!

Marian flog am nächsten Tag geradewegs nach New York und heiratete eine Woche später Axel. Es gab eine riesenhafte Hochzeit, und hinterher einen Empfang für zweitausend Gäste. Merkwürdig, wenn ich mir das jetzt durch den Kopf gehen lasse — in den fünf Jahren ihrer Ehe habe ich Marian und Axel nicht einmal zusammen gesehen. Er sorgte natürlich mit allen Mitteln dafür, daß ich aus dem gesellschaftlichen Kreis, in dem sie verkehrten, ausgeschlossen war, aber nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit...«

»Mr. Rand«, sagte ich verzweifelt, »bitte — «

»Wir kommen noch dahin, wohin Sie wollen, keine Sorge«, sagte er gut gelaunt. »Sie können einen alten Mann nicht so drängen, Mr. Holman. Nun, die Monate vergingen, und das nächste, was ich hörte, war, daß Marian Axel mit einer Tochter beglückt hatte. Drei Wochen später bekam ich einen dringlichen Anruf von Marian. Sie erzählte mir, Axel sei in Kanada und ich sollte sie in derselben Nacht heimlich in San Diego treffen, es handle sich um eine Sache auf Leben und Tod. Ich glaubte das zwar nicht, fuhr aber trotzdem hin.

Nach dem Tod ihres Vaters zwei Jahre zuvor hatte Marian ihr altes Haus in San Diego aus rein sentimentalen Gründen gekauft — das verdammte Ding stand zumindest dreihundertsechzig Tage im Jahr leer! Marian wartete bereits auf mich und sie hatte ihr neues Baby bei sich, das sie Jennifer getauft hatten. Nachdem ich das Kind bewundert hatte, fragte mich Marian, ob mir die Dauer einer normalen Schwangerschaft bekannt sei. Ich dachte einen Augenblick, das arme liebe Kind sei übergeschnappt, aber sie bestand darauf, und so sagte ich: neun Monate. Danach wies sie darauf hin, daß das Baby genau neun Monate und eine Woche von dem Tag an, da Axel und sie getraut worden waren, geboren worden war. Weiterhin erinnerte sie mich mit Schärfe daran, daß unsere Scheidungsfeier genau eine Woche vor ihrer Heirat mit Axel stattgefunden hatte. Mit anderen Worten, sie konnte niemals mit Sicherheit wissen, ob ich oder Axel der Vater des Babys war.

Marian hatte sich, selbst jetzt nach erst zehn Monaten Ehe mit Monteigne, wesentlich verändert. Der enge Kontakt mit ihm hatte sie erheblich ernüchtert. Sie erklärte mir, sie wolle uns beiden gegenüber fair sein, aber das Wichtigste war ihr, so weit wie möglich für die Zukunft des Kindes zu sorgen.

Natürlich war das Kind ordnungsgemäß unter dem Namen Jennifer Monteigne, Tochter von Marian und Axel, ins Taufregister eingetragen worden. Marians verrückte Idee bestand darin, daß sie die Geburt ein zweites Mal eintragen lassen wollte, und zwar sollte dabei ich als Vater genannt werden. Ich sagte, der Gedanke sei absurd und sie sei wohl nicht bei Trost. Wir stritten uns die halbe Nacht — und wie immer bei Marian war ich derjenige, der nachgab.

Sie hatte einen Bruder, der nur zwei Jahre jünger war als ich, William Holt. Ein sehr seltsames Individuum, das fünf Jahre zuvor eine ebenso seltsam aussehende Frau namens Gertrude geheiratet hatte, die er nach Südamerika geschleppt hatte, damit sie ihm helfen sollte, irgendeine gottverlassene kleine Handelsstation mitten im Dschungel zu leiten. Die beiden waren spurlos verschwunden, fast unmittelbar nachdem sie weggereist waren. Sie waren nie auf der Handelsstation angekommen. Man hielt sie seit langem für tot, und man hatte sie allmählich vergessen.

Marian hatte ihre Heiratsurkunde in einer Schachtel unter den Papieren ihres Vaters gefunden. Am nächsten Tag ließen wir in einem der mehr abseits liegenden Nester des San Diego County die Geburt einer Tochter Jenny eintragen, deren Eltern William und Gertrude Holt waren. Es war alles lächerlich einfach, eine Affäre von zwei Minuten. Dann nahm Marian das Kind sofort mit zurück in ihr Haus in Beverly Hills, überzeugt, daß Jennifers Zukunft doppelt so gesichert war wie das irgendeines Babys auf der Welt. Absolut verrückte Idee natürlich. Selbst wenn Monteigne das Kind irgendwann in der Zukunft einmal nicht mehr als sein eigenes anerkennen sollte, konnte gegen mich kein Anspruch erhoben werden, wenn ich nicht einverstanden war. Aber Marian war dazu entschlossen gewesen, und damit hatte sich der Fall

»Es ist...« Ich schluckte. »Das ist doch — unglaublich

»Natürlich ist es das Rand kicherte. »Aber vergessen Sie nicht, daß das, was vor zwanzig Jahren als Personenstandsbüro in einem kleinen Drecknest in San Diego County galt, kaum dem glich, was heute wohl daraus geworden ist. Sie müssen zugeben, daß so etwas damals vorkommen konnte

»Nein«, sagte ich entschlossen, »ich glaube es einfach nicht

»Dann müssen Sie eben glauben, daß ich Jennys Leiche aus dem Leichenschauhaus geklaut habe, als gerade niemand hingesehen hat«, sagte er gelassen.

Er hatte natürlich recht. Ich erinnerte mich, wie der Leichenhausangestellte vom Register abgelesen hatte:

»Anspruch erhoben vom Vater, einem William Holt, San Diego

Es war der absolute Beweis für Lee Rands Geschichte.

»Mr. Holman«, sagte er in plötzlich ernstem Ton, »wenn dies je einem Gericht zu Ohren käme, geriete ich selbstverständlich in ernsthafte Schwierigkeiten, vor allem, weil ich Jennys Leiche unter Vorspiegelung falscher Tatsachen beansprucht habe

»Das sehe ich völlig ein, Mr. Rand«, sagte ich. »Unsere Vereinbarung gilt, soweit sie mich anbelangt. Nichts davon betrifft die beiden letzten Jahre von Jennys Leben

»Danke«, sagte er mit Wärme. »Nun — Sie haben doch sicher noch eine Menge Fragen an mich zu richten

»Ganz recht«, sagte ich. »Hat Jenny je...«

Die Bibliothekstür fuhr mit einem Krach auf, als ein großer athletisch aussehender Bursche ins Zimmer geplatzt kam. Ein Schopf unordentlichen schwarzen Haares türmte sich über einem massigen Gesicht mit dreisten, zu eng beieinanderstehenden Augen. Er mochte nahe an Dreißig sein, schätzte ich, und er hätte, angefangen von einem Wall-Street-Makler bis zu der jungen, aufgeweckten rechten Hand eines Syndikatsbosses, alles sein können.

»Hallo, Dad«, sagte er mit schroffer Stimme. »Wie stehen die Aktien

»Gut«, sagte Rand. »Wie war’s diesmal in Las Vegas

»Okay, glaube ich Der Bursche zuckte gereizt die Schultern.

»Ich möchte dich Rick Holman vorstellen«, sagte Rand. »Mr. Holman, das ist mein Sohn Edgar

Mein Erinnerungsvermögen gluckste vergnügt, während wir uns die Hände schüttelten. Der Begleiter des Teenagers Jennifer Monteigne auf diesem mir nur noch verschwommen erscheinenden Bild hatte Rand geheißen, aber natürlich war es sein Sohn Edgar gewesen.