VIERTES KAPITEL

 

Ich weiß nicht, wer der Bursche war, der diesen unsterblichen Ausspruch: »Reisen bedeutet lediglich anzukommen«, erfunden hat. Aber wenn man fliegt, so wird man sich schlagartig dieser ganzen unangenehmen Wahrheit bewußt. Fliegen macht mich keineswegs nervös, es jagt mir lediglich Angst ein. Ich weiß, daß die Statistiken recht haben, wenn sie behaupten, ich sei oben in der Luft sicherer als auf meinem eigenen Wohnzimmerboden. Die Sache ist nur, daß mein Wohnzimmerboden nicht plötzlich im Dreihundertkilometertempo auf zwölfhundert Meter Höhe steigt und sich dann ohne ersichtliche Sicherheitsvorrichtungen im Neunhundertkilometertempo weiterbewegt. Der Fairneß halber muß ich allerdings bemerken, daß mein Wohnzimmer auch nicht mit sexy aussehenden Stewardessen in sexy aussehenden Uniformen, die mich im Abstand von einer halben Stunde mit Alkohol und Essen versorgen, ausgestattet ist.

Als ich schließlich in meinem Hotelzimmer in München gelandet war, hatte ich Marco Polo als Riesenschwindler entlarvt. In weniger als vierundzwanzig Stunden hatte ich die halbe Welt umkreist, während dieser Schwindelmeier ein paar Jahre gebraucht hatte, um auf dem Rücken eines Kamels China zu finden. Ich meine, Marco Polo hatte sich auf dem Rücken eines Kamels befunden, nicht China. Damals hatte sich China, ebensowenig wie die übrige Welt, auf dem Rücken einer Riesenschildkröte befunden; und eine Weile saß ich in meinem Hotelzimmer herum und überlegte, was wohl aus dieser Schildkröte geworden war. Dann ging ich zu Bett und schlief und schlief, ich weiß nicht, wie lange. Mein Zeitsinn war ebenso wie die Verläßlichkeit meiner Uhr bei den Versuchen, die neun Stunden, die mir seit Los Angeles irgendwie abhanden gekommen waren, wiederzuerlangen, gescheitert. Wie konnte ich gestern an einem Ort und heute an einem anderen sein?

Jedenfalls stellte sich heraus, daß es in München etwa zehn Uhr morgens war, als ich mich geduscht, rasiert, angezogen und ein Frühstück zu mir genommen hatte. Ich warf einen Blick aus dem Fenster und sah, daß aus dem bleiernen Himmel sachte der Schnee herabfiel, genau wie es meiner Vorstellung vom Winter in Europa entsprach. Ich blätterte im Telefonbuch, fand Erich Weigels Nummer und ließ mich dann durch die Hotelvermittlung mit ihm verbinden. Während ich wartete, hielt ich mir selber die Daumen, daß Huey Lambert etwa ebensoviel Deutsch wie ich sprach, denn das hätte entschieden bedeutet, daß Weigel Englisch konnte.

»Weigel«, sagte eine kalte, klare Stimme in mein Ohr.

»Mein Name ist Holman«, sagte ich. »Es tut mir leid, aber ich spreche kein Deutsch, Mr. Weigel

»Ich spreche Englisch«, sagte die klare, scharfe Stimme.

»Huey Lambert empfahl mir, mit Ihnen Verbindung aufzunehmen, sobald ich nach München kommen würde«, sagte ich. »Es handelt sich um Monika Beyer-Brühl

»Ja?« Die Stimme klang abweisend.

»Es ist schwierig, das alles am Telefon zu erklären«, fuhr ich energisch fort. »Vielleicht könnten wir uns treffen und die Sache besprechen, Mr. Weigel

»Wo wohnen Sie

»In den Vier Jahreszeiten

»Da haben Sie eine ausgezeichnete Wahl getroffen, Mr. Holman. Unten gibt es eine sehr hübsche Bar. Wir können uns um die Mittagszeit dort treffen

»Vielen Dank«, sagte ich erleichtert. »Ich bin sehr froh...«, aber er hatte bereits aufgelegt.

Ich ging gegen dreiviertel zwölf in die Bar, ließ mich in einer gemütlichen Nische nieder und bestellte einen Bourbon auf Eis. Etwa zehn Minuten später erschien ein Mann am Tisch und sagte: »Mr. Holman

Er war ein Meter fünfundachtzig groß, hatte breite Schultern und einen massigen Körper. Sein blondes Haar war kurz geschnitten, seine Nase fleischig und seine tiefliegenden blaßblauen Augen waren verschleiert. Eine dünne vertikale Narbe vertiefte den natürlichen Spalt in seinem Kinn, und der Schnitt seines Mundes hätte selbst einen Leichenwäscher erschreckt. Wie Huey schon gesagt hatte, war Weigel ein wirklich abgebrüht aussehender Bursche, und die Eleganz seiner Kleidung trag in keiner Weise dazu bei, diesen Eindruck zu mildern.

»Wollen Sie sich nicht setzen, Mr. Weigel

»Danke Er setzte sich mir gegenüber und bestellte bei dem wartenden Kellner ein Bier. Nachdem es gebracht worden war, hob er grüßend das Glas, nahm einen tiefen Schluck und setzte es wieder ab. »Ich habe nicht viel Zeit, Mr. Holman«, sagte er steif. »Es wäre mir recht, wenn Sie gleich zur Sache kämen

Ich schilderte ihm in Kürze alles Notwendige, wie Angela Burrows mir den Auftrag erteilt hatte, Monika Beyer zu finden, wie ich entdeckt hatte, daß sie und Daran zusammen von Los Angeles nach Paris geflogen waren, wie Lambert mir erzählt hatte, daß München ihre Heimatstadt und daß vermutlich der einzige Mensch, mit dem sie sich in Verbindung setzen würde, ihr Vetter Erich Weigel sei.

Er zündete sich, nachdem ich geendet hatte, eine Zigarette an, trank noch einen Schluck Bier und zuckte dann leicht die Schultern. »Diese Burrows ist diejenige, die Monikas Vertrag hier übernommen hat

»Stimmt

»Und sie möchte, daß Monika zurückkommt, weil sie eine — Kapitalanlage ist

»Auch das stimmt«, pflichtete ich bei.

»Was gehen mich ihre Kapitalanlagen an

»In einem Film einer großen amerikanischen Produktion, dessen Dreharbeiten in einer Woche beginnen, ist eine Hauptrolle für sie vorgesehen«, sagte ich. »Wenn Monika rechtzeitig zurückkehrt, ist ihre Karriere vielleicht gesichert. Wenn sie nicht zurück ist, dann ist ihre Karriere beendet, zumindest in Hollywood, und Angela Burrows wird hinter ihr herjagen, bis sie sie gefunden hat. In Anbetracht eines gebrochenen Vertrages und eines drohenden Prozesses würde Monika nicht mehr die geringste Chance haben, irgendwo anders zu arbeiten

Weigel trank sein Glas leer, lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück und betrachtete mich unter den Augenlidern hervor. Es war ein seltsam teilnahmsloser Blick, und für ein paar Sekunden fühlte ich mich wie etwas unter dem menschlichen Status Stehendes.

»Wenn ich es arrangiere, daß Sie Monika sehen können, Mr. Holman, dann müssen Sie mir etwas versprechen

»Was zum Beispiel?«

»Ihr nicht zu erzählen, daß die Burrows Sie hierhergeschickt hat, und ihr auch nicht zu sagen, aus welchem Grund Sie hier sind. Und auch nicht, daß Sie sie nach Amerika zurückbringen wollen

»Warum, zum Kuckuck, sollte ich auf so etwas eingehen fragte ich kalt.

»Na gut!« Seine Stimme wurde rauh. »Dann versprechen Sie mir wenigstens, daß Sie es bei Ihrem ersten Zusammentreffen mit ihr nicht tun werden. Hinterher können Sie ihr sagen, was Sie wollen«, er zuckte die Schultern, »sofern Sie den Wunsch haben, sie wiederzusehen

»In meinen Ohren klingt das völlig verrückt«, sagte ich verblüfft. »Aber okay — abgemacht

Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich werde Sie um zwei Uhr in der Hotelhalle abholen. Ich würde vorschlagen, daß Sie zu Mittag essen, Mr. Holman, und dann etwas Warmes anziehen. Wir werden heute nachmittag ein ziemliches Stück weit fahren müssen Er stand auf und verließ die Bar, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen.

Da saß ich nun mit meinem noch nicht ausgetrunkenen Bourbon und einer halben Million offener Fragen. Ich leerte mein Glas, aß zu Mittag und wartete in der Hotelhalle, als Weigel pünktlich um zwei Uhr eintraf. Wir gingen hinaus zu dem Mercedes-Sportwagen, und gleich darauf lenkte Weigel ihn hinaus in den dichten Verkehrsstrom. In den ersten zwanzig Minuten kam keinerlei Unterhaltung zustande, und erst als wir allmählich die Vororte hinter uns ließen und den schneebedeckten Bergen zufuhren, begann Weigel zu sprechen.

»Wir müssen etwa neunzig Kilometer weit fahren«, sagte er kurz, »in einen Ort namens Hilfendorf. Haben Sie davon gehört

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf.

»Früher war es einmal ein großes Heilbad, und die Leute kamen dorthin in der Hoffnung, das Wasser würde sie von ihren Leiden befreien. Aber dann wurden andere Heilbäder größer und populärer, und jetzt ist Hilfendorf wieder nichts als ein kleines Nest

Ich versuchte angestrengt, mich an die Heilbäder zu erinnern, die in den Mäppchen in der Schublade von Monika Beyers Zimmer in dem Appartement in Brentwood aufgeführt gewesen waren, und war sicher, daß sich der Name Hilfendorf nicht dabei befunden hatte.

»Was haben denn Monika und Daran in Hilfendorf zu suchen, wenn sie kein heilkräftiges Wasser zu sich nehmen fragte ich.

»Monika ist allein dort«, sagte er kurz. »Daran verließ sie an dem Tag, an dem sie in Paris angekommen waren

»Warum?«

Er schaltete herunter, um eine heimtückische, scharfe Kurve zu bewältigen, und ließ dann den Wagen mit plötzlicher brutaler Kraft eine lange, gewundene Strecke entlangschießen.

»Darüber werden wir uns später unterhalten«, knurrte er. »Auf dem Rückweg nach München, nachdem Sie Monika gesehen haben, wird genügend Zeit dazu sein

Die Landschaft wurde zunehmend schöner, während der Wagen weiter und weiter in die bayerischen Alpen hineinfuhr. Es hatte aufgehört zu schneien, und der Himmel begann sich ein bißchen aufzuhellen. Weigel fuhr mit einer Art bedrohlicher Geschicklichkeit, die Kapazität und gute Straßenlage des Wagens bis zum Äußersten ausnützend. Dann, nach etwa einer Stunde, bog er von der Hauptstraße ab, und wir fuhren eine schmale Straße hinab, die sich in atemberaubenden Haarnadelkurven abwärtsschlängelte.

»Wir nähern uns jetzt Hilfendorf«, erklärte Weigel. »Sie werden unsere Vereinbarung nicht vergessen, Mr. Holman Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Ich werde sie nicht vergessen«, bestätigte ich. »Ich hoffe nur, daß sich daraus irgendein Sinn ergibt

»Gewiß.«

Das Dorf lag in ein Tal geschmiegt da und sah aus, als ob es in den letzten vier Jahrhunderten hier geträumt hätte und auch jetzt keineswegs die Absicht hegte, wegen irgend jemandem oder irgend etwas aufzuwachen. Weigel fuhr langsam durch die Hauptstraße, die an beiden Seiten von uralten Häusern gesäumt war. Er bog rechts ab und fuhr etwa vierhundert Meter weiter, um vor einem großen, schmiedeeisernen geschlossenen Tor zu halten. Wir stiegen aus, und er drückte auf den Klingelknopf in der steinernen Mauer neben dem Tor. Ein paar Sekunden später erschien ein alter Mann, der so etwas wie eine Hausmeisteruniform trug und das Tor öffnete. Ich folgte Weigel in einen gepflasterten kleinen Hof, der vor einem breiten zweistöckigen Gebäude lag, und wir stiegen die drei Stufen zur Haustür empor.

Eine Schwester mittleren Alters in weißer Tracht öffnete uns die Tür, nickte Weigel höflich zu, und dann unterhielten sie sich eine Weile in schnellem Deutsch, bevor sie zur Seite trat, um uns eintreten zu lassen. Nachdem sie die Haustür geschlossen hatte, führte sie uns einen breiten Flur entlang, klopfte höflich an eine Tür, und eine männliche Stimme rief von drinnen: »Herein

Die Schwester öffnete die Tür, und ich folgte Weigel in etwas, das offensichtlich ein Büro war. Ein kleiner kahlköpfiger Mann mit randloser Brille stand hinter seinem Schreibtisch auf und begrüßte Weigel auf deutsch. Sie unterhielten sich kurz, und dann wandte sich Weigel mir zu. »Das hier ist Doktor Eckert, Mr. Holman

Der kleine Mann verbeugte sich formell und sagte auf englisch: »Guten Tag, Mr. Holman. Herr Weigel hat mir gesagt, Sie müßten Fräulein Brühl sprechen

Ich blickte ihn kurz an und wandte mich dann an Weigel. »Ist sie krank

»Das werden Sie gleich sehen«, sagte er barsch.

»Fünf Minuten, bitte Eckert blickte ihn besorgt an. »Länger nicht.«

»Ich verstehe Weigel nickte. »Wir werden uns hinterher noch unterhalten

»Wie Sie wollen«, sagte Eckert formell. »Ich stehe Ihnen hier zur Verfügung Er ließ sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder, als wir in den Flur hinaustraten.

Die Schwester führte uns weiter den Korridor entlang und blieb vor einer anderen verschlossenen Tür stehen. Sie nahm einen Schlüsselbund aus der Tasche, wählte einen der Schlüssel aus und sagte dann etwas zu Weigel.

»Sie möchte, daß wir hier eine Minute warten, während sie zunächst allein hineingeht«, übersetzte Weigel für mich. »Es handelt sich möglicherweise«, sein Gesicht wurde für einen Augenblick starr, »um eine Frage der menschlichen Würde. Verstehen Sie

»Natürlich«, sagte ich.

Die Schwester verschwand im Zimmer und schloß die Tür hinter sich, während wir schweigend warteten, bis sie etwa eine Minute später zurückkehrte und uns winkte.

Drinnen sah es mehr wie in einer Zelle als wie in einem Zimmer aus. Ein kleines vergittertes Fenster hoch oben in der Wand ließ eben ausreichend viel Licht durch, um den kleinen Raum auf eine matte, unwirkliche Weise zu erhellen. Das gesamte Mobiliar bestand aus einem an der Wand stehenden hochbeinigen Bett, einem kleinen Tisch und einem einfachen Stuhl.

Das Mädchen, das mit gekreuzten Beinen auf dem Bett saß, blickte nicht auf, als wir das Zimmer betraten. Sie fuhr lediglich fort, der Lumpenpuppe, die sie in ihren Armen wiegte, beruhigend zuzusummen. Sie trug einen weißen Kittel, ähnlich wie ein Chirurg, lose und formlos, der bis zu ihren Knöcheln reichte, und war barfuß. Der Kittel war vorn mit Speiseflecken übersät, und ihr langes schwarzes Haar hing in matten Locken über ihre Schultern herab.

»Monika sagte Weigel mit leiser Stimme; und er mußte ihren Namen dreimal wiederholen, bevor sie aufsah.

Bis zu diesem Augenblick hatte ich innerlich das Mädchen vor mir gesehen, wie ich es von Angela Burrows’ Foto her in Erinnerung hatte. Das Mädchen aus dem Weltall mit den vom Winde verwehten Ponys in der Stirn und dem langen, über die eine Schulter herabhängenden Zopf, den seelenvollen dunklen Augen und dem herausfordernden großen Mund. Das schmutzige matte Haar war schon ein Schock gewesen, aber der Anblick ihres Gesichts war ungleich schlimmer. Es war völlig bar jeden Ausdrucks. Die Augen waren leer und wirkten völlig leblos, und der Mund stand offen. Während ich sie ansah, rieselte ihr ein Tropfen Speichel aus einem schlaffen Mundwinkel über das Kinn.

Weigel sprach deutsch auf sie ein, und seine Stimme klang nach wie vor weich und mitfühlend, während sie in ihrem monotonen Singsang fortfuhr. Nach einer Weile hielt er inne, holte tief Atem und begann erneut auf englisch.

»Wie geht es dir heute, Monika Er stellte ihr resolut noch eine Reihe Klischeefragen, aber es erfolgte keine Reaktion. Schließlich gab er es auf, sah mich an und wies mit dem Kopf zur Tür. Ich nickte, und wir verließen das Zimmer. Während wir über den Korridor zum Büro des Arztes zurückgingen, verschloß die Schwester erneut die Tür von außen.

Eckert forderte uns zum Hinsetzen auf, besorgt, als ob wir Patienten seien, bis Weigel ihn abrupt unterbrach.

»Doktor Eckert ist einer der besten Psychiater, die wir haben«, erklärte er mir. »Er leitet dieses kleine Privatsanatorium, damit er eine begrenzte Anzahl von Spezialfällen unter persönlicher Aufsicht haben kann Mit kühler Bedächtigkeit zündete er sich eine Zigarette an. »Doktor, ich möchte gern Herrn Holman sagen, was Sie von Miss Brühls Verfassung halten

»Gut.« Der kahle Kopf glänzte unter der Deckenbeleuchtung, als der Arzt energisch nickte. »Sie werden verstehen, Mr. Holman, daß ich in diesem frühen Stadium keine endgültigen Schlüsse ziehen kann — « Die randlose Brille blitzte mich auffordernd an, bis ich zustimmend nickte. »Erstens einmal ist hier ein völliger Zusammenbruch erfolgt. Ein kompletter...« Er suchte nach dem richtigen englischen Wort, »Rückfall, ja? Sie ist sozusagen in ein sehr frühes Kindheitsstadium zurückgekehrt. Sie kann nichts selber tun. Verstehen Sie? Sie kann nicht selber essen, sich nicht sauberhalten. Ich halte den Zustand für katatonisch Er nickte erneut bekräftigend. »Ja, ganz entschieden katatonisch. Ohne Zweifel verursacht durch einen großen emotionellen Schock, ein Trauma und — mit Hinblick auf ihr vorhergegangenes, unglückliches Schicksal«, er schüttelte langsam den Kopf, »muß ich zu meinem großen, sehr großen Bedauern sagen, daß ich nicht glücklich bin, was ihre Zukunft anbelangt

»Mir ist nicht ganz klar, was Sie meinen, Doktor«, sagte ich. »Sie meinen, sie sei irre

»Es ist ein Wort, das ich nicht liebe«, antwortete er steif. »Aber nach allgemeinen Begriffen — und im juristischen Sinn — ja, Miss Brühl ist irre

»Ist es möglich, daß sie geheilt wird

»Möglich ist es Die Brillengläser funkelten warnend. »Aber wie lange das dauern wird, ist eine andere Frage. Vielleicht Monate, vielleicht Jahre, vielleicht kann sie überhaupt nie geheilt werden. Verstehen Sie? Das ist bedauerlicherweise fast alles, was ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt sagen kann, Mr. Holman. In einem halben Jahr kann ich Ihnen vielleicht einen endgültigeren Bescheid geben. Weitere Analyse, etwas einleitende Psychotherapie — vielleicht werden wir dann mehr wissen

»Vielen Dank«, sagte ich.

Er sprang von seinem Stuhl auf, und das ließ auf das Ende der Unterhaltung schließen, zumindest soweit sie ihn betraf. Weigel stand ebenfalls auf, sagte ein paar Sätze auf deutsch zu dem Doktor und wandte sich dann an mich. »Wir werden uns noch unterhalten, aber nicht hier«, sagte er kurz.

»Auf Wiedersehen, Mr. Holman.« Der kahle Kopf nickte, die Brillengläser funkelten.

Das eiserne Tor fiel ein paar Minuten später, nachdem wir in Weigels Wagen gestiegen waren, hinter uns zu. Er fuhr schweigend auf die Hauptstraße des Dorfes hinaus und hielt dann vor einem Gasthaus.

»Ich brauche etwas zu trinken, Mr. Holman«, sagte er. »Vermutlich können Sie ebenfalls etwas brauchen. Dabei können wir uns unterhalten

»Das ist mir sehr recht«, sagte ich ehrlich.

Ich bat um Bourbon, mußte mich aber mit Scotch zufriedengeben. Eine rundliche Kellnerin mit rosigen Wangen bediente uns; und mein Scotch nahm sich neben dem riesigen Bierkrug, den Weigel bestellt hatte, recht feminin aus. Ich trank einen Schluck Scotch und fühlte mich in der fröhlichen Umgebung etwas gelockerter. Ein Holzfeuer brannte an einem Ende des Raums, die Stühle waren bequem, und zwei schöne blonde Mädchen in Skianzügen kicherten am Nebentisch. Das Ganze bot einen phantastischen Kontrast zu dem grimmigen Halblicht in der kleinen Zelle, wo ein einst schönes und temperamentvolles Mädchen mit gekreuzten Beinen auf einem Bett saß und eine Lumpenpuppe in den Schlaf sang, während ihr ein wenig Speichel aus dem Mundwinkel lief.

»Geisteskrankheiten liegen in Monikas Familie«, sagte Weigel plötzlich. »Mütterlicherseits. Sie hatte schon einmal, als sie siebzehn war, einen Zusammenbruch. Aber damals wurde sie in drei Monaten geheilt, und ich hoffte, dies würde das letztemal sein Er trank aus seinem Krug und wischte sich die Lippen mit dem Handrücken ab. »Dieser Mann, Daran, versprach ihr, sie zu heiraten, sobald sie in Europa seien. Aber in der ersten Nacht in Paris weigerte sie sich, mit ihm zu schlafen, und sie gerieten sich in die Haare. Sowohl physisch als auch verbal. Sie erklärte ihm, sie würde nicht mit ihm schlafen, bis sie verheiratet seien; und er sagte ihr, er würde sie überhaupt nicht heiraten. Und am Ende verschwand er aus dem Hotel und ließ sie allein zurück

Er unterbrach sich, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Sie rief mich vom Hotel aus an. Sie war verzweifelt, ihre ganze Welt war erschüttert. Amerika und der Gedanke an diese erste große Chance hatten ihr entsetzliche Angst eingejagt. Aber dann hatte sie sich in diesen Mann verliebt, und er hatte ihr gesagt, sie könne Amerika entfliehen; sie würden durchgehen, nach Europa zurückkehren und dort heiraten. Ich sagte zu ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, ich würde geradewegs nach Paris fliegen und sie nach München zurückbringen, damit sie nicht allein sei. Das tat ich natürlich auch, aber als ich eintraf, war sie bereits weitgehend in jenem Stadium, in dem Sie sie soeben gesehen haben.

Glücklicherweise ist Doktor Eckert ein alter Freund von mir. Er war sofort bereit, sie als privilegierte Patientin in sein Privatsanatorium aufzunehmen. Aber Sie haben selber gehört, was er über ihre Chancen, gesund zu werden, gesagt hat Er zuckte steif die Schultern. »In Bälde werde ich anfangen, nach diesem Daran Ausschau zu halten Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Es besteht kein unmittelbarer Anlaß zur Eile. Wo er auch hingeht, ich werde ihn finden

»Und bohrte ich weiter.

Er warf mir unter seinen halbgesenkten Lidern einen düsteren Blick zu. »Umbringen«, sagte er sachlich. »Was sonst?«

»Nun ja«, ich zog eine Grimasse. »Daran ist nicht mein Problem, aber Monika Beyer ist es — oder war es vermutlich. Das einzige, was mir zu tun übrigbleibt, ist, nach Los Angeles zurückzufliegen und Angela Burrows zu erzählen, was sich ereignet hat. Der Vertrag, den sie in Händen hat, spielt jetzt, bei Monikas derzeitiger Verfassung, keine Rolle mehr

»Sie können ihr noch etwas sagen«, knurrte er. »Richten Sie ihr von mir aus, Mr. Holman, daß ich mich um Monika kümmere und dies auch für den Rest ihres Lebens tun werde, wenn es sein muß. Ich werde nicht dulden, daß diese Burrows sich einmischt. Machen Sie ihr klar, daß ich, wenn sie versucht, Schwierigkeiten zu machen oder Ansprüche an Monika zu stellen, gezwungen sein werde, letztere juristisch für geisteskrank erklären zu lassen

»Ich werde es ihr ausrichten«, sagte ich. »Aber ich glaube nicht, daß Angela Burrows so rachsüchtig sein wird. Wenn sie erfahren hat, was vorgefallen ist, wird sie vermutlich den Vertrag vernichten und die Sache auf sich beruhen lassen

»Hoffentlich haben Sie recht Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Holman, werden wir austrinken und nach München zurückfahren. Ich habe um sieben Uhr heute abend eine dringende Verabredung

»Selbstverständlich.« Ich trank den Rest meines Glases aus. »Wir wollen fahren

Die Fahrt zurück nach München verlief weitgehend wie die hinaus nach Hilfendorf, praktisch ohne Unterhaltung. Es war gegen halb acht, als Weigel vor meinem Hotel hielt.

»Ich bin Ihnen für das, was Sie für mich getan haben, sehr verbunden, Mr. Weigel«, sagte ich.

»Es war notwendig«, sagte er steif. »Sie werden begreifen, daß ich nach dem, was Monika zugestoßen ist, im Augenblick keine sonderlich freundschaftlichen Gefühle für Amerikaner hege

»Klar«, sagte ich. »Wahrscheinlich war das Schlimmste, was Monika je zugestoßen ist, die Tatsache, daß Angela Burrows ihren Vertrag übernommen und sie in die Staaten geholt hat

»Es war eigentlich Lambert, der das gemanagt hat«, sagte er scharf. »Wahrscheinlich hätte die Burrows, wenn er nicht so gedrängt hätte, sich gar nicht darum gekümmert. Er verbrachte am Telefon Stunden damit, ihr einzureden, was für ein großer Star Monika werden könnte Er lachte kalt. »Und nun sehen Sie, was er aus ihr gemacht hat

»Ich glaube, Sie können Huey nicht für all das verantwortlich machen«, sagte ich vorsichtig. »Er dachte, er würde sein Bestes für seine Chefin und für Monika tun

»Vielleicht. Aber was spielt das nun noch für eine Rolle

»Es ist ein rein persönliches Gefühl«, sagte ich. »Er ist kein liebenswerter Bursche. Hatten Sie nicht auch sofort diesen Eindruck

Weigel zuckte die Schultern. »Er wußte, daß ich der einzige bin, der Monika gegen ihn und seinen Gedanken, sie nach Amerika mitzunehmen, hätte beeinflussen können, und deshalb war er natürlich nett zu mir

»Vermutlich haben Sie recht«, pflichtete ich bei. »War Monika in genau derselben schlechten Verfassung wie jetzt, als Sie sie in Paris abholten

»Nicht ganz«, sagte er. »Aber als ich sie in Doktor Eckerts Sanatorium ablieferte, war sie bereits so. Seither hat sie noch kein zusammenhängendes Wort gesprochen Er schmetterte heftig die Faust auf das Lenkrad. »Sie redet nicht, sie hört nicht; und ich glaube, daß sie in gewisser Weise nicht einmal irgend jemanden wahrnimmt

»Ich kann dazu nichts sagen, Mr. Weigel«, murmelte ich. »Aber ich glaube nicht, daß Sie sich wegen Angela Burrows irgendwelche Sorgen zu machen brauchen

»Ich hoffe in ihrem eigenen Interesse, daß Sie recht haben«, knurrte er. »Leben Sie wohl, Mr. Holman

Das war ein Befehl. Er reichte mir nicht die Hand, sondern ließ lediglich, während ich ausstieg, ungeduldig den Motor an und bahnte sich in dem Augenblick, als ich die Tür geschlossen hatte, seinen Weg in dem dichten Straßenverkehr.

Ich kehrte ins Hotel zurück und sprach mit dem Hauptportier. Er war sehr hilfsbereit; innerhalb einer Viertelstunde hatte er für mich in dem Gasthaus in Hilfendorf ein Zimmer reservieren lassen, und innerhalb einer halben Stunde trafen ein Wagen und ein Fahrer ein, die mich dorthin brachten.