SECHSTES KAPITEL

 

Sie goß sich eine zweite Tasse Kaffee ein und blickte mich dann mit gequältem Gesichtsausdruck an. »Mißversteh’ mich richtig, Rick, diese Nacht war ein wundervolles Erlebnis und ich werde es nie vergessen! Aber heute morgen fängt ein neuer Tag an und ich werde ihn damit beginnen müssen, irgendwelche Kleidungsstücke zu tragen. Dieses verdammte Höschen ist auf die Größe eines Kleinmädchenschlüpfers zusammengeschrumpft, und nun habe ich nichts weiter als den Bikini

»Wie wär’s, wenn du meinen Trenchcoat darüber tragen würdest fragte ich.

»Die Schultern werden mir um die Ellbogen hängen und unten an den Ärmeln wird nichts als ein großes Loch sein Sie schauderte sichtlich bei dem Gedanken.

»Du siehst in meinem Pyjamaoberteil, das du im Augenblick trägst, großartig aus«, sagte ich ermutigend. »Nur bück dich nicht auf der Straße, falls dir deine Handtasche herunterfallen sollte. Warte, bis sie dir jemand aufhebt

»Du wirst einfach gehen und mir ein Kleid kaufen müssen«, sagte sie. »Ich gebe dir die Größe und alles Nötige an. Wieviel Uhr ist es

Ich blickte auf meine Uhr. »Fast neun Uhr dreißig.«

»Ich komme bereits zu spät ins Büro

»Soll ich Manny anrufen und ihm sagen, du seist ohne deine Schuld aufgehalten worden

»Wag’ das bloß nicht, Rick Holman«, knurrte sie mit tiefer Stimme, »sonst erzähle ich ihm von dem psychologischen Trick, den du, ohne daß ich es wollte, mit meiner Hilfe bei ihm angewandt hast

»Daran erinnerst du dich noch fragte ich interessiert.

»Ja.« Sie schlug mit der geballten Faust auf die Tischplatte, und ich duckte mich, um dem umherspritzenden Kaffee auszuweichen. »Wirst du jetzt gehen und mir das Kleid besorgen

»Die Läden sind noch nicht offen«, sagte ich. »Jedenfalls nicht in Beverly Hills. Niemand öffnet den Laden, bevor er sicher ist, daß die Bauern Zeit gehabt haben, die Straßen zu kehren Angesichts der aufkeimenden Mordlust in ihren Augen fügte ich schnell hinzu: »Laß mir noch zehn Minuten Zeit, dann sind sie offen und ich werde dir ein Kleid kaufen

»Na gut.« Ihre Finger trommelten rastlos auf die Tischplatte. »Vielleicht kann ich Manny sagen, ich hätte ein Bein gebrochen oder so was

»Wie wär’s mit einer zeitweiligen Lähmung beider Beine sagte ich. »Das wäre nicht nur originell, sondern auch noch wahr

»Darüber habe ich schon nachgedacht«, sagte sie finster. »Ich kann mich erinnern, daß ich wütend auf dich war, weil dir das Kleid, das ich extra für gestern abend gekauft hatte, nicht gefiel, und es hat ein Vermögen gekostet! Danach wurde alles ein bißchen verschwommen. Vielleicht habe ich zuviel von dem Albatros oder wie das Zeug heißt, getrunken? Glaubst du, daß das vielleicht meine Beine beeinträchtigt hat

»Was sonst?« Ich stand schnell auf. »Vielleicht öffnen die Läden heute vormittag ein bißchen früher? Was hattest du noch für eine Kleidergröße

Ich war innerhalb einer halben Stunde zurück und traf Sally in Schuhen und Bikini ungeduldig wartend vor. Das Kleid saß sehr gut und sie hatte auch nicht einmal viel gegen die Farbe einzuwenden. Sie hatte den Bikini ausgezogen, als sie das Kleid übergezogen hatte, und ich überlegte, ob ich ihr sagen sollte, daß es im hellen Sonnenlicht durchsichtig wurde was ich erst bemerkte, als sie auf die Vorveranda hinaustrat Aber ich überlegte, daß es klüger sei, sie das selbst irgendwann später, wenn ich nicht dabei war, herausfinden zu lassen. Der Taxifahrer muß einen steifen Hals bekommen haben, als er den Kopf zum Fenster herausstreckte, um zu beobachten, wie Sally, die Morgensonne im Rücken, meine Zufahrt hinunterschritt. Ich winkte ihr liebevoll nach, sah zu, wie das Taxi einem Känguruh gleich auf die Straße sprang, kehrte dann ins Haus zurück und wusch das Frühstücksgeschirr auf.

Manny Kruger rief ungefähr zehn Minuten später an und seine Stimme klang verdrossen. »Bis jetzt sind meine Nachforschungen über diesen Johnny Taggart negativ verlaufen, Rick! Wenn er hier in der Filmindustrie arbeitet, dann kann er das nur nebenberuflich machen, denn niemand hat je von ihm gehört. Auch meine Fachleute von der englischen Industrie haben nie von ihm gehört. Aber ich versuche es weiter

»Danke, Manny«, sagte ich.

»He! Dabei fällt mir noch was ein. Was zum Teufel haben Sie mit meiner Sekretärin angestellt

»Mit wem fragte ich unschuldig.

»Mit Sally Beaumont, und Sie wissen verdammt gut, daß ich die damit meine

»Ist sie nicht im Büro

»Fangen Sie nicht mit den üblichen Holmanschen Ausflüchten an zischte er. »Ich möchte sofort wissen, was Sie mit... Moment mal! Ich glaube, ich habe sie gerade im Vorzimmer gesehen... Ich muß mal ein bißchen vorrutschen und... da ist sie! Sie steht am Fenster und — « Er gab plötzlich einen hohen, blökenden Laut von sich. »Was haben Sie mit ihr gemacht? Haben Sie ihr eine Gehirnwäsche zukommen lassen oder so was — so daß sie jetzt sittlich genauso verdorben ist wie Sie

»Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden, Manny

»Sie steht dort draußen in einem komplett durchsichtigen Kleid und sogar von hier aus kann ich erkennen, daß sie absolut gar nichts darunter anhat Seine Stimme klang, als ersticke er demnächst und ich hoffte, er würde nun nicht aufhören.

»Das ist alles Ihre Schuld«, sagte ich kalt.

»Was?«

»Sie hat mir gestern abend erzählt, sie vergöttere Sie«, fuhr ich mit bekümmerter Stimme fort. »Sie hält Sie für den grandiosesten Chef, den sie je gehabt hat. Ein brillanter Verstand, hinreißender Charme und eine unerhört mitfühlende und menschliche Einstellung gegenüber allen Angestellten, mit Ausnahme gegenüber ihr. Sie ist Ihre loyale und ergebene Sklavin, aber sie ist überzeugt, daß sie die meiste Zeit über nicht einmal ihre Existenz zur Kenntnis nehmen

»Aber ich — «

»Arme Kleine!«

»Rick, ich schwöre — «

»Sehen Sie denn nicht endlich ein, wozu Sie sie getrieben haben fuhr ich ihn an. »Nur aus äußerster Verzweiflung heraus muß sie zu dem Schluß gekommen sein, es müsse doch eine Möglichkeit geben, Sie dazu zu bringen, sie als menschliches Wesen anzuerkennen

»Sie meinen, deshalb steht sie jetzt dort vor meinem Büro und sieht aus wie die Starstripteasetänzerin bei einer Herrenparty? Was soll ich tun, Rick

»Rufen Sie sie in Ihr Büro, sagen Sie ihr, wie gut die Arbeit ist, die sie für Sie leistet und wie sehr Sie das anerkennen«, sagte ich. »Geben Sie ihr einen Bonus und bestehen Sie darauf, daß sie gleich geht, sich ein Kleid davon kauft und es gleich anläßt, damit Sie es sehen können

»Danke, alter Freund. Das nenne ich einen guten Einfall Seine Stimme kühlte eine Spur ab. »Wie groß soll der Bonus sein

»Hundert Dollar«, sagte ich prompt.

»Ich hätte angenommen, fünfzig seien genug für ein Kleid

»Wie Sie wollen, Manny«, sagte ich. »Je länger sie dort draußen steht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß irgendein anderer der Direktoren sie so sieht. Und dann wird er sich gleich daran erinnern, wessen Sekretärin sie ist und damit werden Sie automatisch zu einem verkommenen Burschen gestempelt

Ich hörte ihn aus Leibeskräften »Miß Beaumont schreien, bevor die Leitung verstummte. Ich legte auf und fand, daß dies jedenfalls eine Kompensation für das Kleid darstellte, das ich ihr am Abend zuvor vom Leib gerissen hatte.

Ed Durand grinste krampfhaft, als ich eine Stunde später sein winziges Büro betrat. »Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie kämen so schnell wieder, weil Curran bereits von jemandem umgebracht worden ist

»Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht ein bißchen helfen Ich ließ mich auf dem mitgenommen aussehenden Besucherstuhl nieder und zündete mir eine Zigarette an.

»Warum nicht?« Er zuckte leicht die Schultern. »Wenn Sie diese regelmäßigen Besuche aufrechterhalten, poliere ich mein Prestige bei dem Mädchen am Empfang wieder ein bißchen auf

»Wie haben Sie erfahren, daß Ihre Schwester bei dem Autounfall ums Leben gekommen ist fragte ich.

Das Grinsen verschwand von seinem Gesicht. »Ich bekam ein Telegramm von Larsen und nahm die erste zur Verfügung stehende Maschine. Zum Glück kam ich rechtzeitig zur Beerdigung

»Hörten Sie die Details über den Unfall, während Sie dort waren

»Klar«, brummte er. »Aber nicht von Larsen! Ich wollte weder mit dem Dreckskerl noch mit Evan sprechen! Ich sprach hinterher mit den örtlichen Polizeisergeant, und er erzählte mir alles. Janie hatte den Wagen gefahren und Curran hatte neben ihr geschlafen. Irgendwie war der Wagen ihrer Kontrolle entglitten und gegen eine Steinmauer geprallt. Die Tür auf der Fahrerseite sprang durch die Wucht des Anpralls auf und Janie wurde hinausgeschleudert. Sie prallte mit dem Kopf gegen die Wand und ihr Schädel wurde zertrümmert. Man fand Evan ungefähr fünf Kilometer von der Unfallstelle entfernt die Straße entlangwandernd vor, benommen und völlig unzusammenhängend daherredend. Der Schock habe einen vorübergehenden Gedächtnisverlust hervorgerufen, sagte mir der Sergeant. Zumindest hatte ihm das der Arzt im Krankenhaus gesagt. Evans Erinnerungsvermögen kehrte irgendwann am darauffolgenden Morgen zurück, aber viel konnte er nicht erzählen. Er hatte geschlafen und als er plötzlich durch den Stoß geweckt wurde, fand er sich auf dem Boden des Wagens wieder. Betrunkene, Babies und Leute, die schlafen, sind diejenigen, die nie verletzt werden, erklärte mir der Sergeant, weil ihre Körper völlig entspannt sind. Evan hatte eine vage Erinnerung daran, das Geräusch eines sich entfernenden Lastwagenmotors gehört zu haben, aber er hätte es nicht beschwören können. Wie der Sergeant sagte, war es möglich, daß Janie ausgebogen war, um einem entgegenkommenden Lastwagen auszuweichen, und daß sie dabei die Kontrolle über den Wagen verloren hatte. Oder vielleicht war sie auch zu schnell in eine Kurve gefahren und ins Rutschen gekommen? Was zum Teufel spielt das noch für eine Rolle, da sie doch tot ist

»Danke«, sagte ich. »Nur noch eine Frage — kennen Sie einen Mann namens Johnny Taggart

»Ich kannte einen jungen Burschen namens Steve Taggart und sein Vater hieß Johnny. Steve war verrückt nach Janie und wollte sie heiraten, aber sie empfand ihm gegenüber keine Zuneigung. Er ging ihr verdammt auf die Nerven, belästigte sie fortgesetzt. Er folgte uns sogar nach England! Er war der eigensinnige Typ, der ein >Nein< einfach nicht als Antwort hinnahm, und versuchte sein Glück sogar immer noch, als sie ihm sagte, sie sei in Evan verliebt. Ich nehme an, er verdrückte sich schließlich, als die beiden geheiratet hatten

»Wissen Sie irgend was über seinen Vater? Vielleicht wo er wohnt?«

Durand schüttelte bedächtig den Kopf. »Da kann ich Ihnen nicht helfen, Holman, tut mir leid

»Fällt Ihnen etwas ein, irgend etwas, das mir einen Hinweis geben würde

»Steve hat mir einmal gesagt, sein Vater sei Johnny Taggart, und zwar sagte er es so, als hätte das etwas zu bedeuten, aber mir bedeutete das nichts Er überlegte ein paar Sekunden. »Da war noch was! Steve aß einmal in der Wohnung mit uns zu Abend und Janie neckte ihn, er sei typisch für die faulen Reichen, die von dem monatlichen Wechsel ihres Vaters leben. Ja, jetzt erinnere ich mich! Dann wandte sich Janie mir zu und sagte, ob ich wisse, auf welche Weise Steves Vater sein Geld verdient habe? Er sei ein bekannter Berufsspieler, der sein gesamtes Dasein in Las Vegas in Kasinos und beim Pokern verbrachte. Steve machte das, was sie gesagt hatte, offensichtlich verlegen, und so ließ Janie das Thema sofort fallen. Ich dachte damals nicht weiter darüber nach, denn ich glaubte, sie wollte Steve lediglich ein bißchen aufziehen und das ganze sei Spaß

»Nochmals vielen Dank«, sagte ich.

»Wieso ist Johnny Taggart plötzlich so wichtig sagte er.

»Ich weiß nicht, ob er’s ist

»Warum sollte Steves Vater Evan umbringen wollen

»Auch das weiß ich nicht«, sagte ich geduldig. »Ich weiß nicht einmal, ob da eine Verbindung besteht

»Ich habe diese Verbindung ja gerade hergestellt«, brummte er. »Sein Sohn war verrückt nach Janie und wollte sie heiraten — er gab nicht nach, bis sie ihrerseits Evan geheiratet hatte — vielleicht weiß also Steve etwas über Janie und Evan, das ich nicht weiß, und hat es seinem Vater erzählt?«

»Das sind reine Theorien«, sagte ich.

»Was anderes haben Sie auch nicht, Holman«, sagte er ruhig. »Aber warum das Ganze?«

»Gut, dann sind wir eben zwei Theoretiker Ich stand auf. »Ich sprach gestern nachmittag mit Larry Larsen. So wie er die Sache hinstellt, haben Sie Ihre Schwester in jeder Beziehung zu Ihrem eigenen Vorteil eingesetzt und sie hat nichts dagegen gehabt, mitzumachen

»Dieser verlogene Drecksack!« Sein Gesicht verdüsterte sich schnell. »Und Sie haben ihm geglaubt

»Etwa so wie ich Ihnen glaube«, sagte ich. »Nicht mehr und nicht weniger.«

»Scheren Sie sich zum Teufel, Holman brüllte er. »Und zwar ein bißchen plötzlich, Sie Stinker!«

Die überlegene Empfangsdame beobachtete mich aufmerksam, als ich ins Vorzimmer trat, und lächelte mir dann strahlend zu. »Sie werden allmählich ein regelmäßiger Besucher hier, Mr. Holman

»Mir gefällt es hier Ich blickte sie von oben bis unten an und wiederholte die Musterung dann noch einmal langsam und gründlich. »Zunächst einmal verfügt diese Agentur über die hübscheste Empfangsdame der Stadt

Sie schob das sorgfältig gepflegte blonde Haar im Nacken mit den Fingerspitzen zurecht und öffnete den Mund, was ihr jenen leicht schwachsinnigen Ausdruck verlieh, den eine Menge Frauenzimmer nach wie vor für sexy halten. »Sie sehen selbst nicht schlecht aus, Mr. Holman! Machen Sie einen Vertrag mit uns

»Ich bin sehr am Überlegen«, sagte ich feierlich. »Eine bessere Empfehlung könnte Mr. Durand natürlich nicht haben

»Natürlich nicht.« Sie holte langsam und tief Luft, so daß sich ihre Seidenbluse fest gegen das preßte, was sich unter den unwahrscheinlichen Konturen ihres Büstenhalters verbarg. »Sagen Sie, Mr. Holman — dieser Gentleman, dessen Name Sie gestern erwähnten — ist das ein guter Freund von Ihnen? Ich meine — «, ihre Stimme bebte plötzlich, »— wenn es so wäre, könnten Sie ihn ja einmal hierher mitbringen

»Sagen wir mal, sein Gesicht ist mir sehr vertraut«, sagte ich, und das war nichts weiter als die Wahrheit. Mir und ungefähr fünfzig Millionen anderen Leuten auf der Welt. »Aber wenn er sich einmal entschließen sollte, mich zu Mr. Durand zu begleiten, werde ich es Sie vorher wissen lassen

»Wirklich?« Auf ihrem Gesicht lag ein ekstatischer Ausdruck. »Oh — ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Mr. Holman Ihr Blick besagte, daß sie das durchaus wußte, aber als erstes mußte ich liefern!

»Ich will Ihnen einen Tip geben«, sagte ich und senkte meine Stimme zu verschwörerischem Geflüster. »Niemand in der Agentur weiß das bis jetzt, abgesehen von den obersten Chefs — aber Mr. Durand ist auf dem Weg zu einem großen Comeback. Er wird noch bedeutender sein als vorher

»Stimmt das, Mr. Holman

»Aber behalten Sie’s für sich«, sagte ich. »Vergessen Sie’s nicht, genausowenig wie er vergessen wird, wer seine wahren Freunde waren, wenn er einmal wieder ganz oben ist

»Danke, Mr. Holman Sie fuhr sich gedankenvoll mit der Zunge über die Unterlippe. »Ob er vielleicht im Augenblick eine Tasse Kaffee mag

Ich fand, das könne Ed Durand nicht schaden, ja ihm möglicherweise sogar gut tun. Außerdem linderte es meine leichten Schuldgefühle ob der schlechten Behandlung, die ich ihm soeben hatte angedeihen lassen. Als ich wieder im Wagen saß, begann ich erneut über Johnny Taggart nachzudenken. Die Sache war eine Reise nach Las Vegas wert. Wenn Taggart ein großer Spieler war, dann würden ihn meine Kontaktleute dort sicher kennen. Also lenkte ich den Wagen zum Flughafen.

 

Es war früher Nachmittag und der Strip lag ruhig da, als mich das Taxi vor dem ein paar Häuserblocks vom eigentlichen Betrieb entfernten, nüchtern aussehenden Gebäude absetzte. Ich stieg zwei Treppen hoch und erklärte dem Burschen an der Tür, wer ich war und daß ich vor zwei Stunden vom Flughafen in Los Angeles aus angerufen hatte, um mich mit dem >Großen Boß< zu verabreden. Der Mann sagte, ich würde erwartet, während seine Augen fachmännisch auf der Suche nach versteckter Artillerie über mich glitten. Dann übergab er mich dem Burschen, der vor der Bürotür des >Großen Boß< stand. Dieser bedeutete mir zu warten, und so zündete ich mir eine Zigarette an und wartete.

Die Aufgabe dieses >Großen Boß< bestand darin, dafür zu sorgen, daß Las Vegas als Stadt florierte, daß der gesamte gigantische Glücksspielkomplex glatt und reibungslos funktionierte und es keinerlei Wirbel gab. Es handelte sich offensichtlich um eine völlig unoffizielle Position, aber ich vermutete, daß der >Boß< über mehr wirkliche Macht verfügte als zusammengenommen irgendwelche sechs Leute sonst. Und wenn man sich in den Kasinos nach ihm erkundigte, so wurde einem versichert, er existiere gar nicht, er sei eine Art Mythos. Das blaue Licht blitzte zweimal über der geschlossenen Tür auf, und der Bursche, der davor stand, brummte, ich könne nun hineingehen.

Ich trat in das geräumige Generaldirektorenbüro und die Tür schloß sich automatisch hinter mir. Der >Große Boß< stand auf und gab mir die Hand, winkte mir, mich auf den nächsten Stuhl zu setzen, und ließ sich dann wieder hinter seinem Schreibtisch nieder. Es war lange her, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, und vielleicht hatte er ein paar graue Haare mehr als früher, aber das war alles. Ein großer Mann — im physischen Sinn des Wortes — , gebaut wie ein Athlet, der nur ein bißchen außer Training ist. Nach wie vor war er der elegantest gekleidete Mann, den ich kannte, und die frische Nelke an seinem Aufschlag war auserlesen schön.

»Es ist lange her, Mr. Holman Er lächelte bedächtig. »Sie sehen gut aus

»Sie auch«, sagte ich höflich und damit waren die Courtoisien erschöpft. »Ich möchte einen Mann namens Johnny Taggart finden. Man hat mir gesagt, er sei professioneller Spieler

»Warum wollen Sie ihn finden, Mr. Holman

»Vielleicht würde mir das bei einem Problem helfen, mit dem ich mich gerade beschäftigte, sicher ist’s freilich nicht

»Sie lassen sich nach wie vor nicht in die Karten sehen Er lehnte sich zurück und roch zart an der Nelke an seinem Aufschlag. »Dieses Zusammentreffen wird doch für Mr. Taggart nicht peinlich oder unangenehm sein

»Nein«, sagte ich.

»Ich habe großen Respekt vor Mr. Taggart. Er — und seinesgleichen — sind das Rückgrat unserer Industrie hier, Mr. Holman. Es sind die professionellen Spieler, die unserer Stadt die erforderliche Atmosphäre von Glanz und Erregung geben

»Nichts Peinliches, nichts Unangenehmes«, versprach ich.

»Ich kann Ihnen sagen, wo Sie ihn aller Wahrscheinlichkeit nach treffen werden. Das Problem ist nur — möchte Mr. Taggart auch Sie treffen

»Ja«, sagte ich.

»Mr. Taggart ist ein dem Spiel völlig ergebener Mann. Nicht nur, daß er seinen Unterhalt damit verdient, es ist seine einzige Leidenschaft — mehr noch, seine gesamte Lebensphilosophie. Zögernd verbringt er so wenig Zeit wie möglich mit Essen und Schlafen; den Rest der Zeit über spielt er

»Ich verstehe«, sagte ich.

»Noch nicht, Mr. Holman — nicht völlig. Verständlicherweise ist er oft gezwungen, große Summen Geldes bei sich zu tragen. Da er ein vernünftiger Mann ist, hat er zwei Gentleman engagiert, welche die ganze Zeit über bei ihm sind, wohin immer er geht. Sie beschützen nicht nur sein Geld, sie schützen ihn auch vor jedem Kontakt mit dem Teil der Außenwelt, mit dem er nicht in Berührung kommen möchte. Beide Herren sind sehr professionelle Gentlemen — Sie verstehen sicher, was ich damit meine, Mr. Holman

»Durchaus, und ich weiß Ihre Schilderung zu würdigen

Er drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch, und ein paar Sekunden später glitt eine unsichtbar in die Vertäfelung eingelassene Tür auf und eine Sekretärin mittleren Alters mit einem permanent strengen Gesichtsausdruck trat mit gezücktem Stenoblock herein.

»Ich glaube, Mr. Taggart ist gegenwärtig in der Stadt«, sagte der Boß. »Würden Sie das bitte herausfinden, Miß Strong? Ich möchte wissen, wo er sich genau aufhält und wissen, was er in diesem Augenblick tut

»Ja, Sir.«

Die Tür glitt zu und der >Große Boß< lächelte mir geistesabwesend zu. »Es wird nicht lange dauern, Mr. Holman. Sie verstehen sicher, wenn ich zu meinem Bedauern sagen muß, daß ich nicht mehr für Sie tun kann. Ein Brief — eine formelle Empfehlung von mir — würde Mr. Taggart nur irritieren und peinlich berühren, und würde Ihnen zudem nichts nützen. Das Gegenteil ist wahrscheinlich

»Ich verstehe völlig«, sagte ich.

»Soviel ich gehört habe, ist eine gemeinsame Bekannte von uns beiden in Los Angeles, um einen Film zu drehen — Averil Dorcas Er schnupperte erneut an der Nelke, während sich ein Lächeln der Erinnerung auf seinem Gesicht ausbreitete. »Ich entsinne mich des einen Mals in Acapulco, als sie mich auf einen Drink in ihr Zimmer einlud, und ich verließ es genau eine Woche später. Während dieser Zeit spielten wir viel Poker, sozusagen in den Erholungspausen. Sie nahm mir über dreißigtausend Dollar ab, und als ich ihr erklärte, damit sei bei mir die Grenze des Möglichen erreicht, machte sie mir einen anderen Vorschlag. Fünftausend, wenn ich die nächste Hand gewann, sonst mußte ich mich verpflichten, um sechs Uhr abends einmal splitterfasernackt rund um die Hotelhalle zu wandern

»Es muß eine starke Versuchung gewesen sein, darauf einzugehen sagte ich.

»Natürlich ging ich darauf ein. Welcher Mann mit Spielerblut in den Adern hätte das ablehnen können

Die unsichtbare Tür glitt wieder auf und die Sekretärin trat mit gezücktem Notizbuch wieder ein.

»Die Information, um die Sie gebeten haben, Sir.«

»Danke, Miß Strong. Lesen Sie bitte laut vor

»Ja, Sir. Mr. Taggart hat eine Luxus-Suite im Crystal Inn. Wie gewöhnlich sind sowohl Mr. Tysoe als auch Mr. Tabal bei ihm. Er spielte im Hauptsaal des Kasinos bis heute morgen um sieben Uhr Roulette — Totalverlust achtzehntausenddreihundert — und kehrte dann in die Suite zurück. Der Zimmerservice hat Anweisung, das Frühstück nicht vor fünfzehn Uhr zu bringen — «

»Danke, Miß Strong«, sagte der >Große Boß< freundlich. Das Notizbuch wurde zugeklappt und die Sekretärin verschwand erneut hinter der zugleitenden Tür. Der >Boß< blickte mich an und spreizte die Hände.

»Nun sind Sie auf sich selbst angewiesen, Mr. Holman

»Noch einmal vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte ich.

»Keine Ursache, für einen alten Freund tue ich das gern

»Ich frage mich noch immer, was damals bei Ihrer Wette heraus gekommen ist fragte ich, während ich aufstand.

»Sagen wir mal so — « Er grinste schwach. »Ich bin seither nie mehr in Acapulco gewesen

Ich war fast bei der Tür angelangt, als er sich leise räusperte. »Ich habe heute morgen ein seltsames Gerücht gehört, demzufolge Stellar um die persönliche Sicherheit dieses neuen jungen Stars besorgt ist, der eben einen großen Film bei ihr dreht. Wie heißt er noch? Curry? Curren? Sie wissen nicht zufällig, ob daran was Wahres ist

»Sagen wir mal so — « antwortete ich, die Worte auskostend, »wäre ich vielleicht im Augenblick hier in Las Vegas, wenn das wahr wäre

»Leben Sie wohl, Mr. Holman Seine Lider senkten sich, während er erneut an der Nelke roch. »Und grüßen Sie bitte Miß Dorcas, wenn Sie sie in den nächsten Tagen sehen sollten

»Mit Vergnügen«, sagte ich. »Aber ich bin fast sicher, daß ich sie innerhalb der beiden nächsten Monate nicht sehen werde

»Sie werden Sie innerhalb der nächsten paar Tage sehen, verlassen Sie sich darauf, Mr. Holman. Trotz aller guten Vorsätze ist Averil nie in der Lage gewesen, sich ihrem Lieblingshobby für mehr als sechsundneunzig Stunden zu entziehen

Und das würde mich lehren, ihn in Zukunft noch einmal zu übertrumpfen, überlegte ich, als die Stahltür lautlos vor mir aufschwang.