18

Er war in Ihrem Zimmer?«

Cady traf sich mit Special Agent Evans auf der Straße vor dem Haus der Kellervicks. Es wimmelte nur so von Polizei, Rechtsmedizinern, gaffenden Nachbarn und FBI-Agenten. Cady ging mit Evans ein paar Schritte beiseite.

»Er hat mich aus dem Schlaf gerissen, kurz nach drei, ungefähr die Zeit, in der der KGB früher kam, um Dissidenten abzuholen.«

»Woher hat er gewusst, wo Sie wohnen?«

»Wahrscheinlich hat er in einigen Hotels angerufen, die für ihn in Frage kamen, bis er das richtige erwischte.«

»Vielleicht haben ihn die Sicherheitskameras erwischt.«

»Er ist über die Osttreppe und eine Seitentür verschwunden. Er wusste genau, wo die Kameras sind. Man sieht nur eine dunkle Gestalt im Trenchcoat.«

»Das bestätigt jedenfalls, dass er noch lebt.«

»Und wie.«

»Dann war es doch kein Copycat-Killer.«

»Er bestreitet, Gottlieb umgebracht zu haben.«

»Sie glauben ihm?«

»Ich glaube gar nichts, Agent Evans, aber der Hurensohn spielt mit uns, und das können wir gegen ihn verwenden.«

»Dann bleiben Sie an Bord?«

»Fürs Erste, ja.« Es war kurz nach Mittag, und er hatte schon ein volles Tagespensum hinter sich. Nachdem er ins Hoover Building gefahren war, um von dem Vorfall zu berichten, hatte ihn Jund sofort zum Flughafen geschickt, damit er nach Boston flog und sich dort mit Agent Evans traf. »Was ist hier passiert?«

»Elaine Kellervick, achtunddreißig, weiß, wurde erstochen in ihrem Haus aufgefunden.« Agent Evans deutete mit einem Kopfnicken zur Tür. Eine Nachbarin, mit der das Opfer jeden Morgen joggen ging, hat sie gefunden. Sie klingelte, und als sich niemand meldete, warf sie einen Blick durchs Fenster hinein, sah die Leiche und rief 911 mit ihrem Handy.«

»Hat die Frau allein gelebt?«

»Ihr Mann, Stephen Kellervick, war auf einer Chemietechnikkonferenz in Colorado. Mr. Kellervick ist Geschäftsführer bei Chem-Tel. Er sitzt gerade im Flugzeug nach Hause. Es heißt, er klang echt erschüttert und war die ganze Woche in Denver, also war er’s wohl nicht. Wir müssen zwar noch die Autopsie abwarten, aber es deutet nichts auf ein Sexualverbrechen hin. Nach einer ersten Einschätzung starb die Frau gestern Nachmittag zwischen drei und sechs Uhr.«

»Und wir sind hier, weil …«

»… ein gläserner Bauer in der Stichwunde steckte.«

Cady nickte. Er hatte nichts anderes erwartet. »Der Chessman hat Barrett Sanfield mit einem Springmesser getötet. Ich wette, die Autopsie ergibt, dass es auch hier so war. Wo hat Mrs. Kellervick gearbeitet?«

»Sie war Anlagestrategin bei Koye & Plagans Financials. Seit über zwei Jahren.«

»Eine Anlagestrategin und der designierte Vorsitzende der Finanzaufsicht. Bauer und Dame: eine interessante Bandbreite.« Cady blickte zur Haustür hinüber. »Ist Liz da?«

»Sie ist drinnen«, antwortete Evans. »Möchten Sie reinschauen?«

Cady nickte. Sie gingen zurück und betraten zusammen das Stadthaus.

Cady sah Agent Preston im Wohnzimmer mit einer Kollegin sprechen, die er nicht kannte. Als er sich den beiden Agentinnen näherte, blickte Liz auf, als hätte sie sein Kommen gespürt.

»Braun kann es nicht gewesen sein«, sagte Agent Preston und wandte sich der groß gewachsenen Blondine zu, mit der sie gesprochen hatte. »Kennen Sie Special Agent Beth Schommer vom Field Office Washington?«

Cady schüttelte erst den Kopf und dann der Kollegin die Hand.

»Agent Schommer ist kürzlich aus Illinois hierhergewechselt.«

»Go Bears.«

»Mit diesem Quarterback geht bei den Bears gar nichts«, erwiderte Schommer, um dann zum Thema zu kommen. »Eric Braun hat das United States Marine Corps vor zwei Jahren verlassen. Er flog einen AH-1W Super Cobra Hubschrauber im Irak – bei Falludscha in der Provinz Al-Anbar –, als der Chessman Farris, Sanfield und die Psycho-Zwillinge tötete. Braun lebt heute auf Hawaii. Er macht eine Menge Geld mit Hubschrauberrundflügen auf Maui, fliegt Touristen über Wasserfälle und solche Sachen.«

Cady nickte, doch er war noch nicht überzeugt. »Wenn Braun mehr als zehn Jahre beim Marine Corps war, hat er jede Menge Verbindungen.«

»Wir sehen uns seine Kumpel genauer an, die meisten davon Marines wie er, aber Sie wissen ja, so was dauert seine Zeit.« Agent Schommer tauschte einen kurzen Blick mit Liz Preston und wandte sich dann wieder Cady zu. »Ich kann mir schwer vorstellen, dass Braun die Fäden zog, während er seine Einsätze in Al-Anbar flog.«

»Wir haben Braun überwacht, nachdem Sie gestern den Hinweis gaben«, fügte Liz Preston hinzu. »Er kann nicht Ihr nächtlicher Besucher gewesen sein. Sie sind dem Chessman in der Nacht in Washington begegnet, nachdem das hier passiert war.« Sie deutete mit dem Arm auf Agent Evans, der bei der Toten neben der Haustür hockte. »Damit dürfte wohl klar sein, dass wir’s mit dem Original zu tun haben.«

»Von Boston nach D. C.?«

»Wir haben in der Firma der Toten erfahren, dass Kellervick einen Termin am späten Nachmittag verschoben hat und um zwei Uhr nach Hause fuhr. Sie soll fröhlich gewirkt haben. Falls ihr der Täter nach Hause folgte – oder dort auf sie gewartet hat –, könnte es schon um halb vier passiert sein. Zeit genug, um es nach D. C. zu schaffen, sogar mit dem Auto. Die Zalentine-Zwillinge hat er damals auch am selben Tag ermordet.«

»Ich habe ihn mit ›Braun‹ angesprochen. Es war dunkel im Zimmer, aber er hat gezuckt, als er den Namen hörte. Ich hab das als Signal gedeutet, dass ich richtigliege. Falls er aber nicht Eric Braun ist, glaube ich trotzdem, dass er Braun kennt. Gibt’s zu den anderen Namen irgendwas Interessantes?«

»Keiner auf der Liste hat beim Militär gedient«, antwortete Schommer. »Und ehrlich gesagt dürfte es ziemlich unwahrscheinlich sein, dass sie etwas damit zu tun haben. Einer lebt als Buchhalter in Philly, Marlys Freund vom Ferienlager ist heute Priester in Erie, und einer ihrer Schauspielerfreunde betreibt eine Cateringfirma in Allentown und spielt in der Freizeit immer noch Theater.«

»Seine Verkleidung war gekonnt – als hätte er Erfahrung vor der Kamera.«

Agent Schommer brauchte nicht in ihre Notizen zu blicken. »Ihr Schauspielerfreund Kurt Holt ist ungefähr eins sechzig groß und ziemlich füllig. Sieht nicht gerade aus wie Kevin Costner. Holt ist außerdem schwul, entspricht also nicht unbedingt dem Profil, aber wir sehen uns alle noch einmal an.«

»Beth hat fast alle Alibis überprüft«, warf Preston ein. »Ehrlich gesagt, Drew, es sieht nicht gerade vielversprechend aus. Das gilt auch für Marlys Freunde in Princeton.«

»So viel zu meinem Instinkt, Liz«, meinte Cady.

 

»Seien Sie doch nicht so verdammt stur!«

Cady stand mit verschränkten Armen vor dem Schreibtisch des Assistant Director. »Wenn er mich umbringen wollte, läge ich jetzt im Leichenhaus.«

»Immerhin wissen wir jetzt mit Sicherheit, dass der Chessman noch lebt – jetzt wo Sie und er ja praktisch Freunde sind, könnten wir das doch nutzen, um ihn zu ködern.«

»Mich als Köder einzusetzen wäre reine Zeitverschwendung. Er ist nicht hinter mir her. Es wäre ziemlich dumm von ihm, mich noch mal im Hotelzimmer zu besuchen.« Unaufgefordert setzte sich Cady auf den Gästestuhl vor Junds Schreibtisch: Es hatte gewisse Vorteile, nur als Berater tätig zu sein. »Und wir wissen beide, dass er nicht dumm ist.«

»Dann gebe ich Ihnen zumindest einen Partner«, beharrte Jund. »Kennen Sie Agent Dave Merrill?«

»Da, wo ich hingehe, brauche ich ihn nicht, Sir.«

»Wohin gehen Sie denn?«

»Sie wollten, dass ich ihn in der Vergangenheit suche, damit wir ihn in der Gegenwart schnappen können, stimmt’s?«

»Ja.«

»Dann fahre ich nach Nordminnesota.«