5 DIE NATUR ERLEBEN – DEN KÖRPE R TRAINIEREN – DEN GEIST FO RDERN
5.1 Das ganzheitliche Training mit „Rundumeffekt“
Die Frage nach dem „Warum brainwalken?“ beinhaltet verschiedene Aspekte. Da kann es um die Sichtweise der Aktiven gehen und die der Anbieter. Eine andere Betrachtung könnte unterteilen nach organisatorischen und gesundheitlichen Gesichtspunkten. Bleiben wir bei der ersten Unterteilung.
Brainwalking ist eine ganzheitliche Aktivität. Körper und Geist kommen gleichzeitig zum Einsatz. In Bewegung funktioniert das Gehirn besonders gut. Mit Brainwalking ist immer eine Ausdauerleistung verbunden. Diese verbessert den Stoffwechsel. Außerdem, so lässt der heutige Stand der Wissenschaft annehmen, beschleunigt Ausdauertraining die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung. Findet die Bewegung unter freiem Himmel statt, wird das Gehirn mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt und kann deshalb besonders gut arbeiten.
Das Ausdauertraining steigert die Leistungsfähigkeit des Gehirns. Insbesondere lassen sich Verbesserungen bei den sogenannten exekutiven Funktionen beobachten. Das Zentrum dieser Fähigkeiten liegt im präfrontalen Kortex, also im Stirnhirnbereich. Exekutive Funktionen sind mentale Bereiche, mit denen Menschen ihr Verhalten unter Berücksichtigung der Umweltbedingungen steuern. Konkret heißt das: Ziele setzen, planen, Aufmerksamkeit steuern, Prioritäten setzen, Impulse und Gefühle kontrollieren, Handlungsketten planen und ausführen, sich selbst beobachten, regulieren und korrigieren usw. Informationen werden beim Walken effektiver verarbeitet als in körperlicher Ruhestellung. So bleibt das Gehirn vergleichsweise jünger als bei Menschen, die kein solches Ausdauertraining betreiben.
Eine gute Ausdauerleistungsfähigkeit wirkt sich außerdem positiv auf die anatomische Struktur des Gehirns aus, wie entsprechende Untersuchungen nachwiesen. Die Gewebedichte des Gehirns geht normalerweise alternsbedingt im Lauf des Lebens zurück. Bei Personen, deren Ausdauer gut trainiert ist, sind solche Verluste jedoch geringer.
Als Akutwirkung steigert die Fortbewegung die Wachheit und sorgt für einen Anstieg von Freude und Interesse an geistigen Aktivitäten. Ist es das Ziel, eine geistige Leistung während der Bewegung zu erbringen, so sollte die Bewegung keine Aufmerksamkeit binden. Das heißt, die (Fort-)Bewegung muss automatisiert, quasi im Hintergrund, ablaufen. Andernfalls ist das Arbeitsgedächtnis gefordert und daher nicht frei für die Denkaufgabe. Das Gehen als einfache und natürliche Bewegungsform ist deshalb optimal geeignet, um zeitgleich ablaufende Denkprozesse zu unterstützen, schließlich praktizieren wir Menschen das seit Kindes Beinen. Wer bereits gewalkt ist und die Technik beherrscht, kann walken, ohne seine Aufmerksamkeit darauf zu richten. Er muss nicht mehr nachdenken, wie der Fuß aufgesetzt und abgerollt wird, wann welcher Stock wie weit nach vorn zu bringen ist oder in welcher Phase die Hand geöffnet werden soll. Solche Abläufe erfolgen automatisch, und es bleibt genügend Prozesskapazität, um geistige Aufgaben zu bewältigen.
Automatisierte Bewegungen über einen Zeitraum von 20-90 Minuten vergrößern das Arbeitsgedächtnis und schaffen so ein hohes Niveau an geistiger Fitness. Da ist der Kopf quasi angeknipst, lässt Aha-Erlebnisse auftauchen, plötzlich Zusammenhänge erkennen, Probleme lösen oder Ideen auftauchen. Studien zeigen, dass gleichzeitiges Bewegen bei der Lösungssuche zu einem Problem schneller zum Ziel führt als Stillhalten.
Geht es um das Neulernen beim Lesen oder Rechnen, so zeigen aktuelle Untersuchungen, dass beides von langsamen Bewegungen abgekoppelt werden sollte. Es tritt eine Gewöhnung ein, die die bestimmte Aufgabe an das jeweilige Tempo bindet und verhindert, dass die gleiche Aufgabe anschließend in anderem Zusammenhang schneller erledigt werden kann. Ein Kind, das zum Beispiel bei langsamer Gehgeschwindigkeit übt, startend bei einer beliebigen Zahl immer 5 zu addieren, wird womöglich später keine höhere Rechengeschwindigkeit erreichen, sondern sich an diese beim Einlernen erprobte Geschwindigkeit gewöhnen. Ähnliches gilt für das Lesen.
Wissen, das in der Fortbewegung eingespeichert wird, lässt sich dann besonders effektiv anschließend wieder abrufen, wenn die Wiedergabe bei gleicher Begleitmotorik erfolgt.
Das Bewegen der Finger und Hände zum einen und der Füße zum anderen fördert die Hirndurchblutung in besonderem Maß, weil diese Körperteile in der Großhirnrinde stark repräsentiert sind. Beides ist beim Walken beteiligt.
Koordinative Bewegungsaufgaben beim Brainwalken, etwa im Bereich der Auge-Hand-Koordination oder der Balance, sind neben dem Ausdauertraining ebenfalls wichtige Elemente. Sie stärken Aufmerksamkeit und visuell-räumliche Verarbeitung, erhöhen die Leistungsfähigkeit im Bereich des Frontalhirns. Ein Koordinationstraining fördert in erster Linie die Genauigkeit beim Bearbeiten von Denkaufgaben.
Die Fortbewegung eröffnet eine weitere Dimension: ständig wechselnde Reize, die die Wahrnehmungssysteme stimulieren. Damit unterscheidet sich diese Form des Trainings deutlich von anderen Formen. Nicht nur, dass Denken und Bewegen hier kombiniert werden – das gibt es durchaus auch bei anderen Angeboten, auch in geschlossenen Räumen –, sondern der stetige Umgebungswechsel gibt laufend neue Impulse, die, den Aufgaben entsprechend, bewusst verarbeitet werden müssen. Das ist geradezu ein Feuerwerk an Information für den Kopf. So ist es sicherlich gut, auf dem Laufband zu trainieren, aber besser im Wald zu walken oder zu joggen. Dort muss das Gehirn bei jedem Schritt auf Bodenunebenheiten reagieren. Es leistet viel mehr. Abgesehen davon, ist die Natur interessanter als ein Fitnessstudio.
Ganz nebenbei muss der Körper sich draußen auf wechselndes Ambiente einstellen: Die Temperatur ist auf Wegstrecken im Schatten anders als in der Sonne. Der Untergrund ist mal weicher Waldboden, mal geteerter Wirtschaftsweg, ein Stück Sand, ein kurzer Wiesenpfad, eine gepflasterte Strecke usw. Die Augen müssen sich auf wechselnde Lichtverhältnisse einstellen usw. Da läuft eine Reihe von Vorgängen ab, die uns im Alltag meist nicht bewusst werden, aber eine ständige Anpassungsleistung vom Körper verlangen. Beim Brainwalken sind solche Vorgänge im Blick, rücken ins Bewusstsein und können so intensiv wirken.
Die positiven Wirkungen der Bewegung auf das Gehirn werden zurzeit erklärt durch
- vermehrte Durchblutung des Gehirns,
- das Entstehen neuer Nervenzellen im Gehirn (Neurogenese),
- erhöhte Anzahl von Verbindungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn (Synapsen) mit besserer Verknüpfung,
- Veränderungen bei Entstehung und Abbau von Botenstoffen im Gehirn.
Diese Schlüsse legen vor allem Tierexperimente nahe1 .
Das Bewegen in freier Natur hat außerdem eine psychische Komponente. Es beeinflusst die Seele positiv. Natur bietet mehr als nur gute Luft und grüne Bäume. Mal richtig abschalten, einfach entspannen und den hektischen Alltag hinter sich lassen. Nirgends gelingt das so gut wie in der freien Natur. Schon nach den ersten Schritten spüren Brainwalker beruhigende Kraft und entspannende Stille. Viele beschreiben das als ein Stück Urlaub für Geist und Seele.
Werden dann die Gedanken durch entsprechende Aufgabenstellungen gezielt auf bestimmte Naturerscheinungen oder Denkaufgaben gelenkt, verschwinden Belastungen des Alltags förmlich im Nichts. Volle Konzentration auf das Hier und Jetzt ist beim Brainwalking gefordert. Da bleibt kein Platz für Sorgen und Probleme. So lässt sich richtig auftanken, um anschließend wieder mit voller Kraft den Alltag zu bewältigen.
Düfte aus der Natur können entspannter und glücklicher machen. Das fanden australische Forscher heraus und entwickelten ein Spray, das die negative Wirkung von Stress auf das Nervensystem reduzieren soll. Die Erfindung basiert auf der Erkenntnis, dass beim Schneiden von Gras und grünen Blättern mindestens fünf Chemikalien freigesetzt werden, die stressabbauende Eigenschaften haben sollen. Das Spray enthält drei dieser Substanzen. Der Duft wirkt angeblich direkt auf das Gehirn, insbesondere auf die für Emotion und Gedächtnis verantwortlichen Regionen Amygdala und Hippocampus. Beide Hirngebiete sind am Hormonsystem beteiligt, das die Ausschüttung von Stresshormonen steuert. So wissen wir nun, warum viele Menschen den Duft von frisch gemähtem Gras lieben. Aber in natura ist er bestimmt angenehmer zu genießen als aus der Dose! Der Geruchssinn führt in die entwicklungsgeschichtlich älteste Region des Gehirns, einen Teil, der schon lange vor dem Sprachzentrum ausgebildet war. Die Verbindung der Geruchswahrnehmungen zum Sprachzentrum fehlt. Deshalb fällt es uns oft schwer, einen Geruch zu beschreiben. Wie lässt sich zum Beispiel der Geruch einer Banane definieren? Der Geruchssinn wird deshalb auch als stummer Sinn bezeichnet. Dennoch wird über ihn das Gehirn enorm stimuliert. Gerüche kommen zwar ohne Worte daher, können aber sehr wohl Assoziationen wecken. Etwas „stinkt uns“, wir können jemanden „nicht riechen“ oder wir machen eine „saure Miene“. Über das Riechen entscheiden wir, ob ein Nahrungsmittel genießbar ist oder nicht. Der Geruch ist wichtig dafür, ob uns jemand sympathisch oder unsympathisch ist. Er beschert uns angenehme und unangenehme Stimmungen und spielt eine bedeutende Rolle im Sexualleben.
Gerüche werden von der Nasenhöhle direkt ins Gehirn weitergeleitet. So gelangen Nervenimpulse ins sogenannte Riechhirn, den olfaktorischen Kortex. Dort werden sie verarbeitet, weitergeschickt und anschließend mit bekannten Düften verglichen und bewertet. Einer der Informationswege führt ins limbische System, den Sitz von Emotionen und Erinnerungen. Zwischen rund 10.000 verschiedenen Gerüchen können Menschen unterscheiden. Trotzdem sind wir im Vergleich zum Tier äußerst schlecht im Riechen.
Das hat damit zu tun, dass unsere Welt stark von visuellen Reizen geprägt ist und wir das Riechen eigentlich nicht dringend benötigen. So ist dieser Sinn bei uns eher verkümmert. In der Tierwelt dagegen sind Düfte eine unverzichtbare Form von Kommunikation.
Nicht nur wegen des sinnlichen Genusses, sondern auch im Hinblick auf unser Gedächtnis sollten wir den Geruchssinn, die sogenannte olfaktorische Wahrnehmung, viel mehr trainieren. Manche Düfte rufen schlagartig die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis, etwa aus der Kindheit, ins Gedächtnis. Viele Düfte gehen mit einer regen Hirntätigkeit einher. Forschungsergebnissen zufolge ist dabei die Aktivität des am Gedächtnis beteiligten Hippocampus und der Hirnregion Amygdala (Mandelkern) besonders auffällig.
Trotz aller technischen Verfahren, mit denen sich künstliche Düfte herstellen lassen, ist die Natur als Reizgeber bisher unübertroffen. Das ist ein weiterer Grund, sich möglichst häufig in der freien Natur zu bewegen, denn dabei sind wir Gerüchen ausgesetzt, die das Gehirn quasi automatisch anregen.
Aus der Sicht von Anbietern, also Institutionen und Trainern, hat Brainwalking nur Positives zu bieten. Das Wichtigste: Es kommt ohne Hallenzeiten und überhaupt ohne Räumlichkeiten aus. Das heißt, es fallen keine Mietkosten an. Es ist zeitlich völlig flexibel und unabhängig von allen anderen Angeboten zu planen. Und Brainwalker sind sehr genügsam, denn sie benötigen keine teuren Geräte. Lediglich die Aus- und Fortbildungskosten für die Gruppenleitung schlagen zu Buche und vielleicht gelegentlich etwas Kleinmaterial.
5.2 Die Qualifikation der Leiter
Es gibt keine Festlegung, wer Brainwalking anbieten darf. Doch im eigenen Interesse sollten Menschen, die zu dieser Aktivität anleiten möchten, über eine entsprechende Qualifikation verfügen. Das heißt zunächst, dass sie eine Befähigung mitbringen sollten, um überhaupt mit Gruppen umzugehen.
Ein Teil der Brainwalker hat seinen Ursprung im Bewegungsbereich, sei es mit einer Ausbildung als Übungsleiter oder Trainer, ist also ehren- oder nebenamtlich tätig, oder als Profi wie Sportpädagogen, Physiotherapeuten etc. Die andere Möglichkeit ist eine Ausbildung als Gehirn-, Gedächtnis- oder Lerntrainer mit ehren- oder nebenamtlichem Einsatz auf diesem Gebiet oder eine berufliche Tätigkeit in diesem Feld, zum Beispiel als Psychologe.
Gleichgültig, von welcher Seite Sie kommen – von der Bewegung oder vom Gehirntraining –, Kenntnisse im jeweils anderen Bereich sind nötig, wenn Ihr Angebot erfolgreich werden soll. Günstig ist, sich für beide Themenkomplexe durch eine entsprechende Ausbildung fit zu machen. Je nach Vorbildung kann im Einzelfall eine Ausbildung im einen und eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem anderen Bereich, zum Beispiel durch Literaturstudium oder den Besuch einzelner Informationsveranstaltungen und Seminare, ausreichend sein.
Für Sport-Übungsleiterausbildungen mit unterschiedlichen Profilen und Zusatzausbildungen sind der Deutsche Turner-Bund und seine Gliederungen sowie der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und seine Mitgliedsverbände und deren Gliederungen zuständig.
Im Bereich des Gehirn- und Gedächtnistrainings bieten zurzeit unter anderem die Gesellschaft für Gehirntraining (GfG) und der Bundesverband Gedächtnistraining Lizenz- und Zusatzausbildungen für Brainwalking an2 .
Der Deutsche Turner-Bund und seine Gliederungen beschäftigen sich bereits seit vielen Jahren mit dem Thema „Denken & Bewegen“, das auf breiter Ebene in die Aus- und Fortbildung von Übungsleitern einfließt. In neuerer Zeit stellt das Brainwalking hier eine interessante weitere Komponente dar. So haben Übungsleiter immer wieder Gelegenheit, diese Möglichkeit der Aktivität bei Turnfesten, auf Kongressen und bei Veranstaltungen am eigenen Leib zu erfahren oder sich ganz speziell diesem Bereich in einer Fortbildung zu widmen.
5.3 Der Aufbau der Einheiten
Zwar gibt es keine festen Regeln, wie eine Brainwalking-Einheit aufgebaut sein muss, aber ein paar Grundsätze sollten Sie möglichst berücksichtigen. Auf jeden Fall sollte die Umgebung für das Training inhaltlich genutzt werden. Das heißt, sie ist nicht nur „Trainingsgerät“ im Sinn der Laufstrecke, sondern sie sollte in die Aufgabenstellung einbezogen sein.
Die Zusammenstellung des Programms kann sich an den Regeln für eine Gehirntrainingsstunde orientieren. So sollte nach einer kurzen Erwärmung durch Bewegung eine Aufgabe zum Training der Informations-Verarbeitungs-Geschwindigkeit3 eingebaut werden. Erst danach folgt eine Übung für die Merkspanne4 . Diese beiden Komponenten gehören in jede Stunde. Allerdings können sie auch in Form einer gemischten Übung einfließen, die das Arbeitsgedächtnis insgesamt fordert und so beide Grundfunktionen beinhaltet. Das Arbeitsgedächtnis zu trainieren, ist quasi die Pflicht in jedem Programm. Diese kann ergänzt werden durch die Kür, das heißt zum Beispiel Aktivitäten, die das Gedächtnis fordern oder kombinierte Übungen, die Arbeitsgedächtnis und Langzeitspeicher gleichermaßen beanspruchen. Konzentration, Kreativität, Wortfindung, Wortflüssigkeit usw. sind weitere mögliche Inhalte. Dabei können Sie als Gruppenleiter – wie traditionell in Gehirntrainingskursen üblich – unter anderem Arbeitsblätter einsetzen, aber auch weitere Materialien und Spiele.
Unumstößliche Regel sollte sein, dass innerhalb einer Brainwalking-Einheit auf jeden Fall mehrere Sinne gefordert sind. Das ergibt sich im Freien jedoch fast von selbst. Da gibt es immer etwas zu sehen, zu hören, zu riechen und zu tasten. Lediglich das Schmecken ist nicht immer beteiligt, ergibt sich oft nur zu bestimmten Jahreszeiten oder in spezieller Umgebung.
Eine weitere Möglichkeit zur Programmgestaltung ist ein Thema als roter Faden. So sind die meisten der in diesem Buch präsentierten Beispiele aufgebaut. Jeweils ein Leitgedanke führt durch die Einheit. Das kann eine Farbe sein oder das Wetter, eine Naturerscheinung oder eine Eigenschaft, Körperteile, wie Füße oder Hände ... Hier sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Gelegentlich ergibt sich das Thema durch eine besondere Strecke, zum Beispiel in einer Reblandschaft. Da ist der Wein als Leitgedanke kaum auszublenden. Oder beim Brainwalking in Küstenregionen oder auf einer Insel ist das Meer ein Thema, das sich förmlich aufdrängt. Bei themenorientierter Gestaltung ist es manchmal nötig, sich über allgemeine Regeln zum Aufbau einer Gehirntrainingsstunde hinwegzusetzen, etwa was die Reihenfolge der Übungen betrifft.
Wer als Gruppenleiter aus dem Bereich Gehirntraining kommt, wird in die Trainingseinheiten regelmäßig kurze Sequenzen mit theoretischem Hintergrund einbauen. Da kann es darum gehen, an einem Modell zu erklären, wie der Mensch Informationen verarbeitet. Ein anderes Mal kann das Arbeitsgedächtnis im Mittelpunkt stehen oder die Ernährung, die das Denken fördert. Viele weitere Themen sind möglich. Solche Informationen können bei kurzen Stopps vermittelt werden. Bei sehr kleinen Gruppen ist das auch in der Fortbewegung möglich, aber meistens funktioniert das nur am Platz, da es sonst mit der Kommunikation schwierig ist und außerdem manchmal Grafiken oder Modelle benötigt werden, um das Verständnis zu erleichtern.
5.4 Die Inhalte
An dieser Stelle werden lediglich Beispiele dargestellt, aus denen Sie als Gruppenleiter weitere, ähnliche Formen ableiten können und die durch viele weitere, völlig andere Übungsformen zu ergänzen sind.
5.4.1 Arbeitsgedächtnis
Das Arbeitsgedächtnis oder der Kurzspeicher ist der Teil des Gehirns, der darüber entscheidet, wie wir unseren Alltag bewältigen. Deshalb ist es besonders wichtig, seine Komponenten zu trainieren. So sollten die beiden maßgeblichen Größen, die seine Kapazität bestimmen – die Informations-Verarbeitungs-Geschwindigkeit und die Merkspanne – auf jeden Fall in jeder Brainwalking-Einheit angesprochen werden. Das kann auf unterschiedliche Weise mit immer wieder wechselnden Aufgaben geschehen.
Die Informations-Verarbeitungs-Geschwindigkeit umfasst den Zeitraum, der benötigt wird, um auf Informationen aus der Umwelt zu antworten, das heißt, entsprechend zu handeln. Über die Sinnesorgane werden Reize aufgenommen und in den Kurzspeicher bzw. ins Arbeitsgedächtnis geleitet. Dort werden diese Informationen bearbeitet, das heißt, der Mensch denkt nach, kombiniert neue Informationen mit schon vorhandenen, die aus dem Gedächtnis geholt werden, und kommt so schließlich zu einer Entscheidung. Diese Prozesse laufen in ungeheuer hohem Tempo ab und werden deshalb oft überhaupt nicht als Abläufe im eigentlichen Sinn erkannt.
Im Alltag ist es häufig das Sehen und Erkennen von Zeichen, die wir einordnen und entsprechend reagieren, bei denen sich die Informations-Verarbeitungs-Geschwindigkeit bemerkbar macht. Das gilt im Straßenverkehr ebenso wie im Arbeitsleben und bei vielen anderen Gelegenheiten.
Zum Training werden klassisch sogenannte Durchstreichaufgaben eingesetzt, bei denen es darum geht, bestimmte Zeichenkombinationen oder -muster schnell zu erkennen und anzustreichen. Das ist im Freien zwar grundsätzlich möglich, aber nicht immer machbar. Ersatzweise können Übungen ohne Papier und Stifte zum Einsatz kommen. So ist es zum Beispiel möglich, Wegweiser mit vielen Informationen zu nutzen. Hier gilt es, etwa die Anzahl der Informationen festzustellen, die ein bestimmtes Kriterium erfüllen, zum Beispiel: Wie viele Ortsnamen enthalten zwei Buchstaben, die im Alphabet aufeinanderfolgen? Bei einer solchen Aufgabe kann jeder Teilnehmer für sich überlegen. Erst nach einer angemessenen Zeit werden die Ergebnisse miteinander verglichen.
Eine andere Möglichkeit sind alle Arten von Sortieraufgaben. Da werden von der Gruppenleitung mitgebrachte oder in der Natur gesuchte Materialien nach vorgegebenen Merkmalen zügig verschiedenen Stapeln zugeordnet. Das können Spielkarten sein, aber ebenso zuvor gesuchte Teile, wie kleine Steine, Kastanien oder Ähnliches. Die Aufgabe kann zum Beispiel heißen: Jeder sucht schnell in der Umgebung 10 kleine Gegenstände zusammen. Anschließend wird alles sortiert. Dabei sollen alle Gegenstände mit gleichen Anfangsbuchstaben jeweils auf einem Stapel landen. Also Baumrinde zum Blatt und Stein zum Schneckenhaus. Besonders viel Spaß macht eine solche Übung, wenn es für einen Gegenstand mehrere mögliche Bezeichnungen gibt und die Teilnehmer völlig unterschiedliche Lösungen finden. Dann kommt Kommunikation zustande und das gibt dem Gehirn jede Menge Impulse.
Eine andere Möglichkeit zum Training der Informations-Verarbeitungs-Geschwindigkeit ist, mit Worten bestimmte Anweisungen zu geben, die schnell in Bewegung umgesetzt werden müssen. Das ist mit etlichen Spielformen möglich. Eine der einfachsten Formen ist zum Beispiel das weithin bekannte Spiel „Alle Vögel fliegen hoch“. Dabei geht es darum, beim Nennen von Begriffen immer schnell zu entscheiden, ob das Genannte fliegen kann oder nicht. Bei allem, was fliegt, werden die Arme schnell nach oben bewegt. Andernfalls muss zügig eine andere Haltung – zum Beispiel Hände auf dem Rücken verschränken – eingenommen werden. Also: Bei Flugzeug, Vogel oder Schmetterling gehen die Arme in die Höhe, bei Delfin, Auto oder Baum wandern sie auf den Rücken.
Die Merkspanne als zweiter wichtiger Faktor für die Kapazität des Kurzspeichers ist bereits ein erster Schritt in Richtung Gedächtnis, quasi eine Vorstufe, auch als primäres Gedächtnis bezeichnet. Sie umfasst einen Zeitraum von lediglich 5-7 Sekunden, die Spanne, in der uns eine Information unmittelbar und bewusst zur Verfügung steht. Es geht darum, kurzfristig etwas zu behalten – Informationen einzuspeichern und sofort anschließend, also ohne Ablenkungspause, wiederzugeben.
Diese Grundfunktion des Gehirns wird im Alltag zum Beispiel benötigt, um ein Gespräch zu verfolgen. Wir müssen Wörter für kurze Zeit verfügbar halten, um Satzteile zusammenzubringen, Bezüge dazwischen herzustellen und so den Sinn der aneinandergereihten Wörter zu verstehen. Ist ein Satz zu lang oder die Merkspanne zu kurz, klappt das nicht mehr ohne Probleme.
Beim Training ist wichtig, dass Informationen etwa im Sekundentakt angeboten werden, also eine Information pro Sekunde. Es geht darum, durch regelmäßiges Training den Zeitraum zu verlängern, nicht in erster Linie die Menge an Information zu erhöhen. Deshalb gilt es bei diesem Training vor allen Dingen, Strategien zu vermeiden. Lieber ohne Trick weniger behalten als mit Strategie mehr.
Als Gruppenleiter sollten Sie bei Übungen für die Merkspanne darauf achten, dass Einspeichern und Abrufen immer direkt aufeinanderfolgen, also keine Ablenkungsphase zwischengeschaltet ist.
Klassisch werden zum Training der Merkspanne Arbeitspapiere eingesetzt, die Reihen mit ca. sechs Informationen – Zahlen, Buchstaben, Wörter, Symbole oder Bilder – enthalten. Diese werden kurz angesehen und sollen anschließend aufgeschrieben oder genannt werden. Draußen ist es zwar unpraktisch, allen Teilnehmern jeweils solche Arbeitsblätter zu geben. Aber es ist durchaus machbar, dass Sie als Gruppenleiter zum Beispiel große Karten mit Informationen zeigen und alle sofort anschließend auf ihren Notizzetteln vermerken, was sie davon behalten haben. In ähnlicher Weise kann die Übung auf Zuruf durchgeführt werden. Statt die Information zu zeigen, wird sie nur genannt. In diesem Fall ist es für die Teilnehmenden meist einfacher, weil hier das Echogedächtnis ins Spiel kommt. Der Klang bleibt leichter im Ohr als nur das Bild.
Für das Training der Merkspanne können ohne Probleme Materialien aus der Natur eingesetzt werden. Den Teilnehmern macht es meist viel Spaß, diese zunächst zu sammeln und dann damit zu üben. Immer zwei Teilnehmer legen sich gegenseitig vier, fünf oder sechs Gegenstände vor, decken sie ab und der Partner erinnert sich, was in welcher Folge dort liegt. War die Folge Kastanie – Nuss – Eichel – Blatt – Stein oder war die Reihenfolge doch anders?
Völlig ohne Material kommen Übungen aus, bei denen es darum geht, sich eine kurze Bewegungsfolge zu merken. Eine Person gibt Bewegungen im Sekundentakt vor, die anderen ahmen sofort anschließend nach, zum Beispiel: rechter Arm vor – ein Schritt nach links – hinter dem Rücken klatschen – rechter Fuß stampft – linke Hand fasst ans Ohrläppchen.
Die hier genannten Übungsformen sind ausdrücklich nur Beispiele. Welche Möglichkeiten gewählt werden, hängt immer von eigenen Vorlieben der Gruppenleitung ebenso ab wie von Teilnehmern, Wetter, Gelände, Material usw.
5.4.2 Gedächtnis
Zwar ist es nicht wirklich wichtig, das (Langzeit-)Gedächtnis zu trainieren, da dieser Teil des Gehirns viel besser funktioniert, als die meisten Menschen glauben. Trotzdem bereitet es Teilnehmern immer wieder viel Spaß. Viele suchen solche Herausforderungen, um sich selbst zu testen. Dennoch ist es für Gehirntrainer ein ungeschriebenes Gesetz, alles zu vermeiden, was an Test erinnert. Zumindest sollte es keinen direkten Vergleich zwischen einzelnen Teilnehmern geben. Eine gute Möglichkeit bieten deshalb Mannschaftsaufgaben. Dann ist niemand dem Risiko ausgesetzt, allein zu verlieren oder eine Niederlage zu erleben. In der Gruppe fällt es leichter, zu akzeptieren, dass eine andere Gruppe einfach besser abgeschnitten hat.
Möglichkeiten, das Gedächtnis zu trainieren, gibt es unterwegs in Hülle und Fülle. Was steht auf der Informationstafel am Startpunkt zur Tour? Möglichst viele Einzelheiten einprägen, zwischendurch noch mal erinnern und ganz am Ende, kurz vor der Rückkehr zum Ausgangsort, zusammentragen, was hängen geblieben ist. Oder unterwegs Stationen einplanen. An jeder Station gilt es, sich einen Begriff zu merken: Laternenpfahl, Baumstumpf, Nistkasten, Brunnen usw. Welche Mannschaft bringt am Ende die meisten oder gar alle Stationen zusammen? Alternativ kann an jeder Station anstelle eines Gegenstandes eine neue Bewegung gemerkt werden. Dazu trägt jeder Teilnehmer einen beliebigen Vorschlag bei, den alle einmal nachvollziehen und dann ins Gedächtnis einspeichern. Stimmt am Ende auch die Reihenfolge?
Wichtig ist bei dieser Art von Übungen, dass zwischen dem Einspeichern und dem Abrufen eine aktive Pause liegt. Es nützt nichts, die Inhalte während der gesamten Tour stetig vor sich hin zu sagen. Dann bleiben sie bestenfalls im Arbeitsgedächtnis, kommen aber im Gedächtnis nicht an, können also nach einer Ablenkung nicht mehr abgerufen werden. Deshalb sollten Sie als Gruppenleiter darauf achten, dass nach dem Einspeichern von Informationen immer eine gezielte Ablenkung erfolgt. Das kann eine Rechenaufgabe sein oder es wird ein Wort rückwärts buchstabiert oder eine beliebige andere Übung, die volle Aufmerksamkeit erfordert.
5.4.3 Kreativität und mehr
Das Bewegen an frischer Luft setzt ungeheure Kreativität frei. Da wundern sich viele Brainwalker über ihre eigenen Ideen. Lassen Sie die Gruppe unter bestimmten Vorgaben miteinander sprechen: Wörter suchen, Geschichten erfinden, etwas darstellen usw. In der Fortbewegung werden bei den meisten Aktiven die Gedanken nur so sprudeln. Die Einzelnen beflügeln sich gegenseitig, jedes Wort ergibt ein neues. Da entsteht Fantasievolles, Verrücktes und vor allem jede Menge Spaß.
Um das in Gang zu setzen, benötigen Sie nur ein paar Impulse: Stellt unterschiedliche Baumarten dar! Überlegt euch eine Geschichte, wie dieser Stein entstanden ist! Versetzt euch in den Vogel, der da oben auf dem Baum sitzt – welche Geschichte könnte er gerade erzählen? usw.
Wortsammlungen zu bestimmten Themen anlegen, ist eine Aufgabe, die sich in der Fortbewegung besonders erfolgreich bewältigen lässt, zum Beispiel: alles, was aus Holz ist.
Überlegt euch Redewendungen oder Sprichworte, die ihr darstellt. Die anderen müssen später raten, zum Beispiel: Die Axt im Haus ersetzt den Zimmermann. Ähnlich funktioniert es mit der Darstellung von Begriffen, die Sie als Gruppenleiter auf Kärtchen an die Kleingruppen oder Paare verteilen.
Stellt Tiere dar, die in dieser Umgebung leben. Die anderen sollen herausfinden, um was es sich handelt.
Malt ein Motiv auf den Boden – mit einem Stock in den Sand, mit Steinen aufs Pflaster … – die anderen erraten, um was es sich handelt.
Klatscht einen Rhythmus oder denkt euch eine Bewegungsfolge aus, die die anderen nachahmen.
Baut etwas aus Materialien, die ihr bei euch habt oder in der Umgebung findet. Wer kommt darauf, was es sein soll?
Das sind nur einige Beispiele für mögliche Übungen. Viele weitere sind möglich, werden nach etwas Übung auch von den Teilnehmern vorgeschlagen.
Wenn Sie als Gruppenleiter die entsprechenden Materialien mitnehmen oder an Stationen vorbereitet haben, ist unter anderem Folgendes möglich:
- Auf dem Weg versteckte Zeichen finden, zum Beispiel Buchstaben, die am Ende zu einem Wort zusammengefügt werden sollen.
- Sich orientieren und den eigenen Weg nach einem Lageplan bzw. einer Karte oder nach einer Wegbeschreibung mit Worten suchen.
- Fotokarten von Gegenständen verteilen, die am Wegesrand gefunden werden sollen.
- Tastsäckchen mit Materialien zum Thema befühlen, beschreiben, erkennen, merken.
- Puzzle zusammensetzen, vorzugsweise mit Bildern, die zum Thema bzw. zum Weg passen.
- Silbenkärtchen zu Wörtern zusammensetzen, die mit dem Thema zu tun haben.
- …
Alle Arten von Bewegungsspielen – ohne Gerät, mit Bällen, Tüchern, Zweigen … machen an frischer Luft viel Spaß, zum Beispiel: alles aus der Natur mit der linken Hand nach links weitergeben, alles was künstlich hergestellt ist, mit der rechten Hand nach rechts weitergeben.
5.4.4 Vermitteln der Hintergrundinformation
Ein bisschen theoretischer Hintergrund sollte zum Brainwalking gegeben werden, damit von einer solchen Veranstaltung nicht der Eindruck eines „bloßen“ Spaziergangs, einer Wanderung oder des Walkens entsteht. Wer brainwalkt, möchte wissen, was er gerade dem eigenen Gehirn Gutes tut. Die Menge an Information muss jedoch gut auf die Gruppe, ihre Interessen und ihr Vorwissen abgestimmt werden.
Vortragssequenzen der Gruppenleitung sollten auf kurze Stopps unterwegs verteilt werden. Bilder, Grafiken und Texte, die in einem gewöhnlichen Gehirntrainingskurs oft per Plakat, Folie oder Power-Point-Präsentation gezeigt werden, lassen sich im Freien auf völlig andere Weise – meist viel wirkungsvoller präsentieren. Ein Plakat, an einen Baum gepinnt, weckt viel mehr Aufmerksamkeit als die Leinwand in einem Unterrichtsraum. Das Modell der Informationsverarbeitung vor den Augen der Teilnehmer in den Sandboden gezeichnet oder mit Zweigen und Steinen aufs Pflaster gelegt, ist viel greifbarer als ein seelenloses Dia. Die Synapsenbildung in Bewegung, mit den Teilnehmern als Neurone, ist einprägsamer als ein stundenlanger Vortrag über solche Zusammenhänge.
Werden Plakate oder Bilder häufiger eingesetzt, empfiehlt es sich, diese zu laminieren. Damit werden sie unempfindlich gegen Feuchtigkeit oder Schmutz und sind mehrfach zu benutzen. Geschickt ist allerdings, bei solchen Vorlagen, die größer als DIN A4 sind, dünne Laminierfolien zu benutzen, damit sie gerollt werden können und so gut zu transportieren sind.
Theoretischer Hintergrund gehört zu einmaligen Veranstaltungen ebenso wie zu Kursen mit mehreren Terminen dazu. Insbesondere bei Kursen können zusätzlich Teilnehmerunterlagen ausgegeben werden, die die theoretischen Erläuterungen noch einmal zusammenfassen, Grafiken zum Nachvollziehen zu Hause, Tipps für Trainingsmöglichkeiten im Alltag oder Arbeitsblätter mit Aufgaben, die bis zum nächsten Treffen erledigt werden können. Eine Kursmappe gehört bei Gehirntrainingsangeboten in geschlossenen Räumen in der Regel zu den Standardleistungen. Beim Brainwalking ist sie ebenfalls für Teilnehmende hilfreich, muss aber nicht zu jedem Termin mitgebracht werden. Das wäre unterwegs meist unnötiger Ballast.
1 Vgl. Jacobs University (2009). Fitness fürs Gehirn. Ü-Magazin, Nr. 6, 7ff.
2 Anschriften siehe hier.