32.

 

M

aria hatte ihn bei Kerzenlicht über die steile Treppe nach oben gebracht. Es war Nacht und so dunkel in der Dachkammer, dass Thomas, der auf einem zu kleinen Bett lag, die Hand vor Augen kaum sah. Er war Gutenberg dankbar, dass er ihn versteckte. Sie arbeiteten jetzt zusammen. Der Gang durch die Werkstatt sollte provozieren, sie wollten den Verräter aus der Reserve locken und hatten die Reaktionen der Männer beobachtet: Wer immer es war, er sollte unruhig werden. Vielleicht beging er einen Fehler.

Für Thomas tat sich eine neue Welt auf. Die Juristerei hatte ihn nie mit Leidenschaft erfüllt. Sein Vater hatte ihm empfohlen, die Rechte zu studieren, und die Aussicht auf ein Studium in Italien lockte. Heute, mit Abstand betrachtet, erleichterte es Thomas fast, die Richterstelle los zu sein. Nur die Umstände ärgerten ihn, und die wollte er nicht auf sich sitzen lassen: Er würde für sein Recht kämpfen.

Aber seine wahren Interessen lagen woanders, das wurde ihm klar. Was Gutenberg machte: Das war sein Beruf! Davon hatte er geträumt, unklar und verschwommen – weil es kein Vorbild gab. Die ganzen Jahre hatte es den Beruf, nach dem er sich sehnte, nicht gegeben. Und jetzt existierte er!

Thomas lag wach. Wunschbilder schossen ihm durch den Kopf: Er würde den Fall aufklären, um nicht als Verlierer dazustehen. Dann wollte er Gutenbergs Mitarbeiter werden. Später sah er sich eine eigene Druckerei gründen; er würde Bücher machen. Und wenn er erst erfolgreich Geschäfte machte, würde Katharinas Vater seine Abneigung gegen ihn überwinden hoffte er zumindest.

Ein schöner Traum. Er wusste, dass sich manchmal Ziele erst auf Umwegen realisierten. Er stand am Scheideweg. Alles war in Bewegung, verschiedene Möglichkeiten standen offen, und was zurzeit geschah, würde den Rest seines Lebens prägen. Alles, was er bisher getan hatte, kam ihm wie ein langes Suchen vor, und endlich tat sich der Weg auf, der zum Ziel führte.

Irgendwann drang fahles, graues Licht durch die Ritzen im Dach und durch ein winziges Fenster. Thomas fühlte sich wie gerädert. Er hatte fast die ganze Nacht wach gelegen. Es roch nach Feuer. Wahrscheinlich hatte Maria den Herd in Gang gebracht, und der Rauch zog nicht richtig durch den Kamin ab, sodass der Geruch sich im ganzen Haus verbreitete.

Seine Gedanken wanderten zu Gutenbergs »zwölf Aposteln«, wie er sie für sich nannte. Er hatte einen Verdacht. In den langen Stunden, während er wach lag, hatte sich Thomas den Gang durch die Werkstatt wieder und wieder ins Gedächtnis gerufen. Und er sah die Mitarbeiter vor sich. Den alten Korrektor zog er nicht in Erwägung. Je länger er nachdachte, desto stärker konzentrierte er sich auf eine Person. Das mochte voreilig sein und einer näheren Prüfung nicht standhalten. Es war nur Instinkt. Eine Ahnung.

Sein Verdacht basierte auf einer Vereinfachung, deren er sich fast schämte. Er hatte sich ein Bild vom Mörder gemacht. Während er Klara Roths Leiche untersuchte, stellte er sich einen großen und starken Mann als Mörder vor. Und nun drängte sich ein Bild in den Vordergrund, das Bild des Mannes, der Hermann hieß und dessen Muskeln anschwollen, wenn er am Hebel der Presse zog. Die starken, behaarten Arme hatten Thomas beeindruckt, das ganze Holzgestell wackelte unter dem Ansturm seiner urwüchsigen Kraft.

Es ist banal, dachte Thomas. Das spottet jeder Logik. So würde ein Kind vorgehen. Und trotzdem drängte es ihn, seinen Verdacht zu überprüfen. Ob Gutenberg schon wach war? Thomas konnte seine Ungeduld nicht länger zügeln, warf die Decke zur Seite, stand auf, zog sich an und stieg über die knarrenden Stufen nach unten.

Maria hantierte allein in der Küche. Der Raum war groß, Töpfe und Pfannen hingen an der Wand neben dem Feuer, auf Regalen stapelten sich Teller und Schüsseln. Vermutlich kamen Gutenberg und seine Leute hier zu den Mahlzeiten zusammen. Maria legte gerade einen Laib Brot auf den Tisch, als er zur Tür hereinkam. Sie wirkte verschlafen, hatte ihr blondes Haar flüchtig mit einem roten Band hinten zusammengebunden, und Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Ihr grobes Leinenkleid reichte bis zu den Füßen, die in Holzpantinen steckten. Thomas setzte sich an den Tisch und strich sich die Haare aus der Stirn.

»Es dauert noch bis zum Frühstück«, sagte Maria.

»Das eilt nicht. Ich lag nur wach. – Ist wohl eine Menge Arbeit, die ganze Meute zu versorgen?«

»Ich mach es gern. Wir sind eine große Familie.«

Und wie in jeder anständigen Familie, dachte Thomas, gibt es ein schwarzes Schaf.

»Ist Gutenberg Witwer?«, fragte er.

Sie presste die Lippen aufeinander. »Er war nie verheiratet.«

»Hat er nur seine Arbeit im Kopf?«

»Oh, er kann sehr ausgelassen sein!«

Thomas betrachtete ihr blasses, ernstes Gesicht, während sie den Tisch deckte und ihn nicht zu beachten schien. »Bleibt Ihr jetzt bei uns?«, fragte sie, legte die Hände hinter den Kopf und fingerte an dem roten Band.

»Wenn man mich lässt.«

»An mir soll’s nicht scheitern.« Sie lächelte verschlafen.

»Ist wohl kein Honigschlecken, das frühe Aufstehen?«, fragte er.

»Ich kenne es nicht anders.«

Thomas blieb gern lange im Bett liegen. Seine ganzen Gewohnheiten waren zum Teufel.

»Und seine Mitarbeiter wohnen alle hier?«

»Bis auf zwei.«

»Wenn man so eng zusammen wohnt, weiß man sicher viel voneinander?«

»Sofern man Wert darauf legt. – Wollt Ihr ein Stück Brot und Käse?«

»Später.«

»Wie ein Deutscher seht Ihr nicht aus.«

Er schaute ihr in die Augen, die schwarz umschattet waren und vom Herdfeuer ein Leuchten auffingen. »Meine Mutter ist Italienerin. – Was treiben Gutenbergs Männer in ihrer Freizeit? Gehen sie abends weg? Gibt es den einen oder anderen, der spät nach Hause kommt?«

»Die sind dermaßen mit Arbeit eingedeckt, die fallen gleich ins Bett. – Habt Ihr in Italien gelebt?«

»Ich bin da geboren. – Sagen wir, so in den letzten zehn Tagen, da ist dir nichts Besonderes aufgefallen?«

»Ich weiß schon, worauf Ihr hinauswollt.«

»Dann hilf mir!«

Sie verteilte Holzlöffel auf dem Tisch, dessen Oberfläche vom häufigen Gebrauch zerkratzt und abgenutzt war, richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah, weil sie nah bei ihm stand, ihre schmalen Finger; die Haut war trocken und an manchen Stellen, wo sich Risse gebildet hatten, rötlich. Sie sagte: »Eure Richterstelle seid Ihr los. Und so, wie Ihr gestern aussaht, solltet Ihr Euch besser aus der ganzen Angelegenheit raushalten. Eurer Gesundheit zuliebe.«

»Das geht nicht.«

»Warum?«

»Weil es eine Sache der Ehre ist.«

Sie lachte. »Ehre?! Hab ich richtig gehört? Eine Sache der Ehre? Das ist mal ganz was Neues.«

Thomas fragte sich, ob sie nicht Recht hatte. Im Grunde waren es egoistische Motive, die ihn antrieben. Es ging ihm nicht um Ehre. Es ging um Rache!

»Ob Ehre oder nicht«, sagte er, »ich lasse das nicht auf mir sitzen.«

»Klingt schon ehrlicher.«

»Man hat mir übel mitgespielt. Und einer von Gutenbergs Leuten ist in die Sache verwickelt.«

»Woher wisst Ihr das?«

»Er hat das Geheimnis der Erfindung verraten. Ich habe Aufzeichnungen darüber gesehen.«

»Das glaube ich nicht.«

»Frag Gutenberg!«

»Ich weiß nichts. Ich kann Euch nicht helfen.«

»Aber vielleicht hast du einen Verdacht, eine Vermutung …«

Sie schüttelte den Kopf. »Darauf lasse ich mich nicht ein.«

»Wie heißt der Mann noch gleich, der die Presse bedient?«

»Hermann. Hermann Baum.«

»Wohnt er hier im Haus?«

»Nein, er wohnt zur Miete.«

»Wo?«

»Wenn Ihr die Gasse runtergeht und dann nach links, da kommt ein Haus mit einem Turm, oben schaut ein Aufzug raus für schwere Lasten, da wohnt er. Hat eine kleine Kammer gemietet. Dabei haben die genug Geld. Er wohnt nämlich bei einer Kaufmannsfamilie. Manche kriegen nie genug.«

Im Treppenhaus knarrten Stufen. Gutenberg kam zur Tür herein, die Haare wirr und das Gesicht verquollen. Das Hemd hing ihm aus der Hose, und eine Strickjacke aus blauer Wolle trug er mit den Nähten nach außen. Er stutzte, als er Thomas sah, grüßte und setzte sich an den Tisch, der mehr als zehn Leuten Platz bot.

»Ihr habt schon Freundschaft geschlossen?«, brummte er missmutig.

»Ich horche sie ein wenig aus«, sagte Thomas.

»Über Hermann«, ergänzte Maria.

»Ich würde nämlich gern mal mit ihm reden.«

»Warum ausgerechnet mit Hermann?«, fragte Gutenberg.

»Weiß selbst nicht. Ist nur so eine Idee.«

»Kein sehr überzeugender Grund. Er ist mein wichtigster Mann.«

Thomas konnte Gutenbergs Konflikt nachvollziehen. Er musste daran interessiert sein, den Verräter zu finden, andererseits stand er zeitlich dermaßen unter Druck, dass er den Arbeitsprozess nicht unterbrechen wollte. Und den Ausfall eines wichtigen Mitarbeiters konnte er kaum verkraften.

»Nur ein paar harmlose Fragen.«

»Na gut«, sagte Gutenberg, »später …«