9. KAPITEL
Obwohl Jessie etwas von ihrer Bräune verloren hatte, schien sie vor Gesundheit zu strotzen. Als sie sich in ihrem Sitz nach vorne beugte, ganz vertieft in das Geschehen auf der Bühne, wurde ihr Gesicht von den Schweinwerfern erhellt. Joshua musste lächeln, als er sah, wie sie ihre Lippen zum Text der Musik bewegte. Sie waren allein in der Loge, und so konnte er dem Bedürfnis nicht widerstehen, mit den Fingern eine Spur über ihren nackten Rücken zu ziehen und sie dann unter ihren wilden Locken im Nacken liegen zu lassen. Sie trug ein orangefarbenes Kleid, dessen Träger auf dem Rücken gekreuzt waren. Die langen Korallenohrringe klimperten leise, als er sie berührte.
Jessie drehte sich um und schenkte ihm ein Lächeln, das ihn direkt ins Herz traf. Sein Griff verstärkte sich ein wenig. „Das Phantom ist absolut fantastisch“, flüsterte sie. Ihre Augen funkelten. „Vielen Dank, dass du mich mitgenommen …“
Sie war verdammt noch mal einfach unwiderstehlich. Er küsste sie. Nicht so, wie er es am liebsten getan hätte, denn dann hätte man sie vermutlich umgehend aus dem Theater geworfen. Er streichelte nur mit der Zunge über ihre Lippen. Die Armlehne des Plüschsessels grub sich in seine Rippen.
Plötzlich war die Aufführung, war die Musik vergessen. Sie stöhnte, als er den Saum ihres Kleides nach oben schob und eine Hand auf ihren Schenkel legte.
Das Publikum applaudierte, die Lichter gingen zur Pause an. Hastig lösten sie sich voneinander, und Jessie musste kichern. Joshua strich sich verärgert die Haare glatt. Doch dann konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken.
„Eines Tages wirst du noch verhaftet“, sagte er mit tiefer Stimme.
Jessie riss in gespielter Empörung die braunen Augen auf. „Wieso ich?“ Sie zog sich das Kleid über die Knie. „Ist nicht meine Schuld, dass du nicht die Finger von mir lassen kannst.“
„Ist es doch.“ Joshua befreite einen Ohrring aus ihrem wirren Haar. „Was soll ich nur zum Teufel mit dir machen, Jess? Sobald ich in deiner Nähe bin, führe ich mich auf wie ein liebeskranker Schuljunge.“ Und wenn er nicht in ihrer Nähe war, dann auch.
Jessie fuhr mit den Fingerspitzen die Kontur seiner Lippen nach. „Und ich benehme mich wie ein liebeskrankes Schulmädchen. Na und?“ Sie stand auf und streckte ihm die Hand hin. „Heiß ist es hier. Komm, lass uns nach unten gehen und was Kaltes trinken.“
Als sie in der Lobby ankamen, war Jessie unter ihrem Make-up wieder blass geworden. Eigentlich hatte er gedacht, dass es ihr seit der Rückkehr aus Monte Carlo wieder besser ginge. Sie hatte sich jedenfalls geweigert, zum Arzt zu gehen. Es gefiel ihm nicht, wenn er sich Sorgen um sie machen musste. Er war nicht daran gewöhnt, sich um andere Leute zu sorgen.
„Ich bringe dich nach Hause.“
Jessie sah ihn scharf an. „Wieso?“
„Du siehst gerade so aus, als würdest du jeden Moment ohnmächtig werden.“
„Werde ich nicht. Es ist einfach nur sehr warm hier.“ Sie leckte sich über die Lippen. „Mir gefällt das Stück. Ehrlich, Joshua, mir geht’s gut. Lass uns ein bisschen nach draußen gehen und frische Luft schnappen. Okay?“
„Es ist eiskalt. Warte, ich hole deinen Mantel.“ Er blickte über sie hinweg. „Mist, das kann ich jetzt gar nicht brauchen.“
„Was? Wer?“ Jessie schaute sich um. „Oh, Paul und Stacie.“
Joshua sah, wie sein Cousin mit seiner Frau auf sie zusteuerte. Paul war ein ganz netter Kerl, wenn man nicht gerade von ihm erwartete, dass er für sein Geld arbeitete. Er war genauso groß wie Joshua, hatte ebenfalls dunkles Haar, oft genug wurden sie für Brüder gehalten. Doch während Joshua sieben Tage pro Woche zwölf Stunden am Tag arbeitete, schien Paul der Ansicht zu sein, dass andere für seinen Lebensunterhalt aufzukommen hatten. Deswegen war er auch nicht unglücklich darüber, dass Joshua die Firma leitete. Im Gegenteil. Er war mehr als zufrieden mit seinem Gewinnanteil. Joshua hatte ihn seit fast einem Jahr nicht gesehen, und was seine Frau betraf, auf die hätte er auch gerne noch ein weiteres Jahr verzichtet.
Stacie war zierlich und blond, sie trug noch immer dieselbe Grace-Kelly-Frisur wie vor zehn Jahren. Wie immer war sie elegant und dezent gekleidet, sie strahlte eine unterkühlte Distanziertheit aus, die ihn vor vielen Jahren so wahnsinnig gemacht hatte. Doch nun erschien sie Joshua nur langweilig und viel zu kontrolliert. Sie lächelte ihn mit ihren künstlich aufgespritzten Lippen an.
„Paul. Stacie.“ Joshuas Griff um Jessies Taille verstärkte sich, als sie sich an ihn lehnte. Er warf ihr einen besorgten Blick zu, dann konzentrierte er sich wieder auf das Ehepaar vor ihm.
Er konnte Stacie völlig leidenschaftslos betrachten, ihre kühle blonde Schönheit erschien ihm so seelenlos verglichen mit Jessies Lebendigkeit. Er konnte es kaum fassen, dass er diese Frau einmal gebeten hatte, ihn zu heiraten.
Stacie ließ ihre eisblauen Augen von Joshua zu Jessie und wieder zurück zu Joshua wandern. Er bemerkte, dass zwischen ihr und Paul ein paar Schritte Abstand waren.
„Du kennst Jessica Adams?“, fragte er, obwohl es ihm völlig gleichgültig war. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass Jessies Gesicht leicht fiebrig glänzte. Es war so heiß hier.
Stacie warf Jessie einen belustigten Blick zu, Diamanten funkelten an ihren Ohren, als sie den Kopf drehte. „Aber ja, Darling, wir haben dein Kalendergirl bereits kennengelernt.“ Sie lachte. Sie glaubte, dass ihr durchdringendes Lachen sexy war. Dabei hätte er sie am liebsten am Hals gepackt und fest zugedrückt.
Herausfordernd streichelte Stacie seinen Arm. Ihre Nägel waren lang und weinrot lackiert. Es fühlte sich an, als ob eine Spinne in seinen Ärmel krabbelte. Joshua schüttelte sie angewidert ab.
„Brauchst doch nicht sauer zu werden, Darling. Es ist doch eine unumstößliche Tatsache, dass du deine Geliebten immer nur für ein Jahr behältst.“
„Wir wollten gerade nach draußen und frische Luft schnappen.“ Er ignorierte Stacie. „War schön, dich zu sehen, Paul. Komm doch bei Gelegenheit mal zu einer Vorstandssitzung.“ Er nahm Jessies Hand.
„Meine Güte, es ist aber auch heiß hier.“ Stacie wedelte sich mit dem Programmheft Luft in das perfekt geschminkte Gesicht. Ihr Parfüm, das sicher lächerlich teuer gewesen war, erschien ihm so abstoßend wie ein Anti-Mücken-Spray. Das Foyer war gepackt voll mit Menschen. Es war nicht möglich, schnell voranzukommen, sosehr er es auch wollte. Sie hob die Stimme und rief über ihre Schulter: „Besorg mir was zu trinken, Paulie. Wir treffen uns draußen.“
Er drängte sich mit Jessie durch die Menschenmenge. Sie war noch blasser geworden, ein paar feuchte Haarsträhnen klebten an ihrer Schläfe.
„Möchtest du dich setzen?“ Er spürte, wie ihr schlanker Körper zuckte. Sie schluckte mehrmals krampfhaft. „Zur Toilette?“ Noch bevor Jessie nicken konnte, schob er sie in die entsprechende Richtung.
Als er das Gefühl hatte, als hätte sie bereits Stunden in der Toilette verbracht, stieß er die Tür zum Vorraum auf.
„O mein Gott, Joshua! Du kannst hier nicht reinkommen!“ Jessie blickte zu ihm hoch. Die Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt, sie hatte ihr Haar gerichtet und frischen Lippenstift aufgelegt.
„Du bist schon ewig hier.“ Er ließ sie nicht aus den Augen und ging über den dicken Teppich auf sie zu. In dem Raum roch es nach Frauen, nach verschiedenen Parfüms und Puder, nach Seide und Pelzen; das Licht war schmeichelhaft gedämpft.
Jessie kam ihm entgegen und nahm seine Hand. „Danke, dass du nach mir geschaut hast.“ Ihr Blick tanzte. „Haben wir jetzt wieder freie Bahn? Können wir uns den letzten Akt ansehen?“
„Möchtest du nicht lieber nach Hause und dich hinlegen?“ Joshua öffnete die Tür und ignorierte die Blicke, als er Jessie durch die Lobby nach oben begleitete.
„Nein, mir geht’s gut. Mir war nur kurz ein wenig übel.“
Kaum hatten sie sich gesetzt, da begann auch schon die Eröffnungsmelodie. Er nahm ihre Hand und legte sie auf sein Knie. Erleichtert atmete er ihren Pfirsichduft ein. „Tut mir leid, dass sie dich so angemacht hat.“
„Kein Problem“, versicherte Jessie. „Sie tut mir leid. Jemand, der so gemein ist, muss sehr unglücklich sein.“
Joshua schloss die Augen, als die Musik anschwoll und sein Herz sich öffnete. Nur Jessie war in der Lage, eine Frau wie Stacie zu bemitleiden. Jessie legte den Kopf auf seine Schulter, und gemeinsam genossen sie den Rest des Musicals.
Seine einzige Sorge war Jessies Gesundheit. Diese Schwächeanfälle tauchten in erschreckender Regelmäßigkeit auf. Es gefiel ihm nicht, wenn es Jessie schlecht ging. Er würde darauf bestehen, dass sie sich an einen Spezialisten wandte.
Auf dem Heimweg schlummerte sie zufrieden neben ihm im Auto ein. Als er allerdings auf der Schnellstraße die Ausfahrt zu seinem Haus nehmen wollte, bat sie ihn verschlafen, sie zu ihrem Cottage zu bringen. Irgendwie kam sie ihm sehr nachdenklich vor.
Er bestand darauf, sie nach oben zu bringen, er wollte sicher sein, dass es ihr wirklich gut ging. Sie liebten sich langsam und sanft und schliefen Arm in Arm ein.
Der Wecker riss ihn irgendwann unsanft aus dem Schlaf. Sie wachte nicht auf, als er sich leise anzog und ging.
Draußen war es eiskalt und stockdunkel. Er kletterte in sein Auto und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Verdammt. Der Motor jaulte einmal laut in der absoluten Stille auf. Er ließ die Hände auf dem Lenkrad und starrte auf die dunklen Fenster des Cottages. Er stellte sich vor, wie Jessie tief unter ihrer Bettdecke vergraben die Nacht durchschlief.
Er fühlte sich irgendwie … billig.
Als er auf die Uhr im Armaturenbrett schaute, musste er lachen.
Es war drei Uhr morgens.
Sie flogen für ein paar Tage nach Tahoe. Es war kalt und frostig. Jessie machte einen Braten. Joshua saß in der Küche, faltete akribisch die Stoffservietten und steckte sie anschließend in die kleinen Serviettenringe aus Kupfer, die sie mitgebracht hatte.
Jessie öffnete den Ofen, um das Fleisch zu übergießen. Im ganzen Haus hatte sich bereits der herrliche Bratenduft ausgebreitet. Joshua schenkte Wein ein, stellte ihr Glas auf die Küchentheke, wo sie gerade den Teig für den Apfelkuchen auslegte. „Ich verhungere“, beschwerte er sich und band ihr ein Handtuch um die Hüfte, was Jessie für überflüssig hielt, schließlich war sie doch sowieso schon von Kopf bis Fuß mit Mehl eingestäubt.
„Hol schon mal den Braten raus, damit er sich setzen kann, dann können wir essen.“ Sie wartete, bis er den schweren Topf auf die Theke gestellt hatte, und fragte dann behutsam. „Was hältst du von Thanksgiving?“
Er hob die Augenbrauen. „Thanksgiving?“
„Ja. Du weißt schon, der Feiertag im November?“
Er lächelte nachsichtig. „Interessiert mich nicht. Wieso?“
„Ich liebe Thanksgiving. Könnten wir den Tag hier verbringen?“
„Klar. Warum nicht.“
Sofort begann sie in Gedanken den Tag zu planen. Sie hatte noch nie einen Truthahn zubereitet. Sie wollte, dass der Feiertag einfach perfekt werden würde. Truthahn, Kuchen … das schönste Thanksgivingfest, das Joshua je erlebt hatte. Er sollte es immer in Erinnerung behalten.
Der Lammbraten war perfekt, zart und saftig, die Kartoffeln und die glasierten Karotten schmeckten köstlich.
Joshua lachte. „Wenn du isst, klingst du, als ob du gerade Sex hättest.“
Sie freute sich, dass er so gut drauf war. Er trug Jeans und einen Strickpulli, der seine breiten Schultern betonte. „Ich liebe Feiertage.“ Sie war so zufrieden, dass sie hätte weinen können.
Später ging sie mit dem Weinglas ins Wohnzimmer und legte sich vor den Kamin, während Joshua die Küche aufräumte. Dann kam er zu ihr, setzte sich neben sie aufs Sofa und zog ihre Füße auf seinen Schoß. Durch die dicken Wollsocken hindurch begann er, ihre Zehen zu massieren.
„Als ich ein Kind war“, sagte sie und blickte nachdenklich in das prasselnde Feuer, „habe ich immer Bilder aus Zeitschriften rausgerissen, Urlaubsbilder und Fotos von Rezepten. Die habe ich dann in ein kleines Buch geklebt. Am liebsten habe ich Familienfotos gehabt. Weißt du, welche ich meine? Glückliche Mütter mit ihren Kindern, die zusammen an einem großen Holztisch sitzen und Suppe löffeln.“
Er hörte auf zu kneten. „Was ist aus dem Buch geworden?“
Sie errötete. „Ich habe es noch. Ganz schön dumm, wie?“
„Nein.“ Seine Stimme klang rau. Sie drehte den Kopf und sah ihn an. „Es ist verdammt traurig. Warum hast du nie geheiratet und eine Familie gegründet, Jessie, wenn du das doch so sehr willst?“
Sag es ihm, dachte sie. Mein Gott, hier war die perfekte Gelegenheit. Schon formten sich in Gedanken die Worte. Und dann verschwanden sie wieder. Das wunderbare Essen und der Wein und die Wärme des Feuers machten es ihr schwer, klar zu denken. Der Augenblick verstrich ungenutzt.
„Ich habe mich in den falschen Prinzen verliebt.“
„Wie alt warst du?“
„Einundzwanzig.“
„Hat er dein Herz für immer gebrochen?“ Er legte ihre Füße zur Seite, um weitere Scheite ins Feuer zu werfen. Sie sah, wie der Pullover sich über seinen breiten Schultern spannte und die Jeans sich herrlich an seinen Hintern schmiegten.
„Damals habe ich das geglaubt.“ Ich hatte ja keine Ahnung, wie viel schlimmer es noch werden würde.
„Ich habe nie daran geglaubt, dass Liebe wirklich existiert.“ Er hob ihre Füße hoch und zog ihr die Socken aus. Dann fuhr er fort, mit seinen großen, warmen Händen ihre Zehen zu kneten. „Zumindest scheint es mir das Risiko nicht wert zu sein, sich das Herz brechen zu lassen.“
„Aber was die Liebe einem geben kann, ist so viel größer.“ Sie würde sich bis ans Ende ihres Lebens an dieses Jahr mit ihm erinnern.
„Wenn man jemanden zu gut kennenlernt, dann erfährt man auch alles über seine Fehler und Schwächen.“ Er starrte mit zusammengebissenen Zähnen in die lodernden Flammen. Die Dunkelheit drückte gegen die Fenster und schloss sie in eine plötzlich sehr kleine Welt ein.
„Oder man fängt an, sich wirklich zu mögen?“, fragte sie leise.
Er zuckte mit den Schultern, er schien sich unbehaglich zu fühlen. „Ich verachte schwache Menschen.“
„Vielleicht sind die aber nur menschlich?“ Von wem sprach er? Von Stacie? Von seiner Mutter?
In seinem Kiefer begann ein Muskel zu zucken. „Mein Vater hielt mich für schwach.“
„Du warst auch schwach, Joshua. Du warst ein Kind.“
„Die Vorstellung, jemals wieder so schwach zu sein, macht mir Angst.“ Das klang wie ein düsteres Eingeständnis. Jessies Herz flog ihm zu.
„Die Liebe macht die Menschen stark, Joshua. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die eines Mannes zu seiner Frau. Wir alle brauchen jemanden, dem wir etwas bedeuten. Wir alle sehnen uns nach diesem speziellen Ort, wo wir uns geliebt und sicher fühlen.“
„Die Menschen befinden sich tatsächlich genau an dem Ort, an dem sie sein wollen.“ Seine Augen wirkten besonders blass, als er sie ansah. „Die Entscheidungen, die wir treffen, führen uns dorthin, wo wir sind. Wenn es einem Menschen dort, wo er ist, nicht passt, dann sollte er etwas dagegen unternehmen. Meinst du nicht?“
„Vermutlich“, entgegnete sie schläfrig. Sie selbst jedenfalls hatte eine Menge falsche Entscheidungen getroffen. Seine Logik schien ihr ein wenig unsinnig, aber sie war schon beinahe eingeschlafen.
Ein Holzscheit knallte. Joshua massierte ihre Fußsohlen. Jessie schien in einem warmen Nebel zu schweben.
„Lass uns eine Party veranstalten, wenn wir zurück sind“, sagte Joshua aus heiterem Himmel.
„Mhm, gut.“
„Ich will, dass es ein großes Fest wird, Jessie. Wir werden jeden einladen, den wir kennen. Du kannst die Belegschaft und den Partyservice herumkommandieren, wie es dir passt.“
Jessie lächelte matt. „Plötzlich magst du Partys?“, fragte sie gähnend. Sonst hatte er sie immer gehasst.
„Diese wird spektakulär.“
„Joshua“, sagte sie, beinahe schon eingeschlafen. „Warum willst du ein Fest feiern?“
* * *
Oktober
„Gutes Timing. Ich habe gerade ein kleines Nickerchen gemacht. Oh, lecker, Schokolade.“ Jessie nahm sich einen Keks vom Teller. Archie und Conrad waren unangekündigt bei ihr im Cottage aufgetaucht. Jessie führte sie in die kleine Küche, von der aus man den Gemüsegarten überblicken konnte.
Schnell schlang sie die Haare zu einem Knoten und befestigte ihn mit einem Bleistift. Die beiden Männer warfen sich vielsagende Blicke zu.
„Was hat der Arzt gesagt?“, fragte Conrad.
„Wie laufen die Vorbereitungen für die Party morgen?“, wollte Archie gleichzeitig wissen. Er reichte Jessie eine Serviette und blickte Conrad warnend an.
„Großartig.“ Sie schenkte ihnen Kaffee und sich selbst ein Glas Wasser ein. „Ich finde es herrlich, Leute herumzukommandieren. Wie ich herausgefunden habe, bin ich ganz gut darin.“ Sie setzte sich und nahm noch einen Keks. „In ein paar Stunden gehe ich wieder rüber, checke noch ein paar Details und esse dann mit Joshua zu Abend. Es ist so lieb von ihm, dass er eine Party gibt, um sein neu eingerichtetes Haus vorzuzeigen.“
„Ja“, sagte Conrad trocken. „Sehr süß.“
„Nun, das ist es auch.“
„Er ist stolz auf deine Arbeit“, betonte Archie. „Du wirst auch immer besser, Jess.“
„Danke, nett, dass du das sagst.“ Sie leckte sich Schokolade vom Daumen. Die beiden Männer versanken in bedeutungsvolles Schweigen. Jessie seufzte. „Ich habe eine gute Nachricht und eine … andere.“
„Zuerst die gute.“ Conrad schlug die Beine übereinander und nahm sich einen Keks, den er eigentlich gar nicht wollte.
„Die gute Nachricht ist: Ich freue mich, dass ihr mein Talent lobt, denn ich werde wieder Vollzeit arbeiten. Bald.“ Das kam ziemlich kleinlaut, aber das Schlimmste hatte sie ja schließlich noch vor sich. Sie hatte das Gefühl, auf der Anklagebank zu sitzen, so wie die beiden sie wortlos anstarrten.
„Und?“, drängelte Archie, als sie nicht weitersprach.
„Die andere Nachricht ist – ich bin schwanger.“ Jessie blickte von einem zum anderen. „Und ich will jetzt nicht hören, dass ihr das gleich gesagt habt“, fügte sie warnend hinzu.
„Ich dachte, dass du angefangen hast, zu verhüten.“
Jessie zog ein Gesicht. „In den letzten Monaten zumindest meistens, ja.“
„Der Trick ist, dass man es immer tut“, verkündete Conrad.
„Manchmal blieb einfach keine Zeit.“
„Also bitte!“ Conrad verdrehte die Augen.
„Kann passieren.“ Archie tätschelte ihre Hand. Sie lächelte ihn an.
„Du hältst das also für keine schlechte Nachricht.“ Conrad stützte sich auf die Ellbogen und blickte finster vor sich hin.
„Nein.“ Jessie nahm sich noch einen Keks.
„Warum hast du dann an deinen Nägeln gekaut?“
„Heute Abend werde ich Joshua alles sagen.“
„Alles?“ Archie zog eine Augenbraue in die Höhe.
„Alles.“ Jessie stand auf und stellte sich ans Fenster. In der Abenddämmerung sah der Garten dunkel und traurig aus. Die meisten Bäume waren kahl. Sie durfte nie vergessen, dass nach dem Winter der Frühling kam. Egal was sonst geschah. „O Gott. Was für ein Durcheinander. Ich freue mich wegen des Babys. Bin begeistert. Überglücklich. Aber ich habe Angst vor Joshuas Reaktion.“
„Das klingt ein wenig nach dem Dieb, dem plötzlich, nachdem er erwischt wurde, alles leidtut.“
„Ich bin nicht erwischt worden.“ Jessie kaute an einem Daumennagel. „Ich dachte wirklich, ich könnte damit locker umgehen, aber ihr habt recht gehabt.“ Jessie lehnte sich ans Fensterbrett und fröstelte. Zwar trug sie den dicken, rosa Morgenmantel, aber sie stand barfuß auf dem kalten Linoleumboden.
„Ich hätte von Anfang an ehrlich sein müssen. Ich dachte, dass ich schneller schwanger werden würde. So hatte ich das jedenfalls nicht geplant.“ Es bereitete ihr einige Schwierigkeiten, den Kloß im Hals runterzuschlucken, dann sprach sie das aus, was die beiden sowieso schon geahnt hatten: „Ich habe mich nur noch mehr in Joshua verliebt.“ Sie seufzte. „Jedenfalls wird unsere Beziehung dadurch schneller beendet sein als geplant. Wenn er herausfindet, dass er Vater wird, wird er nicht gerade Luftsprünge vor Begeisterung machen.“
Sie drückte sich vom Fenstersims ab, lief quer durch den Raum, setze sich wieder an den Tisch und zog die Beine an. „Diese Abmachung war ja in Ordnung, solange es nur um uns beide ging. Aber mit meinem Kind werde ich keine Spielchen treiben. Ich will nicht mehr länger lügen, indem ich nur die halbe Wahrheit sage.“ Sie stützte das Kinn auf ihre Knie. „Wie sollte Joshua eine vernünftige Entscheidung treffen, wenn er nicht alle Fakten kennt?“
„Er wird durchdrehen“, warnte Archie.
„Ich weiß“, sagte Jessie ruhig. „Aber ich muss es ihm trotzdem sagen.“
Joshua sah sich kritisch im Wohnzimmer um. Der Tisch war elegant dekoriert. Auf der blassrosa Damastdecke waren zierliche Rosen verteilt, die Jessie für die Party am nächsten Tag aus Südamerika geordert hatte. Das Porzellan und das Silber glänzten.
Er schluckte schwer, als er zum etwa zwanzigsten Mal innerhalb der letzten halben Stunde in seine Tasche griff. Mein Gott, er war nervös wie ein Schuljunge. Er lächelte verlegen, spazierte dann durch die Halle in ein anderes Zimmer, wo er sich einen ordentlichen Drink einschenkte.
Jessie war zauberhaft. Sie war sein Talisman gegen die kalte Einsamkeit, die sein Leben zuvor bestimmt hatte. Er dachte an ihre Wärme und ihr wundervolles Lachen. Sie gab ihm das Gefühl, dass er ihr wirklich wichtig war. Sie schien ihn besser zu kennen als jeder Mensch zuvor. Sie war so sanft und liebevoll, so offen und ehrlich, was Gefühle anging, es war, als ob man in einen kristallklaren Bergsee schaute.
Joshua ließ sich in seinen Lieblingssessel fallen. Durch das zweiflügelige Fenster konnte er die Auffahrt zu seinem Anwesen überblicken. Er würde also sofort sehen, wenn sich Jessies kleines rotes Auto näherte.
Jessie mit ihren blitzenden braunen Augen und dem heiseren Lachen. Jessie mit ihrem wilden Haar. Jessie mit dem schlanken Körper einer Tänzerin, die sich so sinnlich bewegte, dass er nie aufhören konnte, sie zu begehren.
Doch wenn es nur um Sex gehen würde, hätte er auch wieder damit aufhören können. Er hatte auch schon vorher guten Sex gehabt. Obwohl selbst das mit Jessie anders war. Egal, wie sehr er sich auch dagegen wehrte, Jessie hatte recht. Sie schliefen nicht miteinander, sie liebten sich. Es war fantastisch, es war einfach umwerfend. Aber da war längst nicht alles. Sie hatte Humor, sie war intelligent, ehrlich und integer. Sie hatte ihn gelehrt, sich auch mal wirklich zu entspannen und den Duft der Blumen zu riechen. Und nach und nach hatte Joshua begonnen, ihr zu vertrauen.
Plötzlich wünschte er sich, er hätte schon ein paarmal zuvor geheiratet, weil für Jessie alles perfekt sein sollte. Wenn er das Eheleben schon einmal ausprobiert hätte, wüsste er, wie es funktionierte.
Er krempelte den Ärmel seines blau-weiß gestreiften Hemds hoch und dann wieder runter. Hatte er sich zu schick angezogen? Zu steif? Sollte er besser die Jeans anziehen, die sie ihm gekauft hatte? Jesus, das war doch lächerlich – schließlich hatte er sich bereits zweimal umgezogen. Er lachte laut auf und war unglaublich glücklich.
Jessie würde bald nach Hause kommen. Sie würden etwas trinken, zu Abend essen, und wenn seine Angestellten das Dessert serviert hatten, wollte er die kleine Schachtel aus der Jackentasche ziehen. Joshua schloss die Augen, lehnte sich in dem großen Ledersessel zurück und stellte sich Jessies Gesicht vor, wenn sie den Ring sah. In ihren herrlichen Augen würde es funkeln, wahrscheinlich würde sie aufspringen und ihm um den Hals fallen … Joshua verlor sich in wärmenden Tagträumen.
Zwar hatte er kein Auto gehört, aber jetzt wurde die Eingangstür geöffnet. Jessies Absätze klapperten auf dem Marmor, dann auf dem Holzboden, dann wurden die Schritte von dem dicken Teppich verschluckt.
Er öffnete die Augen. Gott, sie sah fantastisch aus in dem türkisfarbenen Wollkleid und den schwarzen, hohen Lederstiefeln. Sie warf den Mantel, den sie über dem Arm trug, über einen Stuhl bei der Tür.
Ihr Haar war vom Wind wild zerzaust, ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen glänzten. Wortlos durchschritt sie den Raum, setzte sich auf seinen Schoß, legte die Arme um seinen Hals. Sie roch nach frischen Pfirsichen und hielt ihm ihre Lippen entgegen.
„Hast du eine Pistole in der Tasche, oder bist du einfach nur froh, mich zu sehen?“, imitierte sie Mae West.
Joshua lachte und vergrub eine Hand in ihrem Haar. Es war noch immer etwas feucht und duftete nach Pfirsichshampoo. Er presste seinen Mund auf ihren und küsste sie hart und leidenschaftlich. Sie klammerte sich an seinen Kragen.
„O Gott, Jess“, stammelte er.
„Wir müssen reden“, flüsterte sie an seinem Hals. Sie klang kleinlaut. Er streichelte über ihren Rücken.
Sie würden noch ein ganzes langes Leben Zeit haben, zu reden. „Nach dem Essen. Wie komme ich in dieses Ding rein?“ Langsam zog er den Reißverschluss ihres Kleides auf und öffnete auch noch schnell ihren BH.
Jessie stand auf, damit das Kleid zu Boden fallen konnte. In dem winzigen Tangahöschen und den schwarzen Stiefeln sah sie unglaublich verführerisch aus. Als er sie hochhob, schrie sie kurz erschrocken auf. Mit einer einzigen Bewegung fegte er den großen Schreibtisch leer und legte sie auf die kühle Lederoberfläche.
„Das ist ziemlich ungezogen“, sagte sie mit heiserer Stimme. In ihren blitzenden Augen tanzten Lichter.
„Du hast zu viel an.“ Er zog ihr den kleinen Satinslip aus und begann sanft, die zuckenden Muskeln ihrer langen Beine zu streicheln.
„Ich bin froh, dass du mich davon befreit hast. Kein Wunder, dass mir so warm war.“
Er lachte laut.
Sie beobachtete mit halb geschlossenen Augen, wie er sich des Hemdes entledigte, das er so sorgfältig ausgewählt hatte, Schuhe und Socken auszog und schließlich die Hose.
Er wollte, dass es einfach ewig dauerte. Er wollte jeden einzelnen Zentimeter ihrer herrlichen Haut genießen. Sie spüren lassen, wie sehr er sie begehrte. Sie lieben, bis sie zu schwach war, ihm irgendetwas abzuschlagen. Doch in der Sekunde, in der er in sie eindrang, als er spürte, wie ihre langen Beine mit den schwarzen Stiefeln sich um seine Hüfte schlangen, da war er verloren.
Ihr gemeinsamer Höhepunkt kam schnell und stürmisch. Schwer atmend lag er auf Jessie, das Gesicht in ihrem Haar vergraben.
„Das war also doch eine Pistole in deiner Tasche.“ Jessie kicherte leise.
Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, liebkoste ihre heißen Wangen. Mit der anderen Hand hob er ihren Kopf und küsste sie auf die Stirn. Dann begann er, sie wieder sanft zu streicheln. Sie stöhnte auf und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter.
„Du hast zwanzig Jahre Zeit, um damit aufzuhören.“ Jessie sah wie eine heidnische Göttin aus, wie sie so dalag, mit dem zerwühlten Haar, die Arme verführerisch hinter dem Kopf verschränkt. Joshua stand noch immer zwischen ihren Beinen und hatte die Hände auf dem Tisch aufgestützt.
„Du bist unwiderstehlich.“
Ihre Augen schienen nur noch aus Pupillen zu bestehen. Schläfrig, sinnlich und zufrieden blickte sie ihn an. „Ist das ein Problem?“, fragte sie und glitt gemächlich mit einem Fuß an seinem Schenkel entlang, während sie gleichzeitig seine Arme streichelte.
„Nein, für mich nicht.“ Sie überkreuzte die Beine hinter seinem Rücken. Er spürte, wie die hohen Absätze ihn enger heranzogen. Er klammerte sich an der Tischkante fest, betrachtete sie wie mit neuen Augen, sein Herz klopfte unbändig.
„Du machst mich verrückt, Jessie Adams. Wenn ich mit dir zusammen bin, will ich dich. Wenn wir nicht zusammen sind, denke ich ständig an dich. Du quälst mich. Du bringst mich zum Lachen. Du bringst mich dazu, an Träume zu glauben.“
Ihre überkreuzten Beine waren stärker als sein Wille. Sie zog ihn an sich. Joshua beugte sich über sie, spürte ihre Brüste an seiner Haut und flüsterte an ihren weichen Lippen: „Am liebsten würde ich dich in eine Wolke einwickeln und auf den höchsten Berg bringen, damit du in Sicherheit bist.“ Er blickte sie lange an und zog ihre Hand an seine Lippen. „Du begeisterst mich, Jessie, und zugleich spüre ich eine merkwürdige Ruhe, wenn du bei mir bist. Du bist unberechenbar, und deine verrückten Hobbys werden mir noch einen Herzinfarkt bescheren. Du hast die merkwürdigsten und festesten Prinzipien, die ich kenne, und ich habe gelernt, dir mehr zu vertrauen, als irgendjemandem sonst auf der Welt.“
Ihr wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Sie versuchte, ihre Hand aus seiner zu ziehen. „Was ist, Liebes?“ Jessie biss sich auf die Lippen. Sein Hals zog sich vor Furcht zusammen.
Sie schloss sehr lange die Augen, dann erst sah sie ihn an. „Ich war heute beim Arzt.“ Ihre Stimme zitterte. Sie holte tief Luft.
Eiskalte Furcht kroch seinen Rücken hinauf. Er richtete sich auf, Sex war nun das Allerletzte, woran er dachte. Er hatte das Gefühl, als ob jeder einzelne Zentimeter seines Körpers zu Eis gefrieren würde. Eine Angst, die er nie zuvor im Leben erfahren hatte, ließ ihm schwarz vor Augen werden. Sein Herz hämmerte, seine Hände waren schweißnass.
Er blinzelte. Er fürchtete sich davor, sie anzusehen, und zugleich davor, es nicht zu tun. Fahrig strich er sich durchs Haar und fluchte leise. „Du warst heute beim Arzt … o Himmel, Jessie.“ Eine Faust schien sein Herz zusammenzudrücken. Ihre Lippen waren blutleer, in ihren dunklen Augen lag Schmerz. O Gott, es musste schlimm sein, wirklich schlimm, wenn sie so bestürzt war.
„Was zum Teufel hat er gesagt? Was immer es ist, das bekommen wir zusammen hin. Ich bin reicher als Gott. Wir können die besten Spezialisten der Welt engagieren. Wir werden …“
Jessie rief seinen Namen, mit angstvoll bebender Stimme. In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
„Sag es mir, um Himmels willen.“ Er ignorierte das aufdringliche Klingeln des Telefons, das nur wenige Zentimeter von Jessies Kopf entfernt stand. Es war gar nicht typisch Jessie, ihm etwas zu verheimlichen. Sie weigerte sich, ihn anzusehen. Dieses verfluchte Telefon machte ihn wahnsinnig.
„Sag’s mir“, presste er hervor, die Zähne schmerzhaft zusammengebissen.
„Ich … ich …“ Jessie biss sich erneut auf die Lippen. „Geh erst mal ans Telefon.“
„Zum Teufel mit dem Telefon. Was hat der Arzt ge…“
Jessie reichte ihm den Hörer.
„Ja!“ Joshua klemmte sich das Telefon unters Ohr, den Blick auf Jessies abgewandtes Gesicht gerichtet. Was sollte er verdammt noch mal tun, wenn Jessie sterben musste? Was verflixt noch mal würde …
„Was hast du da gesagt?“, fragte er, als er begriff, was Felix ihm gerade erklärt hatte. „Vera will fünf Millionen Dollar?“
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Jessie noch bleicher wurde, wenn das überhaupt möglich war. Dieser Abend verlief so überhaupt nicht nach Plan. Zuerst hatte er ihr einen Antrag machen wollen und das mit seiner Ehe dann hinterher klären. Jetzt geriet alles außer Kontrolle. Jessie rutschte mit außerordentlich seltsamem Gesichtsaudruck vom Tisch.
„Gut. Dann soll sie’s bekommen!“, zischte Joshua ungeduldig ins Telefon. Jessie hatte bereits ihr Kleid angezogen. Fieberhaft suchte sie nun nach ihrem Slip. Joshua fand ihn unter einem Stapel Papier auf dem Boden und reichte ihn ihr. Sie steckte ihn in die Tasche und schnappte sich ihren Mantel. „Zahl sie einfach aus. Das ist es mir wert.“ Joshua knallte den Hörer auf. Jessie stand fluchtbereit an der Tür.
„Warum sagst du mir es nicht? Was zum Teufel hat der Arzt gesagt?“
Sie trug ein cremefarbenes, wadenlanges Kleid, zu dem die hochhackigen zimtfarbenen Stiefel perfekt passten. Wunderschöne funkelnde Ohrringe rundeten das Bild ab. Sie sah lebendig und atemberaubend schön aus.
Und ungeheuer wütend.
„Ich hätte da niemals weitersprechen können, und wenn es um Leben und Tod gegangen wäre“, erklärte sie Felix aufgebracht. Es war neun Uhr am nächsten Morgen, sie war in sein Büro gekommen, um ihn sofort als Erstes zu sprechen. „Ich war so sauer, dass ich einfach abgehauen bin. Weiß der Himmel, was Joshua gedacht hat.“ Sie holte tief Luft. „Ich weiß, dass du sein Anwalt bist, Felix, aber ich dachte, dass auch wir beide eine Vereinbarung hätten. Würdest du mir also bitte erklären, warum ‘Vera’ fünf …“, sie verschluckte sich beinahe, „… fünf Millionen Dollar will?“
Durch die Sprechanlage wurde Simon Falcon angekündigt. Jessie verdrehte die Augen. „Hast du ihn voller Panik angerufen, während ich im Wartezimmer war? Verflucht, Felix. Wie konntest du mir das antun?“
Simon schloss die Tür hinter sich und legte Jessie beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Setz dich, Honey. Es ist nicht so, wie du denkst.“
Jessie schüttelte seine Hand ab und warf sich empört in einen Ledersessel. Sie starrte zunächst Joshuas Anwalt, dann seinen Onkel an. „Was habt ihr beiden vor? Ich habe euch schon vor Jahren gesagt, dass ich kein Geld von Joshua mehr nehmen werde.“ Jessie umklammerte ihr Knie. „Verdammt, ich habe schon fast genug gespart, um das, was ich sieben Jahre lang genommen habe, zurückzuzahlen. Kein Wunder hat er so eine schlechte Meinung über Frauen. Und ihr habt es nur noch schlimmer gemacht. Gott. Ich kann das alles nicht mehr ertragen“, rief sie und kämpfte ungeduldig gegen ihre Tränen an.
„Mach dir nichts draus, Honey.“ Simon betrachtete sie besorgt und streichelte ihre Hand. „Joshua wird das Geld schon nicht vermissen. Er ist ein großzügiger Mann. Er hat noch ausreichend übrig. Wir wollen nur sicherstellen, dass du am Ende dieses Jahres genug Geld hast.“ Er blickte seinen Komplizen hilflos an. „Falls er sich nicht in dich verliebt. Und wir …“
„Tja“, fauchte sie. „Das wird er jetzt sicher nicht mehr! Joshua muss mich nicht finanzieren, Simon. Ich habe einen Job. Ich kann für mich selbst sorgen. Und im neuen Jahr werde ich wieder Vollzeit arbeiten.“ Sie sprang auf und begann, durchs Zimmer zu laufen, das helle Kleid flatterte um ihre Beine.
Beide Männer sahen sie erschrocken an, als die Tränen ungehindert über ihre Wangen rollten. Sie wischte sie mit dem Handrücken weg. „Verdammt, verdammt, verdammt. Er denkt sowieso schon, dass jede Frau ihn manipulieren will. Jetzt glaubt er, dass Vera fünf Millionen für eine Scheidung will! Und ihr zwei Verrückten? Wie konntet ihr ihm das antun?“
„Honey.“ Simon blickte von Felix zu Jessie, das Gesicht vor Sorge verzerrt. „In einem Monat wird Joshua …“ Er suchte nach den richtigen Worten. Jessie ließ die Tränen laufen. Sie war so müde. Und sie war es so leid, müde zu sein. Vor diesen beiden Männern zu heulen war nun wirklich ihr kleinstes Problem.
„Eine wunderbare Frau wie du sollte geachtet werden“, sagte Simon betreten. „Joshua ist ein Narr, wenn er dich gehen lässt. Aber du wusstest, dass das passieren würde.“
Jessie atmete zitternd aus. „Ich will nicht geachtet werden. Ich will geliebt werden.“ Sie bekam keine Luft mehr. Wie sie das hasste. „In vier Wochen hätten Joshua und ich uns getrennt.“ Sie wischte sich mit dem Taschentuch über die Wangen, danach war es voller Make-up. Sie zerknüllte es in der Faust zu einem feuchten Ball. „Ich will sein Geld nicht. Und ich werde sein Geld nicht nehmen. Vera wird in die Scheidung einstimmen, aber wenn ihr Joshua auch nur noch einen Cent abknöpft, dann … dann werde ich etwas Fürchterliches tun.“
Simon und Felix erhoben sich. „Honey, wir haben das nur für dich getan. Damit dir etwas bleibt, wenn das Ganze vorbei ist.“
„Mir bleibt etwas, Simon. Glaub mir. Etwas, das viel wichtiger ist als Geld.“