SECHZEHN
Eine Stunde später war der Wintergarten voller Menschen. Frauen in Ballkleidern flanierten durch den überdachten Garten und bewunderten die pfirsichfarbenen Rosen und blühenden Hortensien. Über der Menge schwebten große Ballonskulpturen. Nach der Parade waren viele der Außenbezirkler, so bezeichnete sie der König, wieder in die entlegenen Gebiete der Stadt verschwunden, wo es bis auf ein paar Häuser und einige Motels nichts gab. Andere waren mit den Hochbahnen in ihre Wohnblocks zurückgefahren. Nur eine kleine Gruppe – Mitglieder der Elite – war zu dem anschließenden Empfang geladen. Einige warteten in Schlangen auf eine Fahrt mit den großen Ballons. Einige kletterten in die Gondeln und stiegen zur Glasdecke hinauf.
Ich beobachtete das Treiben und konnte gar nicht mehr aufhören zu lächeln. Caleb lebte. Er war innerhalb der Stadtmauern. Ich drückte die Finger auf den Ausschnitt meines Kleides und tastete nach dem winzigen Papierfetzen, um mich zu vergewissern, dass er auch wirklich existierte.
»Ist das nicht unglaublich?« Ein junger Mann stellte sich neben mich. Er hatte einen dichten schwarzen Haarschopf und ein markantes Gesicht. Als er näher kam, drehte sich eine Gruppe Frauen nach ihm um. »Der Wintergarten ist zu einem meiner Lieblingsplätze zwischen den Läden im Palast geworden. Morgens ist es ruhig, fast menschenleer. Man kann tatsächlich die Vögel in den Bäumen hören.« Er deutete auf einige Spatzen, die über einem kleinen Springbrunnen auf einem Zweig saßen.
»Es ist beeindruckend«, erwiderte ich und hörte ihm nur mit halben Ohr zu. Vor mir begrüßte der König den Finanzminister und den Landwirtschaftsminister, zwei Männer in dunklen Anzügen, die ununterbrochen miteinander zu flüstern schienen. Sie waren mir egal. Ich hasste auch die Menge nicht, die dem Lieutenant gratulierte. Alles erschien mir nun gewisser, die ganze Stadt irgendwie leichter zu bewältigen. Ich hatte mich nach der Parade auf die Toilette geschlichen und hatte es ausgekostet, für ein paar Minuten allein in dem kalten Raum zu sein. Caleb hatte auf der einen Seite des Zettels eine Karte gezeichnet. Die Linie schlängelte sich aus dem Palast über die Überführung zu einem Teil der Stadt, wo der Wiederaufbau noch nicht begonnen hatte. Eine Sackgasse war mit einem X markiert. Ich war mit dem Finger über die Nachricht gefahren und hatte sie immer wieder gelesen.
Triff mich um 1:00 Uhr, hatte er unten auf die Seite geschrieben. Geh nur auf der markierten Route.
Der Mann sah mich noch immer an, seine Lippen amüsiert verzogen. Ich drehte mich zu ihm und nahm zum ersten Mal seine klaren blauen Augen wahr, seine reine samtige Haut, die Art, wie er dort absolut selbstsicher mit einer Hand in der Hosentasche stand. »Ich finde Sie beeindruckend«, flüsterte er.
Meine Wangen fingen an zu glühen. »Ach ja?« Ich kannte mittlerweile den schäkernden Unterton in seiner Stimme, die Art, wie er sich beim Sprechen vorbeugte: Er flirtete mit mir.
»Ich habe in der Zeitung von Ihrem Abenteuer gelesen, wie Sie tagelang durch die Wildnis geirrt sind. Wie Sie überlebt haben, nachdem der Streuner Sie verschleppt hat.«
Ich schüttelte den Kopf, nahm mich aber in Acht, nicht zu viel preiszugeben. »Sie haben also einen Artikel gelesen und nun glauben Sie, mich zu kennen?«
Ich starrte auf die Beete des Gewächshauses, auf Reginald, den Pressesprecher des Königs – auf genau den Mann, der diese Geschichte geschrieben hatte. Er war groß, hatte rotbraune Haut und kurzes, grau meliertes Haar. Der König hatte uns einander am Tag nach meiner Ankunft im Palast kurz vorgestellt. Reginald hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich nach den roten Striemen um meine Handgelenke zu erkundigen oder nach den Stichen auf meinem Arm. Er fragte überhaupt nicht viel. Stattdessen hatte er eine komplette Geschichte erfunden, wie ich aus der Schule geflohen war, um nach meinem Vater zu suchen, von dem ich nicht einmal wusste, dass er der König war. Wie ich mich durch die Wildnis geschlagen hatte, bis ich von einem brutalen Streuner verschleppt worden war. Der Artikel endete mit einem Zitat Starks, in dem er erläuterte, wie er mich »gerettet« hatte.
»Ich habe die Streuner nie verstanden.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Wer wählt schon ein solches Leben, wenn man das hier haben kann?« Er deutete auf den Raum.
Meine Gedanken wanderten zu Marjorie und Otis, wie sie an ihrem Küchentisch saßen und zufrieden waren, für sich zu leben, frei von den Gesetzen des Königs. »Eine Menge Leute.«
Der Mann sah mich fragend an, als wäre er nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Ich wollte mich schon unter einem Vorwand entschuldigen, da kam der König auf uns zu.
»Genevieve!«, rief er, sein Gesicht verzog sich zu einem ehrlichen Lächeln. »Wie ich sehe, hast du Charles Harris kennengelernt. Ich habe dir schon von ihm erzählt.« Er deutete auf die Kuppeldecke, die kunstvollen Gärten und Marmorböden. »Seine Familie hat beinahe jedes Bau- und Wiederaufbauprojekt innerhalb der Stadtmauern geleitet. Ohne ihn wäre die Stadt aus Sand nicht das, was sie ist.«
Er war also der Minister für Stadtentwicklung. Mit seinem tadellosen Hemd und den großen blauen Augen wirkte er erstaunlich normal. Jeder Zentimeter von ihm schien anzudeuten, dass er anständig, ja sogar nett war – ein Mensch, dem man vertrauen konnte. Ob er derjenige war, der die Jungen in den Arbeitslagern geschunden hatte? Oder hatte er es andere tun lassen?
»Ich habe Genevieve gerade erzählt, wie unglaublich es ist, dass sie wohlbehalten hier angekommen ist. Es ist sicherlich ein Beweis ihrer Stärke.«
»Ich freue mich, dass sie zu Hause ist.« Der König hielt ein Glas in der Hand. »Charles lebt seit der Gründung der Stadt hier. Seine Familie gehört zu den wenigen glücklichen – seine Eltern haben beide die Seuche überlebt. Sie haben ihr Vermögen gespendet, um die Gründung der neuen Stadt finanzieren zu helfen. Sein Vater war bis zu seinem Tod der Minister für Stadtentwicklung.« Ich betrachtete Charles, sein strahlendes glatt rasiertes Gesicht und den dicken schwarzen Haarschopf. Er war höchstens fünf Jahre älter als ich. Es unterschied ihn so wenig von den Jungen in der Höhle – ihre Eltern waren gestorben, seine nicht.
»Es war eine Ehre, das Erbe meines Vaters anzutreten«, sagte er nüchtern.
Der König deutete auf die Glaskuppel über uns. »Das hier war Charles’ erstes Projekt. Er verbrachte gut ein halbes Jahr damit, die geretteten Pläne des Wintergartens zu studieren und sich Bilder aus der Zeit vor der Epidemie anzusehen, um alles originalgetreu zu rekonstruieren. Und natürlich ein paar Verbesserungen vorzunehmen.«
Charles deutete auf den höchsten Punkt der Kuppel. »In diese Seite des Wintergartens war ein Kleinflugzeug gekracht und hatte ein gewaltiges Loch hinterlassen.«
Als das Streichquartett in der Ecke ein Lied anstimmte, gingen einige Paare zum Tanzen in die Mitte des Raums. Menschen stießen mit erhobenen Gläsern an und brachten Toasts aus. Der König hob die Hand und winkte zwei Frauen heran. Die jüngere schien in meinem Alter zu sein und hatte strohblondes Haar und dünne glänzende Lippen. Die andere Frau sah ihr ähnlich, war allerdings älter, ihre Wimpern dick mit Wimperntusche verklebt. Ihre Haare trug sie in einem strengen goldenen Bob. »Perfektes Timing«, begann der König und legte der älteren Frau die Hand auf den Rücken. »Genevieve, ich möchte dir gern meine Schwägerin Rose und meine Nichte Clara vorstellen. Rose war mit meinem verstorbenen Bruder verheiratet.«
Der König hatte sie am Vortag erwähnt – meine Tante und meine Kusine. Ich streckte dem Mädchen die Hand entgegen, doch sie sah weg, als bemerke sie sie nicht. Rose nahm schnell meine Hand. »Wir freuen uns, dass Sie hier sind, Prinzessin«, sagte sie langsam, als bedeute jedes Wort eine große Anstrengung.
Claras Blick wanderte zwischen Charles und mir hin und her, blieb dann auf Charles liegen. Sie stellte sich neben ihn und legte ihm die Hand auf den Arm. »Lass uns eine Ballonfahrt machen, Charles«, sagte sie leise. Sie drehte sich zu mir und musterte das Satinkleid, in das mir Beatrice geholfen hatte, die Schuhe mit den seitlichen Goldspangen, den tiefsitzenden Knoten, zu dem meine Haare frisiert waren. Nach weniger als fünf Minuten wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass sie mich hasste.
Charles trat einen Schritt vor. »Ich wollte gerade Prinzessin Genevieve fragen«, sagte er. »Sie kennt es noch nicht und es ist eine Neuheit, die jeder Bürger kennenlernen sollte. Ich verspreche dir, dass ich nachher mit dir fahre.« Er bot mir den Arm. Clara warf mir mit geröteten Wangen böse Blicke zu.
»Ich wollte mir eigentlich das Treibhaus ansehen«, sagte ich und deutete auf die geschlossene Tür auf der anderen Seite des Wintergartens, hinter der das Treibhaus von prächtigen Blumen überquoll.
»Charles kann dich begleiten«, sagte der König und drängte mich in dessen Richtung.
»Ich möchte lieber allein gehen«, sagte ich und nickte Charles entschuldigend zu. Er hielt mir immer noch den Arm hin und wartete darauf, dass ich ihn nehmen würde.
Er brauchte einen Moment, um sich zu fangen, dann entschlüpfte seinen Lippen ein leises Lachen. »Natürlich«, sagte er und sah beim Sprechen zu der Gruppe. »Sie sind bestimmt erschöpft nach der Parade. Ein andermal dann.« Er musterte mich wie ein unbekanntes exotisches Tier.
Der König öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch ich drehte mich um und ging durch den Wintergarten zum Treibhaus, erleichtert, endlich allein zu sein. Über dem Glasdach färbte sich der Himmel bereits orange, die Sonne versank hinter den Bergen. Der Empfang war bald vorbei. In wenigen Stunden würde ich auf dem Weg zu Caleb sein und würde das hier – den Palast, den König, Clara und Charles – hinter mir lassen.
Caleb lebt, wiederholte ich für mich. Das war das Einzige, was zählte. Ich berührte den Ausschnitt meines Kleides. Das winzige Quadrat steckte noch immer darin, nah an meinem Herzen.