KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

Angeln mit Kieselsteinen

In jeder anderen Hafenstadt am Midèrēs hätte das unerwartete Eintreffen einer Kriegsgaleone ohne alle Farben außer einem neutralen Schwarz und mit einer Streitmacht an Bord, die offensichtlich für einen Krieg ausgerüstet war, Alarm ausgelöst.

Aber das hier war Cheem, und solche Anblicke waren so gewöhnlich wie der eines Fischschwarms. Als das Schiff am Kai den Anker warf und die Männer mit militärischer Disziplin von Bord gingen, drehten sich einige örtliche Bettler – in der Hauptsache ehemalige Seeleute, die entweder verkrüppelt oder abgearbeitet waren – zu ihnen um und wollten herausfinden, ob sie etwas Kleingeld erwarten durften, doch sie entschieden sich rasch dagegen. Nur einer dieser Bettler starrte die Männer ein wenig länger an. Es war ein Mann in den Vierzigern, dessen linker Arm in einem ledernen Stumpf endete. Er hatte einmal als Soldat der Reichslegion gedient und war noch nicht so vergreist oder von Drogen vergiftet, dass er die militärischen Tätowierungen an den bloßen Handgelenken und Armen der von Bord Gehenden übersehen hätte. Auch bemerkte er die Tarnanzüge unter den einfachen Mänteln und die offensichtliche Zielstrebigkeit der Männer.

Ein Kommandotrupp, entschied der alte Mann und drückte sich tiefer in den Schatten des Hauseingangs. Vorsichtig beobachtete er, wie einer der Offiziere auf einen Stadtwächter zuging. Es wurden Vereinbarungen getroffen. Weitere Wächter wurden gerufen und Mulis herbeigebracht. Matrosen aus demselben Schiff luden Tonnen aus, die so schwer waren, dass sie Gold hätten enthalten können, und banden sie auf die Maulesel. Als das geschehen war, machten sich der Offizier, einige seiner Männer und eine Eskorte aus Wächtern mit ihrer Ladung auf den Weg in die Stadt.

Die übrigen Männer, etwa siebzig an der Zahl, hatten den Befehl erhalten, zurückzutreten. Sie entspannten sich in der frühen Morgensonne und beschwerten sich immer dann, wenn sie für irgendwelche Aufgaben ausgewählt wurden. Gelegentlich marschierten kleine Gruppen ins Gewirr der Straßen hinein, nachdem sie schwere Geldbörsen und den Befehl erhalten hatten, Reitzele, Maulesel und Vorräte zu beschaffen.

Vom Hauseingang beobachtete der alte Bettler, der seine Begierden für den Augenblick vergessen hatte, die Geschehnisse mit einem Stirnrunzeln und einem seltsamen Gefühl der Nostalgie und fragte sich, welche armen Narren nun den Zorn des Reiches auf sich gezogen hatten.

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Ein bitterkalter Wind blies durch das offene Fenster des Turms und brachte den Geruch von Regen mit. Oschō̄ schaute hinaus in den dunkler werdenden Himmel, zog das schwere Laken enger um sich und zitterte.

Es zieht ein Sturm auf, dachte er, als er über die Berge zu den schwarzen Wolken blickte, die sich in der Ferne zusammenballten. So kurz nach dem letzten. Der Winter kommt früh in diesem Jahr.

Das war kein angenehmer Gedanke. Oschō̄ freute sich nicht auf den Winter hier im Hochgebirge. Seine Knochen schmerzten unter der andauernden kalten Feuchtigkeit, und jede Bewegung kostete ihn Kraft. Schon das morgendliche Aufstehen aus dem warmen Bett war eine Willensanstrengung, die jedes Jahr größer zu werden schien. Im Winter spürte er sein Alter, und das nahm er dieser Jahreszeit in gewisser Weise übel.

Mit den Jahren werde ich schwach, dachte Oschō̄. Früher wurde ich nicht von so vielen Zweifeln geplagt wie heute.

Unter ihm eilte Baso durch den Hof; seine dünne Robe flatterte im Wind. Oschō̄s Blicke folgten ihm, und er überlegte, ob er nach seinem alten Freund rufen sollte. Doch dann runzelte er die Stirn.

Das konnte nicht Baso sein. Baso war tot.

Er sah genauer hin und erkannte, dass es Kosch war. Er duckte sich unter dem Wind, und seine Ohren waren gerötet. Er verschwand in der Küche und suchte sicherlich nach einem Frühstück für seinen beständig knurrenden Magen.

Die Nachricht von Basos Tod war hart für ihn gewesen. Sie hatte Oschō̄ zutiefst verblüfft, als er zusammen mit dem Rest der versammelten Rō̄schun dort im Hof gestanden und die Botschaft des Sehers vom Verlust ihrer Männer in Q’os vernommen hatte. Oschō̄s Körper war vor Schock ganz steif geworden, und es hatte ihm die Brust zusammengeschnürt, so dass er kaum mehr hatte atmen können. Einen Moment lang hatte er geglaubt, er erleide einen Herzanfall, doch es war schnell vorübergegangen. Aber zum ersten Mal in seinem Leben war Oschō̄ inmitten seiner Untergebenen nicht in der Lage gewesen, die Führung zu ergreifen.

Nur Asch und schließlich Baracha hatten dafür gesorgt, dass er nicht das Gesicht verlor. Sie hatten es auf sich genommen, die Vendetta zu bestätigen, damit Oschō̄ in sein Zimmer zurückkehren und die Tür fest hinter sich schließlich konnte, um auf seine eigene, persönliche Art zu trauern.

Als Oschō̄ nun vor dem Fenster stand, sah er vor sich das Bild des lachenden Baso, während eine Blitzgabel den Himmel über seinem Kopf spaltete. Oschō̄ lächelte angesichts dieser Erinnerung. Seit vielen Jahren hatte er nicht mehr daran gedacht.

Es war eine Erinnerung an den zweiten Tag ihrer Flucht aus dem alten Land nach der letzten Niederlage der Volksarmee bei der Schlacht von Hung. Oschō̄ war der einzige General gewesen, der dieser verhängnisvollen Falle entkommen war. Nach einigen Rückzugsgefechten war es ihm und den versprengten Überresten seines Kommandos gelungen, sich zu den übrig gebliebenen Schiffen der Flotte durchzuschlagen, die dreißig Laq die Küste hinauf geankert hatten. Ohne ausreichende Vorräte und in vollkommenem Chaos waren sie auf die Seidenwinde zugesegelt, da sie gewusst hatten, dass ihr Heimatland nun für sie verloren und das Exil die einzige Hoffnung war. Es war nur noch eine schwache Hoffnung gewesen, als die Flotte der Lehensherren in Sicht gekommen war.

Sie hatten ihnen nicht davonfahren können, und so waren Oschō̄s Schiffe zwischen der felsigen Küste im Westen und einer höchst gefährlichen Sturmfront, die aus südlicher Richtung vom offenen Meer herbeidrang, gefangen gewesen. Und hinter ihnen waren die Schiffe des Feindes näher gekommen, die ihnen zahlenmäßig mindestens um das Dreifache überlegen gewesen waren.

Die verzweifelten Flüchtlinge entschieden sich, in den aufziehenden Sturm hineinzusegeln.

Damals war Baso noch beinahe ein Kind gewesen, kaum älter als sechzehn Jahre, und hatte stolz seine zerbeulte, zu große Rüstung getragen, während die meisten anderen Überlebenden der besiegten Volksarmee sie aus Angst vor dem Ertrinken bereits abgelegt hatten. In diesen dunklen Stunden auf See schien alles verloren. Gebete an die Ahnen fielen von zitternden Lippen. Unter kreischenden Windstößen brachen Masten und wurde Takelage zerfetzt; Wellen überspülten Decks und brachten Schiffe zum Kentern. Niemand erwartete, mit dem Leben davonzukommen. Sogar Oschō̄ glaubte, dass sie alle dem Tod nahe waren – wenn nicht durch die Hand des Feindes, dann durch den wilden Sturm. Aber er hatte seine Ängste für sich behalten, als er der Flotte befohlen hatte, weiter voranzusegeln, und für seine Männer hatte er den Tapferen gespielt, auch wenn er in der Tiefe seines Herzens genauso hoffnungslos war wie alle anderen.

Aber als er gesehen hatte, wie Baso laut auflachte, als das Schiff unter seinen Füßen schlingerte und der Himmel über ihm tobte, und wie lebendig er im Wahnsinn dieses Augenblicks gewesen war, ohne jede Furcht oder Sorge um Vergangenheit und Zukunft oder auch nur um das Hier und Jetzt … Dieser Anblick hatte Oschō̄ ein wenig aufgerichtet und ihm zu einem Zeitpunkt Mut gemacht, zu dem er ihn am dringendsten benötigte.

Und nun war Baso nicht mehr, wie so viele andere; nur sehr wenige von Oschō̄s ursprünglichen Gefährten waren übrig geblieben. Kosch, Schiki, Ch’eng, Schin der Seher, Asch … er konnte diejenigen, die aus dem alten Land stammten, an einer Hand abzählen. Diese wenigen Männer waren alles, was Oschō̄ noch mit der fernen Vergangenheit und mit seinem Heimatland verband. Es hatte den Anschein, dass er mit jedem weiteren Todesfall unter ihnen verwundbarer wurde und ängstlicher über die Frage nachdachte, wer wohl der Nächste sein mochte.

Er wusste, dass es Asch sein würde. Asch würde als Nächster gehen, und sein früherer Lehrjunge würde der bitterste Verlust von allen sein.

Asch war noch immer irgendwo da draußen, zweifellos in Q’os und mitten in der Vendetta – und das in seinem Alter, bei Dao! Oschō̄ hätte ihn niemals gehen lassen dürfen. Nicht in seinem Zustand. Aber vor lauter Kummer war es Oschō̄ nicht in den Sinn gekommen, Asch von seiner Entscheidung abzubringen. Er hatte erst später daran gedacht, nachdem Asch bereits abgereist war und Oschō̄ begriffen hatte, dass sein alter Freund von dieser Mission höchstwahrscheinlich nicht zurückkommen würde – genauso wenig wie Baso.

Er wusste nicht, warum er eine so starke Vorahnung hegte, denn er hatte weder tragische Träume gehabt noch todesschwangere Vorhersagen vom Seher erhalten. Er verspürte lediglich eine große Bedrückung, wann immer er an seinen alten Freund dachte, und war sich sicher, dass er ihn nie wiedersehen würde.

Diese gegenwärtige Vendetta verursachte ihm unangenehme Gefühle. Oschō̄ war der Überzeugung, dass sie für sie alle schlecht ausgehen würde.

Vor dem offenen Fenster erwartete er einen weiteren Windstoß. Irgendwo außerhalb seiner Sichtweite schlug ein Fensterladen einmal, zweimal, dann war er still.

Ich bin im Alter melancholisch geworden, dachte er, doch dann kicherte er über seine eigene Narrheit. Er wusste, dass sein Alter nichts damit zu tun hatte.

Oschō̄ schloss die Läden und sperrte so den Sturm aus, der über die Berge herannahte. Er zitterte ein letztes Mal und kehrte dann zu seinen Büchern und seinem Polstersessel vor der willkommenen Wärme des Feuers zurück.

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Es war später Nachmittag in Q’os. Das Wirtshaus Zu den Fünf Städten war genauso voll wie immer zu dieser Stunde, wenn die örtlichen Hafenarbeiter und Straßenhändler Feierabend machten und die vielen Ausländer, die in den vielen Hostelios der Gegend wohnten, von dem guten Essen und den ausgezeichneten Weinen des Wirtshauses angezogen wurden.

In einer Ecke saßen unter der kleinen zischenden Flamme eines Gaslichts, das an der rußgeschwärzten Wandtäfelung hing, sechs Personen, die ins Gespräch vertieft waren. Die Einheimischen schenkten ihnen kaum Aufmerksamkeit und blickten nur hin und wieder zu der jungen Frau in ihrer braunen Lederkluft herüber, denn sie war ein hübscher Anblick für die Arbeiter, die seit Sonnenaufgang für ihren Lohn geschwitzt hatten und bald zu ihren Frauen zurückkehrten, die durch häufiges Kindbett und hartes tägliches Schachern vorzeitig gealtert waren.

»Das ist unmöglich«, sagte Serèse mit gedämpfter Stimme, obwohl der Lärm im Wirtshaus bereits ausreichte, um ihre Worte zu übertönen. Sie schien die gelegentlichen Blicke der männlichen Gäste im Schankraum nicht zu bemerken. Vielleicht war sie einfach an solche anzüglichen Blicke gewöhnt, oder sie hatte gelernt, diese zu übersehen. »Ich glaube, es gibt gegenwärtig im ganzen Midèrēs keinen besser bewachten Ort als den Tempel des Wisperns. Ich sehe keine Möglichkeit, unerkannt in ihn einzudringen.«

Baracha saß über einem kleinen Glas Rhulika und hob ungläubig eine Braue.

»Ich sage dir, dass es wirklich so ist, Vater. Sogar der Wassergraben um den Turm ist voller kleiner Fische, die gierig auf Fleisch sind. Sie ziehen jeden Tag große Menschenmengen an, denn die Stadtwache hat damit angefangen, Verbrecher nur zum Spaß dort ins Wasser zu werfen. Ich habe es erst vor drei Tagen gesehen. Es war eine große Fütterungsorgie, und als sie den Mann aus dem Wasser gezogen haben, war er bis auf die Knochen abgenagt. Wie wollt ihr an solchen Hindernissen vorbeikommen? «

Nico saß in mürrischem Schweigen neben seinem Meister und schaute bei dieser Enthüllung auf. Er hatte noch nie von fleischfressenden Fischen gehört.

»Ich will dir etwas sagen«, meinte Baracha, der noch nicht überzeugt war. »Ich habe in meinem ganzen Leben keinen Ort gefunden, in den man nicht eindringen kann, wenn man genug Zeit und Findigkeit mitbringt. Wenn wir den Graben nicht durchschwimmen können, dann müssen wir ihn eben mit einem Floß überqueren.«

Serèse seufzte vor Verzweiflung. »Nur wenn ihr an den Bootspatrouillen vorbeikommt – und von den Wächtern auf dem Turm nicht bemerkt werdet. Und auch nicht von den regelmäßigen Patrouillen an Land. «

»Dann verkleiden wir uns eben als Bootspatrouillen, rudern hinüber zum Turm und erklettern ihn.«

» Selbst bei Nacht würdet ihr auffallen. Überall um die unteren Stockwerke herum sind Lichter aufgestellt. Ihr würdet keine zehn Fuß hochklettern können, bevor eine Patrouille oder einer der Flieger euch entdeckt.«

»Also können wir den Graben und das Wasser vergessen. Wir beschaffen uns Priesterroben, marschieren über die Brücke und gehen verkleidet durch das Haupttor. «

So wie Baracha es vorschlug, klang es ganz einfach.

»Gut, aber niemand wird durch das Haupttor eingelassen, bevor er nicht die Hände durch ein Gitter gesteckt hat. Es wird überprüft, ob die Spitzen der kleinen Finger fehlen oder nicht. Es ist niemandem erlaubt, einen Fuß auf die Brücke zu setzen, bevor er sich nicht ausweisen kann. «

»Dann ist die Lösung doch offensichtlich«, sagte Aléas, und alle Augen wandten sich ihm zu. Er lächelte freundlich. »Jeder von uns hackt sich die Spitze der kleinen Finger ab, wartet ein paar Monate, bis die Wunden verheilt sind, und marschiert dann unbehelligt ins Innere.«

»Halt den Mund, Aléas«, warnte Baracha ihn.

Aléas hob die Brauen und warf Nico einen raschen Blick zu. Nico erwiderte das leichtfertige Lächeln seines Freundes nicht. Er war heute sehr müde. Er hatte schlecht geschlafen und war von Alpträumen heimgesucht worden, in denen er wieder und wieder die Vorkommnisse der vergangenen Nacht durchlebt hatte.

»Wenn ihr einen Weg hinein finden wollt«, fuhr Serèse fort, »dann muss es einer sein, den sie nicht vorhergesehen haben.«

Aléas war gelangweilt. »Er kann doch nicht für den Rest seines Lebens in diesem Turm hocken. Wenn wir nicht dort hineinkommen, dann warten wir, bis er herauskommt. Vielleicht während des Augere. Vielleicht geht er dann nach draußen.«

»Und was ist, wenn er es nicht tut?«, wollte Baracha wissen. »Letzte Nacht hätten sie uns beinahe gehabt. Selbst jetzt, während wir miteinander reden, durchkämmen sie die Stadt vermutlich nach uns. Außer dir sind wir alle Ausländer. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns aufgestöbert haben. Falls du es nicht bemerkt haben solltest: Das hier ist keine sehr freundliche Stadt, die für einen angenehmen Aufenthalt sorgt. «

Seine Worte brachten die Gruppe zum Schweigen. Nico warf immer wieder Blicke in den Rest des Schankraums, weil er wissen wollte, ob sie beobachtet wurden.

Dort: Ein Mann wandte sich unter Nicos Blick allzu schnell zur Seite. Nico beobachtete ihn noch einige Zeit und wartete, was er als Nächstes tun mochte. Der Mann bestellte sich noch etwas zu trinken und setzte das Gespräch mit seinen Gefährten fort.

Nico atmete ein und aus und versuchte sich zu entspannen. Vermutlich hatte der Knabe bloß Serèse angestarrt, sonst nichts. Ich sehe Gespenster, sagte er zu sich selbst. Diese üble Stadt geht mir auf die Nerven. Ich wünschte, wir könnten jetzt gleich von hier abreisen und nie wieder zurückkehren .

Baracha lehnte sich zurück und stieß laut die Luft aus, um sein Missfallen auszudrücken. »Wir sollten das als Kompliment auffassen«, tröstete er sich und die anderen. » Sie zeigen uns gegenüber großen Respekt.« Aber das war keine Antwort auf ihre Probleme, und Baracha war eindeutig besorgt, als er sich mit der Hand durch den langen Bart fuhr.

Während des gesamten Gesprächs hatte Asch still dabeigesessen und verloren auf sein Glas und die Hand seines verwundeten Arms geschaut, die in seinem Schoß lag. Als sich das Schweigen in die Länge zog, hob er sein Weinglas mit dem gesunden Arm, nahm einen Schluck und stellte es wieder ab.

»Wir alle vergessen das Offensichtliche«, sagte er unerwartet und ohne den Blick zu heben.

Baracha verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte. »Und was ist das, weiser Mann?«

» Sie erwarten Heimlichkeit, aber keinen offenen Angriff. «

Aléas starrte ihn mit großen Augen an. »Ihr meint, wir sollen das Tor erstürmen? «

Asch nickte, und ein schwaches Lächeln zog ihm die Mundwinkel hoch.

»Ein wunderbarer Einfall«, sagte Baracha, »allerdings brauchen wir dafür eine Armee.«

Asch sah jeden einzelnen nacheinander an. Dann nippte er noch einmal an seinem Wein und stellte den leeren Becher mit einer entschiedenen Geste zurück auf den Tisch.

»Dann, meine lieben sorgenvollen Freunde, müssen wir uns wohl eine Armee suchen.«

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Draußen war es hell; die Sonne schien in einem selten klaren Himmel. Es war jedoch kein schmeichelhaftes Licht, denn es offenbarte den grauen, glanzlosen Charakter der Stadt noch deutlicher als sonst. Als es in die schluchtartigen Straßen hinabsickerte, verwandelte es sich unter Nicos Blicken zu etwas Dürrem und Gedämpftem.

»Ich will niemanden beleidigen«, sagte Aléas, »aber ich befürchte, dass Meister Asch heute Abend endgültig den Verstand verloren hat.« Er stand mit Nico und Serèse vor dem Wirtshaus, während ihre beiden Meister etwas außer Hörweite besprachen.

»Ich vermute, er hat ihn schon seit einiger Zeit nicht mehr«, erwiderte Nico trocken. »Glaubst du wirklich, dass sie das durchziehen werden? «

Aléas dachte über diese Frage nach, während er seinen Meister beobachtete. » Sie sind beide aus demselben Holz geschnitzt«, sagte er und nickte kurz. »Jetzt, wo der eine es vorgeschlagen hat, wird der andere der Meinung sein, nicht zurückstehen zu können. Sie werden es versuchen, auch wenn sie dabei alles aufs Spiel setzen. «

Das reichte aus, um Nico schwindlig zu machen. Er schaute zu den fernen Höhen, zu denen sich der Tempel des Wisperns aufschwang, der sogar von den östlichen Docks aus sichtbar war. Nico konnte nicht glauben, dass sie wirklich über einen Angriff auf eine solche Festung nachdachten. Bestimmt war es nur Gerede, egal was Aléas darüber denken mochte. Am Ende würden all diese Pläne zu nichts führen, und sie würden gezwungen sein, die Stadt zu verlassen, ohne die Vendetta beendet zu haben. Soweit er wusste, wäre das nicht das erste Mal.

Aber Nico konnte Asch inzwischen nur allzu gut einschätzen und wusste tief in seinem Innersten, dass er sich falsche Hoffnungen machte. Er riss sich von dem Anblick des Turms los und versuchte an andere Dinge zu denken.

Serèse sah ihn eingehend an. »Wie geht es dir heute Morgen?«, fragte sie.

»Ich bin ein bisschen müde«, gestand er. »Ich habe nicht gut geschlafen. Ich bin froh, wenn wir diesen Ort endlich hinter uns lassen können. «

»Es gefällt dir hier nicht.«

»Nein. Zu viele Menschen und zu wenige Orte, wo man allein sein kann.«

Aléas klopfte ihm auf die Schulter. »Das sind die Worte eines wahren Bauern.«

»Habe ich je behauptet, ein Bauer zu sein?«

»Nein. Es muss der Geruch sein, der dich verrät.«

Nico war nicht in der Stimmung für ihr übliches Geplänkel und hätte eine gereizte Antwort gegeben, wenn er nicht gesehen hätte, dass Baracha gerade aufbrach. Der Alhazii nickte Aléas und seiner Tochter kurz zu und befahl ihnen dadurch, ihm zu folgen.

Aléas nickte Nico zum Abschied zu. »Pass auf dich auf«, sagte Serèse, während sie sich beeilte, die anderen beiden einzuholen.

Asch näherte sich ihm gedankenverloren und mit gesenktem Kopf.

»Ich muss einige Nachforschungen anstellen«, teilte er Nico mit. » Komm. «

»Einen Augenblick bitte.«

Ungeduldig drehte sich Asch zu ihm um.

»Diese Sache, die Ihr da vorhabt – ich meine diesen Angriff auf den Turm. Das klingt für mich nach Wahnsinn. «

Die dunkle Haut des Farlanders wirkte blasser im Sonnenschein des Nachmittags. In der letzten Nacht hatte er eine Menge Blut verloren. »Ich weiß«, sagte er, und seine Stimme klang müde. »Aber mach dir darüber keine Sorgen. Ich habe deiner Mutter versprochen, für deine Sicherheit zu sorgen, nicht wahr?«

»Ich glaube, die Vorstellung meiner Mutter von Sicherheit und die Eure davon sind zwei grundverschiedene Dinge. «

Asch nickte. »Ich bin trotzdem gewillt, mein Versprechen einzuhalten. Wenn wir in den Turm eindringen, wirst du nicht dabei sein. Das ist zu gefährlich. Du bist nicht erfahren genug für ein solches Abenteuer. Ich gebe zu, Nico, dass ein Hauch von Wahnsinn über diesem Plan liegt, aber ich fürchte, ein wenig Wahnsinn ist notwendig, wenn wir unsere Vendetta zu Ende bringen wollen. Wenn wir drinnen sind, bleibst du bei Serèse und hilfst uns bei der Flucht, falls wir es wieder hinaus schaffen sollten. «

»Ich mache mir nicht nur Sorgen um mich selbst.«

In das Gesicht des alten Mannes kehrte ein wenig Farbe zurück. »Ich verstehe. Aber das ist nun einmal unsere Aufgabe, Nico. Das sind die Risiken, die wir eingehen müssen.« Er beendete das Gespräch mit einem Schulterzucken. » Genug geredet. Komm. «

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Das Haus lag in einer Straße mit vielen Häusern, die allesamt nur noch die leeren Schalen früherer Wohnungen waren. Die Fenster waren eingeworfen oder vernagelt, das Innere war mit Müll übersät, und einige Gebäude waren ausgebrannt. Nur das Haus, vor dem sie nun standen, war noch bewohnt und wurde auf beiden Seiten von Ruinen flankiert. Aber es sah kaum bewohnbarer aus als der Rest. Die Fenster waren rußverschmiert und von innen mit dunklen Vorhängen blind gemacht. Die Farbe – früher einmal ein fröhliches Gelb – blätterte von den Ziegeln ab. Eine Wetterfahne, die einen nackten Mann mit einem Blitz in der Hand darstellte, hing von der Regenrinne herunter und schwang knarrend in der leichten Brise.

Nico schaute hinauf und fühlte sich schutzlos unter der schwingenden Wetterfahne, die so aussah, als könnte sie jederzeit herunterstürzen, obwohl sie vermutlich schon seit Monaten oder gar Jahren dort hing. Durch die Vordertür drang noch immer das dumpfe Hallen des schweren Klopfers heraus, als Asch die Hand senkte und abwartend zurücktrat.

Hinter ihnen erhoben sich die Ruinen eines einst großen Häuserblocks, den vor langer Zeit ein Feuer vernichtet hatte. Ein gewaltiger Müllhaufen erhob sich aus den Trümmern und verdeckte einen großen Teil des Himmels. Ratten liefen ohne Scheu am Rande umher und wühlten in den Fetzen herum, die wie um Hilfe winkende Hände hin und her flatterten. Der Fäulnisgestank war überwältigend. Er war so stark, dass nicht einmal ein gelegentlicher Windstoß ihn vertreiben konnte, sondern ihn nur zu neuen, unerwarteten Kombinationen zusammensetzte, die in der Kehle brannten und Tränen in die Augen trieben.

Nico versuchte nicht zu atmen, als er den Blick wieder auf die stark zerkratzte Tür des Hauses richtete, das sie besuchen wollten. Neben ihm summte Asch leise etwas. Für Nico klang es nicht wie Musik, sondern eher wie eine Reihe von Worten, die Asch aussprach, ohne dabei den Mund zu öffnen.

»Dein Volk hat also nie die Kunst der Melodie entdeckt? «

Das Summen hörte auf, und Asch sah ihn an. Der alte Farlander wollte gerade noch etwas sagen, als sie hörten, wie drinnen ein Stuhl oder etwas ähnlich Schweres umstürzte. Jemand stieß einen Fluch aus. Eine Kette rasselte, dann wurde ein Riegel zurückgezogen, dann noch einer. Die Tür schabte über den Boden, als sie aufgezogen wurde.

»Ja?« Die Frau war klein und fast bis zur Hüfte gebeugt. In der einen Hand hielt sie eine Laterne, in der anderen einen Stecken, auf den sie sich stützte. Sie reckte den Hals und blinzelte hoch zu den beiden Fremden, die vor ihr standen. Nico schaute auf ihr schmutziges Gesicht hinunter. Ihre Haare waren so zerzaust, dass sie wie Fell wirkten, und sie trug einen Schnurrbart, um den er sie beneidete.

»Wir sind hier, weil wir mit Gamorrel sprechen wollen«, sagte Asch. » Sag ihm, der Farlander ist da. «

»Was?«, fragte sie.

Asch seufzte und beugte sich tiefer zu ihrem Ohr hinab.

»Dein Mann«, rief er ihr zu. »Sag ihm, dass ein alter Farlander ihn zu sprechen wünscht. «

»Ich bin nicht taub«, meinte sie. »Kommt herein. Kommt herein. «

Drinnen sah das Haus fast genauso aus wie draußen. Sie folgten der alten Frau, die langsam durch den Korridor schlurfte. Asch und Nico gingen Seite an Seite wie bei einem Prozessionsmarsch in das Herz eines verborgenen Tempels – allerdings war es ein Tempel, dessen Wände aus Ziegeln mit abblätternder Farbe bestanden und mit Bildern geschmückt waren, die im flackernden Licht der Laterne, die die Frau in der Hand hielt, kaum zu erkennen waren. Der hölzerne Fußboden, der im Lichtkegel vor ihnen lag, war von dichtem weißem Staub und Sand überzogen, der unter den Sohlen ihrer Stiefel knirschte. Die Luft um sie herum war von einem abscheulichen Gestank wie nach Kohl erfüllt, der einen Tag und eine Nacht lang gekocht worden war. Eine Ratte huschte an ihren Füßen vorbei; andere stahlen sich am Rande des Korridors entlang.

Sie stiegen eine Treppe hoch, die unter ihrem Gewicht so heftig knarrte, als würde sie gleich zusammenbrechen. Sie konnten immer nur eine Stufe nach der anderen nehmen, denn die Frau blieb andauernd stehen. Nico und Asch warfen sich einen raschen Blick zu, sagten aber nichts. Dann eine weitere Tür: ein Zeichen, das einen Stern mit sieben Spitzen darstellte, war mit roter Farbe oder Blut darauf gemalt.

Sie betraten einen Salon: einen Raum, erhellt von wenigen rauchigen Lampen auf einem Tisch, der mit kleinen Figuren, Amuletten, Steinmörsern, Stößeln, Messern, Nadeln und anderen unerkennbaren Gegenständen übervölkert war. Stoffbahnen hingen gewölbt unter der Decke; es wirkte wie das Dach eines Zeltes. Darunter saß in der Nähe des Fensters ein alter Mann, der die Hände vor den Bauch gelegt, die Augen geschlossen hatte und laut schnarchte. Auf seinem Schoß befand sich ein ganzer Berg von Ratten, die dort mit umschlungenen Schwänzen lagen und die Neuankömmlinge beobachteten.

Als die Tür hinter Nico geschlossen wurde, regte sich der Mann. Eine glatte, schwarze Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht; er kratzte sich und schnarchte weiter.

»Gamorrel«, sagte Asch laut, während er vorsichtig gegen den Fuß des alten Knaben trat und dadurch die Ratten auf seinem Schoß zerstreute.

Der Mann ruckte nicht hoch, sondern öffnete ein Auge lediglich so weit, dass er hindurchspähen konnte – als ob er die Lage peilen wollte, bevor er sich ganz aus der Sicherheit des Schlafes hinaus begab. Als er Asch erkannte, zuckte es in seinem Gesicht. Er richtete sich auf.

»Ich hätte es wissen müssen«, sagte er mit altersrauer Stimme. »Nur ein Rō̄schun wagt es, einen schlafenden Sharti zu wecken.«

» Steh auf. Wir haben etwas Geschäftliches zu besprechen. «

»Ach ja? Um welche Geschäfte geht es?«

Eine lederne Geldbörse fiel ihm in den Schoß; das Gewicht reichte aus, um ihn ruckartig wach zu machen. Ein Grinsen legte sich über sein backenbärtiges Gesicht und enthüllte Zähne, die so braun wie Bier waren.

»Interessant«, flötete er und stand flink und mühelos auf. »Bitte folge mir in mein Zimmer.« Er führte Asch in einen angrenzenden Raum und schloss die Tür sorgfältig hinter ihnen.

»Setz dich«, sagte die Frau und geleitete Nico zu einem der Armlehnstühle beim Fenster. »Chee, ja? Etwas Chee?«

Nico lächelte und schüttelte den Kopf. Er dachte an die Ratten, die überall umherhuschten, an den Dreck und Ruß, der hier allgegenwärtig war, und an den Schmutz unter den gelben Fingernägeln der alten Frau.

»Ja?«, beharrte sie, und bevor er erneut ablehnen konnte, war sie bereits in ein anderes Zimmer geschlurft. Durch die plötzlich offen stehende Tür drang eine Dampfwolke, die den feuchten Hauch von Kohl mitbrachte. Er hörte, wie sie etwas aus dem Weg scheuchte; dann klapperten Tassen.

Eine mechanische Uhr tickte irgendwo im Salon, aber Nico entdeckte sie nirgendwo in all dem Durcheinander, das sich vor den Wänden auftürmte. Der Stuhl war unbequem, als ob er auf Kies säße, und so stand er auf und wischte Rattenkot von der Sitzfläche. Dann setzte er sich vorsichtig wieder. Er wollte gerade die Hände auf die Armlehnen legen, besann sich aber eines Besseren und legte sie stattdessen lieber in den Schoß.

Die alte Frau erschien wieder und balancierte ein Tablett mit einer Kanne dampfendem Chee und zwei Tassen aus weißem Porzellan in den Händen. »Lasst mich Euch helfen«, sagte Nico, stand auf, nahm ihr das Tablett ab und trug es zu einem kleinen Beistelltisch. Sie lächelte und setzte sich vorsichtig auf den Stuhl ihm gegenüber. Auch als sie saß, blieb sie in ihrer gebeugten Haltung und stützte sich mit der Hand auf ihren Stock. Sie beobachtete ihn mit klarem Blick, als er den Chee eingoss.

»Danke«, sagte Nico mit angespanntem Lächeln und lehnte sich mit seiner Tasse zurück, aber er trank nicht. Die alte Frau nickte und betrachtete ihn weiterhin eingehend. Er fragte sich, was sie sah.

»Sag mir«, meinte sie, »träumst du viel?«

Er dachte kurz nach. »In letzter Zeit ein wenig zu viel«, gestand er.

»Weißt du, manche Menschen träumen mehr als andere. Und manche sehen mehr als andere. Ich kann dir sagen, dass du einer von ihnen bist. Du hast Glück. Mein Mann ist auch so einer. «

Nico schaute auf die Tasse in seinen Händen herunter. Der Chee sah sehr angenehm aus, und das Porzellan war sauber. Er schaute wieder auf, lächelte und richtete den Blick zur Seite. Nun endlich sah er die Uhr auf einer Konsole an der gegenüberliegenden Wand neben einem Kleiderständer, an dem ein einzelner Mantel und ein schwarzer Zylinder hingen. Nico war unter dem Blick der alten Frau unbehaglich zumute, und der Geruch des Dampfes, der sich noch immer durch die offene Tür wälzte, verursachte ihm ein Gefühl der Übelkeit.

Nico zwang sich, die Frau anzusehen. Ihre Haut hatte die Farbe von verbranntem Küchenfett. Er sah in ihre trüben Augen und erkannte etwas Verletzliches darin – ein Feingefühl, das von alten Wunden vernarbt war. Er sah auch Langeweile in der Verkleidung ihrer gegenwärtigen Aufmerksamkeit.

Sie nickte, als wäre er soeben zu ihr zurückgekehrt. »Weißt du, deshalb ist er ein Sharti. Mein Mann ist sehr mächtig und erfahren in den alten Wegen. Viele Menschen kommen zu ihm – die Armen, die Verzweifelten. Viele nehmen seine Dienste in Anspruch.«

»Ihr seid also keine Mhannier?«

»Was? Mhannier? Nein, Junge. Die Mhannier würden uns als Sklaven behandeln, oder noch schlimmer, wenn sie wüssten, was wir sind. Wir beschreiten hier die alten Wege, die ersten Wege. Sie nennen uns Häretiker. Wir und die Armen sind es, die sie am meisten verachten.«

Sie hielt inne, nahm ihre Tasse vom Tisch und führte sie an ihre runzligen Lippen. Sie schlürfte zweimal laut und stellte die Tasse wieder auf den Tisch.

»Du weißt nicht, wovon ich spreche – die alten Wege?«

Nico dachte über diese Frage nach. Er erinnerte sich, wie seine Mutter das Zeichen des Schutzes jedes Mal dann gemacht hatte, wenn sie einen Pica-Vogel gesehen hatte – eine Angewohnheit, die sogar auf ihn abgefärbt hatte. Er erinnerte sich auch daran, dass sie zur Zeit der Wintersonnenwende immer eine Kerze in einem offenen Fenster hatte brennen lassen.

»Vielleicht.« Er zuckte die Schultern. »Diese alten Wege, werde sie sonst noch irgendwo begangen?«

»Oh, überall, aber nur in den Schatten. In Traditionen, die schon lange jede Bedeutung verloren haben. Und nur von denjenigen, die alt genug sind, um sich an ein Leben vor Mhann zu erinnern. Im Hohen Pasch wirst du die alten Wege finden, die noch von allen beschritten werden und ihre Bedeutung behalten haben. Und noch weiter weg – auf den Inseln des Himmels, sogar dort. Und so leben sie für immer weiter, weißt du. Wenn sie sterben, benutzen sie das alte Wissen, um sie wieder ins Leben zurückzuholen. Ja, das sind die Dinge, die uns die Mhannier vergessen machen wollen.«

Nico lauschte ihren Worten mit dem Ausdruck offenbaren Interesses. Er kämpfte gegen den Drang, sich an den Fußknöcheln zu kratzen, wo er Flöhe springen und beißen fühlte. Er schaute auf die geschlossene Tür und fragte sich, wie lange Meister Asch wegbleiben würde. Was machten sie da drinnen bloß?

Die Frau atmete tief ein und drehte den Griff ihres Stocks hin und her. »Du bist ein freundlicher Junge«, sagte sie. »Du hörst einer alten Frau zu, wo du doch lieber anderswo wärest. Aber ich glaube, sie haben gerade ihre Besprechung beendet.«

Nico setzte den Chee in dem Moment ab, in dem er hörte, wie die Tür aufgezogen wurde. Er war schon auf den Beinen, als Asch heraustrat, dicht gefolgt von dem anderen Mann.

»… dann näher an der Zeit«, sagte Asch gerade.

Der Farlander bemerkte die Cheetase auf dem Tisch, blieb stehen und nahm sie an sich. Er trank einen großen Schluck und lächelte die Frau an, als er die leere Tasse wieder abstellte. Er bedeutete Nico mit einer raschen Kopfbewegung, ihm zu folgen, und ging auf die Treppe zu.

»Danke für den Chee«, sagte Nico rasch und lief hinter seinem Meister her.

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Sie nahmen eine Tram zurück zum östlichen Hafengebiet und saßen auf einer der Bänke im hinteren Teil. Eine Zeit lang schaute Asch hinter sich durch das Rückfenster.

» Glaubt Ihr, wir werden verfolgt?«

Asch sah wieder nach vorn. » Schwer zu sagen«, murmelte er. Er schien nicht sehr besorgt zu sein.

Die Tram klapperte an einem großen Platz vorbei, der an drei Seiten von Gebäuden aus weißem Marmor gesäumt und voller Gestalten in roten Roben war – es waren Tausende und Abertausende.

»Pilger«, sagte Asch, noch bevor sein Lehrling fragen konnte.

»Ich hatte eine andere Frage im Kopf«, sagte Nico so laut, dass seine Stimme durch den Lärm der Menge hindurch zu hören war. »Habt Ihr in dem Haus bekommen, was Ihr haben wolltet? «

»Ich hoffe es.«

»Und mehr wollt Ihr mir nicht darüber erzählen?«

»Nein, noch nicht.«

Enttäuscht stieß Nico die Luft aus. »Das ist eine großartige Weise, Euren Gesellen anzulernen. Sagt ihm so wenig wie möglich, auch wenn er fragt.«

»Im Feld ist es immer am besten, wenn du alles für dich selbst herausfindest. «

Nico schnaubte verächtlich. »Eine bequeme Theorie, denn sie schützt Euch davor, Fragen beantworten zu müssen. «

»Ja, das auch.«

Als die Tram über ein Schlagloch in der Straße fuhr, erzitterten die Scheiben. Asch drehte sich um und schaute wieder nach hinten. Dann setzte er sich gerade und rieb nachdenklich den Daumen gegen den Zeigefinger.

Kurze Zeit später stand er auf und hielt sich am Gepäcknetz über ihm fest. »Fahr zurück und warte in unserem Zimmer auf mich. Bleib drinnen, bis ich wieder da bin.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, bewegte er sich zu dem offenen Ausstieg und hüpfte auf die Straße. Er ging rasch davon, während die Tram an ihm vorbeifuhr, und bemerkte nicht einmal mehr, dass Nico das Gesicht gegen das Fensterglas presste.

Einige Zeit später fuhr die Tram in das Viertel der östlichen Hafenanlagen ein, und Nico wusste wieder, wo er war. Er schaute aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Straßen, deren vage Vertrautheit ihn ebenso vage beruhigte. Auf dem Bürgersteig ging ein Mädchen vorbei. Er bemerkte ihr dunkles Haar.

Nico sprang auf, bahnte sich einen Weg zum Ausgang und sprang von der Tram herunter.

»Serèse!«, rief er, aber das Mädchen war so weit von ihm entfernt, dass es ihn nicht hörte.

Am Ende des nächsten Häuserblocks verlor er sie aus den Augen. Sie war es gewesen, dessen war er sich sicher. Nico ging in dieselbe Richtung weiter und sah sich immer wieder um. Auf den Straßen herrschte dichter spätnachmittäglicher Verkehr. Fußgänger eilten auf den Bürgersteigen entlang, Trams und Karren fuhren über die Straße. Von einem Tempel in der Nähe schlug es die volle Stunde – zwei Schläge, dann Stille.

Er lief durch eine Straße mit völlig gleichartigen Häusern, deren große Fenster weit geöffnet waren und die Stadtluft hereinließen, und von drinnen leckte Industrielärm heraus. Es sah aus wie eine gewaltige, geräumige und staubige Werkstatt. Hunderte Menschen – hauptsächlich Frauen und Kinder – saßen nebeneinander auf Matten auf dem Boden und machten einfache, beständig sich wiederholende Handgriffe, deren Sinn sich Nico nicht erschloss. Andere Kinder fegten Abfall zusammen, und einige erwachsene Männer schoben schwitzend Handkarren mit Material durch die Gänge. Die auf den Matten Sitzenden warfen fertige Gegenstände in die vorbeirollenden Karren, während andere etwas aus ihnen herausnahmen. Einige Aufseher schritten zwischen den Arbeitern her und schrieen immer wieder den einen oder anderen an. Nach einer Minute ging Nico weiter; von Serèse war nichts mehr zu sehen. Er hatte sie verloren.

Einen Moment lang überlegt er, ob er zum Hostelio zurückgehen sollte, aber der bloße Gedanke daran, allein in diesem Raum zu sitzen und über das nachzudenken, was er in der letzten Nacht getan hatte, bedrückte ihn zu sehr. Lieber machte er einen Spaziergang, auch wenn die Straßen dieser Stadt kaum einladender waren als sein Zimmer.

Er spazierte in ein hübscheres Viertel, in dem Bäume die Straßen säumten und kleine Plätze Raum für Cheehäuser oder Springbrunnen mit klarem Wasser boten. Hier war die Stimmung weniger hektisch als im östlichen Hafenbezirk. Dennoch spürte Nico tief in seinem Innersten, dass er nicht in diese Stadt gehörte. Hier gab es nichts, was in irgendeiner Beziehung zu ihm stand oder was er mit einem Gefühl des willkommenen Wiedererkennens betrachten konnte. Es war alles so einschüchternd – nicht nur die schiere Größe der Bauwerke, sondern auch die Art der Bewohner.

In Bar-Khos sprachen die Fremden wenigstens mit den Fremden. Die Ladeninhaber lächelten, und wenn es einmal zu einem plötzlichen Kampf oder Streit kam, war immer jemand in der Nähe, der die Parteien beruhigte. Auch wenn Bar-Khos kriegsmüde war – oder vielleicht gerade deshalb –, herrschte unter der belagerten Bevölkerung ein Geist der Gemeinschaft und des gemeinsamen Ziels, der über alle Grenzen des Glaubens und der persönlichen Bekanntschaften hinausreichte. Doch hier waren die Leute mürrisch und in sich selbst zurückgezogen. Es war, als ob der Umstand, dass ihnen in ihrem Leben viel versprochen worden war – und sie es sogar erhalten hatten –, sie nur noch unzufriedener und gehetzter gemacht hätte.

Vielleicht musste Nico bloß in dieser endlosen Beengtheit aus Beton und Ziegeln etwas Grünes und Offenes sehen. Aus einer Laune heraus hielt er einen Jungen auf der Straße an und fragte ihn, wo sich der nächstgelegene Park befand. Er hoffte, der Junge würde ihn nicht verwirrt anschielen und sagen, dass es so etwas nicht gab.

Der Junge erklärte ihm den Weg. Wie es sich herausstellte, war der Park nur einen Block entfernt. Als Nico eine Ecke umrundete, bekam er glänzende Augen, denn dort, unmittelbar vor ihm, lag tatsächlich ein kleiner grüner Park, der von einem schwarzen Eisengitter umschlossen war. Er wurde schneller und eilte durch ein Tor; Kies knirschte unter seinen Schuhen. Allmählich wurde er langsamer und nahm seine Umgebung in sich auf. Der Park war auf seine eigene Weise sehr anziehend und fast leer; nur ein paar Betrunkene lagen im hohen Gras, als ob sie jemand eingepflanzt hätte.

Nico wählte sich eine Stelle, die so weit wie möglich von diesen Parkbewohnern entfernt lag, und setzte sich unter einen großen Zikadenbaum. Er hielt das Gesicht in die schwächer werdende Sonne und empfand beinahe so etwas wie ein Gefühl der Entspannung.

Schließlich schloss Nico die Augen und stellte sich vor, er wäre anderswo – zu Hause in Khos, in den waldreichen Bergen, die hinter der kleinen Hütte seiner Mutter aufragten.

An Tagen wie diesen hatte er zu Hause oft mit Kumpel lange Spaziergänge unternommen, mit dem Rucksack auf dem Rücken, in dem sich ein Laib Kisch befunden hatte, von seiner Mutter frisch gebacken, und auch etwas Käse, eine Flasche zum Auffangen von Quellwasser, seine Vogelpfeife sowie einige Angelhaken und ein Stück Leine. Er war von den alltäglichen Schwierigkeiten seines Lebens weggeklettert, hatte sich keuchend und schwitzend in die frische Luft der höher gelegenen Täler vorgearbeitet, und seine Stimmung war mit jedem Schritt besser geworden, während Kumpel von einer Seite zur anderen lief und nach Kaninchen, Mäusen oder sonst etwas Jagenswertem schnüffelte.

Manchmal, wenn Kumpel sich endlich beruhigt und hingelegt hatte, hatte Nico in den kalten Bergseen geangelt und eine kleine Regenbogenforelle nach der anderen gefangen, die er seiner Mutter stolz zum Abendessen mitbrachte. Zu anderen Zeiten hatte er sich, wenn er in eher nachdenklicher Stimmung gewesen war, einen Felsvorsprung über einem der tieferen Teiche gesucht und mit Kieseln gefischt. Er hatte einen kleinen Stein sanft ins Wasser geworfen und ihm eifrig nachgesehen, wenn er unter der Oberfläche verschwand. Wenn er Glück hatte, schoss eine Forelle aus ihrem Versteck am Rand des Sees auf den sinkenden Stein zu, bis sie zu spät erkannte, dass es sich nicht um Nahrung handelte. Auf diese Weise hatte Nico nicht nach dem Fleisch der Tiere, sondern nach ihrem bloßen Anblick gefischt. Viele Stunden hatte er auf diese Weise verbracht.

Wenn es noch früh genug gewesen war, hatte Nico den Gipfel des nächstgelegenen Berges erklettert, egal wie müde, hungrig oder fußlahm er war, und sich dabei gefragt, ob sein Vater vielleicht einmal auf der Jagd oder auf einer seiner einsamen Wanderungen hier gewesen war. Wenn er den Gipfel erreicht hatte, war er regelmäßig neben Kumpel auf dem Boden zusammengebrochen; sein Atem hatte in der Kehle gerasselt, und die Augen hatten das weite Land unter ihm und das grünblaue Band des Meeres dahinter in sich aufgenommen. Salz hatte in dieser Hochgebirgsluft gelegen. Das sanfte Streicheln des Windes hatte ihm die Haut gekühlt. Er hatte sich im Frieden mit der Welt gefühlt, sein Leben war in den richtigen Zusammenhang gerückt worden und seine Schwierigkeiten plötzlich klein und unbedeutend. Nichts hatte wirklich eine Bedeutung gehabt, nicht seine Ängste und Unsicherheiten, auch nicht seine Hoffnungen und Sehnsüchte, all das war wankend und flüchtig gewesen, und nur der Augenblick und das gegenwärtige Sein hatten Bestand gehabt. Dann hatte er in Kumpels sanfte Augen geblickt und erkannt, dass der Hund um seinen Geisteszustand wusste. Und Nico hatte ihn um diese einfache Existenz beneidet.

»Hallo, du.«

Diese Stimme stammte aus der Gegenwart, und Nico kehrte zu ihr zurück, indem er die Augen öffnete. Allmählich kehrten die Farben zurück – so langsam, dass er zunächst nur einen grünen, über ihm aufragenden Umriss gegen den Himmel erkannte. Er reckte den Hals und schirmte die Augen vor der Sonne ab.

Serèse stand vor ihm; sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und runzelte die Stirn.

»Du sitzt auf meinem Platz«, verkündete sie, noch bevor er etwas sagen konnte.

»Was?«, fragte er und richtete sich auf.

»Du sitzt auf meinem Platz«, wiederholte sie. Nico lächelte sie verwirrt an und warf einen raschen Blick auf die Betrunkenen und Drogensüchtigen, die in dem kleinen Park verstreut lagen.

»Ich verstehe. Du kommst oft her, nicht wahr?«

Sie setzte sich neben ihn und drückte ihn ein wenig zur Seite, damit sie sich bequemer gegen den Baumstamm lehnen konnte. Er spürte ihre Hitze, die ihn durchfuhr und ihm am Rücken herunterlief.

»Unser Hostelio liegt ganz in der Nähe«, erklärte sie. »Mein Vater wollte nicht, dass ich mit ihm und Aléas in dem Dreck unten am Hafen leben muss, und deshalb sind wir in eine bessere Gegend gezogen. Die beiden beraten sich gerade in unserem Zimmer und wollten sich danach hinlegen. Etwas Langweiligeres kann ich mir nicht vorstellen, und deshalb bin ich losgegangen, um mich irgendwo in die Sonne zu setzen.« Sie sah sich um und rümpfte die Nase. »Ich fürchte, einen besseren Ort gibt es hier in der Gegend nicht. «

Serèse nahm eine braune Gerollte aus der Tasche und zündete die Spitze mit einem Streichholz an. Der Duft von Hazii-Kraut drang in Nicos Nase, während sie an dem Stäbchen zog und dann den Rauch ausatmete.

»Willst du einen Zug?«, schlug sie ihm vor und übergab ihm den Stab.

Seine Mutter hatte behauptet, Hazii sei schlecht für die Lunge, schlechter noch als Teerkraut. Tatsächlich hatte sie oft schreckliche Hustenanfälle bekommen, wenn sie die ganze Nacht hindurch geraucht hatte. Nico hätte ihr Angebot beinahe ausgeschlagen, doch dann dachte er: »Warum nicht?«, und nahm das Kraut vorsichtig an. Er inhalierte ein wenig Rauch in seine Lunge. Hustend gab er ihr den Stab zurück.

»Habe ich dich bei etwas unterbrochen?«, fragte Serèse in sein Schweigen hinein, denn er war noch immer zum Teil in den Bergen von Khos.

»Nein. Nur ein paar Erinnerungen. «

» Gut, in diesem Fall lasse ich dich mit ihnen allein. « Mit einer einzigen anmutigen Bewegung stand sie auf; es hatte etwas Katzenartiges.

»Wegen mir musst du nicht gehen«, sagte Nico rasch.

Sie streckte die Hand aus. »Ich habe nur mit dir gespielt. Wenn wir den Nachmittag miteinander verbringen, dann sollte es nicht gerade hier sein.«

Dem musste Nico zustimmen. Er ergriff ihre Hand und erlaubte es, dass sie ihn auf die Beine zog. »Was schlägst du vor?«, fragte er, während ihre Hände noch ineinander verklammert waren.

Sie zuckte die Achseln. » Vielleicht sollten wir ein bisschen spazieren gehen.«

Sie ließ seine Hand los und hängte sich stattdessen bei ihm unter. Die Luft wurde kühler, als die Sonne hinter den hohen Häusern der Umgebung verschwand. Auf allen Seiten eilten die Passanten hin und her; Sklaven mit Eisenkrägen trugen schwere Lasten, die sie auf dem Kopf balancierten. Sie kamen an einigen Speiselokalen vorbei, aus deren geöffneten Türen Kochdüfte drangen.

»Bist du hungrig?«, fragte Nico, obwohl er selbst nicht das geringste Bedürfnis zu essen verspürte.

Serèse schüttelte den Kopf; das dunkle Haar fuhr ihr um die Schultern. »Ich brauche etwas frische Luft. Magst du es nicht, einfach nur so herumzuschlendern? «

»Doch, natürlich«, antwortete er schnell.

Sie reichte ihm wieder den Hazii-Stab, und diesmal zog er heftiger daran.

»Du und Aléas«, sagte sie, »ihr scheint am Ende doch Freunde geworden zu sein.«

»Ich glaube schon. Nicht dass Baracha … ich meine, nicht dass dein Vater es sehr gern sähe …«

»Nein, das tut er nicht. Schließlich bist du Aschs Lehrjunge. «

Nico bedachte sie mit einem fragenden Blick.

Sie zuckte die Achseln. »Meister Asch ist der Beste, den der Orden hat, und alle wissen das. Das gefällt meinem Vater nicht, denn er wollte immer selbst der Beste sein. Er erträgt es nicht, es nicht zu sein. Aber das darfst du ihm nicht vorhalten. Meine Mutter hat mir von seiner Kindheit und von seinem Vater erzählt, der wild und überheblich, aber auf seine Weise auch klein und unbedeutend war. Er hat seinen Sohn bei jeder Gelegenheit herabgesetzt und ihm bis zum Tag seines Todes nichts als Verachtung gezeigt. Das hat meinen Vater in gewisser Weise geformt, und er kann nichts dagegen tun. «

Nico dachte darüber nach und versuchte diese Worte mit dem anmaßenden Alhazii in Einklang zu bringen, den er kannte.

Sie gingen an Straßencafés vorbei, und der Lärm der Gäste wurde laut und lärmend. Die Schatten wurden immer länger.

»In gewisser Weise ist meine Mutter auch so«, sagte er nach einiger Zeit. »Etwas aus ihrer Vergangenheit hat noch immer Einfluss auf sie.«

»Ihre Eltern?«

»Nein. Mein Vater.«

Serèse antwortete etwas darauf, aber er hörte es nicht. Er geriet ins Straucheln und blieb stehen.

Vor ihnen wirbelte etwas rasch zu Boden. Als es landete, blickte er darauf hinunter.

Es war ein Zikadensame, dessen frisches Grün sich vom matten Grau der Pflastersteine deutlich abhob. Überall auf der Straße lagen zerfetzte und verdorrte Blätter, und unter ihnen befanden sich auch ähnliche geflügelte Samen, aber sie waren kleiner als diejenigen, die Nico kannte. Er schaute auf, sein Blick schweifte Stockwerk für Stockwerk an dem Gebäude neben ihnen hoch. Über den Rand des Daches hingen die Zweige eines Baums.

Serèse folgte seinem Blick. »Ein Dachgarten«, erklärte sie. »Eine Marotte der Reichen.« Sie schürzte kurz die Lippen. »Komm weiter«, sagte sie, als sie in eine Gasse einbog, die an der Seite desselben Hauses entlangführte.

Nico folgte ihr, und sie blieb bei einer Leiter stehen, die über ihren Köpfen an der Ziegelmauer befestigt war. Es war eine Feuerleiter, die neben einer Reihe von Fenstern bis zum Dach hinauf reichte. Er begriff, was sie gerade dachte.

Ihm wurde schwindlig, als sie ihm auf die Schultern kletterte. Er grinste und schwankte unter ihrem Gewicht, als sie die Knie durchdrückte und nach der untersten Sprosse der hölzernen Leiter griff. Plötzlich zog sie sich nach oben, und Nico bewunderte ihre geschmeidige Figur, als sie an der Verriegelung zog, die den untersten Teil der Leiter löste.

Die Leiter fuhr zusammen mit Serèse klappernd nach unten und blieb knapp über dem Boden stehen.

»Was starrst du denn so?«, fragte Serèse.

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Es war ein zwar kleiner, aber wunderschön angelegter Dachgarten. Eine sorgfältige Planung hatte es ihm erlaubt, natürlich zu wachsen, ohne allzu wild zu erscheinen.

An den Rändern standen kleine Bäume in Tontöpfen und Büsche in Kübeln mit Holzspänen; dazwischen wuchs hauptsächlich wildes Gras, gesprenkelt mit blauen und gelben Blumen. In der Mitte waren ein Springquell und ein Wasserlauf aus glatten, aber unregelmäßigen Steinen geschaffen worden, die den Eindruck eines winzigen Bergbachs hervorriefen.

Dieses kunstvolle Wachstum schirmte die umliegenden Häuser ab und vermittelte Nico und Serèse den Eindruck, sich weit weg von der größten Stadt der Welt zu befinden. Eine Hütte mit einer Tür stand am hinteren Ende des Flachdachs und führte offensichtlich zu einer Innentreppe. Serèse versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen, was ihr jedoch gefiel. Sie setzten sich nebeneinander auf eine Bank neben dem fließenden Wasser und genossen diesen geheimen Garten in Stille. Von hier war das andauernde Brummen der Stadt nur schwach zu hören.

Serèse zündete einen weiteren Hazii-Stab an und blies Rauch in das schwindende Licht.

»Das hast du gut gemacht«, sagte sie. »Letzte Nacht, meine ich. «

Das war ein Thema, das sie beide bisher nicht angesprochen hatten.

»Glaubst du? Ich hatte so große Angst, dass ich regelrecht betäubt war. «

»Ach ja? Da warst du nicht der Einzige. Aber du hast getan, was du tun musstest. Du hast Mut bewiesen. «

Nico sah das Mädchen neben ihm lang und ohne Scheu oder tiefere Absichten an. Er bemerkte etwas hinter ihrer funkelnden Maske der Schönheit. Serèse war angespannt und brauchte dringend Gesellschaft.

Sie zog noch einmal heftig an dem Stab und gab ihn an Nico weiter.

»Mut?«, wiederholte Nico, als ob er das Wort zum ersten Mal in seinem Leben ausspräche. Ganz kurz tauchte das Gesicht des Mannes, den er getötet hatte, vor ihm auf: der entschlossene Blick, noch als Nicos Klinge in ihn drang, dann die Verwunderung und schließlich das allmählich einsetzende schreckliche Bewusstsein, dass für ihn alles verloren war. »Nein, ich habe in der letzten Nacht den Mann nicht aus Mut erstochen. Es war Angst. Ich wollte nicht auf dieser Straße sterben. Ich wollte nicht, dass er mich umbringt. Also bin ich ihm zuvorgekommen. «

Nico war überrascht, wie leicht er über seine tiefsten Gefühle sprechen konnte. Er fragte sich, ob sich etwas in ihm verändert hatte, ob er vielleicht in der vergangenen Nacht etwas älter geworden war. Vielleicht war es auch nur die befreiende Wirkung des Hazii-Rauchs.

»Es ist schon komisch«, dachte er laut nach. »Seit ich Khos verlassen habe, sind mir ein paar Dinge klargeworden. Über meinen Vater zum Beispiel. Er war der tapferste Mann, den ich je gekannt habe, obwohl ich das damals kaum begriffen habe. Ich glaube, tief in meinem Inneren habe ich immer befürchtet, ich könnte ein Feigling sein – weil ich vor allem davongelaufen bin, genau wie er. Als ich jünger war, wollte ich tapfer und mutig sein, zum Beispiel wenn ein Feuer ausbricht oder so. Diese ganzen üblichen Geschichten. Aber jetzt habe ich zum ersten Mal erfahren, was mein Vater unter den Mauern jeden Tag mitgemacht haben muss. Ich frage mich, wie er so lange hat überleben und jeden Morgen aufstehen können, obwohl er wusste, was ihn erwartet. Jetzt begreife ich, warum er ein anderes Leben führen wollte, weit weg von alldem, wo immer das sein mag. Ich wünschte bloß, ich hätte die Hälfte seiner Kraft.«

Nico schaute wieder auf den Hazii-Stab in seiner Hand. Er hatte ihn ganz vergessen, und so war er ausgegangen. Nico gab ihn zurück an Serèse. »Ich weiß nicht viel über Mut, Serèse – nicht wirklich. Wann immer ich in Schwierigkeiten bin, habe ich Angst.«

Serèse zündete die Rolle wieder an und stützte das Kinn auf die Faust.

»Ich verstehe«, sagte sie leise und stieß den Rauch aus. »Letzte Nacht war auch für mich das erste Mal. Ich glaube, ich habe es auch nicht gerade besonders gut hinbekommen. «

Plötzlich wurde ihr Blick wachsam. Ein vorbeiziehender Schatten lenkte ihrer beider Aufmerksamkeit auf den Himmel. Sie schauten hoch und entdeckten gerade noch rechtzeitig einen vorbeihuschenden Flieger, dessen fledermausartige Schwingen ihn auf den warmen Winden der Stadt in die Höhe trugen. Serèse zitterte.

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja«, versicherte sie ihm, obwohl ihre Stimme das Gegenteil verriet.

Lenk sie ab, empfahl ihm sein Kopf.

»Erzähl mir etwas über dich, Serèse.«

»Was möchtest du wissen?«

»Ich bin mir nicht sicher. Deine Mutter – erzähl mir von ihr. «

Diese Frage war ein Fehler gewesen. Er sah es sofort in ihren Augen.

Dennoch versuchte sie ihm eine Antwort zu geben. »Meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben. Auf diese Weise bin ich meinem Vater begegnet, und zwar erst, nachdem sie krank geworden war. Er ist zu uns nach Minos gekommen, und als sie gestorben ist, hat er mich nach Cheem mitgenommen. Dort bin ich geblieben, bis ich sechzehn war – mitten unter all diesen Männern, die zu Mördern ausgebildet werden.«

»Hast du nie daran gedacht, in die Fußstapfen deines Vaters zu treten?«

»Ich – eine Rō̄schun? Nein, ich würde ein solches Leben hassen.«

»Wie bist du dann hierhergekommen?«

Sie lächelte, aber es war ein freudloses Lächeln. »Ich bin vor Langeweile fast verrückt geworden. Zweimal habe ich versucht wegzulaufen. Einmal habe ich mich verliebt, was einen ziemlichen Wirbel verursacht hat. Dann hat der alte Oschō̄ vorgeschlagen, ich sollte nach Q’os umziehen. Die hiesige Agentin war krank geworden und brauchte jemanden, der ihr hilft. Diese Gelegenheit habe ich sofort ergriffen. Mistress Sar ist zu Anfang des Jahres an einem Husten gestorben. Ich habe mich bereiterklärt, hierzubleiben, bis eine Nachfolgerin für sie gefunden ist.«

Serèse schaute auf den Hazii-Stab in ihren Fingern, der wieder einmal ausgegangen war. Sie warf ihn fort. »Und du, mein Inquisitor, wieso bist du hier geendet und in diese ganze Sache hineingerutscht?«

»Das frage ich mich inzwischen selbst.«

»Du klingst, als würdest du es bedauern.«

Nico stand auf, ging hinüber zu dem Springquell und tat so, als würde er das kleine Relief, mit dem er geschmückt war, aus der Nähe betrachten. In Wahrheit sah er gar nichts.

»Ich wollte nicht neugierig sein«, sagte sie hinter ihm und schien etwas an seiner Haltung abzulesen. »Du hast zu viel Kraut geraucht.« Sie zögerte und suchte nach einer besseren Erklärung. »Du hast so etwas an dir, Nico. Es lockt die Worte heraus.«

Die Quelle wirkte tatsächlich wie ein verkleinerter Bergsee. Fast erwartete Nico, Miniaturforellen dicht unter seiner Oberfläche schwimmen zu sehen. »Du hast Recht. Ich bedaure es. Seit letzter Nacht wünschte ich mir, ich hätte Bar-Khos nie verlassen. Ich weiß jetzt, dass das hier« – er sah sich um und betrachtete nichts im Besonderen – »keine Art zu leben ist. Ein Mörder in der Ausbildung. Weißt du, im Kloster hatte ich fast vergessen, wozu ich ausgebildet werde. Ich war so sehr damit beschäftigt, alles richtig zu machen. Aber heute starrt es mir ins Gesicht.«

Serèse stellte sich neben ihn. Er sah ihr Spiegelbild im Wasser.

Nico fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und atmete gegen seine Handfläche. »Vielleicht geht es mir wieder besser, wenn wir diese Stadt verlassen haben«, sagte er, sah sie an und zwang eine gewisse Leichtigkeit in seine Stimme. »Bleibst du in Q’os, nachdem das alles hier vorbei ist?«

»Nein«, antwortete sie. »Ich werde zu meiner eigenen Sicherheit weiterziehen müssen. «

» Und wohin?«

»Ich dachte mir, mit dem Geld, das ich gespart habe … ich glaube, ich werde für eine Weile auf Reisen gehen und mir Mercia ansehen, solange es noch frei ist. Es ist ein paar Jahre her, seit ich die Inseln verlassen habe, und wie ich gehört habe, kann eine Frau dort gefahrlos allein reisen.« In ihrer Stimme lag nun so etwas wie ein Lächeln. »Ich werde mich entspannen, das Leben so nehmen, wie es gerade kommt und nur solche Sachen mitnehmen, die in meinen Rucksack passen. Einfach und sorglos. Im Augenblick klingt das für mich wie ein guter Plan. «

»Das ist es auch«, stimmte Nico ihr zu, und in seiner Stimme lag eine Sehnsucht, die ihn selbst erstaunte. Ja, es klang wunderbar, mit wenig Gepäck die Inseln der Freien Häfen zu erkunden.

Einen Moment lang genoss er die Vorstellung, ein solches Abenteuer zusammen mit diesem Mädchen zu wagen und jeden neuen Tag ohne Angst oder Bedrohung für Leib und Leben zu genießen. Bei diesem Gedanken, so unrealistisch er auch sein mochte, wurde ihm warm ums Herz.

»Dann komm mit mir«, sagte sie und grinste ihn an. Er drehte sich zu ihr um und sah sie ausdruckslos an. »Wir wären bestimmt gute Reisegefährten«, fuhr sie fort. Sie spielte mit ihm. »Das kann ich dir versichern.«

»Wir kennen uns doch kaum.«

»Aber wir kommen gut miteinander aus, oder? So etwas weiß man vom ersten Augenblick an.«

»Bitte«, sagte er, »es reicht.«

» Oh, du willst es nicht.« Sie zog eine Schnute.

»Ich glaube, in diesem Augenblick würde ich alles dafür geben.«

Das Lächeln wich aus ihren Augen. Nico spürte die Berührung ihrer Hand an seinem Arm.

»Was hält dich denn noch hier? Du bist ein Lehrjunge und kein Sklave.«

»Weil ich Meister Asch zu tiefem Dank verpflichtet bin. Wir haben … ein Abkommen, und ich werde es nicht brechen.«

»Glaubst du, er würde dich nicht gehen lassen, wenn er deine wahren Wünsche kennt?«

»Ich weiß nicht, was er tun würde«, erwiderte Nico. »Zumindest würde er sich ungerecht behandelt fühlen. «

»Nico …« Sie seufzte. »Asch ist ein guter Mann. Du unterschätzt ihn. Ich habe ihn beobachtet, wenn ihr zusammen seid. Er kümmert sich sehr um dich. «

Nico versteifte sich, und ihre Hand rutschte von seinem Arm. »Das bezweifle ich. Er erträgt mich, ja. Aber er vermeidet meine Gegenwart, so oft er kann.«

Leise sagte sie: »Du bist ein so pfiffiger Kerl und doch teilweise blind.«

Er verstand nicht, was sie damit meinte.

»Es ist halt seine Art, sich zurückzuziehen. Selbst diejenigen, die ihn seit sehr langer Zeit kennen, hält er auf Abstand. Er hat viel durchlitten, Nico. Das haben alle alten Farlander. Auch wenn er es abstreiten würde, fürchtet er bestimmt weitere Verluste in seinem Leben.«

Nico antwortete nichts darauf. Der Klang des plätschernden Wassers erfüllte den kleinen Garten. Inzwischen war es kühl geworden. Nico erzitterte und bemerkte, dass die Luft feucht geworden war. Schon sah er Schlieren seines eigenen Atems vor sich hertreiben.

»Es ist kalt geworden«, sagte er.

»Nebel zieht auf«, erwiderte sie.

»Nebel? Jetzt? Hier ist das Wetter ziemlich seltsam. «

»Er kommt von den Bergen auf dem Festland. Wir sollten besser zurückgehen, wenn wir nicht erfrieren wollen. «

Nico warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf den Dachgarten, drehte ihm dann den Rücken zu und zwang ein Lächeln auf seine Lippen. Er sagte: »Meister Asch kennt eine Geschichte über das Erfrieren. Ich erzähle sie dir auf dem Rückweg. «

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Das Zimmer bereitete ihm ein kühles Willkommen, nachdem er endlich in das Hostelio zurückgekehrt war. Er hatte die Tür mit seiner letzten Münze geöffnet, und nun tastete Nico blind in der Finsternis im Waschbecken herum und suchte nach verbliebenen Viertlern, die hoffentlich noch darin lagen. Er fand einen und benutzte ihn zum Entzünden der Gaslampe. Dann legte er sich auf das obere Bett, wickelte sich in das dünne Laken und dachte an die vergangenen Stunden, während sein Körper allmählich wärmer wurde.

Am Abend kehrte Asch zurück; er schien noch erschöpfter als zuvor zu sein. Der alte Mann stieß gegen das Waschbecken, als ob er es nicht gesehen hätte.

Wieder einmal Kopfschmerzen, dachte Nico.

Asch grunzte ihn nur an, als er sich auf das untere Bett legte. Nico fragte sich, was er wohl den ganzen Tag getrieben hatte, und überlegte, ob er ihn fragen sollte, doch Asch würde ihm höchstwahrscheinlich befehlen, still zu sein. Außerdem bedrängten ihn wichtigere Fragen.

»Was für eine kalte Nacht«, sagte der alte Mann schließlich.

»Eiskalt. «

»Hast du schon etwas gegessen?«

Nico erkannte, dass er das nicht hatte. »Nein, aber ich bin nicht hungrig. Dieser Ort vertreibt mir jeden Appetit. «

Der alte Mann richtete sich in seinem Bett auf. Er durchstöberte sein Gepäck und holte einen in Wachspapier eingeschlagenen Weizenkuchen heraus.

»Meister Asch … «, begann Nico und wartete darauf, dass sich der alte Mann zu ihm umdrehte.

Asch hielt ihm den Weizenkuchen entgegen. »Iss«, befahl er, aber Nico schüttelte den Kopf.

»Meister Asch, ich möchte Euch etwas fragen. «

»Dann frage.«

Nico holte tief Luft und nahm all seinen Mut zusammen. »Ich habe mich gefragt … ich bin mir nicht sicher, ob ich dafür geschaffen bin … ein Rō̄schun zu sein. «

Asch blinzelte, als hätte er Schwierigkeiten, einen klaren Blick zu bekommen. Er riss das Papier von dem Kuchen und biss selbst hinein, sah aber Nico dabei weiterhin an.

Nun flossen die Worte wie ein Sturzbach von Nicos Lippen. »Ich weiß nicht, ob es wirklich in mir steckt. Diese Arbeit … sie ist schlimmer, als ich erwartet hatte. Und letzte Nacht …« Er schüttelte den Kopf. »Wie ein Soldat zu kämpfen und meine Heimat zu verteidigen ist vielleicht eine gute Sache, aber das hier … ich weiß nicht.«

»Nico«, sagte der alte Mann sanft, während sein Mund voll mit Weizenkuchen war, »wenn du nicht mehr mein Lehrjunge sein willst, dann sag es mir, und ich werde dafür sorgen, dass du gleich nach Hause gehen kannst. «

Nico richtete sich ruckartig auf. »Aber was wird dann aus unserem Abkommen?«

»Du hast es so gut wie möglich erfüllt. Du hast hart an dir gearbeitet und dich der Gefahr gestellt. Sag einfach nur das eine Wort. Ich werde dich jetzt gleich zum Hafen bringen und dir eine Kabine auf einem Schiff suchen. Heute Nacht kannst du bereits an Bord bleiben, und morgen früh segelst du fort von hier. Ich will dich nicht hier festhalten. Wenn ich könnte, würde ich dasselbe tun. «

Nico erkannte, dass Serèse Recht gehabt hatte. Asch war ein guter Mensch.

Der alte Farlander wickelte den Rest des Kuchens wieder ein, drehte sich um und verstaute ihn in seinem Gepäck.

»Willst du wirklich gehen?«, fragte der alte Mann, während er Nico noch den Rücken zudrehte.

Nico schaute hinunter auf ihn. Heute Abend wirkte der alte Mann in seiner Erschöpfung so zerbrechlich, als er sich über sein Gepäck beugte, sich nicht bewegte, scheinbar nicht einmal atmete und auf eine Antwort wartete.

Aschs Frage hing in der Luft, wurde immer größer und schuf einen gewissen Abstand zwischen ihnen. In diesem Augenblick waren sie einander fremd, getrennt auf unterschiedlichen Wegen.

Der Gedanke traf Nico wie ein Blitz. Du stirbst.

Er blinzelte den alten Mann an, dachte an die Kopfschmerzen, den stetigen Gebrauch der Dulceblätter und den Drang, einen Lehrjungen zu nehmen. Asch war krank und wusste, dass es für ihn nicht mehr besser wurde.

Das war plötzlich zu viel für Nico. Er dachte: Ich werde keine Sekunde mehr ruhig leben können, wenn ich diesen alten kranken Farlander allein hier an diesem schrecklichen Ort zurücklasse.

»Nein, Meister«, hörte er sich selbst sagen. »Ich glaube, diese Stadt geht mir bloß auf die Nerven, das ist alles. «

Asch hielt ihm den Rücken zugewandt, und seine Schultern hoben sich, als hätte er tief eingeatmet.

Als er sich umdrehte, war die Fremdheit zwischen ihnen verschwunden; wieder einmal waren sie zu ihren gewohnten Rollen als Meister und Lehrling zurückgekehrt.

»Du solltest ein wenig schlafen«, schlug Asch vor. »Wir haben einen langen Tag vor uns. Wir können morgen früh weiterreden, wenn du willst. «

Nico legte sich zurück und schob sich den Arm unter den Kopf. Asch nahm seine Meditationshaltung auf dem Boden ein. Dort atmete er leise und hielt die Augen auf einen Punkt an der Tür gerichtet.

Nico starrte die Decke an, die sich kaum zwei Fuß über seinem Kopf befand. Er betrachtete die Risse im Gips, das warme Licht, das auf ihnen spielte und die dunklen Flecken, wo sich Feuchtigkeit eingenistet hatte. Er lauschte dem gelegentlichen Klappern von Münzen, die in oberen Stockwerken eingeworfen wurden und sich auf den langen Weg hinunter in die Sammelkästen machten, die sich in irgendeinem besonders gesicherten Keller des Hostelios befanden.

Er fragte sich, wie viel Zeit dem alten Mann noch blieb. Es musste eine Krankheit sein – irgendwas Tödliches.

Nico würde trotz seiner Bedenken bei ihm bleiben, obwohl er wusste, dass diese Entscheidung nicht auf seinen wahren Wünschen, sondern auf Loyalität und Mitleid beruhte.

Nachdem er kurze Zeit später eingeschlafen war, träumte er davon, den alten Mann neben dem Grab, das er für Kumpel ausgehoben hatte, zu beerdigen. Serèse war auch da. Sie sprach einige Worte über dem Grab. Nico hingegen schwieg; anstelle einer Rede legte er das Schwert des alten Mannes auf die festgestampfte Erde. Als sie sich umdrehten und weggingen, verspürte er eine Mischung aus Trauer und Erleichterung. Es war, als ob sich das Gefühl der Schwere in seinem Magen mit jedem Schritt weiter verflüchtigte.

Er und Serèse trugen Rucksäcke. Danach träumte Nico eine ganze Ewigkeit lang, dass sie gemeinsam reisten, sorglos und verliebt.