VIII

 

Nachdem David Silberstein zwei Nächte hintereinander aus dem Schlaf gerissen worden war, blieb er an diesem Morgen ausnahmsweise zwei Stunden länger als sonst liegen. Normalerweise sprang er gleich nach dem Aufwachen aus dem Bett und redete sich ein, daß jeder neue Tag neue Möglichkeiten und neue Freuden brachte, die er auskosten konnte. Oft sang er sogar ein frisches, munteres Morgenlied. Doch als ihn heute die Vormittagssonne weckte, die heiß durch seine Vorhänge stach, blieb er in den Kissen liegen. Sein Mund war trocken. Er spürte nur schale Müdigkeit, Depression und Sterilität.

An diesem Morgen gab es keine neuen Freuden, keine neuen Möglichkeiten. Da war Liza, die (was für ein altmodischer Gedanke) Roses gehörte. Da war der Gründer, der ihm im Nacken sitzen würde, wenn er aus seiner Quarantäne erlöst war. Da war Sir Edwin. Und da waren all die schrecklichen Dinge, die Sir Edwin ihm gesagt hatte. War das ganze Forschungsprogramm und alle Hoffnungen, die sich daran knüpften, nur eine Illusion? Natürlich nicht. Sir Edwin war ein alter Narr.

David suchte angestrengt nach Gründen, warum er überhaupt noch aufstehen sollte. Er starrte an die Decke, auf der sich bunte Blumen abzeichneten, von der Sonne hingepinselt, die durch den hellgemusterten Vorhangstoff sickerte. Die Naturwissenschaft war erhaben über jedes nebulöse Philosophieren. Immer wieder in der Geschichte der Menschheit hatte die Wissenschaft die Philosophen in Erstaunen versetzt. Das würde wieder geschehen, war bereits im Gange.

Und doch …

Und doch war es verdammt schwierig, sich vorzustellen, wie ein Mensch in seiner eigenen Vergangenheit existieren konnte. Konnte ein Ereignis, das sich zugetragen hatte, so verändert werden, daß es sich eben nicht zugetragen hatte? Konnte eine Entdeckung noch einmal entdeckt werden? Oder nicht entdeckt werden? Konnte eine Erfindung wieder wegerfunden werden? Wenn die Chrononauten in die Zukunft reisten (falls sie zurückkehrten), würden ihre zukünftigen Entscheidungen bereits gewesen sein. Zweifellos würden diese Entscheidungen bereits in einem Geschichtsbuch aufgezeichnet sein, so daß sie nachlesen konnten, was sie tun würden. War das alles wirklich möglich?

David zog sich die Decke über das Gesicht. Je mehr er nachdachte, um so verwirrter und verstörter wurde er. Immerhin lag es im Bereich des Möglichen, daß er in naher Zukunft seiner Zeit vorausreiste. Aber wohin reiste er dann? Diese Zukunft konnte alles enthalten – oder nichts. Er war keine Spielernatur … Das Telephon neben seinem Bett fing an zu läuten. David hielt sich die Ohren zu, um das Läuten zu verdrängen, um die ganze Außenwelt zu verdrängen.

Im Laboratorium waren Liza und Professor Krawschensky bereits bei der Arbeit – sachlich und unpersönlich, wie das wissenschaftlichen Kollegen zukam. Wie es sich für einen alten Mann gehörte, der seine Begierden bereits überlebt hatte, und für eine Frau, die vor kurzem erst ihre eigene Vergewaltigung herausgefordert hatte. Sie führten eine Reihe von Experimenten durch, um die Überlegenheit der nukleischen über die peripherischen Zeit-Schrittmacher zu beweisen. Als Versuchsobjekte verwendeten sie jetzt Hunde (sie hatten nicht so scharfe Klauen wie Katzen, und ein Hundegebiß konnte man mit einem Maulkorb unschädlich machen). Der nukleische Schrittmacher erwies sich immer wieder als zuverlässig, während die peripherische Methode erhebliche Mängel zeigte. Ein kleiner, lebhafter Foxterrier, der mit der peripherischen Methode auf die Reise geschickt wurde, kam überhaupt nicht mehr zum Vorschein. (Tatsächlich kehrte er neunzehn Monate später in ausgezeichneter gesundheitlicher Verfassung aus der chronomischen Einheit zurück. Doch zu jenem Zeitpunkt brachte sein Fall keine wissenschaftlichen Aufschlüsse mehr.)

»Trotzdem gefällt mir diese Methode noch nicht«, sagte Liza. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir mit diesem Verfahren nicht die Zellkerne beeinflussen.«

»Aber, aber – was soll ihnen denn schon passieren, mein Kind!« Professor Krawschensky blickte von seiner Computerkonsole hoch und deutete auf eine Meute von Hunden, die nach beiden Methoden kurzfristig in die Zukunft verschickt worden waren. »Schauen Sie sich doch die Köter an. Wie das blühende Leben. Alle gleich lebhaft und vergnügt. Überzeugen Sie sich!«

»Aber …« Was konnte sie schon vorbringen? Es war die warnende Stimme ihrer Intuition, etwas, was der Professor nie begreifen würde. »Ich würde mich lieber auf die peripherische Methode konzentrieren«, sagte sie. »Sie scheint viel sicherer zu sein. Und ich bin überzeugt, wir können das Verfahren noch erheblich verbessern, wenn wir konzentriert daran arbeiten.«

»Wenn wir konzentriert daran arbeiten … Liza, mein Kind, der Gründer erwartet noch heute Fortschritte. Nicht in der der nächsten Woche und nicht im nächsten Monat – sondern heute.«

»Wir sind Wissenschaftler. Wir haben unsere Verantwortung. Der Gründer soll sich inzwischen paaren oder masturbieren.«

Liza zitterte. Sie wartete, daß der Professor sie wegen Majestätsbeleidigung ausschelten würde. Doch überraschenderweise tat er das nicht. Er tastete erst seine Formeln in den Computer ein, ehe er den Stuhl zurückschob und sie ansah.

»Sie haben sich dazu verpflichtet, in der irdischen Zeit zu bleiben. Denken Sie daran, daß die meisten von uns nicht hierbleiben wollen. In der vergangenen Nacht wurden wir angegriffen. In der vorletzten Nacht ebenfalls. Wir haben Männer schreien hören. Diese Dinge werden sich wiederholen. Sie werden sich verschlimmern, denn wir leben in einer schlimmen Zeit. Denken Sie daran. Wenn meine Methoden Sie schockieren, denken sie daran. Wir leben in einer häßlichen Zeit, und Häßlichkeit färbt ab, auch wenn man sich dagegen sträubt.«

Die Unterstellung, daß sie aus eigensüchtigen Motiven vor jeder Übereilung warnte, war so ungerecht, daß sie einen Moment lang sprachlos war. Es traf zu, daß sie zum Hierbleiben verpflichtet war; denn ohne ihre Mitwirkung in den kommenden Monaten und Jahren war die Rückkehr der Chrononauten, von der die Existenz des Dorfes abhing, ein Ding der Unmöglichkeit. Doch das hatte sie von Anfang an in Kauf genommen, ohne sich ausdrücklich dazu verpflichtet zu fühlen. Auch andere Dorfbewohner würden hierbleiben, das Dorf würde ausreichend geschützt bleiben. Und jetzt deutete dieser alte Mann an, daß sie … Oh, er hatte Angst. Das war es, die Angst. Und Angst macht häßlich.

»Ich werde den Gründer anrufen«, sagte sie. »Wir brauchen seine Genehmigung, ehe wir einen Chrononauten als Versuchsobjekt anfordern können.«

Der Gründer hatte soeben, einer dringenden Botschaft seines Projektleiters folgend, eine Reihe von erfolglosen Telephongesprächen mit Regierungsstellen geführt. Er hatte drei Ministerien angerufen (seitdem der offizielle Notstand ausgerufen worden war, wurden auch die Leitungen nicht mehr blockiert), und sieben einflußreiche, beeinflußbare Persönlichkeiten, angefangen bei der Mätresse des Premierministers bis zum Erzbischof von Canterbury. Zum erstenmal hatten selbst diese Leute versagt. In Sachen nationaler Moral – in der Propaganda, daß irgend etwas Nützliches in dieser Lage getan würde – war die Ministerin für moralische Verantwortlichkeit allein tonangebend. Und auf diese Persönlichkeit, auf Mrs. Lampton, hatte der Gründer nicht den geringsten Einfluß. Sie war neu im politischen Leben, hatte niemals einer Kirche oder einer Firma angehört und hatte keinerlei Dreck am Stecken.

Manny Littlejohn saß bewegungslos in seinem Krankenzimmer, blaß unter seiner künstlich getönten Haut, wütender, um das durch schroffes oder verletzendes Verhalten seinen Mitmenschen gegenüber abreagieren zu können. Der Projektleiter hatte ihm mitgeteilt, daß diese unglaubliche, überhebliche, bigotte Ziege, diese Mrs. Lampton, die Schließung jeder Forschungseinrichtung im Vereinigten Königreich von Großbritannien angeordnet hatte. Und er, Manny Littlejohn, OBE, war machtlos, sie daran zu hindern. Diese Einrichtungen sollten sofort geschlossen und das Personal aufgelöst werden … Aufgelöst, um am Fieber zu sterben? Um unter der Rache einer ignoranten, aufgeputschten Masse zu leiden? Um ein ganzes Lebenswerk zertrümmert zu sehen? Um den armen, reichen Manny Littlejohn der Gnade derjeniger Elemente auszuliefern, die er in seinem Leben schon immer am meisten gefürchtet hatte? Das war schon als Gedanke unerträglich. Als das Telephon jetzt wieder läutete – bestimmt ein speichelleckender Bürokrat, der ihm mitteilen wollte, wann er die Auflösung seiner Forschungsanlagen als vollzogen zu melden habe –, stellte er so gewaltsam um, daß der Hebel abbrach.

»Sie können zum Teufel gehen«, sagte er, sich selbst verfluchend. »Wenn Sie wollen, daß wir auflösen, schicken Sie gleich die Armee hierher. Zwei Divisionen, wenn Sie noch so viele Soldaten zur Verfügung haben.«

»Mr. Littlejohn?« Liza ließ sich durch nichts mehr überraschen, was der Gründer sagte oder tat. »Hier ist das Labor. Wir brauchen Ihre Genehmigung, Sir, ehe wir einen Chrononauten als Versuchsperson verwenden.«

»Einen Chrononauten, Miß Simmons? Wann soll das Experiment denn stattfinden?«

»Um fünfzehn Uhr, Sir.« Keine Sicherheitsreserven mehr. Angst, daß er vielleicht das – Ende nicht mehr erlebte. »Der Professor hat das Experiment eine Stunde nach Beendigung Ihrer Quarantäneperiode eingeplant. Sie werden natürlich dabeisein wollen, Sir.«

»Natürlich, mein Kind, natürlich. Ich werde Ihnen die nötige Vollmacht sofort hinüberschicken.« Ihre Worte waren so formell gewesen, daß er einen Moment lang eine Beklemmung spürte. Sie war doch sonst nicht so – hoffentlich hatte er nicht in der elften Stunde noch Schwierigkeiten mit ihr und ihrem Gewissen. »Und, Miß Simmons, meine höchste Anerkennung. Alle Bewohner dieses Dorfes haben Ihnen außerordentlich viel zu verdanken. Ihr Pflichteifer und unermüdliches Wirken, uns unserem erhofften Ziel näherzubringen, waren beispielhaft.« Er fragte sich, ob das nicht schon reichte. Sie war schließlich eine feinfühlige Person. Es war so leicht, bei Intellektuellen die Schraube zu überdrehen. »Geben Sie mir jetzt bitte den Professor. Ich möchte ihm ebenfalls gratulieren. Eine großartige Leistung. Großartig …«

Die Vollmacht, die von Manny Littlejohn unterschrieben und von David Silberstein und Professor Krawschensky gegengezeichnet war, wurde den angetretenen Chrononauten von dem Stellvertreter des verstorbenen Sir Edwin, also vom Dorfpsychiater, vorgelesen. Während sein Vorgänger und ehemaliger Vorgesetzter mit instinktivem Gespür für passende Gelegenheiten gehandelt hätte, machte das der Dorfpsychiater aus psychologischen Erwägungen. Schließlich war jetzt der Höhepunkt einer zweijährigen, intensiven Vorbereitungszeit gekommen, und dieser Höhepunkt verlangte nach einem Paukenschlag, nicht nur nach einem Zungenschlag. Die Chrononauten nahmen die Neuigkeit mit einem halblauten Hurra auf, mit echter, disziplinierter und temperierter Begeisterung. Dann marschierten sie in die Unterkunft, um das Los zu ziehen.

Dort stand eine Maschine bereit, die extra für diesen Moment angeschafft worden war. Wenn man die Maschine in Gang setzte (sie war noch versiegelt), spuckte sie eine kleine goldene Uhr aus, auf der das Datum und der Name eines jeden Chrononauten aufgeprägt war. Das war ein passendes Andenken und ein persönlicher Einfall des Gründers. Wirklich schade, daß er der Ziehung nicht beiwohnen konnte. Wenn jeder Chrononaut im Besitz seiner Uhr war, wurden die hinteren Deckel der Uhren geöffnet. Und auf diesem Deckel stand dann auf der Innenseite, daß der Träger dieser Uhr die Ehre hatte, der erste (zweite, dritte, vierte und so weiter bis der zwölfte) Mensch zu sein, der in die chronomische Einheit eingehen durfte. Die Reihenfolge war nach wissenschaftlichen Zufallsfaktoren festgelegt worden. Und das Los für die erste »Zeitreise« wurde von einer Chrononautin gezogen, von Rachel Moser.

Die anderen drängten sich um sie herum zeigten die von ihnen erwartete Kameradschaft, hinter der sich die erwartete Eifersucht versteckte und dahinter vielleicht auch noch die erwartete Erleichterung. Ihre Geschlechtsgenossinnen beherrschten dieses Spiel natürlich viel besser als ihre männlichen Kollegen. – »Wie wunderbar für dich, Darling! Und was wirst du für diese Reise anziehen?«

»Du solltest dein rotes Kleid anziehen, Rachel. Du weißt ja, wie gut es dir steht.«

»Und es ist so schlicht. Ganz recht – trage dein rotes Kleid. Man soll sich lieber bescheiden geben, bis man weiß, wie es um die Zukunft bestellt ist. Besser, wenn die Leute deinen Geschmack für altmodisch halten, als sich darüber aufzuregen, wie shocking du bist!«

Einen Moment lang stand Rachel verträumt da, die Hände auf den nackten Hüften, und träumte davon, daß sie die Zukunft in ihrem roten Kleid eroberte. Doch dann riß sie sich wieder zusammen.

»Unsinn«, sagte sie, »die ersten Zeitreisen werden doch nur zwei oder drei Minuten dauern. Dafür braucht man gar nichts anzuziehen.«

»Trotzdem würde ich an deiner Stelle das Rote tragen, und wenn auch nur dem armen alten Krawschensky zuliebe.«

Sie kicherten über diese respektlose Bemerkung und schielten rasch zu dem Dorfpsychiater hinüber. Das war echter Sportsgeist. Und trotz der gewaltigen Bildung waren sie doch alle typisch weiblich geblieben. Der Dorfpsychiater trat vor. Es standen immer noch die abschließenden Tests aus (körperliche und geistige). Er nahm artig ihren Arm und führte sie in die Testräume. Ihre Kolleginnen und Kollegen winkten und klatschten.

 

Obgleich Gefühle bei Roses’ Erziehung und in seinen reiferen Jahren kaum eine Rolle gespielt hatten, war Roses doch entschieden sentimental. Und obwohl die Gerechtigkeit in seinem Leben nie Hilfestellung geleistet hatte, war der Glaube an sie in ihm fest verwurzelt. Als er deshalb die Katze, die ihm so wütend die Krallen über Arme und Beine gezogen hatte, tot in den Brennesseln hinter der Hoftüre fand, geriet er in einen ernsthaften Gefühlskonflikt. »Armes, kleines Biest«, stritt er sich, »das geschieht dir recht, du Teufel.«

Ein paar Minuten lang rangen beide Gefühlsregungen miteinander.

»Geschieht dir recht« gewann schließlich die Oberhand. Die Katze war ein undankbarer Bastard, hatte gekratzt und gefaucht, nachdem er sie aus den Händen des verrückten alten Professors gerettet hatte. Sonst hätte sie vielleicht am Ende noch auf der Bühne gelegen wie damals der gescheckte Hund … Dieser Gedanke führte nach einiger Zeit zu einer Generalverdammung des Professors und seiner Tätigkeit im Labor. Alles, was der Professor anfaßte, starb. Er wußte es. Er hatte es selbst gesehen. Er trat mit den Zehen auf das kalte Fell. Wenigstens schien hier noch alles an dem Platz zu sein, wohin es gehörte. Nicht so wie bei dem gescheckten Hund.

In diesem Moment griff ein neuer Gedanke in den Wettkampf der Gefühle ein. Bis jetzt waren die Dinge in Roses’ Leben einfach gestorben. Es gab keinen Grund dafür. Er hatte auch nie nach Gründen gesucht. Sie starben eben. (Nur sein Vater hatte sich natürlich im Wald selbst umgebracht.) Doch hier lag der Fall anders. Alle Dinge, mit denen Professor Krawschensky sich befaßte, starben. Sie starben nicht einfach, sie starben, weil Professor Krawschensky mit ihnen zu tun gehabt hatte. Und Professor Krawschensky hatte auch den alten schwarzen Kater in den Fingern gehabt. Roses hob die tote Katze auf, trug sie in die Küche und legte sie auf den Küchentisch.

Er setzte sich vor die tote Katze und starrte sie lange an. Er blickte ihr in die offenen, toten, milchigen Augen und berührte hin und wieder das platte Fell. Es war die Schuld des Professors. Natürlich war es seine Schuld. Fragte sich nur, was er, Roses, daran ändern konnte.

»Das ist eine ganz besonders günstige Nachricht in Anbetracht der neuen Verfügung der Regierung«, sagte David Silberstein zu Professor Krawschensky, als er ihn kurz vor der Mittagspause in seinem Labor besuchte. »Mit Glück und Geschick werden wir sie noch ein paar Tage hinhalten können – lange genug, daß jeder in die Zukunft auswandern kann, der auszuwandern wünscht.«

Er sprach nur darüber, weil er eine passende Überleitung brauchte, um dann den Professor beiseite zu nehmen und ihm die Fragen zu stellen, die ihn wirklich interessierten. Der alte Mann starrte ihn betroffen an.

»Verfügung der Regierung? Was für eine Verfügung?«

»Oh – ich dachte, der Gründer hätte Sie bereits davon unterrichtet.«

»Nicht mit einer Silbe!«

»Wir werden dazu gezwungen, das Dorf aufzulösen. Nicht nur wir – alle Forschungsstätten. Es ist ein Versuch, die Öffentlichkeit zu besänftigen. Forschung ist seit dem Ausbruch der Cholera-Seuche ein schmutziges Wort geworden. Das ist natürlich alles auf die Hetzreden dieser Mrs. Lampton zurückzuführen.« Er lächelte nervös. Jeder, der auswandern wollte, konnte auswandern … Stimmte das? Wollte er wirklich in die Zukunft verreisen, wenn es von dort kein Zurück mehr gab? »Ich habe gehört, daß man sogar eine Fabrik in Sussex geschlossen hat, die ein Impfserum gegen den mutierten Erreger dieser Seuche entwickelt. Mag was dran sein. Auf jeden Fall traue ich dieser Dame alles zu.«

Professor Krawschensky sammelte seine verstreuten Gedanken zusammen. »Also haben wir nicht viel Zeit, wie? Zwei Tage, sagten Sie?«

David nickte. Er hatte den Eindruck, daß der Professor sich Lizas wegen so eingehend nach ihrer Galgenfrist erkundigte. Als Liza sich abrupt umdrehte, wußte er, daß sein Eindruck richtig war.

»Zwei Tage, wenn wir Glück haben«, sagte er. »Der Gründer will sich der Forderung zwar nicht beugen; aber er kann tatsächlich nichts dagegen unternehmen. Nicht gegen Luftlandetruppen, die im äußersten Fall von der Regierung eingesetzt werden können. Und sie warten ja nur darauf, daß sie an uns ein Exempel statuieren dürfen.« Er nahm Professor Krawschensky beim Arm. Er hatte genug geplaudert. Schließlich war er ja Projektleiter. »Ein Wort im Vertrauen, wenn Sie etwas Zeit für mich haben, Professor, ja?«

Sie gingen in das kleine Büro des alten Herrn. Liza interessierte sich nicht dafür, was die beiden zu besprechen hatten. Sie arbeitete verbissen weiter. Wenn sie sich bis jetzt noch der Illusion hingegeben hatte, sie könnte das Experiment am Nachmittag noch aufhalten, so konnte sie jetzt jede Hoffnung begraben. Sie konnte nur noch – wissenschaftlich und vielleicht auch menschlich – ihr Bestes geben.

Das winzige Büro erinnerte David an einen Beichtstuhl. Er teilte dem Professor seine Befürchtungen mit, und der Professor hörte geduldig zu. Als David ausgeredet hatte, saß der alte Mann noch eine Weile stumm da. Wahrscheinlich bereitete er, wie das alle Beichtväter tun, irgendeine Ausflucht vor. David wäre am liebsten wieder aufgestanden und gegangen – er hätte schon vorher wissen müssen, daß die Besprechung nur Zeitverschwendung sein würde. Doch an wen sollte er sich sonst wenden?

»Das ist ein altes Argument«, sagte der Professor schließlich und legte die Fingerspitzen gegeneinander, »ein Argument, auf das ich keine positive Antwort geben kann. Alles, was Sie sagen, ist wahr. Trotzdem …« Er runzelte die Stirn und verdrehte die Augen nach oben, so komplex war das Rätsel, das er David erläutern wollte. »Trotzdem geht man ein großes Risiko ein, wenn man die Logik einer Disziplin auf eine andere Disziplin überträgt. Nehmen wir zum Beispiel das zweite thermodynamische Gesetz. Dieses wohlbekannte Gesetz, das Prinzip der Entropie, besagt, daß in jedem System eine Ordnung aus den Fugen gerät, wenn sie nicht von etwas aufrechterhalten wird, das von außen auf das System einwirkt. Ein allgemeiner Grundsatz, der offenbar selbstverständlich ist – bis man ihn auf das Leben anwendet und alle lebenden Wesen überhaupt. Dann wird aus diesem Grundsatz barer Unsinn. Auf dem Gebiet der lebendigen Formen sehen wir Strukturen, die seit zahllosen Generationen ihre festen Formen und Funktionen beibehalten haben.«

Er ließ eine lange Pause verstreichen. Das war seine Trumpfkarte – seine einzige –, und er wollte sichergehen, daß man sie gründlich betrachtete. Draußen im Labor schwirrte und ratterte inzwischen der Bohn-Computer und rechnete für Liza die Mathematikaufgaben eines Jahres in zwei Sekunden aus.

»Wir machen also die Erfahrung, mein lieber Projektleiter, daß ein unumstößliches Gesetz auf dem einen Gebiet auf einem anderen Gebiet wieder ein vollkommener Unsinn sein kann. Wir wissen eben so wenig … und über die Natur des Chronos wissen wir so gut wie nichts.«

»So?« David war wütend auf sich selbst, weil er sich an einen Strohhalm geklammert hatte.

»Mein lieber Freund; wenn Sie meiner Logik nicht gefolgt sind …«

»Natürlich bin ich ihr gefolgt. Sie haben gesagt, Sie wissen es nicht.«

»Eine begreifliche Einstellung, finden Sie nicht auch? Auf einem Gebiet der Wissenschaft, die erst seit drei Jahren existiert, ist eine andere Einstellung gar nicht möglich.« Ein geduldiges Lächeln, ein leises, bedauerndes Zucken der schütteren Augenbrauen. »Wir Wissenschaftler werden so oft der Arroganz beschuldigt. Doch da sitzen Sie und beschweren sich, wenn ich ein vollkommen menschliches, bescheidenes Geständnis meiner Ignoranz ablege.«

Das war natürlich so manipuliert, eine so rhetorische Schaumschlägerei, daß David sich darauf jede Antwort sparte. Er stand auf. Er hätte gar nicht erst fragen sollen.

»Ein bißchen Wagemut und Sinn für das Abenteuer, Projektleiter. Eine Bereitschaft, das kalkulierte Risiko auf sich zu nehmen – ist denn das wirklich zu viel verlangt?«

Nein, nein, es war nicht zuviel verlangt. Er hatte wirklich schon gehen sollen, ehe er seine Schwächen bloßgelegt hatte. Vielleicht hatte er früher mal einen Sinn für Abenteuer besessen (nicht auf der Universität – schon früher, als er auf dem Fahrrad seines Bruders den Berg von Leckhampton hinuntergefahren war). Bestimmt besaß er diesen Sinn heute nicht mehr. Und was das kalkulierte Risiko anlangte – würde Liza heute nicht seine Geschlechtspartnerin sein, wenn er ein einzigesmal ein kalkuliertes Risiko eingegangen wäre?

»Vielen Dank, Professor. Eine heilsame Erinnerung. Ich konnte sie wirklich gebrauchen.« Er ging zur Tür und drehte sich dann noch einmal um. »Ich freue mich schon darauf, das Experiment heute nachmittag als Zeuge miterleben zu dürfen, Professor. Ein historischer Augenblick. Wenn ich vorher keine Gelegenheit mehr habe, Sie noch zu sprechen – viel Glück.« Den Projektleiter kosteten Komplimente nichts. »Und nochmals vielen Dank.«

Er ging rasch hinaus, den Kopf abgewendet, als er Liza passieren mußte, die Treppe hinunter in die steilen, strengen Schatten der Dorfstraße. Die hochstehende Sonne betonte die festgefügten Formen ihres kleinen Reiches: Jedes Haus, jede Mauer, jeder Pflasterstein besaß Dauer, Gewicht und seinen Raum. Astern blühten in den Gärten und riesige, gelbe Sonnenblumen. Sie versprachen Beständigkeit im Wandel, ein Hochsommer folgte dem anderen. Rauch stieg steil in die stille Luft aus dem Schornstein hinter Josephs Backstube. David fuhr mit der Hand über das weiße Steinkraut, das auf einer Gartenmauer wuchs. Wie lange würde es sich hier noch halten können. Wenn das Dorf von der Regierung aufgelöst wurde oder sich in die Zukunft versetzen ließ – wie lange würde diese Ordnung im Wandel der Zeit noch erhalten bleiben?

Wenn Liza und ihr Team später hierher zurückkehren durften, würden sie das tun. Und die Stetigkeit gehörte ja zum Wesen des Menschen. Sie ruhte in ihm, reiste mit ihm, wohin er immer ging. Aber es würde nicht leicht sein …

Manny Littlejohn nahm sein Mittagessen in seinem Krankenzimmer ein, ein Menü, das Joseph in seiner Küche für ihn speziell zubereitete. Er aß gut, denn seine Verdauung war genauso energisch und zielstrebig wie sein Geist. Margot hingegen war wählerisch und mäklerisch und schob das Essen auf ihrem Teller hin und her, als wäre eine Mausefalle darin verborgen. Manny Littlejohn hatte immer noch Zeit übrig, die schlechten Angewohnheiten anderer Leute zu korrigieren.

»Hat dir denn noch niemand gesagt, daß man Gifte selten sehen kann, Frau?« Er selbst hatte es ihr bisher täglich dreimal gesagt, seit sie verheiratet waren. »Du kannst den ganzen Tag in deinem Essen herumstochern, und du siehst es nicht.«

»Aber, Emmanuel, deswegen stochere ich doch nicht im Essen herum. Du weißt doch, daß ich keine Knorpel leiden kann.«

»Warum keine Knorpel? Die harmloseste Substanz überhaupt? Du ißt doch auch das Blut und die Muskeln. Du ißt das Blut, das ununterbrochen durch das Herz des armen Tieres gepumpt wird. Du ißt die Muskeln, mit denen es herumgerannt ist und sich fortpflanzte. Das alles ißt du – weshalb dann nicht auch die Knorpel?«

Margot schob den Teller von sich. »Ich glaube, ich werde Vegetarierin werden.«

Da sie ihm das mindestens zweimal am Tag androhte, wurde er noch gereizter.

Nach dem Mittagessen wurden Manny Littlejohn und sein Stab (in getrennten Zimmern entsprechend ihrem unterschiedlichen Status) noch einmal untersucht und dann aus der Quarantäne entlassen. Manny Littlejohn kam durch die Vordertür des Krankenhauses. Auf dem Weg durch das Dorf fiel ihm auf, daß die Leute jetzt in größerer Anzahl Kleider trugen als bei seinem letzten Besuch, obwohl die Hitze nicht nachgelassen hatte. Was für eine interessante Nebenwirkung der allgemeinen Unsicherheit, dachte er. Vielleicht könnte er seinem Sozialpsychologen den Auftrag geben, dafür eine Formel auszuarbeiten. Falls sich das noch lohnte.

Sein erster Weg führte ihn zur Unterkunft der Chrononauten. Er haßte zündende Ansprachen – seine Gegenwart sollte als Inspiration genügen. Er plauderte mit den Chrononauten und betrachtete ihre Uhren. Er sprach von den letzten Tagen, die er in London verbracht hatte, von Unruhen, bewaffneten Polizisten, zensierten Zeitungen und erzählte eine lustige Episode von Verkehrsstockungen, die nur aus Kolonnen von Krankenwagen bestanden. Er wurde Rachel Moser vorgestellt und machte ihr Komplimente wegen ihrer schönen Haare. Er fand ein paar freundliche Worte für den Dorfpsychiater. Und um seinen Leuten zu zeigen, daß er sich vor nichts fürchtete und sich wegen nichts schämte, faßte er sogar das »heiße Eisen« Sir Edwin Solomons an.

»Hier hat vor kurzem eine Beerdigung stattgefunden«, sagte er. Wenn ihr Geist wirklich so edel war wie ihr Körper, konnte er sie fast wie Ebenbürtige behandeln. »Leider war das notwendig. Was Sir Edwins Verfehlungen anbelangt, wird Sie der Projektleiter ja schon hinreichend aufgeklärt haben. Ihm können Sie vertrauen. Der Projektleiter, beschränkt und viel zu schwach, um wirklich skrupellos zu sein, ist ein schlechter Lügner und deshalb einer der zuverlässigsten Männer, die ich kenne. Sir Edwin war ein ganz anderer Mensch. Wir brauchten ihn, weil er brillante Eigenschaften hatte, nicht wegen seiner Charakterstärke. Ich wenigstens werde immer mit Respekt und Zuneigung an ihn denken.«

Er verließ die Unterkunft der Chrononauten und ging jetzt, ein wenig langsamer, denn für ihn war es schon ein langer Tag gewesen und er wurde müde, die Fore Street zu der Veterinärstation hinauf, die am oberen Ende des Dorfes neben dem Elektrizitätswerk lag. Er wollte sich persönlich von dem Erfolg mit den größeren und kleineren Säugetieren überzeugen, von dem ihm Professor Krawschensky so begeistert erzählt hatte.

Hinter dem Behandlungsraum und der Chirurgie war ein Zwinger angelegt, der ein paar Käfige aus starkem Maschendraht umfaßte. Diese Käfige enthielten acht Hunde, zwei Katzen und ein großes totes Schaf. Der Veterinär betrachtete es kopfschüttelnd.

»Vor einer halben Stunde war es noch ganz munter«, sagte er. »Ich habe alles überprüft – Temperatur, Blutdruck. Pulsfrequenz, nachdem es sein Mittagsfutter bekommen hatte.«

»Ist Ihnen nichts aufgefallen?«

»Eine leichte Müdigkeit vielleicht. Das kann man bei Schafen immer schlecht sagen.« Der Veterinär zögerte und fuhr dann fort: »Wirklich bedauerlich. Das Forschungsprogramm machte gerade so zügige Fortschritte.«

»Ein unnötiger Todesfall ist immer ein bedauerlicher Fall.« Manny Littlejohn schielte an seiner Nasenspitze vorbei. »Aber ich verstehe nicht, was dieser Kadaver mit dem Forschungsprogramm zu tun haben soll.«

»Aber – Gründer! Dieses Schaf hat sich in chronomischer Einheit befunden! Und jetzt, vierundzwanzig Stunden später, ist es tot. Natürlich …«

Der Gründer drehte sich um und wendete sich den anderen Käfigen zu. Hoffentlich machte der Mann ihm jetzt nicht noch Schwierigkeiten.

»Sind Sie sicher, daß der Übertritt in die chronomische Einheit den Tod des Schafes verursacht hat?«

»Natürlich nicht. Nicht in einer so frühen Phase. Ich müßte …«

»Sagen Sie mal, Doktor -«, der Titel konnte als Schmeichelei oder als leise Drohung aufgefaßt werden, »gibt es nicht sehr viele Ursachen, an denen ein Schaf sterben kann? Ursachen, die nicht das geringste mit der chronomischen Einheit zu tun haben?«

»Natürlich gibt es sie. Trotzdem …«

»Wie viele solcher Ursachen gibt es?«

»Das ist eine unmögliche Frage, Sir. Selbstverständlich eine große Zahl. Ich kann Ihnen sofort acht Hauptursachen aufzählen, an denen Schafe täglich sterben.«

Manny Littlejohn blieb stehen. Sie standen jetzt neben einem Käfig, in dem ein schwarzer Kater und eine lohfarbene Katze untergebracht waren. »Acht natürliche Todesursachen, Doktor? Und nur eine unnatürliche Todesursache? Wenn also die natürlichen Todesursachen in so überwältigendem Verhältnis überwiegen, ist es dann nicht vernünftig, auf einen natürlichen Tod zu schließen, wenigstens so lange, bis Sie eindeutige Beweise für das Gegenteil haben?«

»Sir? Bitten Sie mich vielleicht darum …«

»Ich bitte Sie um gar nichts. Ich deute Ihnen nur an, daß jede Meldung von Ihnen über diesen Todesfall verfrüht wäre, solange Sie nicht eine gründliche Autopsie durchgeführt haben. Manche Leute würden es unverantwortlich nennen, wenn Sie anders handeln würden.«

»Aber die Autopsie kann bis zu fünf Stunden dauern, Sir!«

Richtig, dachte Emmanuel Littlejohn. Er lehnte sich gegen den Maschendraht und starrte auf die beiden Katzen hinunter. Die lohfarbene Katze wusch sich ausgiebig das Fell, während der Kater gelangweilt mit einem Ping-Pong-Ball spielte.

»Auch zwei Versuchstiere, Doktor?«

»Richtig. Und schon etwas länger zurückliegend als das Schaf. Trotzdem …«

»Sehr normal in Aussehen und Verhalten, möchte ich sagen. Sie nicht? Und alle diese Hunde … Wenn man sie alle zusammenrechnet, Doktor, würde ich behaupten, daß Sie keinen sehr starken Beweis gegen die chronomische Einheit besitzen, um ihr den Tod des Schafs anlasten zu können.«

»Ich glaube, ich verstehe, was Sie von mir verlangen, Sir.«

Der Gründer beugte sich vor und tätschelte den Veterinär freundlich am Arm, wie alte Männer es öfters zu tun pflegen. »Ich möchte, daß Sie Ihre Arbeit tun, mein Junge. Führen Sie sofort Ihre Autopsie durch. Und melden Sie mir so rasch wie möglich das Ergebnis. Ich werde den ganzen Nachmittag im Labor bei Professor Krawschensky verbringen.« Er tätschelte noch einmal und wechselte dann das Thema, um seinen Abgang nicht so abrupt zu vollziehen. »Ich sehe, daß die Käfige entweder mit P oder mit N beschriftet sind. Vielleicht können Sie mir erklären, was das bedeuten soll?«

»Es handelt sich hier um zwei verschiedene Methoden von Zeitschrittmachern, Sir. Die nukleische und die peripherische.«

»Das klingt so schrecklich technisch … Und wie ich sehe, teilen sich noch vier Hunde und diese schwarze Katze hier mit dem verstorbenen Schaf auf die Käfige mit N auf.«

»Die Hunde sind erst kurze Zeit hier, Sir. Sie sind erst vier oder fünf Stunden wieder aus der chronomischen Einheit heraus.«

»Und unser schwarzer Freund hier?«

»Nein, Sir, die beiden Katzen hier haben ihr Experiment bereits sechsunddreißig Stunden überlebt.«

»Ausgezeichnet, junger Mann, ausgezeichnet.« Er bückte sich mühsam und rüttelte am Maschendraht des Käfigs, in dem die schwarze Katze eingesperrt war. Die Katze bewegte die Schwanzspitze, reagierte aber sonst nicht auf den Annäherungsversuch des Gründers. »Muschi, muschi, muschi …« Wenn die Menschen Narren aus sich machten, war das ausschließlich ihr Problem. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, wiederholte der Gründer noch einmal und bewegte sich mit steifen, arthritischen Schritten aus dem Zwinger.

Doch draußen auf der Fore Street wurde er sofort wieder zum großen, denkwürdigen alten Mann, der energisch einherging und auf zivile Weise die vielen Dorfbewohner grüßte, die aus den Fenstern schauten. Er hatte es eilig, ins Labor zu kommen, um einen interessanten, langen Nachmittag zu erleben. Rachel Moser meldete sich pünktlich um zwei Uhr fünfundvierzig zum Dienst. Liza war ihr dankbar, daß sie ein schlichtes, rotes Kleid angezogen hatte. Schließlich gehörte es zu ihren Pflichten, den Professor vor allen Zerstreuungen und äußeren Ablenkungsmanövern abzuschirmen. Sie hatte sich längst mit ihrer abgeschlossenen Welt abgefunden, mit ihren chronomischen Koordinaten, den Formeln für Brennweiten, den Methoden der elektro-chronomischen Schrittmacher. Für sie war Rachel Moser nur ein Körper, den sie wiegen mußte, eine Zellstruktur, die sie auf eine Formel bringen mußte. Wie bei jeder anderen wissenschaftlichen Errungenschaft war auch hier am Anfang ein Risiko dabei. Es war ihre Pflicht, dieses Risiko so klein wie möglich zu halten.

Sie gab Rachel Moser letzte Instruktionen. »Sie sitzen hier, auf diesem Stuhl. Sie brauchen sich nicht ganz still zu verhalten. Die Brennweite der Beschleuniger ist groß genug, daß sie einen gewissen Bewegungsspielraum vertragen können.«

Das Mädchen setzte sich gelassen auf den Stuhl. Einen Moment lang wurde sie für Liza ein Individuum, eine Persönlichkeit, die entweder sehr vertrauensselig oder sehr tapfer war. Liza spürte einen Moment lang, daß sie diese Person nicht als Versuchsobjekt mißbrauchen konnte, daß sie es nicht fertigbrachte, sie in die unergründliche Leere zu werfen. Doch die Worte fehlten ihr, um ihr das zu sagen. Sie wären maßlos gewesen, und Maßlosigkeit war Liza Simmons vollkommen fremd. Deshalb drückte sie Rachel Moser nur die Hand und prüfte dann die Position ihres Stuhls auf der Startbühne.

»Sie kennen die Routine, Rachel. Hier sind Ihre Ohrstöpsel. Stecken Sie sie nicht eher in die Ohren, bis ich es Ihnen sage. Was wir jetzt von Ihnen dringend brauchen, sind Ihre vollkommen subjektiven Reaktionen. Wir wollen alles haben, was Sie vom Augenblick an empfinden, denken, erleben, wenn die Maschinen eingeschaltet werden, bis zu dem Moment, wo Sie von der Bühne wieder heruntersteigen. Nichts ist so unwichtig, nichts ist so klein, daß wir es nicht wissen wollen. Kapiert?«

Das Mädchen blickte zu ihr hoch. »Wir haben den Start und alles andere über ein Jahr lang geprobt«, sagte sie. »Und der stellvertretende Ausbildungsleiter hat uns dafür noch ein paar nützliche Tricks verraten.«

Stimmen und Geräusche klangen am Eingang des Labors auf. Liza legte die Hand über die Augen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen, und sah, daß zwei neue Gäste eingetroffen waren: David Silberstein und Dr. Meyer. Der Gründer blieb auf seinem Stuhl am Fenster sitzen, und Professor Krawschensky trippelte nervös von Konsole zu Konsole und wieder zurück. Liza hoffte im stillen, daß er nichts mehr anfassen würde. Die Werte waren alle eingestellt, die Daten überprüft und noch einmal überprüft. Sie wendete sich wieder Rachel zu.

»Ich muß Sie jetzt verlassen. Ich werde die Fernsehkamera so einstellen, daß Ihre Kollegen und Kolleginnen in der Unterkunft Ihren Start mitverfolgen können. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Und denken Sie daran: Sie brauchen keine Angst zu haben. Das Verfahren ist genau erprobt worden.« Genau erprobt? Kaum erprobt. Überhaupt nicht erprobt. »Seien Sie also unbesorgt.«

Und dann war sie selbst überrascht, als sie Rachel Moser zum Abschluß kurz umarmte. Über ihr schlug die Wanduhr die neunte Stunde, neun Fanfarenstöße aus einer kombinierten Autohupe. Die tatsächliche Zeit war drei Minuten vor drei.

»Angst?« sagte Rachel Moser leise, »ich habe keine Angst. Ich vertraue Ihnen, Liza. Der Gründer leidet an Altersparanoia. Der Professor ist ein besessener Neurotiker. Der Projektleiter ist ein Waschlappen. Aber Ihnen vertraue ich, Liza. Sie würden mich hier nicht sitzen lassen, wenn mir etwas passieren könnte.«

Heute stimmt das nicht, Mädchen. Vergangene Woche vielleicht, aber nicht heute. Nicht nach der Nacht mit Roses. Traue niemand, Rachel Moser. Sie werden dich alle früher oder später enttäuschen und dich auffressen … Liza lächelte auf das Mädchen hinunter. So viel Bildung, so viel Ausbildung, so viel blindes Vertrauen.

Sie ging von der Startbühne herunter und stellte die Fernsehkamera ein. Dann schaltete sie auch noch die Mikrophone zu, damit die Kameraden in der Unterkunft mithören konnten. Schließlich durchquerte sie den Raum und ging zu Dr. Meyer, um ihn ebenfalls in die Sache hineinzuziehen und ihm die unschuldige Außenseiterrolle an der Tür zu verderben.

»Da sitzt sie, Dr. Meyer. Sie können noch eine abschließende Untersuchung vornehmen.«

»Das ist erledigt, Miß Simmons. Die Leute vom Ausbildungsstab haben sie peinlich genau untersucht, ehe sie hierhergeschickt wurde.« Er sprach mit leiser Stimme. »Mein Auftrag ist, danach die Überreste einzusammeln. Wenn es überhaupt noch Überreste gibt.«

»Haben Sie so wenig Vertrauen zum Professor?«

»Ich habe immerhin eine wissenschaftliche Ausbildung genossen, Miß Simmons. Ich weiß so gut wie Sie, wann ein Forschungsprojekt überstürzt vorangetrieben wird.«

Er behielt also seine Außenseiterrolle bei. Auch konnte sie das Gespräch nicht fortsetzen, denn von draußen drangen die Geräusche von Gewehrsalven in das Labor. Liza trat ans Fenster. Ein kleines ziviles Hovercraft-Fahrzeug kam rasch den Pill heraufgefahren. Als es sich dem Kai näherte, nebelte es sich ein.

»Diese Idioten«, sagte der Projektleiter hinter Lizas Rücken, »können sie es denn gar nicht abwarten? Wissen sie denn nicht, daß wir spätestens in zwei Tagen sowieso schließen müssen?«

»Sie wollen eben gewaltsam eindringen, solange das noch geht«, erwiderte Liza. »Treibjagd auf Wissenschaftler ist ja inzwischen zum Nationalsport geworden.«

Er starrte sie einen Moment lang an. Sie war noch so jung und doch schon so verbittert, dachte er, während die Spannung zwischen ihnen etwas abebbte. Oder waren nicht die Jungen immer verbittert? Welche intelligente Person war denn nicht verbittert? Er drehte sich um, ging rasch zum Telephon und rief Sergeant Cole an.

»Operation 3f, wenn ich richtig informiert bin, Sergeant Cole. Standardverfahren. Ich bin hier im Labor, falls Sie mich brauchen sollten. Und machen Sie es so unauffällig wie möglich – wir haben heute hier ein ganz besonderes Experiment. Sagen Sie den Leuten Bescheid. Sagen Sie ihnen, falls heute nachmittag hier alles gutgeht, können sie nach dem ursprünglichen Evakuierungsplan das Dorf sicher verlassen. Vielleicht schon morgen abend. Ehe das Ministerium hier einmarschiert.«

Er schaltete ab und blickte zum Gründer hinüber, um nach der Tat die Erlaubnis einzuholen. Der Gründer nickte leise und blickte auf die Uhr. David tat es ihm nach und sah, daß es eine Minute vor drei Uhr war. Liza verteilte gerade Ohrenstöpsel. David behielt sie noch in der Hand. Er wollte hören, wie sich das Gefecht am Kai entwickelte. Die Sicht aus dem Laborfenster war schlecht, der Kai hinter einer Gruppe von kleinen Bäumen und dem spitzen Dach der Polizeistation versteckt.

Die Nebelwand des Hovercraft-Fahrzeuges löste sich auf und trieb die Fore Street hinunter. David konnte die Sicherheitsbeamten bei der Arbeit sehen, Männer in Gasmasken, die eine Barrikade errichteten. Sie war für Notfälle gedacht und wurde unter Hochspannung gesetzt. Das Hovercraft-Fahrzeug gehörte zu einer Flotte von Mietfahrzeugen, die einer Gruppe von Abenteurern in Mevagissy gehörte. Sie wurden hauptsächlich dafür gebraucht, um Drogen auf die Insel zu schmuggeln. Er hatte davon gehört, daß Teenager den Eigentümern Leihgebühren zahlten, wenn sie damit eine kleine Rundfahrt veranstalten durften. Das war eine neue Art Nervenkitzel, eine Art Sport an Wochenenden und Feierabend. Für solche jungen Leute, die Abenteuer um jeden Preis suchten, war die Hetze auf Wissenschaftler genau das Richtige. Es kostete zwar ein bißchen mehr, aber dafür war die Sache auch dufte. Er hoffte, daß Sergeant Cole ihnen den Nervenkitzel verschaffte, den sie suchten.

Hinter ihm fing die Elektronik zu jaulen an. Er drehte sich um, beobachtete die Startvorgänge, die inzwischen für ihn zur Routine geworden waren. Eigentlich sollte er heute besonders hochgespannte Erwartungen haben. Schließlich war Rachel Moser der erste Chrononaut, das erste menschliche Wesen, das sich in die chronomische Einheit begab. So ein hübsches Mädchen in so einem hübschen Kleid. Doch seine Erwartungen waren eher schlaff, und er mußte sogar ein Gähnen unterdrücken. Seine Gedanken wanderten zu Roses, zu den Kratzern an dessen Armen und Beinen und der fadenscheinigen Behauptung, eine Katze hätte ihm das angetan. Das muß ein Biest gewesen sein – verrückt mußte es gewesen sein, wenn es ihn so zugerichtet hatte. Wahrscheinlicher war es, daß Liza ihm in der Wut ihrer Leidenschaft diese Biß- und Kratzwunden beigebracht hatte. Das Jaulen wurde unerträglich, und David Silberstein steckte sich die Ohrenschoner in die Ohrmuscheln.

Rachel Moser flackerte wie zahllose Stühle, Kaffeekannen, gestickte Pantoffel und echte viktorianische Standuhren vor ihr geflackert hatten. Wie acht Hunde, zwei Katzen und ein Schaf vor ihr geflackert hatten. Im Moment des Flackerns zeigte sich keine Veränderung ihres Gesichtsausdrucks, kein Anzeichen von Schmerz, Freude oder Überraschung. Sie flackerte nur und verschwand erwartungsgemäß. Zuerst sah man sie noch, und im nächsten Moment nicht mehr. Und die Implosion, die sie verursachte, war so stark, daß die Laborfenster erzitterten, und man den Knall noch hören konnte, obwohl draußen eine Handgranate aus dem Hovercraft geworfen wurde und die Beschleuniger noch schrecklich jaulten. Die Startbühne war plötzlich sehr leer. Die Apparate folgten ihrem Programm und stellten sich selbst ab. An dem Hauptcomputer verkündete eine Leuchtschrift: START O.K.

Manny Littlejohn konnte von seinem Platz aus die Leuchtschrift zuerst erkennen und bedauerte, daß keiner sich die Mühe gemacht hatte, dem Computer das Sprechen beizubringen. Er war der erste, der sich im Laboratorium wieder bewegte, und das Knacken seiner Gelenke schien in der bedrückenden Stille einem berstenden Stuhl vergleichbar. Er war auch der erste, wie es seiner Position zukam, der das Wort ergriff.

»Zumindest der Anfang des Experimentes«, sagte er mit milder Stimme, »scheint ausgezeichnet gelungen zu sein. Aber meine Glückwünsche will ich noch ein wenig aufschieben. Wie lange müssen wir warten, bis der Wiedereintritt in unsere Zeit stattfindet?«

»Fünf Minuten.« Obgleich der Gründer die Frage nicht an Liza gerichtet hatte, gab sie ihm jetzt die Antwort. Der Gründer drehte ihr das Gesicht zu. Wenn sie einen Protest anmelden wollte, war er dankbar dafür, da sie, typischerweise, so lange damit gewartet hatte, bis es zu spät war. »Fünf Minuten, Sir. Es wird fast auf die Sekunde genau sein. Wir haben das nukleische Verfahren angewendet, weil es präziser arbeitet.«

Der Gründer überhörte nicht – konnte gar nicht überhören –, wie einzigartig sie das vorletzte Wort betont hatte. »Sie deuten an, daß Sie mit diesem Verfahren nicht einverstanden sind, Miß Simmons.« Er war etwas interessiert. Schließlich mußte er sich fünf Minuten lang die Zeit vertreiben. »Präziser arbeitet, haben Sie gesagt. Präziser als was?«

Professor Krawschensky drängte sich jetzt vor Liza. »Achten Sie nicht auf sie, Gründer.« Er war wütend, obwohl das die Umstände doch gar nicht rechtfertigten. Manny Littlejohns Interesse war jetzt erheblich größer. »Sie hat sich eine Theorie zusammengebastelt, daß das nukleische Schrittmacherverfahren die Zellstrukturen zu stark beansprucht. Das ist reine Spekulation. Es gibt nicht den geringsten Beweis dafür.«

»Mein lieber Igor, was Sie als Spekulation abtun, ist oft nur Instinkt, der auf strenger Logik beruht, sich aber nur im Unterbewußtsein äußert. Ich respektiere so etwas.« Manny Littlejohn legte eine Pause ein. Doch ehe der Professor sich eine passende Antwort zurechtgelegt hatte, fuhr er fort: »Sagen Sie mir, Igor – welches Verfahren haben Sie verwendet, als Sie das Experiment mit dem Schaf durchführten?«

»Das ist mein Beweis, Gründer. Wir verwendeten das nukleische Verfahren. Und das Schaf hat dabei nicht den geringsten Schaden davongetragen.«

Manny Littlejohn zuckte die Achseln und hob beide Hände. »Sie haben hier die Verantwortung, Igor. Sie müssen natürlich das tun, was Sie für richtig halten.«

Es war ein Gegenangriff, der die Sieger von den Besiegten säuberlich trennen sollte. Doch die Wirkung seiner Worte, die in dem stillen Labor drohend nachhallen sollten, unterstrichen von dem Kampflärm draußen im Dorf, wurde verdorben. Denn in diesem Moment platzte Roses in das Labor hinein, eine große tote schwarze Katze unter den Arm geklemmt.

Er kam rückwärts herein und schimpfte: »Verdammte Idioten! Knallen einfach so in der Gegend herum!« Er tastete eifrig an sich herum und entdeckte ein Loch im Hemd, zum Glück an einer Stelle, wo es sich am meisten bauschte. »Verdammte Idioten!« wiederholte er noch einmal mit Nachdruck.

Erst jetzt drehte er sich um, wohl spürend, daß der Raum hinter ihm voller Leute war. Beim Anblick so vieler hochgestellten Figuren – Liza, David Silberstein, Dr. Meyer, Professor Krawschensky, Manny Littlejohn – verrauchte sein Unmut ziemlich rasch.

»Wußte nicht, daß hier etwas los ist. Wollte nur den Professor sprechen. Wußte nicht, daß hier etwas los ist …«

Er sah die Leute der Reihe nach an und scharrte verlegen mit den Füßen.

Lizas erste Reaktion war Ekel und Abscheu. (Seit jener Nacht im Krankenzimmer hatte sie es immer so einrichten können, daß sie Roses nicht einmal zu Gesicht bekam.) Warum trat er immer wieder in ihr Leben und schleppte etwas Totes mit sich herum? Warum schien er immer so verletzt, so tief getroffen? Ihr zweiter Blick galt natürlich der Katze unter seinem Arm. Eine schwarze Katze. Nun, eine schwarze Katze war eine schwarze Katze. Und eine tote schwarze Katze war nur noch eine traurige Karikatur dessen, was sie einmal in ihrem Leben dargestellt hatte. Sie, Liza, hatte keinen Grund, überhaupt keinen Grund, zu vermuten, es könne sich bei dieser toten Katze um die gleiche schwarze Katze handeln, die sie vor knapp zwei Tagen auf der Bühne mühsam gebändigt und festgeschnallt hatte. Sie hatte keinen Grund, das zu vermuten; doch sie wußte sofort, daß es die gleiche Katze war. Und jetzt war sie tot.

»Warum hast du die Katze hierher gebracht?« fragte sie. »Wir wollen sie hier nicht haben. Bringe sie sofort wieder weg!«

»Ihr stellt mit Tieren Sachen an, daß sie sterben. Das ist nicht recht.«

»Unsinn. Das ist nicht eines von unseren Versuchstieren. Die Katze, die wir verwendet haben, ist lebendig und wohlauf. Geh doch zum Veterinär, wenn du mir nicht glauben willst!«

»Erinnerst du dich nicht mehr, daß die Katze ausgerissen ist? Erinnerst du dich nicht, wie sie im Garten herumgesaust ist? Immer im Kreise herum? Erinnerst du dich …«

»Verschwinden Sie!« David Silberstein konnte Roses nicht mehr länger ertragen. »Sie sind ein Störenfried! Verschwinden Sie und lassen Sie sich hier nicht mehr sehen!« Es kamen jetzt Dinge zur Sprache, die er nicht mehr hören konnte. Für die er selbst verantwortlich war. »Hinaus, sagte ich! Gehen Sie zurück in Ihr Loch!«

Doch vom Gründer kam der Gegenbefehl: »Nein, warte!«

Zwei Worte, nicht besonders laut oder befehlend gesprochen, die absolute Autorität dadurch nur bestätigend. Keiner rührte sich. Der Gründer war jetzt ausgeruht. Er erhob sich von seinem Stuhl und ging fast leichtfüßig auf Roses zu. Er betrachtete den Kadaver und sagte: »Ein hübsches, junges Tier. Offenbar unverletzt und auf der Höhe seiner Lebenskraft.« Dann, über die Schulter: »Ein Opfer der nukleischen Schrittmacher, Igor?«

»Bestimmt nicht, Gründer. Sie haben gehört, was Liza gesagt hat. Alle unsere Versuchstiere sind …«

»Können wir uns in dieser traurigen Auseinandersetzung nicht wenigstens die Wiederholungen sparen, Igor?« Der Gründer seufzte und blickte auf die Uhr. Draußen im Dorf verebbte der Gefechtslärm. Die Sicherheitsbeamten hatten mit ihrer fahrbaren Barrikade die Angreifer zum Strand zurückgedrängt. Ein bewaffneter Eindringling, der fast bis zum Labor vorgedrungen wäre, war tot. Der ganze Spuk hatte keine fünf Minuten gedauert. Der Gründer verglich seine Armbanduhr mit der Uhr am Hauptcomputer. Die letzten dreißig Sekunden von Rachel Mosers »Zeitreise« waren angebrochen.

»Ein historischer Augenblick, Igor. Ich hatte mir so gewünscht, daß wir beide auf diesen Moment stolz sein könnten.«

In einem zeitlosen Irgendwo (Irgendwo?) begannen die nukleischen Schrittmacher in Rachel Mosers Zellstrukturen sich zu regen. Sie reaktivierten den angeborenen Brems- oder Puffermechanismus, so daß Rachel Moser langsamer wurde, dem chronomischen Fluß Widerstand leistete, in das irdische Gleichgewicht zurückgerissen wurde. In dem Augenblick, als die Schubkraft ihrer Molekularstrukturen gegen den stetigen Strom der Chronoküle genau der Schubkraft des irdischen Universums entsprach, tauchte sie wieder auf der Bühne auf, pünktlich bis auf eine Hundertstelsekunde.

Sie saß hübsch und bescheiden auf ihrem Stuhl, der Gesichtsausdruck noch genauso wie vorhin, ohne Zeichen von Schmerz, Vergnügen oder Überraschung. Sie war sich nicht bewußt, daß inzwischen fünf Minuten verstrichen waren, weil es für sie diesen Zeitraum nicht gab. Sie war jetzt genau fünf Minuten jünger als alle Menschen, die im gleichen Moment wie sie geboren worden waren.

Und dieser Moment der »Zeitlosigkeit« ging jetzt natürlich zwangsläufig vorüber. Andere Momente folgten, brachten Verwirrung, brachten Schmerzen.

»Kopf.« Sie runzelte die Stirn, hob die Hände, preßte sie gegen die Schläfen, schloß die Augen, riß sie wieder ganz weit auf. »Es tut weh – oh, tut das weh …«

Der Arzt stürzte zu ihr. Noch bewegte sich keiner von den anderen Zeugen. Er nahm ihr Handgelenk, kauerte sich vor ihr nieder, blickte ihr in die Augen. Sie erkannte ihn wieder, versuchte zu lächeln.

»Doktor … ich … ich müble und misch mascht … es mascht mich …«

»Sprechen Sie jetzt nicht! Schließen Sie die Augen und entspannen Sie sich. Versuchen Sie nicht zu reden …«

»Esch hilft mir. Esch …« Sie versuchte aufzustehen; aber es gelang ihr nicht. »Doktor, es wird mir mübel – nein – es mascht mich schwimblig. Nein – Sie muschen – muschen -«

Ihre Sprache verlor jetzt jede Form und jeden Zusammenhang. Der Arzt half ihr vom Stuhl hoch. Sie verstummte und lächelte jetzt nur noch, lächelte jeden an, der im Labor diesen historischen Augenblick miterlebte. Sie deutete auf ihren Mund und schüttelte, immer noch lächelnd, den Kopf.

»Mübel«, sagte sie, »mübel?«

Wer sollte diese Frage beantworten können? David Silberstein fing an zu weinen. Wenn Rachel Moser wenigstens nicht dauernd gelächelt hätte. Sie zuckte mit den Schultern, bewegte sich schwerfällig die Stufen von der Startbühne hinunter. Im gleichen Moment läutete das Telephon.

Manny Littlejohn erreichte den Apparat als erster. »Hier spricht der Gründer.«

»Mr. Littlejohn?« Der Tierarzt war am Apparat. Manny Littlejohn schaltete rasch den Lautsprecher ab, damit nur er verstehen konnte, was der Mann ihm zu melden hatte. »Mr. Littlejohn, ich bin mit der Autopsie des Schafes soeben fertig geworden. Ich hatte von Anfang an einen Gehirnschaden vermutet. Deshalb …«

»Ich weiß«, unterbrach Manny Littlejohn, »ich weiß.«

»Schwere Schäden in allen Gehirnsubstanzen, wo die Intelligenz …«

»Ich weiß es. Wir wissen es. Geben Sie mir Ihren Befund schriftlich, ja?«

»Aber, Gründer, ich habe jetzt den Beweis von einem progressiven Zellenzerfall im Gehirn höherer Lebe …«

»Schriftlich, wenn ich bitten darf, junger Mann!« Er seufzte, wappnete sich für einen Nachsatz, den er unbedingt anbringen mußte: »Und außerdem hätten Sie uns das früher mitteilen müssen. Ja. Sofort, als das Tier starb. Jetzt ist es bereits zu spät.« Er fragte sich, ob er dem Tierarzt nicht zu viel zumutete. »Ich weiß zwar noch nicht, wie ich jetzt verfahren werde; aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Ihren Namen vielleicht gar nicht erwähnen müssen. Ja, ja.«

Er hängte ein und drehte sich langsam den anderen zu. Er begegnete Lizas Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Hinter ihr stützte der Arzt Rachel Moser, die immer noch ein verwirrtes, verlorenes Lächeln auf ihrem Gesicht trug. »Der Tierarzt war am Apparat«, sagte der Gründer. »Er hat mir gemeldet, daß das Schaf gestorben ist.«

Er brauchte nichts mehr hinzuzusetzen. Jetzt mußte er bereits an die Folgen dieser katastrophalen Panne denken. Er blickte Rachel Moser nach, die sich nur noch stolpernd vorwärtsbewegte.

»Ich habe den Eindruck«, sagte er dann, »daß die nukleische Methode als brauchbare Lösung den Beweis schuldig geblieben ist. Würden Sie mir in diesem Punkt recht geben, Igor, alter Freund?«

Inzwischen stolperte Rachel Moser die letzten Stufen der Labortreppe hinunter. Sie spürte die Sonne auf ihrem Gesicht und in ihrem Kopf den Anfang einer namenlosen Angst. Sie hängte sich noch fester beim Doktor ein und lächelte ihn an. Lächelte in eine dunkle Welt. Lächelte und nickte, den Kopf ein wenig schief gelegt.