11

Suz befand sich in einer Porträtgalerie. Es ergab nicht den leisesten Sinn. Porträtgalerien waren etwas für Museen, nicht für Wohnhäuser. Sofern man kein König oder so war.

Gibt es Könige in Sunnydale?

Wohl kaum.

Aber wenigstens wusste sie jetzt, woher das seltsame Licht kam, das sie von draußen bemerkt hatte.

Jedes Porträt wurde von zwei langen, zylindrischen Messinglampen beleuchtet, von denen eine oben und eine unten angebracht war. Sie warfen Lichtkreise auf die Leinwand und hoben hier ein Gesicht, dort eine Hand hervor, während der Rest im Schatten lag.

Was ist das für ein Ort?, fragte sie sich.

Obwohl sie hergekommen war, um andere Antworten zu erhalten, trat sie näher. Dies war ihre beste Eigenschaft und gleichzeitig ihr größter Fehler. Das, was bisher niemand bei ihr richtig erkannt hatte.

Ihre Neugierde.

Und sie brachte sie fast immer in Schwierigkeiten.

Es war nicht so sehr der Drang nach Rebellion, der es Suz Tompkins unmöglich machte, sich innerhalb der vorgeschriebenen Bahnen zu bewegen, sondern der Wunsch, mehr über die Natur der Grenzen zu erfahren. Wie weit konnte jemand dazu gebracht werden, sich zu verbiegen?

Es gab nur eine Möglichkeit, dies herauszufinden.

Man musste sich auflehnen, bis das, was einen hemmte, zerbrach. Oder bis man selbst zerbrach.

Von dem angezogen, was an den Wänden hing, trat Suz Tompkins vor das größte der Gemälde. Es war das Porträt eines Soldaten.

Eines Konföderierten, dachte sie. Der Künstler hatte sogar die wehende rote Flagge der Rebellen vor den blauen Himmel im Hintergrund gemalt.

»Stattlich, nicht wahr?«, sagte eine Stimme. Suz Tompkins fuhr zusammen. Sie wirbelte herum und ging sofort in Kampfstellung.

Gibt es irgendeine Grenze für meine Dummheit?, fragte sie sich.

Sie war Buffy mehrere Blocks weit gefolgt und in das Haus eingebrochen, in dem sie verschwunden war, nur um dann ihren Rücken ungeschützt zu lassen. So viel zur Neugierde. Sie hatte schon manchen ins Verderben gestürzt.

Und sie kann auch mich ins Verderben stürzen.

Aber natürlich würde sie nicht kampflos abtreten.

Die Frage war, würde sie kämpfen müssen? Mit zusammengekniffenen Augen studierte Suz die Frau vor ihr.

Sie war groß, so viel stand fest. Aber sie sah aufgeschwemmt und teigig aus. Sie war gekleidet, als wäre sie gerade von einem Begräbnis oder aus der Oper gekommen. Ganz in Schwarz, mit Perlen behangen. Suz wusste bereits, dass diese Frau sich leise bewegen konnte. So leise, dass sie nicht einmal gehört hatte, wie sie in den Raum gekommen war.

Wann hatte sich zum letzten Mal jemand an sie heranschleichen können? Suz konnte sich nicht erinnern. Es musste schon Jahre her sein.

Die Frau sah nicht aus, als würde sie sie angreifen wollen. Sie stand einfach nur da. Sie ist nicht gefährlich, dachte Suz. Auch wenn sie ziemlich massig ist. Wenn ich muss, kann ich sie erledigen.

Sie entspannte sich ein wenig. Rede mit ihr. Finde heraus, was sie will, dachte sie. Sie hatte sich schon aus einer Menge Schwierigkeiten herausgeredet. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass sie es in diesem Fall nicht auch schaffen würde. Außerdem musste sie davon ausgehen, dass die Frau etwas von ihr wollte, oder sie hätte längst Alarm geschlagen.

Suz wandte sich wieder dem Porträt zu und verlagerte ihr Gewicht auf die Fersen für den Fall, dass sie rennen musste. Ihre Stimme klang ruhig, als sie nun sprach.

»Ich mag Männer in Uniform. Wer war er?«

Die Frau trat zu ihr. Suz machte einen gleitenden Schritt zu Seite, aber die Frau in Schwarz traf keine Anstalten, ihr zu folgen. Sie stand nur da und betrachtete das Porträt.

»Mein Gatte. Aber ich vergesse meine Manieren«, fuhr sie fort, ehe Suz eine Antwort auf ihre Erklärung einfiel. »Erlaube mir, mich vorzustellen. Ich bin Zahalia Walker.«

Sie streckte ihre Hand aus.

»Suz Tompkins«, murmelte Suz. In was habe ich mich da nur hineingeritten?, dachte sie. Und wie konnte sie aus diesem Schlamassel wieder herauskommen?

Sie schüttelte die Hand der älteren Frau. Ihre Finger waren weich und schlaff wie eine Hand voll kalter Spaghetti.

»Aha«, machte Suz. »War das dann das Halloweenkostüm Ihres Mannes?«

»Sei nicht albern«, fauchte Zahalia Walker. Ihr Akzent war der einer Südstaatlerin, aber ihr Ton klang genau wie der von Suz’ Mutter, wenn sie wegen irgendetwas sauer war. Was oft genug passierte.

Genau das, was ich brauche. Einen Anschnauzer von Miz Scarlett.

»Wir haben das Porträt kurz nach seiner Einziehung anfertigen lassen. Es wurde einen Tag fertig, bevor er zur Armee ging.«

»Und das war...?«

»Achtzehnhunderteinundsechzig.«

Ich musste ja unbedingt fragen, nicht wahr?

Sie tat es schon wieder. Stellte zu viele Fragen. Warum konnte sie nicht ein einziges Mal den Mund halten?

Entweder war diese Frau total verrückt, oder sie war eine erstklassige Schauspielerin, die irgendeine skurrile Show abzog. Soweit Suz es beurteilen konnte, meinte sie es absolut ernst. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht hatte sich nicht im Mindesten verändert.

Erinnern Sie mich daran, Sie nie zu fragen, ob Sie mit mir eine Runde Poker spielen, dachte Suz. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie und diese Frau sich näher kamen, war ohnehin gering.

»Seine Ernennung zum Offizier war der stolzeste Moment in seinem Leben«, fuhr Mrs. Walker fort. Sie wandte ihren Blick von dem Porträt ab und sah Suz an. Ihre Augen waren plötzlich durchdringend. »Außer der Geburt unserer Söhne natürlich.«

Suz bekam plötzlich eine Gänsehaut.

Söhne?

Tu es nicht, warnte sie sich. Frag nicht. Du willst es gar nicht wissen.

Oh, und ob sie wollte. War dies nicht der Grund, warum sie Buffy überhaupt gefolgt war?

»Zwillinge?«, hörte sie sich laut sagen.

»Ja, in der Tat«, antwortete Zahalia Walker. Ihr Südstaatenakzent wurde noch stärker. Sie lächelte und entblößte einen Mund voller glänzender weißer Zähne. »Kanntest du meine Jungs?«

Kanntest, horchte Suz auf. Vergangenheitsform. Was in aller Welt hatte Buffy getan?

»Ich glaube nicht.«

»Oh, aber ich denke schon«, konterte Zahalia Walker. Sie trat einen Schritt näher. Suz wich zurück. »Ich denke, deshalb bist du auch heute Nacht hierher gekommen. Du bist gekommen, um die Jägerin anzufeuern. Ich werde dich nicht fragen, wie du hereingekommen bist. Es spielt auch keine Rolle. Die Tatsache, dass du hier bist, könnte man als Verstoß gegen die Regeln der Prüfung ansehen. In diesem Fall hätte ich bereits gewonnen.«

Prüfung? Augenblicklich gesellte sich zu Suz’ Gänsehaut ein kalter Schauder. Diese Frau war verrückt.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Wirklich nicht?«

Zahalia Walker lächelte erneut. Dann, bevor Suz auch nur blinzeln konnte, packte sie mit einer Hand ihren Ellbogen. Hart. Sie entdeckte, dass die fleischigen weißen Finger, die sich vor einem Moment noch so kraftlos angefühlt hatten, plötzlich so stark zufassen konnten, dass es schmerzte.

Suz schlug mit dem freien Arm nach ihr, doch die Verrückte packte ihn wie den anderen und hielt ihn fest.

»In diesem Fall gibt es sehr viele Dinge, von denen du nichts weißt, Schätzchen«, sagte Zahalia Walker.

Vor Suz’ entsetzten Augen wölbte sich die Stirn der Frau nach vorn und ihre Augen wurden gelb. Ihre Zähne wurden... etwas, das Suz gar nicht näher betrachten wollte.

Solche Dinge existieren nicht. Sie können nicht existieren.

»Aber du wirst sie erfahren«, flüsterte Zahalia Walker durch ihre langen, spitzen Zähne. »Das verspreche ich.«

In Ordnung. Was jetzt?

Buffys schwere Stiefelschritte hallten durch den Keller, während sie ihn erforschte. Sie bewegte sich an der Kellerwand entlang. Ihre linke Hand hielt die Fackel, während ihre rechte über das Mauerwerk strich. Sie hatte sich entschlossen, umsichtig vorzugehen.

Das Ganze erinnerte sie ein wenig an den Eignungstest, den sie in der Grundschule gemacht hatte. Nur dass dieser Test totalen Körpereinsatz verlangte.

»Wenn du herausfinden sollst, was innerhalb dieser Form war, was würdest du tun?«, hörte sie in ihrer Erinnerung die Schulpsychologin fragen. Sie konnte sich auch daran erinnern, dass sie den gelben Nummer-Zwei-Bleistift in die Hand genommen und die Umrisse des Dreiecks wieder und wieder nachgezogen hatte. Von innen nach außen.

Übersieh nichts. Finde deine Mom.

Unglücklicherweise hatte sie bis jetzt nur Staub gefunden. Und noch mehr Dunkelheit.

Wie lange bin ich schon unterwegs?

Buffy ging jetzt schneller. Die Finger ihrer rechten Hand kratzten über die Kellerwand. Sie hielt ihre Fackel etwas höher und nach vorn, um weiter in die Dunkelheit hineinsehen zu können. Sie spitzte die Ohren, horchte angestrengt. Das Gefühl, sich beeilen zu müssen, wurde mit jedem Schritt stärker.

Mom! Wo bist du?

»Mom!«, rief sie wieder. »Mom, antworte mir!«

Keine Antwort. Stille.

Buffy kam an eine Ecke und bog nach links. Rannte los.

Warum konnte ihre Mutter nicht antworten? War sie verletzt? Lag sie im Sterben? Was war, wenn Buffy sie nicht rechtzeitig fand?

Wenn sie versagte. Scheiterte.

Hör auf damit!, sagte sie sich grimmig. Hör bloß auf damit.

Jetzt war nicht die Zeit für Selbstzweifel. Dem konnte sie sich in jeder anderen Nacht der Woche hingeben, drüben im Bronze.

Warum kann das Leben nicht einfach sein? Nur dieses eine Mal? Warum musste es immer so hart sein? Warum genügte es nicht, einfach ein paar Vampire zu pfählen? Damit kam sie immer zurecht. Sie wünschte sich im Moment nichts sehnlicher als das.

Unversehens griffen die Finger von Buffys rechter Hand ins Leere, als sich der Keller plötzlich verbreiterte. Buffy reagierte instinktiv, fuhr herum und suchte mit der rechten Hand nach der Wand.

Bevor sie jedoch irgendetwas berührte, tauchte aus der Dunkelheit eine andere Hand auf, packte ihr Handgelenk und zog sie vorwärts.

»Nein!«, keuchte Willow.

Angel warf einen Blick in das bleiche Gesicht des Rotschopfes und entschied, dass es genug war. Er nahm Giles beiseite.

Sich an Giles zu wenden entsprach nicht unbedingt seinem größten Wunsch, aber wenn es jemand gab, der gelernt hatte, wann es Zeit war, seine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, dann er.

»Mir gefällt das nicht«, sagte er mit leiser Stimme. »Es bringt uns nicht weiter. Wir quälen uns nur selbst damit. Ich glaube nicht, dass sie noch länger durchhalten kann.«

»Nun ja, ausnahmsweise muss ich Ihnen zustimmen«, nickte Giles. »Die Frage ist, können wir Willow dazu bringen, den Zauber abzubrechen? Ich muss Ihnen ja nicht sagen, wie halsstarrig sie sein kann.«

Nein, das müssen Sie nicht, dachte Angel. Willows Entschlossenheit im Angesicht der Gefahr hatte ihn mehr als einmal beeindruckt.

»Was ist mit Oz?«

»Guter Gedanke...«

»Okay!«

Bei Xanders enthusiastischem Ausruf wandten Angel und Giles ihre Aufmerksamkeit der Gruppe am Kamin zu.

»Es war ein Vamp«, erklärte er. »Sie hat ihn gepfählt. Damit steht’s zwei zu null für uns. Was macht ihr beide da drüben? Ihr verpasst die besten Sachen. Wir können die Szenen schließlich nicht wiederholen.«

»Das ist kein Spiel«, erinnerte Angel. »Nicht für Buffy.«

»Sag bloß!«, schoss Xander sofort zurück. »Du musst nicht so tun, als wüsstest du alles, nur weil du älter bist.«

»Hört auf damit!«, rief Willow, während sie weiter in die Schüssel starrte. »Streitet euch nicht. Es macht alles nur noch schlimmer. Mein Kopf... er tut so weh.«

»Willow«, sagte Giles drängend. Er trat näher und kniete sich neben sie. »Ich weiß, dass du auf Buffy aufpassen willst, aber bist du sicher, dass du weitermachen sollst? Der Zauber hat dir bereits viel Kraft geraubt. Weiterzumachen könnte... deinem Verstand schaden.«

Willows Augen lösten sich keinen Moment von dem Bild der Jägerin. »Wenn Buffy weitermachen kann, kann ich es auch.«

Kein fairer Vergleich, dachte Angel.

»Will«, sagte Oz. »Buffy ist die Jägerin. Du bist es nicht. Du kannst dich nicht mit ihr vergleichen. Du solltest auf Giles hören.«

»Später«, stieß Willow mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Noch nicht. Bitte, Giles.«

»Nun gut«, seufzte Giles. »Aber das nächste Mal hörst du auf mich.«

»Was ist das?«, fragte Xander plötzlich.

»Es sieht aus wie...«, begann Oz.

»Nein, das ist unmöglich«, fiel ihm Willow ins Wort.

»Es ergibt keinen Sinn«, sagte Angel.

Giles schnaubte. »Seit wann spielt das eine Rolle?«

In der Luft über dem Wasser formte sich das Bild von Cordelia Chase.

»Ich weiß, was Sie sind«, sagte Suz. »Sie sind ein Vampir.«

Sie versuchte, die Nerven zu behalten, aber es fiel ihr schwer. Zuerst war sie an den Haaren ins Wohnzimmer gezerrt worden. Jetzt fesselte das Wesen, das sich selbst Zahalia Walker nannte, sie ans Sofa.

»Sehr gut«, sagte Zahalia, als sie den Strick mit einem letzten, brutalen Ruck festzog. Suz versuchte zu ignorieren, dass er die Blutzirkulation in ihren Beinen abschnürte. Die Vampirmutter grinste und entblößte dabei diese wahrhaft abscheulichen Zähne. »Hast du Angst?«

Was glaubst du wohl?

Suz war schließlich nur ein Mensch. Was mehr war, als sich von dem Ding sagen ließ, das drohend vor ihr stand.

»Ich bin eher angewidert. Genau wie von Ihren Jungs.«

»Rede nicht so über meine Söhne«, fauchte Zahalia Walker. »Sie waren gute Jungs.« Ein lauernder Ausdruck trat in ihre gelben Knopfaugen. »Sie waren gut zu mir«, fuhr sie fort. »Sie haben immer ihr Essen nach Hause gebracht, um ihrer Mutter etwas abzugeben. Die letzten beiden waren dir erstaunlich ähnlich. Vielleicht waren es Freundinnen von dir.«

Suz spürte, wie sie am ganzen Körper zu zittern begann. Wut, Abscheu, Grauen überkam sie. Sie hatte Recht gehabt. Sie hatte es gewusst. Leila und Heidi waren tot. Aber nicht einmal in ihren schlimmsten Träumen hätte sich Suz vorstellen können, dass sie auf diese Weise enden würde.

Was war es für ein Gefühl, wenn einem das Blut ausgesaugt wurde?

Jetzt war nicht gerade der beste Zeitpunkt, ihrer Neugierde nachzugeben, sagte sich Suz. Vor allem, da es nur zu wahrscheinlich war, dass sie es bald herausfinden würde.

»Ich werde es genießen, dich sterben zu sehen«, sagte sie. »Wenn Buffy dich nicht tötet, werde ich es tun.«

Die Vampirmutter warf ihren Kopf zurück und gab ein brüllendes Lachen von sich. »Und wie willst du das machen? Nein, nein. Verrat’s mir nicht. Ich liebe gute Überraschungen. Das ist der einzige Grund, warum du noch am Leben bist, Schätzchen. Du bist meine kleine Überraschung für die Jägerin. Und die Überraschung wird natürlich sein, dass du am Leben bist.«

Oh, Gott, dachte Suz. Sie zerrte an ihren Fesseln.

Die Vampirmutter lachte erneut. Sie griff nach Suz’ Kopf und hielt ihn fest.

»Kein Angst, es wird nicht wehtun«, versprach sie.

Suz spürte, wie sich etwas Spitzes und Heißes in ihren Hals bohrte.

Und dann schlug Dunkelheit über ihr zusammen.