19

Es war so still in Van Leeuwens Büro, dass die Stille selbst zum Lärm wurde. Sie war lauter als die Geräusche aus den anderen Räumen, das Telefonklingeln, das Rattern der Faxgeräte und die Gesprächsfetzen, die vom Korridor hereindrangen.

»Zheng Wu ist ein Serientäter?«, fragte Inspecteur Vreeling endlich überrascht.

»Nicht Mijnheer Wu, sondern der Mörder von Gerrit Zuiker«, erklärte der Commissaris. Er ließ seinen Blick über die Gesichter von Hoofdinspecteur Gallo, Brigadier Tambur und Inspecteur Vreeling wandern. Sie saßen oder standen vor seinem Schreibtisch, auf einem Stuhl, am Fensterbrett und wirkten wie in einem Film, der gerade angehalten worden war. In der Bewegung erstarrt, Julika mit dem obligaten Coffee to go in der Hand, Remco mit einem Muffin, von dem er eben zum zweiten Mal abgebissen hatte. Julika betrachtete Van Leeuwen aufmerksam, genau wie alle anderen, ohne den Hauch einer Vertraulichkeit; im Dienst verhielt sie sich absolut professionell, egal, was sonst in ihr vorging.

Gallo verschränkte die Arme vor der Brust: Abwehr und Skepsis. »Zen oder das Geschenk nächtlicher Erleuchtung?«, fragte er. Jetzt bewegten sich auch die anderen wieder: Remco kaute weiter, das Muffin-Papier knisterte, Kaffee wurde durch den Strohhalm vom Becherboden geschlürft.

»Zen oder die Kunst der Pathologie«, sagte der Commissaris. »Auf einer Tulpenfarm in der Nähe von Haarlem ist eine Frau ermordet worden, eine gewisse Heleen Soeteman, und zwar auf dieselbe Weise wie Gerrit Zuiker – Tod durch Ersticken mittels einer Plastiktüte oder etwas Ähnlichem. Doktor Holthuysen ist nach Haarlem gefahren und hat sich das Opfer angesehen, und danach hat er mich angerufen.«

»Aber wie ist Holthuysen auf diesen Pfad der Weisheit gelangt?«, hakte Gallo nach, weiter skeptisch, die Arme noch immer fest verschränkt.

Zen oder der Weg des Doktor Holthuysen: »Sie kennen mich, Mijnheer Van Leeuwen«, hatte er am Telefon gesagt, »die Vorstellung, dass es nur Ihrer Sturheit zu verdanken war«, ein tiefer Seufzer, »oder nennen wir es Ihren Instinkt«, ein hörbares Schmunzeln, die höchste Anerkennung, zu der Holthuysen fähig war, »also, was ich sagen will – beinahe wäre Mijnheer Zuiker geöffnet oder ungeöffnet an seinen Absender zurückgegangen, mit dem Stempel Herzversagen oder ungeklärte Todesursache, und niemand hätte gemerkt, dass es sich in Wirklichkeit um Mord gehandelt hat. Das hat mir keine Ruhe gelassen, nicht eine Sekunde, vor allem, weil Polizisten wie Sie ja nicht gerade am Fließband hergestellt werden, Mijnheer van Leeuwen.«

»Was bedeutet das – Polizisten wie ich?«, hatte Van Leeuwen gefragt, neben seinem Tisch im Grand Café Ier Klas stehend, Julikas Augen fragend auf sein Gesicht gerichtet.

»Das Salz von Amsterdam«, erklärte Holthuysen.

»Aber wenn das Salz seinen Geschmack verliert, wer wird es salzen?«, hatte Van Leeuwen gemurmelt, doch der Pathologe war ihm umgehend in die Parade gefahren:

»Sie haben nichts von Ihrer Würze verloren, bilden Sie sich nichts ein, nur weil Sonntag ist und Sie am Grab Ihrer Frau waren.« Ein tiefes, tadelndes Grummeln. »Ach, da fällt mir ein, man munkelt, der Hoofdcommissaris will, dass Sie sich auf die Couch von Doktor Menardi legen – waren Sie schon da?«

»Nein. Ich gehe auch nicht hin.«

»Schade. Würde mich interessieren, wie das so ist, wenn eine schöne Psychologin einem an der Seele herumfummelt.«

»Sie können sich ja selbst einen Termin geben lassen.«

»Nicht nötig, danke, mit meiner Würze ist auch alles in Ordnung.« Der Doktor schmunzelte offenbar wieder. »Obwohl es bestimmt Spaß machen würde herauszufinden, wer mit seinem Besteck tiefer in den anderen hineingucken kann, sie oder ich …!« Aus dem Schmunzeln wurde fast ein Kichern, bevor Holthuysen sich abrupt zur Ordnung rief. »Also, jedenfalls habe ich eine Mail an alle Kollegen in ganz Holland geschickt, ihnen den Fall Gerrit Zuiker geschildert und gebeten, sich doch bei Gelegenheit noch mal alle Todesfälle der letzten Jahre vorzunehmen, bei denen eine Autopsie durchgeführt und auf ungeklärte Todesursache, Herzversagen oder Tod durch Ersticken erkannt worden war – außerdem alle anderen, bei denen ihnen vielleicht irgendwas komisch vorgekommen ist. Ich wollte, dass sie überprüfen, ob es sich um künstlich herbeigeführten Atemstillstand gehandelt haben könnte – natürlich nur, soweit das noch möglich ist. Und siehe da, Doktor Adrian Book in Haarlem war der Erste, der sich daraufhin gemeldet hat. Aber ich bin fast sicher, dass es noch mehr Fälle gibt, die in der Vergangenheit nicht als Morde erkannt und daher auch nie aufgeklärt worden sind. Moment mal …«

Holthuysen zündete sich eine unsichtbare Zigarette an, dann fuhr er fort: »Falls es sich also tatsächlich um einen Serientäter handeln sollte, hat er ziemlich schnell wieder zugeschlagen, sehr schnell, was darauf schließen lässt, dass der Druck, den er verspürt, größer wird. Man müsste vielleicht herausfinden, wann er vor Gerrit Zuiker das letzte Mal getötet hat, in welchem zeitlichen Abstand. Und ob er sich bislang nur auf Amsterdam und Umgebung beschränkt oder in ganz Holland tätig geworden ist, vielleicht sogar in ganz Europa. Ich warte da noch auf weitere Nachrichten von den anderen Kollegen.«

Van Leeuwen hatte die Kälte seines Blutes bis ins Herz gespürt, es schien zu Eis geworden zu sein. »Sie glauben, da kommen noch mehr?«

»Bei einem derart kurzen Abstand fast zwangsläufig«, ein Rascheln am anderen Ende der Leitung, wahrscheinlich nickte der Pathologe, »weitere Opfer in der Vergangenheit und weitere in der Zukunft, bis Sie ihn stoppen. Ach, noch was: Diese junge Frau in der Nähe von Haarlem – Heleen Soeteman – hätte sowieso nicht mehr lange gelebt. Ihre inneren Organe waren fast völlig vom Krebs zerfressen, die Knochen genauso. Wenn ich witzig sein wollte, würde ich sagen, sogar der Krebs hatte schon Krebs.«

»Aber wann wollten Sie je witzig sein?«, hatte Van Leeuwen erwidert und geistesabwesend zugesehen, wie Julika aufstand und schon vorging zur Tür, beobachtet von den Kellnern, dem Kakadu und der Frau mit dem roten Brillengestell.

»Sie muss unter unerträglichen Schmerzen gelitten haben. Der Mörder hat ihr in gewisser Weise einen Gefallen getan«, ergänzte der Pathologe.

»Aber Gerrit Zuiker war doch gesund, oder?«

»Soweit man Gesundheit bei einer Autopsie feststellen kann, ja. Zumindest körperlich.«

Jetzt im Büro ging Gallo zum Fenster und sah hinaus auf die Straße und die Gracht vor dem Fenster, unter dem klaren blauen Herbsthimmel. »Vielleicht waren es zwei verschiedene Täter, die nur zufällig nach dem gleichen modus operandi vorgegangen sind«, meinte er.

»Innerhalb von nur einer Woche?«, fragte Julika. »So häufig ist das auch nicht gerade: Mord mit einer Plastiktüte.«

»Und was machen wir, wenn der Doc recht hat?«, wollte Inspecteur Vreeling wissen. »Wenn es wirklich noch mehr Opfer gibt, die bisher unentdeckt geblieben sind?«

Der Commissaris sagte: »Dann identifizieren wir sie, weisen sie dem Täter zu und stellen ihn, bevor er noch mehr umbringt. Ungesühnte Morde unterminieren die Berechenbarkeit des Zusammenlebens. Das lasse ich nicht zu.«

»Willst du eine Sonderkommission zusammenstellen?«, fragte Gallo und gab seine Abwehr auf, indem er die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans schob.

»Dafür ist es noch zu früh«, sagte der Commissaris. »Erst will ich ganz sichergehen, dass es sich um ein und denselben Täter handelt und dass es noch mehr Opfer gibt.«

Julika betrachtete die Spitzen ihrer Stiefeletten. »Glauben Sie, es ist ein Verrückter, Mijnheer?«

»Jeder Mörder ist verrückt«, sagte der Commissaris leise, »und zwar in dem Moment, in dem er zum Mörder wird. Selbst wenn er sonst ganz und gar normal zu sein scheint, im Augenblick der Tat ist er es nicht mehr, und vielleicht nur in diesem einen. Den Verrückten erfindet die Polizei bloß, um Fahndungspannen zu überschminken. Und wenn das irgendwann nicht mehr hinhaut, heißt es, es handelt sich um ein Superhirn

»Was ist eigentlich aus diesem Turnlehrer geworden – Pieter Hoekstra? War das nicht unser Verdächtiger Nummer eins?«, fragte Inspecteur Vreeling.

»Weil wir dachten oder es für möglich hielten, dass er ein Motiv hätte«, antwortete Gallo, »nämlich den Mann seiner Geliebten aus dem Weg zu schaffen. Aber warum sollte er eine sowieso schon todkranke junge Frau in Haarlem umbringen?«

»Ist er denn inzwischen wieder aufgetaucht?«

»Schon am nächsten Tag nach unserem Besuch in der Schule«, erklärte Gallo. »Er hat sich erst bei Margriet gemeldet und dann bei uns. Wir haben ihn eingehend verhört, aber er hat sehr glaubhaft gemacht, dass sein Verschwinden eine Kurzschlussreaktion war, weil er annahm, alles spräche gegen ihn. Aber wenn du willst, kannst du gern sein Alibi für die Zeit des zweiten Mordes überprüfen.«

Der Commissaris betrachtete das ausgeblichene Poster der letzten wirklich großen Mannschaft von Ajax Amsterdam an der Wand gegenüber seinem Schreibtisch, als könnte sich unter den monochromen, von der Sonne gebleichten Spielern der Mörder verbergen, nach denen sie suchten: ein ebenso farbloser Mann mit einem Durchschnittsgesicht, aber fähig zu blutig leuchtenden Taten. An der Pinnwand neben dem Poster hingen mehrere Fotos von Gerrit Zuiker, schwarz-weiß und farbig, in der Gasse, in der Van Leeuwen ihn gefunden hatte, und auf dem Tisch der Pathologie. Von Jun Wu gab es nur eine Aufnahme, mit Blitzlicht in der kleinen Wohnung am Zeedijk geschossen.

»Sie sehen finster aus, Commissaris«, stellte Vreeling fest. »An was denken Sie gerade?«

»Ich plane die Weltherrschaft«, brummte Van Leeuwen. Dann stand er entschlossen auf. »Wir fahren nach Haarlem, zu der Tulpenfarm. Ich möchte mir den Tatort ansehen und mit den Kollegen und Hinterbliebenen der Toten sprechen.«

»Solltest du nicht vorher mit den Kollegen von der Politie Kennemerland reden?«, regte Gallo an. »Du kennst da doch jemanden in Haarlem Noord.«

»Stimmt, das sollte ich, du hast vollkommen recht«, meinte der Commissaris, griff zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei in Haarlem Noord. »Verbinden Sie mich mit Teamchef Sinnege«, bat er, als am anderen Ende abgehoben wurde. Er wartete, bis er weiterverbunden worden war, dann sagte er: »Jan, hallo, Bruno hier, vom Hoofdbureau in Amsterdam. Ihr habt da einen Fall, der mich interessiert.«

»Hallo, Bruno – ich habe mir schon gedacht, dass ich bald von dir höre«, sagte Hoofdinspecteur Sinnege. »Was willst du wissen?«

»Diese tote Frau«, sagte Van Leeuwen, »Heleen Soeteman – die letzte Woche ermordet worden ist … es war doch letzte Woche? Am Freitag?«

»Genau, Freitagmorgen wurde als Todeszeitpunkt festgestellt – Freitag, der dritte Oktober, zwischen sieben und neun Uhr.«

»Wie weit seid ihr da inzwischen?«

Sinnege antwortete nicht, und deswegen beeilte Van Leeuwen sich hinzuzufügen: »Ich frage das, weil wir hier bei unserem Opfer – Gerrit Zuiker, der eine Woche früher, am sechsundzwanzigsten September, ermordet worden ist – überhaupt nicht weiterkommen. Ich dachte, ihr könntet uns vielleicht ein bisschen helfen.« Er sah, wie Ton Gallo, Julika und Inspecteur Vreeling befremdete Blicke tauschten, und zuckte mit den Schultern. Tut mir leid, der Zweck heiligt die Mittel. »Habt ihr Zeugen? Was für Hinweise gibt es am Tatort? Und Verdächtige – wie sieht es mit Verdächtigen aus?«

»Keine Zeugen«, berichtete Sinnege jetzt bereitwillig, »und keine Verdächtigen. Sie war so früh am Morgen allein auf der Farm; ihre Kollegen kamen erst später. Gefunden wurde sie um kurz nach neun, und die Kollegen gingen von einer natürlichen Todesursache aus. Als der Doc uns darüber informierte, dass es sich um einen Mord handeln könnte, war für meine Leute nicht mehr viel zu holen. Trotzdem konnte der Technische Dienst auf dem Feld einen Fußabdruck isolieren, der keinem von den Tulpengärtnern gehörte, ein Stiefelabdruck Größe dreiundvierzig, Gummistiefel mit grobrippigen Sohlen. Wenn der Täter die getragen hat, kam er aus einem Birkenwäldchen am Rand der Farm und ging über die Felder zu dem Gewächshaus. Aber in dem Wald hatte sich der Boden längst wieder erholt.«

»Und der Täter kann keiner von Heleens Kollegen gewesen sein?«, hakte der Commissaris nach.

»Nein, von denen hat keiner ein Motiv und jeder ein Alibi, das wir schon überprüft haben.«

»Was ist mit der Familie, den Verwandten und Freunden?«

»Heleen Soeteman lebte allein, in einer Einzimmerwohnung, und soweit wir wissen, hatte sie keine Familie. Geschieden. Keine Eltern mehr und keine Kinder. Auch keine Freunde bis auf einen, einen jungen Tankwart – Pim Verhoeven –, mit dem sie sich gelegentlich getroffen hat.«

»Was ist mit dem geschiedenen Mann?«

»Zwischen den beiden gab es keinen Kontakt mehr, schon seit Jahren nicht. Er heißt Alex Carlsen und lebt irgendwo anders, in Den Haag oder Utrecht.«

Der Commissaris ließ seinen Blick durch sein Büro wandern – von dem zerkratzten Aktenschrank unter dem Ajax-Poster zu der Topfpalme in der Ecke und zurück zu seinem Schreibtisch –, während er überlegte, wie er die nächste Frage möglichst geschickt formulierte. »Sag mal, Jan«, fiel er dann doch einfach mit der Tür ins Haus, »hättest du etwas dagegen, wenn ich mich selbst mal ein bisschen bei euch umsehe, am Tatort und in der Wohnung des Opfers? Und mit diesem Pim Verhoeven würde ich auch gern sprechen …«

»Wonach suchst du denn?«, fragte Sinnege, jetzt deutlich reservierter, zurück.

Der Commissaris dachte: Eine gute Frage. Wonach suche ich überhaupt? Er betrachtete das Durcheinander auf seinem Schreibtisch: Da lagen die Akten zu den Fällen Zuiker und Wu, aber auch zu den wichtigsten Fällen der anderen Dezernate, Amtshilfeersuchen, Klageanträge, Verhörprotokolle, Tatort-Polaroids, außerdem die Berichte des Labors, des Pathologen und der Spurensicherung, sein aufgeklappter Terminkalender und die Liste der im Dienstbuch verzeichneten Vorkommnisse der vergangenen Nacht – ein Raubüberfall auf eine Agip-Tankstelle in der Nähe des ne Mo, ein Handtaschenraub in der Metrostation Van der Madeweg, ein halbes Dutzend Schlägereien auf den Wallen. Ein Wirtschaftsanwalt war tot in seiner Wohnung an der Panama-Laan gefunden worden, Herzstillstand, der Fernseher lief noch; zwei Afrikaner ohne Einreisepapiere hatten sich bei den Oosterdokks der Festnahme entzogen; auf einer Polizeiwache in Slotervaart hatte ein Jugendlicher zwei Streifenpolizisten mit einem Messer lebensgefährlich verletzt, und bei Verkehrskontrollen waren den Agenten mehrere betrunkene Scooterfahrer ins Netz gegangen, eine ganz normale Nacht in Amsterdam also.

Der Commissaris sagte: »Ich suche nach Parallelen zu unserem Fall hier, nach Beweisen dafür, das es sich um ein und denselben Täter handelt. Nach irgendetwas Ungewöhnlichem, das mir hilft, die ausgetretenen Pfade zu verlassen, auf die wir Polizisten aus Bequemlichkeit so schnell geraten.«

»Wir haben nichts Ungewöhnliches in der Wohnung entdeckt, auch an ihrem Arbeitsplatz nicht.«

»Also auch keine Pistole oder eine andere Waffe?«

»Nein, was sollte eine Frau wie sie denn mit einer Waffe? Sie war krank, und sie wurde getötet. Meinst du, sie hätte sich vielleicht selbst töten wollen?«

Der Commissaris schwieg. Plötzlich fielen ihm die Berichte in den Zeitungen der letzten Woche wieder ein, die Fotos, die Beiträge im Fernsehen, alle über Klaas van der Meer. »Ich würde mir wirklich gern ihre Wohnung ansehen«, sagte er. »Am liebsten noch heute.«

Sinnege räusperte sich. »Meinetwegen«, meinte er. »Komm vorbei, und hol dir den Schlüssel ab. Ich bin bis achtzehn Uhr im Büro.«

»Danke, Jan. Ich fahre sofort los.«

Van Leeuwen legte auf und konsultierte seine Armbanduhr. Es war noch nicht einmal zehn am Montagmorgen. Er lehnte sich in seinem Drehsessel zurück und sah seine Mannschaft an. »Was haltet ihr von Euthanasie?«, fragte er.

»Interessant ist doch eher, was Sie davon halten, Mijnheer van Leeuwen«, sagte eine Stimme hinter ihm, die Stimme einer Frau. Als er sich zur Tür umdrehte, wo die Frau stand, fiel ihm wieder ein, dass Doktor Holthuysen sie als schön bezeichnet hatte, und er dachte, dass ihm selbst dieses Wort nicht als Erstes in den Sinn gekommen wäre. Aber wie sie da so stand, an den Türrahmen gelehnt, musste man sagen: Eigentlich stimmt es, Doktor Menardi ist eine schöne Frau.

Vielleicht war schön auch nicht der zutreffende Ausdruck, zu nichtssagend für jemand, dem mit dem Wort rassig eher Gerechtigkeit widerfuhr? Durfte man den Begriff überhaupt noch verwenden? Doktor Feline Menardi trug einen anthrazitfarbenen Hosenanzug aus Rohseide, dazu einen bordeauxroten Rollkragenpullover, der nur aus Kaschmir sein konnte. Ihre Haare, deren Farbton irgendwo zwischen Kastanie und Ebenholz lag, waren straff zurückgekämmt und zu einem rückenlangen, schlanken Zopf geflochten.

Ganz wunderbar, dachte der Commissaris, für ein Phantombild wäre sie einfach zu beschreiben: die tiefbraunen Augen, leicht mandelförmig geschnitten, und der schwache Olivton der Haut, die hoch angesetzten Wangenknochen: wahrscheinlich indonesische Vorfahren. Für die Lippen musste man Rot und Haselnuss mischen, etwas kräftiger noch, etwas voller, so, genau, und die Figur – mittelgroß, aber ideal für eine Frau knapp über vierzig. Da stand also diese Frau, stützte sich mit einem Arm, nur mit der Elle, in Kopfhöhe am Türrahmen ab und fragte: »Warum interessieren Sie sich für Sterbehilfe, Mijnheer?« Sie lächelte nicht. Sie sagte: »Ich hätte Sie auch anrufen können, um einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren, aber wir hatten ja bisher noch nie miteinander zu tun, und den ersten Eindruck gewinne ich gern von Angesicht zu Angesicht, außerhalb meines Büros. Der Hoofdcommissaris hat mich gebeten …«, sie unterbrach sich, immer noch nicht lächelnd, »oder komme ich gerade ungelegen?«

»Leider«, griff der Commissaris diese Vorgabe dankbar auf, »vollkommen ungelegen. Ich muss sofort weg.« Er stand auf, fuhr in sein Sakko und scheuchte Gallo, Vreeling und Julika mit einem Nicken aus dem Raum, in der Hoffnung, sie würden die Psychologin einfach von der Schwelle spülen. Doch die wich ihnen geschickt aus und trat zurück in die Tür, bevor auch Van Leeuwen an ihr vorbeischlüpfen konnte.

»Wann passt es Ihnen denn besser?«, erkundigte sie sich.

»Zu Sinterklaas, am fünften Dezember.« Auch er lächelte nicht. »Oder an Silvester.«