In dem Verhältnis zwischen Peter, dem geduldigen, schweigsamen Beobachter, und Declan, dem konzentrierten und geschickten Arbeiter, kam es nach und nach zu merklichen Veränderungen. Es blieb bei der gemeinsamen Mahlzeit, die sie, nebeneinander auf der Steinmauer sitzend, einnahmen. Declan drängte dem schüchternen, aber aufgeschlossenen Jungen ein Stück Brot auf und sorgte dafür, dass er eine Hälfte von dem frisch gebackenen Kornfladen vertilgte, den ihm Witwe Quinn täglich einpackte. Auch Speck, kaltes Schweinefleisch oder Hähnchenschenkel wurden brüderlich geteilt, und dazu fehlte es nicht an Frischem aus dem Burggarten – Lauch, Zuckerschoten, Rüben und Tomaten, soviel sie wollten. Mrs Sweeney oder Mrs McCloud hatte sich dazu durchgerungen, ihnen zu gestatten, sich selbst zu bedienen. Und das taten sie nach Herzenslust. Als sie das Lauch schon fast vertilgt hatten, wurden zum Glück gerade die Tomaten reif, und die waren so saftig und fleischig, da musste man einfach zulangen.
Trotzdem sprachen sie kaum ein Wort miteinander. Es blieb bei Declans etwas barschen, aber nicht unfreundlichen Bemerkungen, dass aus Peter nie ein vernünftiger Dachdecker werden würde, wenn er weiterhin nur so wenig wie ein Vögelchen äße. Doch dann kam der Tag, als Declan anfing, seine Arbeitsgänge zu erklären – wozu die geteerte Schnur gut war und all die anderen Dinge, deren Namen Peter bereits aus seinem Buch kannte.
»Und wenn du siehst, dass es jemand anders macht, dann ist das falsch. Ich weiß, wie es richtig geht, und das sage ich dir jetzt. Damit du für die Zukunft Bescheid weißt.«
»Ja, Mr Tovey. Und vielen Dank auch.«
»Hör auf damit. Ich weiß, du bist ein netter und dankbarer kleiner Bursche. Du brauchst dich nicht ständig zu bedanken.«
»Ja, Mr … Ich wollte nur sagen, ich habe verstanden und werde es nicht wieder vergessen.«
Declan brummelte etwas, was Peter als Zustimmung auffasste.
Dann kam es zur Trennung. Declan hatte sein Tagwerk beendet und warf gerade seinen Beutel auf den Sitz im Lieferwagen, als Peter mit seinem Fahrrad auf den Hof gefahren kam. Er stieg ab, ließ das Fahrrad einfach fallen und rief: »Oh, Mr Tovey, ich hatte schon Angst, Sie könnten fort sein. Nur gut, dass Sie noch da sind.«
»Aber es hält mich hier keine Minute länger.«
»Ich wollte mich nur verabschieden. Und vielleicht darf ich dann jetzt auch ›danke‹ sagen.«
»Das hast du oft genug gesagt. Aber wieso verabschieden? Hast du es dir mit der Dachdeckerei anders überlegt?«
»Nein. Nie im Leben würde ich das tun. Es ist nur wegen meines Vaters in Tipperary.«
»Geht es ihm nicht gut?«
»O nein. Es könnte ihm gar nicht besser gehen. Aber er hat nach mir geschickt. Ich soll dorthin kommen und mit den Pferden arbeiten. In Ballysheen. Er hat sich in den Kopf gesetzt, ich könnte Jockey werden, klein und gelenkig, wie ich bin.«
»Das könnte sich mit den Jahren ändern.«
»Natürlich. Ganz bestimmt. Aber Dad ist nicht davon abzubringen. Ich muss dorthin, mir bleibt nichts anderes übrig. Nach Ballysheen. Zu den Pferden.«
»Vielleicht gefällt es dir.«
»Ganz bestimmt. Da bin ich mir sicher. Warum auch nicht? Ich und reiten, um die Wette mit dem Wind. Und doch bin ich ein Dachdecker. Oder werde es einmal sein. Das weiß ich genau. Wenn ich es nicht schon damals so genau gewusst hätte, als ich herkam, dann weiß ich es jetzt, nachdem ich all das hier bei Ihnen gesehen und gehört habe.«
»Wenn die Schule wieder losgeht und du zurückkommst, werde ich aber hier fertig sein.«
»Das Erste, was ich dann mache, ist, dass ich herkomme und nachschaue.« Peter war ganz aufgeregt, mit einem Meister des Dachdeckergewerbes wie ein Großer reden zu dürfen. Erstrahlte und fragte sich, ob es zu kühn wäre, die Hand auszustrecken und sich per Handschlag zu verabschieden. Mr Tovey hatte sich abgewandt, als ahnte er so etwas, wollte vielleicht jedes Zeichen einer Vertrautheit vermeiden. Er ging zu dem großen Stein, der die Einfahrt in den Hof markierte, setzte sich und zerrte den rechten Stiefel von seinem Fuß. Er wackelte mit dem großen Zeh, der sich durch die dicke Wollsocke ein Loch gebohrt hatte und geradezu vorwitzig herausschaute. Declan tastete das Innere des Stiefels ab, offensichtlich hatte sich ein Steinchen dort eingenistet, und das sollte nun zurück zu seinen Gefährten auf die Straße.
Peter beobachtete den Meister, wie er in dem Schuh herumfingerte, schließlich den Störenfried fand und ans Tageslicht beförderte. Kein Wunder, dass das seine Zeit gebraucht hatte, flach, wie der Stein war und kaum größer als der hervorlugende Zehnagel. Mr Tovey legte ihn neben sich ab. Peter wollte schon fragen, ob er ihn haben könnte, denn von der Form her war er bestens geeignet, ihn am See hinter dem nächstgelegenen Tal über das Wasser springen zu lassen.
Mit einem zufriedenen Grunzen zog der Meister den Stiefel wieder an, nahm den Stein in die Hand und stand auf. Aus einem unerfindlichen Grund rieb er ihn an seiner Jacke hin und her. Für einen kurzen Moment nur sah Peter das Sonnenlicht auf ihm funkeln. Dann hielt der Meister ihm das schöne Stück hin.
Peter zuckte zurück. Wie konnte Mr Tovey ahnen, dass er den Stein gerne haben wollte? Der Meister rieb ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Nie zuvor war Peter aufgefallen, wie rau Declan Toveys Hand war und wie kräftig die Finger. Jetzt hörte der Mann mit der spielerischen Bewegung auf und hielt ihm wieder den Stein hin. »Das ist für dich.«
»Für mich?« Er versuchte, nicht so aufgeregt zu klingen, aber das misslang.
»Habe ich doch eben gesagt. Nun nimm schon.«
»Darf ich wirklich?«
Declan drückte Peter den Stein in die Hand. »Natürlich darfst du.«
Dabei war er so grob wie damals, als Peter das erste Mal gekommen war und ihn gebeten hatte, ihm bei der Arbeit zusehen zu dürfen, weil er doch so gerne selbst einmal Dachdecker werden wollte. »Und du brauchst auch nicht ›danke‹ zu sagen«, fügte Declan hinzu. »Einfach nur nehmen und behalten.«
Peter blickte auf seine Hand. Auch er begann jetzt langsam den Stein zu reiben und erstarrte vor Schreck. »Das ist ja gar kein Stein«, sagte er völlig verwirrt. »Das ist eine Münze. Das ist ja Geld.«
»Und du wirst sie schön behalten. Und vielleicht gibst du sie später einmal einem Lehrjungen, den du als Meister das Dachdecken lehrst – oder deinem Sohn, den du vielleicht einmal haben wirst.«
»Sie … sie gehört jetzt mir?«
»Sie gehört dir.«
»Ich kann doch aber nicht …«
»Du kannst. Es ist deine.«
Peter strich erneut sacht über die Münze und besah sie sich genau. »1785.« Er schaute auf. »Das ist ganz schön lange her«, meinte er leise.
»Sie war seit langem in meiner Familie, ging immer vom Vater auf den Sohn.«
»Aber dann dürfen Sie doch nicht …«
»Doch, doch. Bald wird sie kein Tovey mehr brauchen.«
»Aber … aber … es ist doch Geld.«
»Mit dem man ein furchtbares Unrecht wiedergutmachen wollte. Nicht lange, und das Unrecht wird ein und für allemal wiedergutgemacht, und die Geschichte hat ein Ende. Die Münze wird mich nicht länger an sie erinnern müssen. Die leidige Sache hat bald ein Ende, sogar ein glückliches Ende. Und dann brauche ich die Münze nicht mehr.« Er blickte in Richtung Westen, weit in die Ferne, und seine Stimme klang plötzlich sehr weich. »Ich hätte sie schon früher weggeben sollen. Jemandem, der wie du einmal …« Er hielt inne und drehte sich jäh um, als wollte er sich mit Macht von der ihn schmerzenden Erinnerung losreißen. Er fand zu seinem herben Ton zurück. »Schluss jetzt. Nimm sie einfach und gut ist’s.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Ist auch nicht nötig. Du wirst sie nehmen …«
»Ich … ich … ich …«
»Es bleibt dabei.«
Declan schwang sich in die Fahrerkabine, schob den Beutel zur Seite und schlug die Tür zu. Es war nicht zu überhören. Der Motor sprang an, Declan wendete und streifte dabei fast Peters Fahrrad. Der Lieferwagen schepperte davon. Peter rannte laut rufend hinterher. »Aber … aber … aber …«
Umsonst. Der Wagen war fort.
Er starrte auf die Münze in der geöffneten Hand. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie in die Tasche zu stecken und zu seiner Mutter mit nach Hause zu nehmen. Sie konnte ein bisschen Geld gewiss gut brauchen – falls die Münze nach so vielen Jahren überhaupt noch etwas wert war (dass deren Wert mit der Zeit gestiegen war, ahnte er nicht). Langsam schloss er die Hand, aber nicht ganz, ließ die Münze nicht aus den Augen. Langsam öffnete er den Mund, und langsam machte er ihn wieder zu. Mit der Münze fest in der Faust rannte er vom Burghof und die Straße entlang. »Kommen Sie zurück. Kommen Sie zurück! Sie dürfen das nicht tun! Ich … ich kann nicht. Kann sie nicht behalten. Niemand kann sie behalten. Kommen Sie zurück! Sie müssen es einfach tun. Sie ist nicht für mich. Sie ist für niemanden. Für keinen. Niemals!«
Er hörte auf zu laufen, hielt aber konzentriert Ausschau. Da war die Burgstraße, dahinter die Straße zu sich nach Hause, bergan, bergab und wieder bergan. Keine Autos kamen. Kein Lieferwagen. Niemand. Nichts.
Er trottete zurück zum Hof, stolperte hier und da über Steine. Ohne sich bewusst zu sein, was er tat, hob er die Faust mit der Münze zum Kinn und ließ sie wieder sinken. Wütend trat er gegen die Flügeltür der Großen Halle. Nur unter großer Mühe bekam er sie auf. Er musste Mrs Sweeney finden. Er musste ihr die Münze geben. Sie loswerden. Alles loswerden. Achtsam umging er die Kuhfladen und bahnte sich seinen Weg durch die dicken Strohschichten, die den Kühen als Unterlage dienten, musste sich hier und da aus den Bündeln befreien, wenn er sich in ihnen verhedderte.
Wie um sich ein weiteres Mal zu vergewissern, blieb er stehen und betrachtete die Münze. Ein Sonnenstrahl fiel durch die Fenster der Galerie auf das Metall, so dass das Profil des Monarchen, das in das Gold geprägt war, kurz aufblitzte. Er wollte die Hand wieder schließen, da spürte er eine Bewegung über der linken Schulter. Er drehte sich um und sah hoch.
Von dem großen Kronleuchter baumelten nackte, schmutzige Füße herab, schwangen langsam von ihm weg, dann wieder zu ihm hin. Er stieß einen stummen Schrei aus, die Lungen versagten ihm das Luftholen. Er wollte nach oben schauen, hatte wiederum genug gesehen, glaubte, nicht mehr zu ertragen. Er stürzte zurück zur Tür, rannte diesmal mit voller Wucht gegen das solide Holz, schnellte durch den Rückprall hoch und bekam die Klinke zu fassen. Die Münze grub sich tief in die Hand.
Als er im Hof stand, blickte er hinüber zu den schilfgedeckten Ställen und Schuppen. Die Arbeit war fast getan. Ein Meisterstück. Doch der Meister hatte ihm eine Münze gegeben. Er hielt sie in seiner Hand. Er musste sie wieder loswerden, auch niemand anders durfte sie haben.
Er ging ans andere Ende des Hofes, möglichst weit weg von den Torflügeln der Großen Halle, weg von den frisch gedeckten Ställen. Bei den Sträuchern blieb er stehen. Er packte mit der linken Hand den dornigen Stiel eines Stechginsters und zog und zerrte mit aller Macht, aber die Wurzeln saßen zu tief. Erfolglos machte er kehrt, wollte es mehr am Rande des Hofes versuchen, wo die Erde durch den Regen etwas lockerer war. Mit bloßen und von den Dornen zerstochenen Fingern buddelte er ein Loch, ließ die Münze hineinfallen und schaufelte es wieder zu. Er stand auf, drückte mit dem Schuh die Erde fest und hörte eine Stimme hinter sich.
»Peter? Was in aller Welt treibst du da?«
Er hielt inne, den Fuß reglos auf der festgetretenen Erde. Hinter ihm stand Kitty, amüsiert, neugierig, mit großen Augen und offenem Mund. »Mrs Sweeney … ich meine Mrs Mc …«
»Schon gut, Peter. Kannst ruhig Sweeney sagen, wenn dir das leichter über die Lippen geht. Ich schäme mich nicht dieses Namens und werde immer darauf reagieren. Aber was …«
»Ich … ich … mein Schuh. Ich … ich bin irgendwie in Dreck getreten und versuche gerade, den … na, Sie wissen schon.« Er rutschte mit der Schuhsohle auf dem aufgebuddelten Fleck Erde hin und her. »So, das wär’s. Jetzt … jetzt hab ich’s geschafft. Ich wollte nicht … na ja … das Pedal vom Fahrrad. Aber jetzt ist es okay.« Er tat, als müsse er die Sache überprüfen. Die Schuhsohle war sauber. Ehe Kitty genauer hinsehen konnte, hatte er den Fuß schon abgesetzt.
Sie lachte. »Ein Glück, dass du das Missgeschick los bist.«
Er strebte seinem Fahrrad zu, bemüht, den Abstand zu Kitty möglichst weit zu halten. Um zu verhindern, dass sie weitere Fragen stellte, versuchte er, sie mit einem anderen Thema abzulenken. »Haben Sie schon gehört? Ich gehe nach Ballysheen. Die Pferde. Mein Dad. Meine Mutter, hat sie es Ihnen erzählt? Ich … ich … ich …« Er griff sich das Fahrrad und stieg auf.
»Ist Declan schon fort?«
»Ja.«
»Schon ganz fort für heute?«
»Ja. Hat Schluss gemacht für heute.«
»Und dabei habe ich was für ihn. Na gut, dann eben ein anderes Mal.«
»Ja. Ein anderes Mal.« Er hielt den Lenker fest in den Händen. »Also leben Sie wohl. Auch Mr Tovey … Ballysheen … Leben Sie wohl, Mrs Mc … Mrs Sweeney …« Er hob eine Hand und winkte ihr zu und verlor dabei fast die Balance. Das Vorderrad wackelte gefährlich hin und her, doch er bekam die Sache in den Griff und jagte davon.
Kitty schaute ihm nach. Sein Verhalten erschien ihr merkwürdig. Dann galt ihr Interesse dem Hof, denn insgeheim hoffte sie, Declan doch noch irgendwo zu finden. Zu ihrer Enttäuschung war das nicht der Fall. Sie hatte etwas, das sie ihm gern gegeben hätte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er es annehmen oder ablehnen würde. Es war Michaels Fingerknöchelchen. Sie hatten es damals für ein Knöchelchen von Declans Skelett gehalten, das sie auf der Treppe des Geheimgangs versteckt hatten, über die seinerzeit Priester vor den Häschern der Krone die Flucht ergriffen hatten. Die himmlischen Mächte wollten es, dass zwei Mitglieder der gardaí, Tom und Jim, auf der Suche nach einem entflohenen Häftling per Zufall den Geheimgang entdeckten. Wie um des Himmels Vorsehung ein weiteres Mal in Frage zu stellen, fand Tom das Fingerknöchelchen, das an dem Skelett schon vermisst worden war. Nicht ganz ohne Grund war er sofort davon überzeugt, dass es die heilige Reliquie eines gemarterten Jesuiten war, und hing es an den Rückspiegel des Polizeiautos, das er zusammen mit Jim fuhr. Es würde sie vor Bösem schützen und vor Unheil bewahren.
Kitty hatte es dann in einem unbewachten Augenblick aus dem Auto gestohlen. Tom, völlig entsetzt über den Diebstahl, hatte die Tat sogleich als Sakrileg verdammt. Er beschwor die Dorfbewohner, es zurückzugeben. Als der Übeltäter sich trotz seines Lamentierens nicht reumütig zeigte, wandte er sich an den Priester des Ortes. Ganz bestimmt würde Pater Colavin Verständnis für sein Elend haben und es sich zur Aufgabe machen, die Rückgabe des Fingerknöchelchens zu erwirken. Blitz und Donner würde es von der Kanzel hageln. Drohungen wie Kirchenbann und Exkommunikation.
Pater Colavin hatte ihm geduldig zugehört und ließ Garda Tom jammern, bis er total erschöpft war. Zur Wiederbelebung verabreichte er ihm einen kräftigen Schuss Jameson und versprach zu tun, was in seinen Kräften stand. Die Zusicherung kam aus ehrlichem Herzen, wusste er doch von vornherein, dass wenig oder gar nichts getan werden konnte. Während Tom den Whiskey runterspülte, riet ihm der gute Priester, inbrünstig zu beten, auf dass das Fingerknöchelchen Gottes Gnade erwirke, der Übeltäter Reue empfände und die heilige Reliquie zurückgäbe. Das stand, wie Tom gestehen musste, im Gegensatz zu dem Fluch, den er bereits erfleht hatte, aber er wollte es dennoch versuchen – ein Versprechen, das er nur zaghaft gab und erst, als ein zweiter Schluck Jameson durch seine Kehle geflossen war.
Kitty hatte Tom nicht die Quelle seines Heils und Segens rauben wollen, sie hatte das Knöchelchen an sich genommen, um Declan mit diesem winzigen Überbleibsel seines Lehrjungen zu beglücken. Eine sentimentale Geste, fürwahr, aber der Mann suchte ganz offensichtlich verzweifelt nach irgendeinem Andenken, um in seinem Kummer nicht gänzlich allein zu sein. Wie er reagieren würde, was er tun würde, stand offen, und Kitty unterließ es, sich irgendwelchen Spekulationen hinzugeben.
Declan war erstmal gegangen, aber er würde ja morgen wiederkommen. Die Übergabe musste eben bis morgen warten. Sie beschloss, in den Garten zu gehen und nach einem geeigneten Gemüse für das Abendessen zu schauen. Auf dem Weg dorthin kam sie an der Stelle vorbei, an der Peter seinen Schuh sauber gemacht hatte. Amüsiert schüttelte sie den Kopf. In was mochte er getreten sein? Kuhfladen waren nirgends zu sehen. Und Sly, der Hund, war den ganzen Tag mit den Kühen draußen irgendwo an einem der Abhänge des Crohan. Hühner oder Gänse hatten sie nicht. Das Schwein war fort. Weder ein Fuchs noch ein Wolf waren dagewesen. Warum sollte Peter gelogen haben? Und doch hatte er es offensichtlich getan. Sie unterließ weitere Mutmaßungen und begann, mit der Schuhspitze die Erde zur Seite zu scharren. Allzu tief hatte der Junge nicht gegraben. Sie ging der Sache auf den Grund, kniete nieder und hob mit den Händen mehr von der lockeren Erde aus, die den Jungen so merkwürdig hatte reagieren lassen.
Auf dem zweiten Hügel holte sie Peter mit dem Auto ein. Sie fuhr an ihm vorbei, bremste und hielt das Auto quer zu dem kleinen Bach an, so dass er mit dem Fahrrad nicht vorbeikonnte. Sie stieg aus, ging ihm entgegen und hielt dabei die Münze in die Höhe, damit er von vornherein wusste, weshalb sie ihm den Weg versperrte. Er versuchte, mit dem Rad zu wenden und in die entgegengesetzte Richtung zu fahren, doch Kitty war nahe genug dran und hielt ihn auf.
»Peter! Was ist das? Was hat es damit auf sich?« Sie hielt immer noch die Münze in die Höhe.
»Oh, Mrs Sweeney, bitte nicht! Lassen Sie sie los. Nicht hoch halten. Nicht anfassen. Bitte, bitte!«
Kitty ließ die Münze sinken. »Was ist das? Woher kommt sie? Weshalb hast du solche Angst?«
»Ich … ich weiß nicht. Ich habe es gewusst, aber alles, was ich behalten habe, ist, dass sie niemand anrühren darf. Auch nicht sehen darf.«
Sie schaute in ihre Hand. Dass es eine alte Münze war, wusste sie. Der Goldschimmer war trotz der Jahre noch nicht gänzlich verblichen. Sie entzifferte das Datum. 1785. Ein Blick auf das Profil. George III. »Ich sehe nichts …«
»Dann behalten Sie sie. Nein, lieber nicht. Sie wollen sie gar nicht. Niemand will sie. Niemand könnte sie überhaupt wollen.«
»Aber weshalb?«
»Ich … ich habe es Ihnen gesagt. Ich kann mich nicht mehr erinnern, weshalb. Wirklich nicht. Ich habe es gewusst … und das war’s. Doch jetzt …«
»Woher hast du sie? Hast du sie gefunden? Wo?«
»Mr Tovey. Bitte, fragen Sie mich nicht länger. Ich muss nach Hause. Meine Mutter …«
»Hat er sie dir gegeben?«
»Er hat gesagt … und er … Ballysheen. Die Pferde. Mein Dad. Und er … und er … ich … Selbst wenn … Bitte, geben Sie sie ihm zurück. Sehen Sie zu, dass er sie zurücknimmt. Er … er hat es gut mit mir gemeint. Bitte. Ich muss jetzt heim.«
»O Peter. Peter, Peter. Du wirst sehen, alles wird gut. Manchmal wünschte ich, die Götter würden ihre Gaben für sich behalten. Kannst du mir wirklich nicht sagen, was du gesehen hast?«
»Ich kann es nicht.«
»Aber was hat es mit der Münze auf sich, dass …«
»Bitte. Ich kann mich nicht erinnern. Und ich möchte mich nicht erinnern.«
Kitty berührte seine Schulter. »Also gut«, redete sie ihm sacht zu. »Du hast auf die Münze geschaut, die er dir gegeben hatte. Und dann hast du etwas gesehen?«
»Ja.«
»Etwas, das dich erschreckt hat?«
»Ja … und als ich in die Burg ging … da hat die Münze … sie … sie …«
»Ja?«
»Ich hielt sie in der geöffneten Hand, und da … da …«
»Da?«
»Ihre Füße, direkt über meiner Schulter. Schmutzig und ohne Schuhe, und sie …«
»Du hast sie gesehen?«
»Nur die Füße. Ich konnte nicht …«
»Und es war die Münze?«
»Sie … sie muss es gemacht haben. Davor war ja nichts. Ich …«
»Schon gut. Schon gut. Sprich nicht weiter. Ich hätte nicht so in dich dringen sollen. Es tut mir leid.«
»Aber warum … warum?«
»Du hast es gewusst. Und jetzt weißt du es nicht mehr. So war es vorher auch schon mal … als du meinem Mann und mir erzählt hast, wie es kommt, dass wir …«
»Brid und Taddy sehen? Waren das … waren das ihre Füße … ihre Füße … und niemand, der sie ihnen wäscht?«
»Ja.«
»Und es gibt keine Hilfe für sie?«
Ganz sacht berührte Kitty abermals seine Schulter. »Komm. Ich parke das Auto und begleite dich nach Hause.«
»Nein … nein …«
»Es ist wenig genug, was ich für dich tun kann, nachdem ich …«
»Bitte. Ich … ich möchte dem da … dem, was Sie in der Hand haben, nicht nahe sein.« Ohne hinzusehen deutete er mit dem Kopf in die Richtung ihrer Hand.
»Das verstehe ich. Nein, eigentlich doch nicht. Ich verstehe es nicht. Aber ich akzeptiere es … dass du sie möglichst weit weg von dir halten willst.«
Peter nickte dankbar. Kitty strich ihm kurz über die Wange und ging dann zu ihrem Auto. Sie hatte noch keine drei Schritte gemacht, da hörte sie Peter hinter sich sagen: »Ich gehe nach Ballysheen. Die Pferde. Mein Dad. Bis ich wieder zur Schule muss. Aber das habe ich Ihnen ja schon erzählt. Tut mir … tut mir leid.«
»Dir wird es dort gefallen«, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen.
»Ich glaube schon. Wegen der Pferde. Ich werde vielleicht mal ein Jockey, meint mein Dad.«
»Hättest du dazu Lust?«
»Nur Lust haben genügt nicht. Ich werde mal Dachdecker. Zumindest wollte ich das werden, bis … bis ich … die Münze …«
»Und jetzt bist du dir nicht mehr so sicher … nach der Sache mit der Münze? Von Declan?«
»Ja«, sagte er leise. »Sie ist von Mr Tovey. Dem Dachdecker.«
Zum Zeichen, dass sie keine weiteren Fragen stellen würde, nickte Kitty nur und ging weiter.
»Mrs Sweeney?«
»Ja?«
»Sie … Sie möchten es doch wissen, nicht wahr? Was es war, dass …«
»Ja. Aber es muss nicht …«
»Doch, es muss. Es ist vielleicht etwas, was Sie erfahren sollten.«
»Dafür ist es zu spät. Du hast es vergessen. Und das ist sicher gut so.«
»Ich … ich könnte ja noch mal hinschauen.«
Kitty drehte sich um. Peter stand mit gesenktem Kopf und herunterhängenden Armen da und schob mit der Schuhspitze ein Steinchen aus dem Weg. Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube, es ist besser, wenn du nicht …«
»Dann würden Sie es aber wissen. Und Sie möchten es wissen.«
»Peter, tue nichts, was …«
»Sie sind ja bei mir. Vorhin war ich allein. Aber jetzt sind Sie hier.«
»Willst du wirklich …«
Er hob den Kopf und streckte die Hand aus. Kitty ging zu ihm, sah ihm in die Augen, ein warmes Braun. Er streckte die Hand energischer aus. Behutsam legte sie ihm die Münze in die Hand. Er zog sie zurück, wartete einen Moment. Schluckte. Kitty rührte sich nicht. Er blickte auf die Münze.
Noch ein Moment, und er begann zu sprechen, leise und monoton. »Sie wurden gehängt. Er hieß Taddy. Sie hieß Brid. Die Schönsten im Lande weit und breit. Sie hatten nichts Böses getan. Auch nichts im Schilde geführt. Aber sie wurden in der Burg dort gehängt, und niemand, der ihnen die schmutzigen Füße wusch. Und der Henker, und da war auch eine Frau, sie wurden bezahlt, eine Münze, pures Gold mit einem goldenen König, Belohnung für ihre Tat. Aber Schande kam über sie. Sie peitschten sich gegenseitig aus mit Ruten von einem dornigen Strauch, doch das war nicht genug. Und wieder peitschten sie sich, bis das Blut kam und durch die Kleidung sickerte. Sie versteckten die Münze zwischen zwei Steinen an der Feuerstelle und erklärten ihren Kindern, ein freundlicher Kaufmann hätte sie ihnen gegeben, weil sie sich selbst opfern wollten und sie auf Geheiß Seiner Lordschaft ausgepeitscht worden waren. Weil sie ihrem Priester beichteten und für den Rest ihres Lebens schreckliche Buße taten, erscheinen die jugendlichen Geister ihren Nachfahren nicht als Gehängte, sondern als wandernde Schatten, zu denen sie geworden waren, genauso, wie sie sich auch den Nachfahren der Sweeneys und McClouds zeigen, denn sie wussten ja nichts von Lord Shaftoes Anordnung und waren letztendlich unschuldig, auch wenn sie zu einem gewissen Grad zu ihrem Tod beigetragen hatten. Die Münze aber wurde von Generation zu Generation weitergereicht, niemals ausgegeben, auf dass man sehen konnte, wie tapfer die ausgepeitschten Vorfahren gewesen waren. Bekommen hatten sie sie aber für das Hängen.«
Peter stand wie angewurzelt und starrte auf die Münze, unfähig, sich von der Vision loszureißen. Kitty wartete, scheute sich, ihn in seiner Trance zu stören. Schließlich sah er auf. »Mrs Sweeney? Sind Sie da?«
»Ja. Ich bin hier«, antwortete sie ruhig.
Er blinzelte und schaute in die geöffnete Hand. »Nein! Nein! Sie ist nicht meine!«
Mit gleichbleibend ruhiger Stimme fragte Kitty: »Darf ich sie nehmen?«
»Nein. Niemand darf sie nehmen. Niemand darf sie haben. Keinem darf sie gehören. Niemals. Oder ja, nehmen Sie sie. Schaffen Sie sie fort, damit ich sie nie wieder sehe … selbst wenn …«
Kitty ging behutsam vor, berührte nur mit den Fingerspitzen die zarte Hand des Jungen, nahm die Münze an sich und hoffte, er würde ihre Fürsorge spüren. Langsam schloss sie die Finger zur Faust, die Münze in sicherem Gewahrsam.
Peter wartete ein Weilchen, schaute dann in seine leere Hand, schloss wie Kitty die Finger zur Faust und öffnete sie wieder. Nachdem er sich vergewissert hatte, nichts mehr in der Hand zu halten, hob er den Kopf. »Ich habe es Ihnen erzählt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und Sie haben es nicht vergessen?«
»Nein, ich habe es nicht vergessen.«
»Möchten Sie es lieber vergessen?«
»Nein, das möchte ich nicht.«
»Ich habe es vergessen. Es ist schon weg.«
»Gut so.«
»Aber Sie erinnern sich noch?«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Vielleicht hätte ich es Ihnen nicht erzählen sollen.«
Kitty schüttelte den Kopf. »Doch. Es war richtig so.«
»Und jetzt kann ich nach Hause gehen?«
»Du kannst jetzt nach Hause gehen.«
»Ja. Ich gehe jetzt nach Hause.«
»Soll ich dich begleiten?«
»Ich habe mein Fahrrad. Das reicht.«
Er nahm das Rad, das er an die Steinmauer gelehnt hatte, stieg auf, fuhr wort- und grußlos um das Auto herum und strampelte den zweiten der drei Hügel, die er für den Heimweg zu bewältigen hatte, bergan.
Kitty würde die Münze nicht wieder einbuddeln. Sie ließ sie in die Hosentasche gleiten und klopfte sich kurz auf den Schenkel, um sich zu vergewissern, dass sie sicher verstaut war. Sie würde sie Declan zurückgeben. Konnte sein, er wusste bereits die Wahrheit. Wenn nicht, dann würde er sie jetzt erfahren. Nicht anders, als sie und Kieran, die auch gelernt hatten, die Last der Schande zu tragen, die von ihren Vorfahren über sie gekommen war. Auch Declan würde mit der Wahrheit leben müssen. Unter Umständen würde er sie von sich weisen als eine Sache, die ihn nichts weiter anginge. So etwas wie Schamgefühl war seine Sache nicht. Aber zumindest würde er nun wissen, was sie längst wusste, und was auch Kieran wusste, dass die Folgen von Taten der Vorfahren sich nicht mit deren letztem Atemzug erledigt hatten. Sie lebten weiter. Sollte Declan aus dieser Erkenntnis machen, was er wollte. Kitty würde ihren Beitrag leisten.
Erneut drückte sie prüfend die Hand an den Schenkel. Die Münze war da, und das Fingerknöchelchen auch. Geben würde sie Declan die Münze.