Mord
am Mirador
ein Gomera-Krimi
Elisa Ellen
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Ein besonderer Dank gilt Mille für die
fantastische pharmazeutische Beratung
Alle Ähnlichkeit mit lebenden oder
verstorbenen Personen ist unbeabsichtigt
und rein zufällig.
Liebe Leser,
Als dieser Roman verfasst wurde, waren die Räumlichkeiten unterhalb des „Mirador El Santo“ auf La Gomera zwar vorhanden, aber de facto ungenutzt und leer. Das Restaurant „Acueducto“ beruht komplett auf meiner Erfindung. (Entsprechend wenig hätten die hier beschriebenen Geschehnisse mit einem echten Restaurant in dieser Lage zu tun, falls dort jemals eines entstehen sollte.)
Im gleichen Sinne, ist der botanische Garten in Vallehermoso ein gänzlich verträumter und unschuldiger Ort. Auch hier haben die Ereignisse, von denen der Roman berichtet, mit der Realität absolut nichts zu tun.
- Elisa Ellen
Für Annedore und Christoph,
unsere liebsten Gomera-Genossen
Kapitel 1
„Der Tag war lang, der Tag war schwül, doch gegen Abend wird es kühl.“
Unwillkürlich kam mir der Reim aus dem Kinderbuch in den Sinn, das meine Mutter mir vor etwa fünfundzwanzig Jahren zum Schlafengehen gern vorgelesen hatte, als ich ein kleiner Steppke in Westfalen war.
Ich streckte meinen Rücken und wischte mir den Schweiß von der Stirn, während ich mit Wohlgefallen auf meinen Weinberg schaute, auf dem ich den Nachmittag verbracht hatte.
Weinberg ist wohl der falsche Ausdruck, denn es handelte sich eher um Weinterrassen, die sich im Gebiet um Laguna Grande auf der kanarischen Insel La Gomera befanden.
„Aus jedem Tümpel, jedem Teich, erklingt der Frösche Chor sogleich“, ging der Vers dann weiter. Auch das traf zu. Schon ging das muntere Gequake in einer feuchten Senke los, die sich nicht weit von hier befand.
Ich raffte die letzten dürren Ranken zusammen, die ich gerade noch von einem Weinstock abgeschnitten hatte, bündelte sie und kletterte hangaufwärts. Ich warf sie auf die Böschung der schmalen Fahrstraße, die hierher führte. Dort störten sie Keinen und konnten in Ruhe vor sich hinrotten. Vielleicht boten sie dem ein oder anderen Kleintier sogar noch eine Behausung, zum Beispiel den unzähligen Echsen, die so gerne zur Mittagszeit auf den Steinmauern auf kleine Insekten lauerten und so hastig wegraschelten, wenn man an ihnen vorbeikam.
Pedro, mein Gehilfe, bückte sich immer noch über eine Weinrebe, die er behutsam an das niedrige Spalier band. Ich pfiff durch die Zähne. Sofort richtete er sich auf und sah in meine Richtung.
„Feierabend, Pedro“, rief ich ihm zu.
„Okay, Chef“, erwiderte er, „Ich mache hier noch diese Reihe fertig, dann gehe ich auch.“
„Wir sehen uns morgen auf der unteren Terrasse bei der Madre de Dios“, sagte ich.
Pedro nickte. Das kleine Madonnenbild hatte seine Großmutter vor Jahrzehnten in einem kleinen Schaukasten aufgestellt, als eine besonders gute Weinernte ihrem späteren Mann ermöglicht hatte, um ihre Hand anzuhalten und sie zu heiraten.
Nun war Pedro selbst schon ein alter Mann. Seine Kinder waren vor Jahren nach Amerika ausgewandert, und weil er die Feldarbeit nicht mehr alleine bewältigen konnte, hatte er mir seine Weinterrassen vor einigen Jahren verpachtet. Noch immer klang sein „Chef“ etwas merkwürdig in meinen Ohren, aber er bestand darauf und blieb dabei.
Ich ging zu meinem kleinen, verbeulten Laster, warf mein Werkzeug hinten auf die Ladefläche und fuhr los. Pedros Motorroller wartete am Straßenrand.
Obwohl mein kleines Landhäuschen oberhalb von Arure in Vogelfluglinie nur wenige Kilometer entfernt lag, fuhr ich fast 45 Minuten nach Hause, denn die Straßen von Gomera bestanden nur aus Kurven. Sie erinnerten mich immer an die Wolle, die meine Oma in Münster aus alten Pullovern ausribbelte. Die „neuen“ Pullover aus dieser Wolle hatten eine eigenartige hubblige Struktur und kratzten nebenbei gesagt höllisch.
Gomera hatte ebenso eine hubblige Struktur. Aus Vulkanen erwachsen, setzte sich die Insel aus hohen Bergen und tiefen Schluchten zusammen, den Barrancos, um die sich alle Straßen mühsam herumwinden mussten.
In Arure musste ich noch fünf Minuten weiter bergauf fahren, bevor ich über eine holprige Piste zu meinem niedrigen Casa Rurale kam, das sich mit seinen Natursteinwänden und roten Dachziegeln zwischen blühenden Orangen- und Mandelbäumchen versteckte.
Ich parkte meinen Laster neben dem Ziegenstall und stieg aus. Sofort kamen meine beiden Ziegen angetrabt, die sich den ganzen Tag unter den Bäumen herumgetrieben hatten.
Ihnen folgten die vier kleinen Zicklein, die erst vor einer Woche das Licht der Welt erblickt hatten und, aus Angst, ihre Mütter zu verlieren, unentwegt vor sich hinmeckerten.
Ich scheuchte die Tiere in den Stall, warf ihnen einen Arm voll Palmwedel hin und füllte ihren Wassertrog.
Eigentlich war ich nun ordentlich müde, aber ich entschloss mich, noch einmal hinunter ins Valle Gran Rey zu fahren, denn da gab es einen neuen, sehr aufregenden Anziehungspunkt für mich:
Anita.
Eine halbe Stunde später saß ich geduscht in einem frischen Hemd und einer sauberen Jeans hinterm Lenker und kurvte die zahllosen Serpentinen ins Tal herunter.
Anita war mir am vorigen Samstag aufgefallen, als ich zufällig einmal wieder im Valle war, um in Borbalan einzukaufen. Nachher war ich noch den Strand entlang geschlendert und hatte mich zum Zeitvertreib auf die niedrige Mauer gesetzt, auf der sich gerne die Einheimischen sowie die Touristen niederliessen, um den Sonnenuntergang zu bestaunen und den Trommlern zu lauschen, die, (aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen), seit Menschengedenken dort mit ihren hypnotischen Rhythmen der untergehenden Sonne huldigten.
Kaum war die Sonne weg, da fingen die Musikanten auf der Terrasse vor der Casa Maria mit ihren Gesängen an. Wie der Rattenfänger von Hameln, lockten sie die Menschen von weit herum an. Auch mich. Bevor ich wusste, wie mir geschah, saß ich schon an einem der kleinen Tische und hörte gebannt zu.
Und da war Anita. Dunkelhaarig, zierlich, glutäugig. Sie flitzte zwischen den Tischen geschmeidig hin und her, wischte die Flächen sauber, nahm lächelnd meine Bestellungen entgegen und eilte mit einem aufreizenden Hüftschwung wieder davon. Die Musiker waren mit Sicherheit die offiziellen Stars des Abends, und das zu Recht, denn ihr Gesang war virtuos, ihr Gitarrenspiel meisterlich, die Rhythmen so mitreißend, dass eine Touristin dicht neben mir mit den flachen Händen auf ihre nackten Schenkel schlug, um den Takt mitzuklopfen, aber alle Männeraugen ruhten nur auf der entzückenden Anita, dem wahren Star des Abends.
Ihren Namen wusste ich nur, weil ich mitbekommen hatte, wie einer von den Gästen ihn rief, als er noch ein Glas Wein bestellen wollte.
Seit diesem Samstag quirlte er in meinem Kopf unaufhörlich herum, egal ob ich im Weinfeld stand, Palmwedel schnitt, kochte, ging oder stand. Anita.
Ob ich mich heute Abend trauen würde, sie anzusprechen? Ich wüsste zu gerne, ob sie einen Freund hatte.
Ich parkte in einer Seitenstraße und schlenderte zur Casa Maria. Heute waren die Musiker nicht da, aber die Terrasse war trotzdem gut besucht. Man konnte sich gut im Freien aufhalten, auch wenn es erst Februar war, denn der Boden und die Hauswände strahlten noch die Wärme des Tages ab. Ich fand einen letzten freien Platz an einem Tisch, an dem zwei junge Spanier saßen und ihr Bier tranken. Sie nickten, als ich ihnen bedeutete, dass ich mich dazusetzen wollte. Ich lächelte dankbar zurück, weil ich die großzügige Geste erkannte, wohl wissend, dass es nach Landesbrauch ziemlich unhöflich war, sich bei Fremden mit an den Tisch zu drängen.
Kaum hatte ich Platz genommen, da stand sie neben meinem Tisch. Um sie herum schwebte ein Duft nach Orangenblüten. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt und man sah ihren schlanken Hals. Etwas Silbernes blitzte darum, eine dünne Kette. Meine Augen wandelten zu ihrem Halsauschnitt und mir gefiel, was ich sah. Ihr schwarzes T-Shirt erlaubte den Blick auf verheißungsvolle Rundungen.
„Etwas zu Trinken? Zu Essen?“, fragte sie mit heller Stimme und lächelte mich dabei an, dass ihre makellosen Zähne nur so blitzten.
„Ein Teller Potaje wäre Recht“, sagte ich und blickte in ihre dunklen Augen, „und eine Cana.“
Sie hielt meinen Blick eine Sekunde, dann lachte sie. Schon war sie wieder weg, und es kam mir vor, als würde sich eine Wolke vor die Sonne schieben.
Der eine Jüngling an meinem Tisch schob seinem Nachbarn den Ellenbogen in die Rippen. Anscheinend hatten sie bemerkt, dass ich Anita so tief in die Augen gesehen hatte. Der, der den Schubser erhalten hatte, funkelte mich böse an.
Egal, es waren noch junge Kerle, bestimmt zu jung für die reizende Anita, dachte ich. Wir schwärmten alle für Anita. Und das war wohl nicht verboten.
Kurze Zeit später war die Hübsche wieder zurück mit einem Tablett. Jetzt oder nie. Ich musste sie in ein Gespräch verwickeln.
Als sie den Suppenteller abstellte, fiel mein Blick wieder auf ihr verführerisches Dekolleté. Ich sah den Anhänger, der an der Silberkette hing.
„Du hast ein wunderschönes Operculum“, sagte ich, „darf man das auch einmal von hinten sehen?“
Da sprang der düster-blickende Jüngling auf und griff in mein Hemd. Flink drehte er es zusammen, dass mich der Kragen am Hals würgte.
Ich sprang ebenfalls auf, packte seine Hände und befreite mich aus seinem Griff. Dann setzte ich ihn unsanft auf seinen Stuhl zurück.
„Was zur Hölle?“, keuchte ich, zog mein Hemd glatt und sah wütend auf ihn herab.
„Das ist die plumpste Anmache, die ich jemals gehört habe“, entgegnete mir der Jüngling mit zornigem Gesicht.
Doch Anita legte eine beruhigende Hand auf seinen Kopf, wie auf das Haupt eines ungestümen Hundes. „Ach Quatsch, Carlos“, sagte sie, „das war doch sicher nett gemeint.“
Dann sah sie mich an. „Entschuldigung. Mein kleiner Bruder meint immer, ich könne nicht auf mich selbst aufpassen. Dabei kann ich das sehr gut.“ Sie griff etwas fester in den brüderlichen Haarschopf, so dass es ziepte und der Jüngling sein Gesicht vor Schmerz verzerrte. „Und jetzt“, sagte sie, und blitzte mich dabei vergnügt an, „möchte ich gerne wissen, wo ich überhaupt mein Operculum habe. Erst dann kann ich auch entscheiden, ob du es auch von hinten sehen darfst.“
Ich streckte eine Hand nach ihrem Halsauschnitt aus. Ich meinte zu spüren, wie Wärme davon ausstrahlte. Carlos knurrte unwillig. Mit meinen Fingerspitzen berührte ich den Anhänger an der Silberkette. Es war eine flache weiße Muschelscheibe, durch die ein zarter schwarzer Strich sich schneckenförmig wand.
„Das ist ein Operculum“, sagte ich ehrfürchtig, „Es ist die Haustür einer Meeresschnecke. Von vorne ist sie glatt und weiß.“ Flink wendete ich den Anhänger und Anita ließ es stumm geschehen. „Aber von der anderen Seite“, fuhr ich fort, „sieht jedes Operculum ganz individuell aus. Manche schimmern grün oder blau, aber dieses hier, ist wunderschön geheimnisvoll und dunkel - wie deine Augen.“ Ich strich mit dem Daumen sanft über die raue Fläche des Kleinodes.
Anita hatte ihr Kinn angezogen und blickte auf ihren Anhänger herab. Ich spürte den warm-feuchten Hauch ihres Atems auf meinen Fingerspitzen. Ihre Wimpern waren wahnsinnig dicht und schwarz. Röte stieg in ihren Wangen auf.
Dann richtete sie sich plötzlich schnell auf, so dass der Anhänger aus meiner Hand glitt, und sagte schnippisch: „Ich finde die andere Seite aber schöner. Was meinst du wohl, warum ich den Anhänger so herum trage?“ Sie warf mir einen kessen Blick über die Schulter zu und rauschte wieder davon.
Den restlichen Abend lang huschte sie nur noch gelegentlich an meinem Tisch vorbei, ein Tisch der irgendwie sehr ungemütlich geworden war, weil der grimmige Carlos mich unentwegt mit giftigen Blicken durchbohrte.
Ich legte einen Geldschein und ein paar Münzen für Speis und Trank auf den Tisch, stand auf und fuhr aufgewühlt zurück in meine Kate. Dort lag ich noch lange wach und starrte auf die Holzbalken in meiner niedrigen Zimmerdecke.
Kapitel 2
„Kennst du eigentlich eine Anita?“, fragte ich Pedro am nächsten Morgen ganz beiläufig, als wir uns zur Arbeit trafen.
Pedro runzelte die Stirn. „Anita? Meinst du die Alte, die die Küsterdienste in der Kirche in Chipude verrichtet? Warum fragst du?“
„Nein“, ich schüttelte den Kopf, „Da gibt es eine neue Kellnerin im Valle.“
„In der Casa Maria? Ihr Bruder heißt Carlos?“
„Genau.“ Mein Puls beschleunigte sich.
„Ah, die süße Anita“, seufzte Pedro, „Man müsste wieder jung sein.“
Ungeduldig hakte ich nach: „Was weißt du von ihr?“
Pedro zwinkerte schelmisch. „Na, zum Beispiel, dass du dich anscheinend in sie verguckt hast, Chef.“
Am Liebsten hätte ich ihn gepackt und es aus ihm herausgeschüttelt. Stattdessen sagte ich: „Wäre das so schlimm? Sie ist wohl noch frei.“
„Sie ist die Tochter von Ana und Jorge Lopez, du weißt schon.“
„Nein, ich weiß nicht!“, herrschte ich Pedro jetzt regelrecht an. Es schien ihm Spaß zu machen, mich so hinzuhalten.
„Sie sind vor fünf Jahren auf der Straße nach Hermigua tödlich verunglückt. Damals hat man doch die Straße neu asphaltiert und die Böschung ins Tal vorübergehend abgebaut. Jorge hatte die Kontrolle über den Wagen verloren und sie sind über den Rand gefahren. Wenn du willst, kannst du die Trümmer des Autos immer noch unten in der Schlucht sehen. Es hat Tage gedauert, bis es gelang, ihre Leichen zu bergen.“ Er schüttelte traurig sein Haupt und beugte sich über den Weinstock, den er gerade beschnitt.
Jetzt erinnerte ich mich dumpf an den spektakulären Unfall. Dafür, dass die Straßen auf Gomera so eng und gefährlich sind, passieren solche Unfälle erstaunlich selten. Wenn es aber doch geschieht, ist die ganze Inselbevölkerung tief erschüttert, denn jeder wird unwillkürlich daran erinnert, in welche Gefahr er sich als Fahrer fast täglich selbst begibt.
„Also sind die beiden Kinder Vollwaisen.“
„Ja, die Armen. Sie scheinen sich aber ganz tapfer durchs Leben zu schlagen. Carlos arbeitet auf dem Bau und Anita jobbt mal hier, mal da.“
„Und ist Anita verheiratet, verlobt?“
Wieder sah Pedro mich schelmisch an. „Das wüsstest du wohl gerne, nicht Chef?“
Ich fummelte umständlich an meiner Schere herum, damit Pedro meinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. „Na ja, man wird sich doch wundern dürfen“, brummelte ich.
„Nun, sie ist es nicht. Man vermutet, dass sie sich ganz um Carlos kümmern will, sozusagen als Mutterersatz. Sie ist zweiundzwanzig, er erst neunzehn, auch wenn er älter aussieht. Außerdem passt Carlos wie ein Schießhund auf sie auf. Der lässt keinen so schnell an seine Schwester ran.“
„Mm“, sagte ich, mehr nicht. Dann arbeitete ich stumm weiter, aber irgendwie fühlte ich mich richtig gut. Besser, als gerade noch vor etwa zehn Minuten.
Wir redeten heute sonst nicht viel mit einander, Pedro und ich. Die Sonne stach vom blauen Himmel herab und trieb uns den Schweiß aus den Poren. Im Gestrüpp zirpten die Grillen unaufhörlich. Ab und zu krabbelte eine Eidechse über die schwarze Lava-Erde, glotzte mich an und huschte dann weiter.
Es war einsam und beschaulich, so, wie ich es liebte. Als ich vor etwa fünf Jahren nach Gomera ausgewandert war, hatte ich genau das gesucht. Einen Ort, wo mich keiner kannte, wo man mir keine blöden Fragen stellte und ich einfach vergessen und hinter mir lassen durfte, was damals in Deutschland geschehen war.
Das kleine Landhaus hatte ich erstaunlich günstig erworben und – für spanische Verhältnisse – mit relativ wenig Problemen. Es war so, als hätte es über die vielen Jahre nur auf mich gewartet. Auswanderer hatten es zurückgelassen. Es war eine traurig verwitterte Ruine, aber ich hatte mir zunächst ein Zelt besorgt und darin gewohnt, während ich die zerstreuten Steine aufsammelte, das Haus rekonstruierte, ein neues Dach draufsetzte und es mit dem nötigsten Komfort versah; eine kleine Küche, fließendes Wasser, ein Bad.
Es kam mir damals so vor, als würde ich mein zerschlagenes Leben neu aufsammeln und zusammensetzen. Die spanischen Nachbarn in Arure beobachteten mich zunächst misstrauisch und aus einiger Distanz. Deutsche Touristen mochten okay sein, denn die brachten Devisen und belebten die Wirtschaft auf der Insel. Aber die gehörten in die Zentren, ins Valle oder nach San Sebastian. Man sah es nicht gerne, wenn sich einer so dreist im Dorf einnistete und auf einmal dazugehören wollte. Wenn ich den kleinen Laden im Dorf aufsuchte, war man betont kühl und wickelte das Geschäft schnell ab. Hinzu kam, dass mein Spanisch ziemlich desaströs war. Die zwei Jahre in der Oberstufe hatten mich in keiner Weise darauf vorbereitet, was ich auf einmal können musste.
Doch irgendwie zerrann das Misstrauen allmählich. Die Dorfbewohner sahen, dass ich nicht vorhatte, den großen Macker zu geben und mir ein Luxusrefugium einzurichten, sondern dass ich mich an ihrem Lebensstil orientierte. Als das Haus fertig war, begann ich den Garten zu bestellen. Ich baute etwas Gemüse und Obst an. Ich legte mir ein paar Ziegen zu und auch eine kleine Hühnerschar. Ich ging in die Bar, setzte mich zu den alten Männern und fragte sie um Rat, wenn ich auf meinem kleinen Hof nicht weiterwusste. Die alten Damen im Dorfladen fingen an, mich (oft zahnlos) anzulächeln und anzuflirten. Sie fanden wohl den großen blonden Deutschen zwar exotisch, aber nicht unattraktiv. Ich erfuhr von Pedros Weinterrassen, pachtete sie von dem Geld meiner Ersparnissen aus meinem alten Leben in Deutschland und konzentrierte mich auf den Weinanbau. Ich las Bücher und informierte mich über die Winzerei. Als der erste Wein dann fertig war und – im Vergleich zum lokalen Sauerampfer – geradezu lieblich und köstlich, schlenderte ich eines Abends in die Bar, bat um ein paar Gläser und setzte mich zu den alten Herren. Ich stellte eine Flasche von meinem Wein auf den Tisch, goss ihnen ein und forderte sie auf, zu kosten. Ihre Gesichter waren allesamt eine Studie wert. Sie schnüffelten überaus skeptisch an ihren Gläsern. Es dauerte eine gefühlte Stunde, bis der erste zaghaft ein Schlückchen nahm. Und dann noch eins. Und dann einen riesigen Schluck. Als die anderen Männer sahen, wie ein breites, wohlgefälliges Grinsen auf seinem Gesicht ausbrach und er kräftig nickte, wobei er mir sein Glas zum Nachfüllen zuschob, da war das Eis zwischen den Dorfbewohnern und mir endgültig gebrochen. Zum Glück hatte ich noch zwei Flaschen in der Hinterhand und es wurde ein richtig netter Abend.
Bald darauf kamen die ersten Gastwirte aus dem Tal und erkundigten sich nach meinem Wein. Anscheinend hatten die alten Herren herumerzählt, wie er ihnen geschmeckt hatte.
Und nun hatte ich ein ganz zuverlässiges, wenn auch nicht üppiges Einkommen, das ich seit der Zeit regelmäßig erwirtschaftete.
Mein Leben war wieder im Lot. Meine Eltern, die über mein Aussteigertum zunächst entsetzt waren, hatten sich damit schon längst abgefunden und flogen gelegentlich nach Gomera, um mich zu besuchen.
Alles wäre perfekt, wenn ich nur nicht so alleine wäre. Ich hätte gerne eine Frau. Eine Familie. Schließlich war ich mittlerweile 35 Jahre alt. Ob sich dieser Traum mit Anita verwirklichen ließe? So eine Frau, wie sie, wäre mir sehr Recht.
„Ach übrigens“, sagte Pedro am späten Nachmittag, als wir unsere Arbeit für heute erledigt hatten und zu unseren Fahrzeugen gingen, „Carlos geht am Montagabend immer zum Fitnesstraining. Mein Neffe ist auch dort. Anita hat dann frei. Sie wohnt drei Häuser weiter von uns – das kleine graue Haus hinter der Töpferei in Las Hayas.“
„Mm“, brummelte ich wieder, setzte mich hinter den Lenker und startete meinen Motor. „Bis Morgen!“, und fuhr los. Dabei hätte ich den Alten am liebsten umarmt und fest auf jede Wange geküsst.
Kapitel 3
Am Montagabend steckte ich eine Flasche von meinem Wein in den Rucksack und wanderte den Weg nach Las Hayas hoch. Er führte abseits von der Straße vorbei an kleinen Gehöften, dann durch brachliegende Terrassen, die sich die Natur zurückerobert hatten. Auf ihnen wuchsen zahllose niedrige Euphorbien, die gelb leuchteten, als wollten sie das Sonnenlicht festhalten, und dunkellila Natternzungen. Sie wechselten sich mit Opuntienkakteen ab und dazwischen wuchsen in größeren Abständen stattliche Dattelpalmen und fleischige Agaven.
Einige Bienen summten noch in den Euphorbien, obwohl es allmählich dunkel wurde und es Zeit zum Heimflug war. Ich fühlte mich auch wie so eine Biene, die auf der Suche nach Pollen und Nektar ausschwärmte.
In Las Hayas beschleunigte ich meinen Schritt. Es musste ja nicht jeder gleich sehen, dass der Jan, oder der „Juan“, wie sie mich hier auf Gomera nannten, auf Freiersfüssen war.
Ich fand das Haus schnell und näherte mich ihm mit beschleunigtem Puls. Eine niedrige Mauer umfriedete den Garten. Darin war ein schmales Gittertor. Ich wagte einen Blick über die Mauer. Im Garten bewegte sich eine Gestalt in einem hellen Kleid. Sie bückte sich, hob etwas aus einem Korb und streckte sich. Dann bückte sie sich wieder, hob und streckte. Es war Anita. Sie hing Wäsche auf und summte dabei leise vor sich hin, wie eben noch die Bienen in den Euphorbien.
Ich schaute ihr eine Weile heimlich zu, dann raffte ich meinen ganzen Mut zusammen und drückte auf die Klinke des Gartentors.
Das Tor quietschte in den Scharnieren. Anita fuhr zusammen und drehte sich nach mir um. Sie runzelte ihre entzückende Stirn und sah mich fragend an.
„Guten Abend“, begrüßte ich sie, „Man hat mir gesagt, dass ich dich hier finde.“
Sie legte eine Hand über die Wäscheleine und krümmte ihre zarten Finger darum, als wollte sie sich daran festhalten. Mit der anderen Hand kämmte sie sich eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr.
„So, so. Hat man. Und was bringt dich hierher?“ Es klang eher kühl und abwartend.
„Ich glaube, ich sollte mich entschuldigen. Dein Bruder hatte Recht. Das mit dem Operculum war tatsächlich eine sehr plumpe Anmache. Ich wollte mich vergewissern, dass du mir deswegen nicht allzu böse bist.“
Dafür, dass ich die Worte auf dem Weg von Arure bis Las Hayas immer wieder leise vor mich hingeflüstert hatte, um sie auch flüssig vortragen zu können, klangen sie eigenartig holprig und unsicher.
Die Hübsche schmunzelte. „Ach weißt du, das ist gut gemeint von dir, aber wenn alle Männer, die mich in der Casa Maria plump anmachen, hier bei mir aufkreuzen würden, hätte ich hier keinen Platz zum Treten.“
Ich lachte. „Das glaube ich gut und gerne. Ich wollte aber nicht nur reden, ich habe ein kleines Geschenk zur Wiedergutmachung dabei.“
Ich schwang den Rucksack von meinem Rücken herunter, schnürte ihn auf und zog die Weinflasche heraus. Wie die Opfergabe am Alter einer heidnischen Göttin, reichte ich sie Anita mit bebenden Händen entgegen.
Anita nahm die Flasche und sah sie etwas ratlos an.
„Es ist mein eigener Wein“, fügte ich zur Erklärung hinzu, „Aus eigener Produktion.“
Anita hob eine Augenbraue. „Und den soll ich etwa ganz alleine austrinken? Das bekommt mir mit Sicherheit nicht.“
„...oder in netter Gesellschaft“, schlug ich vor, „wobei ich dir verspreche, dass mein Wein sehr bekömmlich ist.“
Wieder schmunzelte Anita. „Also gut, Juan“, sagte sie, (Woher kannte sie meinen Namen?), „dann schlage ich Folgendes vor: Du setzt dich dorthin“, sie zeigte auf eine kleine Bank mit einem Tisch, die an der Hauswand stand, „und ich mache meine Arbeit hier eben zu Ende. Dann schauen wir uns diesen Wein etwas genauer an.“
Sie stellte die Flasche auf den Tisch, ging zur Wäscheleine und hing weiter Wäsche auf.
Ich setzte mich auf die Bank und lehnte meinen Rücken gegen die sonnenwarme Hauswand.
Während ich darauf wartete, dass Anita fertig wurde, legte ich einen Arm auf den Tisch, streckte meine Beine gerade aus und dachte, wie schön das Leben sei und was für ein Glückspilz ich doch war. Ich hätte auf Anhieb mindestens zwanzig Männer aufzählen können, die ihren rechten Arm dafür hergeben würden, wenn sie an meiner Stelle sein könnten.
Ich saß unter einem blühenden Mandelbaum. Es duftete nach Garten und frischer Wäsche. Auf dem Dach des Häuschens gurrte eine Taube friedlich vor sich hin.
Die untergehende Sonne leuchtete warm in mein Gesicht und durch meine gesenkten Wimpern konnte ich sehen, wie Anitas schlanke Figur sich bückte, bog und streckte, wie in einem besonders schönen Tanz.
Dann verschwand sie mit dem leeren Wäschekorb im Haus. Nach kurzer Zeit war sie wieder da und stellte zwei Gläser auf den Tisch, zwei Teller, zwei Messer, einen Laib Brot und ein Stück Ziegenkäse. Dann setzte sich Anita neben mich auf die Bank, achtete jedoch darauf, dass sie nicht zu dicht bei mir saß und sah mich erwartungsvoll an.
„So, Señor Juan“, sagte sie scherzhaft, „ jetzt bin ich gespannt, wie du die Flasche ohne Korkenzieher aufkriegen wirst, denn so etwas besitze ich nicht.“
„Señorita“, entgegnete ich, „du vergisst, dass ich Winzer bin. Ich besitze so etwas sehr wohl.“
Blitzschnell zauberte ich mein Schweizer Armeemesser aus meiner Hosentasche, klappte den Korkenzieher heraus und drehte ihn in den Korken hinein. Er löste sich mit einem sanften Knall aus der Flasche und ich goss uns etwas ein.
Der Wein duftete gut. Anita schnupperte am Glas und nippte dann daran. Dann nahm sie einen tiefen Zug. Sofort röteten sich ihre Wangen und ihre Augen funkelten.
„Na“, fragte ich gespannt, „ wie schmeckt er?“
„Gut“, sagte sie. „Ich habe von deinem Wein schon gehört. Man lobt ihn im ganzen Dorf.“
Aha, Anita kannte mich also doch schon vom Hörensagen. Ich war erleichtert, dass sie mich nicht gänzlich als Fremden einstufte.
Wir griffen nach Brot und Käse und ließen es uns schmecken.
Ich überlegte, worüber ich mich mit Anita unterhalten sollte. Ich konnte ja nicht einfach sagen: Ich finde dich wunderschön. Möchtest du mich heiraten?
Nach einer kleinen Weile unterbrach Anita mein verlegenes Schweigen, indem sie sagte: „Woher wusstest du das alles?“
„Was meinst du?“
„Na, das von dem Schneckenhaus.“
„Ach, das von dem Operculum.“
„Ja.“
Ich erzählte ihr, dass ich vor Jahren einmal auf den Malediven zum Tauchen war. Dort konnte man solche Schneckentüren auf dem weißen Sand aufsammeln. In Deutschland hatte ich auf meinem Regal ganze Gläser davon. Viele waren winzig klein. Alle waren unterschiedlich.
„Ich wünschte, ich könnte sie einmal sehen“, sagte Anita.
„Das geht leider nicht. Ich habe sie in Deutschland zurückgelassen“, erwiderte ich.
„Warum?“
Ich lächelte. „Weil es hier so viele andere schöne Dinge gibt. Da kann man getrost mit leeren Händen kommen. Man wird reich beschenkt, und sei es auch nur durch wunderschöne Ausblicke und Anblicke.“
Meine Augen ruhten auf ihr und ich meinte, dass sie rot wurde.
„Und was hast du noch so alles zurückgelassen?“, hakte sie nach, „Vielleicht ein Mädchen?“
Ich lachte. „Nein, Anita. Ich habe kein Mädchen zurückgelassen. Da war keins, das mir gefiel, keins, dass so hübsch war, wie du es bist.“
Sie trank aus ihrem Glas und sah mich dabei prüfend über den Rand an.
„Warum bist du überhaupt hierher nach Gomera gekommen?“
Ich dachte kurz nach. Dann sagte ich nur: „Weil es hier schöner ist, als in Deutschland. Weil die Menschen hier freundlicher sind, und ich hier zufriedener leben kann, als dort.“
„Und willst du für immer hier bleiben?“
„Ja, Anita. Das will ich sehr gerne. Besonders jetzt, da ich dich entdeckt habe.“ Ich tat so, als wollte ich nach dem Brotkorb greifen und rückte die Bank entlang, bis unsere Beine sich fast berührten. Nun waren wir uns sehr nahe. Ich spürte, wie Anitas Körper Wärme ausstrahlte, wie die Hauswand in meinem Rücken. Behutsam legte ich einen Arm um ihre Schultern. Sie ließ es geschehen und lehnte sich sanft in meine Armbeuge. Ich spürte, wie der Puls in ihrem Hals schlug. Er ging mindestens so schnell wie mein eigener.
„Bist du denn noch nie von der Insel weggekommen, Anita?“, fragte ich.
„Nein. Wie sollte ich auch? Ich war nur einmal als Kind auf Teneriffa. Da haben wir eine Klassenfahrt gemacht und sind auf den Teide gestiegen. Das war wunderschön.“
„Ich reise eigentlich ganz gerne“, sagte ich, „nur nicht alleine. Würdest du mich einmal auf eine Reise begleiten?“
„Wohin?“
„Na, nach Frankreich, zum Beispiel, oder Italien. Ans Mittelmeer. Oder nach Skandinavien, zu den Fjorden in Norwegen.“
„Du weißt, dass das nicht geht.“
„Warum nicht?“
„Weil man hier sehr konservativ ist. Ich kann nicht einfach mit dir auf und davon und dann munter wiederkommen. Die Leute würden sich das Maul verreißen.“
„Auch dafür gäbe es eine Lösung“, sagte ich, „eine sehr naheliegende.“
Anita sah mich mit ihren großen, dunklen Augen an und öffnete ihre Lippen, um etwas zu sagen, aber da beugte ich meinen Kopf und schloß ihren Mund mit einem langen, heißen Kuss.
Da knallte auf einmal etwas mit Wucht hart an meinen Kopf. Eine Sporttasche polterte auf den Tisch und zerschmetterte die Gläser. Die halbgeleerte Flasche stürzte um, und der Wein ergoss sich über unsere Körper.
Anita sprang auf und konfrontierte ihren Bruder, der uns wutentbrannt anstarrte.
„Sag mal, spinnst du, Carlos! Was fällt dir ein?“
„Was fällt DIR ein, möchte ich gerne wissen“, keifte er, „und was hat dieser widerliche Kerl hier verloren? Reicht es nicht, dass er dich neulich im Valle vor allen Leuten angefasst hat?“
Er stellte sich vor mich hin und spuckte vor meine Füße. Ich saß verdutzt da und rieb meine Stirn, auf der sich eine Beule bildete, wo eine Schnalle der Tasche mich getroffen hatte.
„Hau ab, du Hurensohn!“, schrie Carlos, „Geh dorthin zurück, wo du hergekommen bist und lass dich hier nicht mehr blicken.“
Doch Anita war mit einem Schritt bei ihrem Bruder und fasste ihn beim Oberarm.
„Carlos, du gehst zu weit“, fauchte sie ihn an. „Du kannst Juan nicht so beleidigen. Er ist mein Gast und ihm gebührt unsere Höflichkeit. Verschwinde auf der Stelle ins Haus. Du wirst von mir noch etwas zu hören kriegen.“
Carlos griff nach der Sporttasche und gehorchte ihr grollend, aber nicht ohne mir einen finsteren Blick gepaart mit einer unmissverständlichen Geste zuzuwerfen.
Anita und ich sahen uns die Katastrophe auf dem Tisch an. Stumm sammelte sie mit zitternden Händen die Glasscherben ein.
„Nicht“, sagte ich, „du schneidest dir die Finger.“
Ich fand einen leeren Blumentopf und sammelte die Bruchstücke selber ein.
Anita bückte sich und stellte die leere Flasche auf den Tisch.
„Dein schöner Wein“, jammerte sie, „Was für eine Verschwendung.“
„Ach was“, tröstete ich sie, „ich bringe dir einen neuen.“
Aber Anita schüttelte den Kopf.
„Nein, Juan, ich möchte das nicht. Du siehst, es ist alles nicht einfach. Carlos braucht mich. Ich kann ihn nicht allein lassen. Was meinst du, warum ich noch nicht verheiratet bin?“
Sie legte eine schmale Hand an meine Wange und sah mir traurig in die Augen. „Du wirst deine schönen Reisen ohne mich machen müssen.“
Frustriert und verärgert protestierte ich: „Anita, was soll das? Du kannst dein Leben doch nicht von deinem Bruder diktieren lassen. Willst du als alte Jungfer sterben, nur weil er ein eifersüchtiger, ungehobelter Kerl ist? Wir könnten doch heiraten und er könnte bei uns wohnen. Wir drei könnten es sehr schön haben.“
Aber wieder schüttelte Anita den Kopf.
„Noch nicht. Zu diesem Zeitpunkt würde es nicht gutgehen. Carlos muss älter sein. Vielleicht, wenn er selber mal ein Mädchen gefunden hat. Dann braucht er mich nicht mehr.“
„Und ich soll so lange warten?“, Ich sah sie verzweifelt an, „Ist das nicht ein bisschen hart?“
Sie legte eine Hand auf jede meiner Schultern und sah mir tief in die Augen. „Das ist es. Auch für mich.“
Ich neigte meinen Kopf und wollte sie wieder küssen, aber sie wich mir aus und schob mich sanft zum Gartentor. „Nein, Juan. Jetzt geh nach Hause. Danke für deinen Besuch, aber komme bitte erst einmal nicht wieder. Glaube mir, es ist besser so.“
Ich packte meinen Rucksack, schwang ihn auf meinen Rücken und verließ den Garten.
Auf dem Weg zurück nach Arure war nichts vor mir sicher. Ob Stein, Pflanze oder Gestrüpp, alles bekam einen kräftigen Tritt versetzt und flog gegebenenfalls durch die Luft.
Eines schwor ich mir: So schnell würde ich mich von meinem Unternehmen nicht abbringen lassen. Dafür war Anitas Kuss zu unendlich süß gewesen. Ich wäre ein Narr, so schnell aufzugeben.
Kapitel 4
Einige Tage später traf ich mich am Morgen wie immer mit Pedro zur Arbeit. Noch eine Terrasse von Weinstöcken musste bearbeitet werden, dann galt in nächster Zukunft nur, die Pflanzen ausreichend zu bewässern, zwischen den Reihen zu jäten und nach Ungeziefer Ausschau zu halten. Wenn das Wetter so bleiben würde, wie es zur Zeit war, waren die Aussichten auf eine schöne Ernte gar nicht so schlecht. Die Passatwinde trieben die Wolken so kräftig vor sich her, dass sie sich am höchsten Berg, dem Alto de Garajonay stauten, und die Feuchtigkeit auf meine Weinterrassen niederschlug.
Wenigstens eine Sache, die gut läuft, dachte ich bitter. Wenn die Passatwinde nur die dunklen Wolken von meinem Gemüt vertreiben könnten. Seit den vergangenen Wochen waren meine Gedanken finster und grimmig. Normalerweise plauderten Pedro und ich ganz gemütlich bei der Arbeit. Irgendetwas fiel uns immer ein, worüber wir miteinander tratschen konnten, aber nun war ich oft schweigsam und hing meinen düsteren Gedanken nach.
Ob Anita wirklich nur einen Funken für mich empfand? Dann konnte sie mir doch nicht so einen massiven Korb geben. Ihr Kuss schien so innig, so ehrlich gemeint zu sein. Oder hatte sie vielleicht sofort das Gefühl, dass sie meine Nähe nicht so sehr mochte? Am Ende war die Intervention durch ihren jähzornigen Bruder ihr ganz zupass gekommen. Oder vielleicht hatte sie bereits einen heimlichen Liebhaber, der geduldig auf sie wartete, und sie wollte es mir nur nicht so offen sagen.
Ich grübelte und grübelte. Es war zum Verrücktwerden.
Plötzlich schreckte ich auf. Was war das? Ein Schrei.
Dann folgte ein klagendes Stöhnen.
Sofort ließ ich meine Schere fallen und eilte zu Pedro.
Der lag gekrümmt auf der Seite, blass vor Schmerz.
„Pedro, was ist?“, fragte ich erschrocken und beugte mich zu ihm herab.
„Mein Rücken, Chef“, ächzte er, „Ich habe mir den Rücken verrenkt. Als ich mich gerade aufrichten wollte, hat es richtig knack gemacht. Jetzt tut es höllisch weh.“
Ich legte eine Hand beruhigend auf seine Wirbelsäule, wohl wissend, dass das höchstens psychisch half, aber physisch keinesfalls, und griff in meine Hosentasche, um mein Handy herauszufischen. Ich machte mir jedoch keine großen Hoffnungen, denn die Weinterrassen lagen in einem Funkloch. Der Blick auf das Display bestätigte meine Befürchtungen. Hilfe von Außerhalb konnte ich nicht herbeirufen.
„Meinst du, dass du aufstehen kannst?“, fragte ich ihn jetzt.
„Ich glaube nicht. Ich kann vor Schmerz kaum atmen“, keuchte er.
Ich dachte fieberhaft nach. Ich könnte fahren und Hilfe holen, aber es würde mindestens eine Stunde dauern. Ich mochte Pedro nicht so alleine auf der Erde liegen lassen.
Der alte Mann war zwar kräftig, aber verhältnismäßig dünn. Bis zu meinem Laster waren es höchstens hundert Meter.
„Ich werde versuchen, dich zum meinem Wagen zu tragen, Pedro“, sagte ich, „dann fahre ich dich nach San Sebastian ins Krankenhaus.“
Der Alte nickte stumm. Ich rannte zum Laster, machte die Beifahrertür auf und stellte die Lehne so flach wie es ging. Dann kehrte ich zu Pedro zurück.
„Du musst jetzt tapfer sein“, sagte ich, „Ich werde dich jetzt hochheben.“
Ich ging in die Hocke und schob meine Arme unter seinen gekrümmten Körper. Dann drückte ich meine Beine mit einem Ruck gerade.
Pedro stöhnte vor Schmerz, dann biss er die Zähne zusammen. Eine Träne lief ihm aus einem Augenwinkel.
Wankend trug ich ihn zum Wagen und legte ihn behutsam auf den Beifahrersitz. Pedro seufzte, sagte aber nichts.
Flink rutschte ich hinter den Lenker und fuhr los.
Pedro war kreidebleich. Jede Unebenheit auf der Straße schien ihm wehzutun. Ich fuhr so vorsichtig, wie es nur ging.
„Chef“, stieß Pedro nun hervor, „ich möchte nicht nach San Sebastian. Das dauert zu lange. Das halte ich nicht aus. Fahr mich bitte, bitte nach Hause. Ich will in mein eigenes Bett.“
Ich nickte. Er hatte Recht. Besser, ich brächte ihn nach Las Hayas und holte dann den Arzt in das Haus.
...und holte den Arzt ins Haus.
Warum, dachte ich, warum sollte ich so etwas durch und durch Blödes machen? Der Arzt würde mit Sicherheit nicht sofort kommen können. Er würde Pedro erst untersuchen, dann ein Rezept schreiben. Bis wir das eigentliche Medikament hätten, würden sicherlich ein bis zwei Stunden vergehen. Wollte ich mir das antun? Wollte ich Pedro das antun?
Pedro brauchte eine schnelle und wirksame Schmerzlinderung, am besten eine entkrampfende und schmerzstillende Spritze.
Als mein Laster vor seinem Haus anhielt, kam seine Frau Inez herausgerannt.
„Juan? Pedro? Wie kommt es, dass ihr so früh Feierabend macht?“, rief sie uns zu.
Ich sprang aus dem Auto.
„Pedro geht es nicht gut. Er hat offensichtlich einen Hexenschuss“, sagte ich ihr. „Ich trage ihn jetzt hinein und wir legen ihn auf euer Bett. Hast du ein dickes Kissen oder einen Schemel? Den will ich ihm unter die Knie schieben, das entlastet die Wirbelsäule.“
Inez rannte aufgeregt vor mir in das eheliche Schlafzimmer und bereitete alles vor. Blitzschnell rollte sie eine dicke Decke zu einem Kniepolster zusammen. Ich trug den stöhnenden Pedro zum Schlafzimmer durch und legte ihn so sanft wie möglich auf das Bett. Inez stand händeringend daneben und sah zu. Als sie sah, dass Pedro vor Schmerzen weinte, wurden ihre Augen aus Mitleid feucht.
„Was können wir nur tun, um ihm zu helfen?“, fragte sie verzweifelt.
Ich legte einen beruhigenden Arm um ihre Schultern.
„Wenn du eine Wärmflasche hast, dann bring sie und lege sie so dicht an sein schmerzendes Kreuz, wie möglich. Ich fahre eben hinunter ins Valle Gran Rey und hole die nötigen Medikamente aus der Apotheke. Mach dir keine Sorgen, Inez, wir bekommen deinen Pedro schon wieder flott.“
Ich bat sie um ein Blatt Papier und notierte darauf die Präparate, an die ich dachte. Ich steckte es in meine Brusttasche, rannte hinaus zum Wagen und fuhr los.
Ich fuhr die endlosen Serpentinen ins Tal mit quietschenden Reifen und viel zu schnell hinunter. Als ich Los Granados durchfuhr, konnte sich ein Fußgänger gerade noch vor mir in Sicherheit bringen und schüttelte mit der Faust. Kurz darauf hielt ich mit einem Ruck direkt vor der Apotheke in Borbalan.
Mit einem Satz sprang ich aus dem Laster hinaus und stürmte durch die Tür. Und landete in einer anderen Welt.
Im Vergleich zum gleißenden Licht des gomerianischen Morgens war es hier dunkel. Meine Augen brauchten eine Sekunde, um sich zu adaptieren. Auch war es kühler hier. Es roch nach Kräutern und Heilsalben.
Zwei Gestalten neigten sich über ein Stück Papier und murmelten miteinander.
Ich erkannte, dass es sich dabei um eine junge Apothekerin handelte, sowie um eine alte Frau.
„Perdóname por favor”, unterbrach ich die beiden.
Die Apothekerin hob ihre Augen von dem Papier und musterte mich mit einem Blick, der so kühl war, wie ihre Apotheke.
“Sie können mit mir ruhig Deutsch sprechen”, erwiderte sie.
(Dabei bin ich so stolz auf mein fließendes Spanisch).
“Und außerdem müssen Sie sich einen Moment gedulden. Sie sehen, dass ich mitten in einer Beratung bin. Die Señora hat mich gebeten, ihr den Beipackzettel dieses Medikamentes vorzulesen.”
Ich blickte auf den besagten Zettel. Es war ein sehr langer Zettel.
„Das geht leider nicht“, sagte ich hektisch, „es handelt sich um einen Notfall.“
„So. Ein Notfall also. Einen Augenblick.“
Die Apothekerin neigte sich wieder zu der kleinen, alten Frau herab und sprach sanft und freundlich in tadellosem Spanisch mit ihr. Dann geleitete sie sie fürsorglich zu einem Stuhl und setzte sie dort hin. Sie redete noch eine Weile beruhigend auf sie ein.
Es war zum Aus-der-Haut-fahren! Fehlte nur noch, dass sie dem alten Weiblein noch ein Glas Wasser bringt, dachte ich.
Und genau das tat die Apothekerin, denn sie kehrte mir erst einmal den Rücken zu und verschwand in die hinteren Räumlichkeiten.
„Könnten Sie sich bitte, bitte, meines Problems annehmen?“, schrie ich nun fast, „Es ist äußerst dringend.“
Sie tauchte mit dem Glas auf, brachte es der Frau, stellte sich wieder hinter die Theke, verschränkte die Arme vor ihrem weißen Kittel und fixierte mich mit ihren unergründlichen grauen Augen.
„Die Señora ist alt und ehrwürdig. Sie verdient es, mit Respekt behandelt zu werden. Ich denke, dass Sie dafür Verständnis haben. Also dann. Wo drückt der Schuh? Etwa die Schramme an der Stirn? Sie sehen für meine Begriffe nicht sonderlich notleidend aus.“
Ich fasste unwillkürlich an die Beule, die von der Schnalle von Carlos' Sporttasche stammte. Die hatte ich schon längst vergessen.
„Unsinn. Es geht um einen ebenso ehrwürdigen alten Mann, der einen Hexenschuss hat. Die Schmerzen bringen ihn fast um“, sagte ich kämpferisch.
„Haben Sie ein Rezept vom Arzt?“
„Nein, aber ich habe die Medikamente, die der Mann bekommen soll, hier notiert.“
Ich fischte den Zettel aus meiner Brusttasche, faltete ihn auseinander und strich ihn glatt, bevor ich ihn auf die Theke legte. Dabei sah ich, dass ich von der Feldarbeit dunkle Ränder unter den Fingernägeln hatte und zog meine Hände schnell zurück.
Die Apothekerin las mein Gekritzel. Sofort hob sie ihre Augenbrauen, übrigens zwei sehr klare, schön-geschwungene Augenbrauen.
„Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst?“, sagte sie in ungläubigem Tonfall, „Sie wissen doch sicher, dass ich Ihnen diese Präparate nicht einfach so aushändigen darf.“
„Doch, das müssen Sie sogar“, sagte ich jetzt barsch. „Ich bin nämlich Arzt.“
Jetzt lachte die Gestrenge. Dabei bildeten sich zwei Grübchen in ihren Wangen. Wenn diese Frau nicht so kühl und hochnäsig rüberkäme, könnte man sie direkt mögen, dachte ich.
„Sie? Arzt?“
Sie legte den Kopf auf die Seite und betrachtete mich amüsiert.
Ich sah an mir herunter und sah mein verschwitztes T-Shirt, meine schmutzigen Overalls und meine staubigen Schuhe.
Verstehen konnte man ihre Skepsis schon, dachte ich widerwillig.
Also griff ich in meine Gesäßtasche und holte meine Brieftasche heraus. Es dauerte eine Weile, bis ich das fand, was ich mit bebenden Fingern suchte. Wie lange trug ich dieses Dokument schon mit mir herum, ohne dass es das Dunkel meiner Tasche verlassen hatte? Als ich es herauszog, kam es mir vor, wie ein fremder Gegenstand, der eigentlich einem Fremden gehörte. Und doch war er meiner.
Mein Arztausweis.
Ich hielt ihn der Apothekerin vor die Nase. Sie nahm ihn entgegen und warf einen prüfenden Blick darauf. Jetzt runzelte sie ihre Stirn und streifte eine Locke beiseite. Sie hatte überhaupt einen beeindruckenden Lockenkopf, den sie mit einem Haarband gebändigt hatte.
Krause Haare, krauser Sinn.
Ich musste an den alten Spruch aus meiner Kindheit denken. Ob diese Aura von Disziplin, die sie umwehte, wirklich ihre wahre Persönlichkeit spiegelte?
„Tja, der sieht echt aus. Ist er dann wohl auch. Und Sie sind tatsächlich der besagte Jan Westhoff. Das Foto passt. Obwohl Sie da schon etwas gepflegter aussahen“, schmunzelte sie.
Sie reichte mir den Ausweis zurück, schnappte den Zettel und verschwand in das Medikamentenlager.
Ich atmete erleichtert auf. Anscheinend war ihr nichts aufgefallen.
Sie kehrte zurück, legte die Päckchen auf die Theke.
Aber ich hatte mich zu früh gefreut.
Nachdenklich sagte sie: „Sie sind der Jan Westhoff, nicht wahr?“
Bitter erwiderte ich: „Ja. Ich bin der Jan Westhoff.“
Dann knallte ich ihr das Geld für die Medikamente hin, steckte das Wechselgeld ein und verließ wortlos die Apotheke.
Als ich wieder in meinem Laster saß, klammerte ich mich mit eisernem Griff an mein Lenkrad, starrte einen Moment auf den Asphalt vor der Kühlerhaube und wartete, bis mein aufsteigender Zorn verebbte.
Ruhig Blut, Jan, sagte ich mir selbst. Die Apothekerin meinte es nicht böse. Das ging nicht gegen dich. Ihre Frage war naheliegend. Du hättest sie an ihrer Stelle auch gefragt.
Doch als ich dann die Serpentinen hoch nach Las Hayas fuhr, brodelte der ganze Mist wieder hoch, all das, das ich seit Jahren verdrängt und weggedrückt hatte.
Der Morgen, als ich zu der Operation antrat. Ich war schlaftrunken und übernächtigt gewesen. Die besagte OP war schon längerfristig vorbereitet gewesen, die Patientin perfekt darauf eingestellt, der Termin unaufschiebbar. Doch die Nacht zuvor hatte man mich zu einer Notoperation herbeigeholt. Es waren Pfingstferien und das Krankenhaus war unterbesetzt. Die Nachtoperation war lang und anspruchsvoll gewesen. Als am Morgen danach die OP der Patientin begann, merkte ich, wie meine Hände zitterten und meine Gedanken drohten, abzudriften.
Und dann der schreckliche Moment, als ich merkte, dass mein Skalpell abglitt und einen tiefen Schnitt verursachte, und zwar an einer Stelle, die unweigerlich zu schlimmen inneren Blutungen führen musste. Gott sei Dank starb die Patientin nicht, aber die Rekonvaleszenz war lang und heikel.
Wäre die Patientin eine Frau aus dem Volk gewesen, eine Otto-Normalverbraucherin, hätte es zwar Ärger gegeben, schon klar. Aber nach einer Weile wäre Gras darüber gewachsen. Wir sind alle nur Menschen. Wir machen alle Fehler. Selbst Ärzte tun das.
Aber bei dieser Dame handelte es sich um eine angesehene Schauspielerin, um die Besetzung der Hauptrolle einer beliebten Soap im Privatfernsehen. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Die Diva scheute nicht davor zurück, die Sache enorm aufzubauschen. In meinen finstersten Augenblicken meinte ich sogar, dass sie es bewusst wegen der zusätzlichen Publicity getan hatte.
Blitzschnell füllte der „Fall“ ganze Seiten in der Regenbogenpresse. Der „Arzt W aus dem Klinikum H“ war in aller Munde. Reporter tauchten vor meiner Wohnung auf oder belagerten mein Elternhaus in Münster. Eine Zeitung mit vier Buchstaben im Titel veröffentlichte ein Foto von mir, weiß der Henker, wo sie es her hatten.
Mein Chefarzt nahm mich beiseite und teilte mir mit, dass ich auf weiteres keine Operationen mehr durchführen würde.
Und ständig und immer war ich von der heißen Wut erfüllt, die auf einem tiefen Gefühl von Ungerechtigkeit wurzelte, die Ungerechtigkeit eines Systems, das seine Ärzte bis zum Zerbrechen forderte und sie dann ausstieß und verachtete, weil sie genau aus diesem Grund versagten.
Von diesem System wollte ich kein Teil mehr sein.
Und so kam es, dass ich meine Sachen packte, den Staub von meinen Füßen schüttelte und auf Gomera meine neue Heimat fand.
Und es war eine schöne, friedliche Heimat geworden.
Zwar erwischte ich mich noch immer dabei, dass ich, wenn ein paar deutsche Wanderer mit ihren Trekkingstöcken an meinen Weinterrassen vorbeiklapperten, meinen Kragen hochzog, oder meinen Hut tief ins Gesicht drückte und ihnen den Rücken zudrehte. Aber eigentlich war das nur noch ein Reflex und gänzlich überflüssig. Seit ich auf Gomera lebte, war ich ein andrer Mensch. Mit dem Jan Westhoff, der in Münster Medizin studiert hatte und später am Klinikum in „H“ gearbeitet hatte, hatte der zufriedene, geerdete Weinbauer nicht viel gemein.
Ich eilte in Pedros Haus hinein. Er lag ächzend in seinem Bett. Ich setzte ihm die Spritze in den Gluteus Maximus und es dauerte kaum eine Minute, bis ein erleichtertes Lächeln über sein Gesicht kroch.
„Chef, Danke“. Er drückte meine Hand.
Ich gab Inez genaue Anweisungen, in welcher Dosis und in welchem zeitlichen Abstand sie die Schmerztabletten verabreichen sollte, die ich für Pedro daließ. Sie fiel mir um den Hals und dankte mir überschwänglich. Als ich gehen wollte, steckte sie mir ein Stück Ziegenkäse aus eigener Herstellung zu.
Ich sagte ihr, dass ich morgen wieder vorbeischauen wollte und fuhr zurück zu meinem verwaisten Weingarten. Während ich dort meine Weinreben beschnitt, ausputzte und hochband, kam mir unwillkürlich der Gedanke, dass Arzt doch auch ein schöner Beruf sei, und dass er mir einmal sehr viel Freude gemacht hatte. Aber das war für mich endgültig vorbei. Ich war nicht mehr Jan Westhoff, der Arzt W aus H, sondern Juan Oestecorte, der Winzer.
Kapitel 5
Nach der Aufregung des Tages zog es mich wieder mal hinunter ins Valle Gran Rey. Auch wenn Anita mir verbot, sie in Las Hayas zu besuchen, sagte ich mir jeden Abend aufs Neue, so konnte ja wohl keiner etwas dagegen sagen, wenn ich auf ein Gläschen Wein im Casa Maria vorbeischaute.
Ich wollte sie einfach nur sehen, wollte den Orangenblütenduft atmen, wenn sie an meinem Tisch vorbeiwehte, und sehnte mich danach, ihrer schlanken Figur mit meinen Augen zu folgen.
Doch irgendwie hatte sich an diesem Tag alles gegen mich verschworen. Kaum saß ich an einem der kleinen Tische auf der Terrasse vor dem Lokal, da kam ein hagerer, älterer Mann mit einem Lappen und wischte die Tischfläche ab. Dann fragte er mich nach meiner Bestellung.
Ich gab sie auf und sah, wie er davoneilte. Etwa eine Stunde lang saß ich auf der Terrasse, aß etwas, trank noch mehr Wein, aber Anita war und blieb verschwunden. Mein Gemüt verfinsterte sich zunehmend.
Als die Sonne untergegangen war und es merklich kühl wurde, schnippte ich nach der Bedienung. Während ich dem Kerl das Geld hinzählte, fragte ich ganz beiläufig: „Wo ist denn Anita heute? Nimm es mir nicht übel, aber sie ist eine größere Augenweide, als du.“
Der Alte lachte zahnlos aber gutmütig. „Die ist nicht mehr hier. Und du bist übrigens der hunderttausendste Gast, der mich das heute schon gefragt hat. Sie hat eine neue Stelle.“
„Und wo?“
Der Alte warf einen knochigen Arm aus und zeigte mit dem Finger hoch hinaus in die Berge über dem Valle.
„Dort droben. Sie kellnert jetzt in dem neuen Restaurant unter dem Aquaduct in Arure, am Mirador El Santo.“
Das Restaurant am Mirador El Santo war seit vielen Jahren eine Bauruine gewesen. Jemand hatte vor langer Zeit ein ambitioniertes Projekt begonnen, das aber nie zu Ende geführt worden war. Dann, vor etwa einem halben Jahr, hatte ein reicher Investor, vermutlich vom Festland, das Gebäude aufgekauft und den Innenausbau zügig vorangetrieben. Ganz Gomera war deswegen neugierig und aufgeregt gewesen. Der neue Betreiber, ein Mateo Costa, hatte das neue Restaurant vor einem Monat mit einer großen Feier eröffnet, bei der es Freibier für alle gab.
Diese fand auf dem gepflasterten Platz statt, der gleichzeitig das Dach des Restaurants bildete.Man erreichte diesen Platz, indem man unter einem alten, kühngeschwungenen Aquaduct hindurchging, der nicht mehr genutzt wurde.
Am Ende des Platzes befand sich eine kleine Ermita, eine Kapelle, die vermutlich schon immer den Hauptzweck hatte, dass man darin ein Stoßgebet zum Himmel senden konnte, sei es, dass Gott einen auf dem mühsamen Abstieg in die Täler von Taguluche und Alojera beschützen möge, oder als Dank dafür, dass er einem beim Aufstieg geholfen hatte. Denn der Mirador El Santo hing wie ein Adlersnest in schwindelnder Höhe. Er war kaum zwanzig Meter breit und nur durch eine Mauer vom extrem steilen Hang getrennt, der fast tausend Meter tief ins Tal herabfiel.
Entsprechend atemberaubend war der Blick dort. Wenn man an der Kante stand, konnte man meinen, man säße in einem kleinen Sportflieger und sähe von weit oben auf die Erde herab. Die Häuser von Taguluche waren winzig wie Legosteinchen und das Meer lag wie ein blaues Laken da, auf dem sich weiße, stecknadelgroße Schaumkrönchen befanden. Selbst Menschen, die von sich behaupteten, absolut schwindelfrei zu sein, spürten, wie dieser Anblick ihren Kopf drehen ließ, und rückten lieber etwas von der Kante zurück.
Die Besucher der Feier hatten sich hauptsächlich auf der Terrasse aufgehalten, wo eine Tanzmusik spielte und verschiedene Buden mit Imbissen oder Kunstgewerbe aufwarteten.
Aber keiner hatte es sich nehmen lassen, das Bierglas an die Brust gedrückt, die Stufen der Wendeltreppe herabzusteigen, um den Gastraum ins Visier zu nehmen.
Ich war auch dabei gewesen. Man war durch den großen, äußerst geschmackvoll eingerichteten Speisesaal geschlendert und hatte über den gewaltigen Blick gestaunt, den die Panoramafenster boten. Man hatte seinen Blick über die weiß gedeckten Tische gleiten lassen und die edlen Stiche mit Inselansichten an den Wänden betrachtet. Man hatte gewürdigt, wie die Bilder durch kleine, versteckte Lampen geschickt angestrahlt wurden. Dann war man wieder hinauf auf den Platz gestiegen, hatte noch ein Bier getrunken und weitergefeiert. Dabei hatten alle sich gegenseitig kopfschüttelnd versichert, dass man selbst nie in den Genuss kommen würde, in diese Gaststätte einzukehren. Es war einfach alles zu edel, zu teuer, zu exklusiv. Es handelte sich eindeutig um einen Aufenthaltsort für Menschen mit einer fetten Brieftasche, für betuchte Touristen.
Und da arbeitete Anita nun. Auch wenn es mir vorkam, als sei sie mir dadurch noch mehr entrückt, als sie schon vorher war, sollte auch das mich nicht von ihr abhalten, da war ich mir sicher.
Am nächsten Abend gab ich mir besondere Mühe, mich nach der Feldarbeit präsentabel zu machen. Ich schrubbte den Staub unter der Dusche gründlich von meinem Körper ab, wusch meine Haare, rasierte mich, putze meine Fingernägel und benutzte zum ersten Mal seit meiner Gomerazeit ein teures Rasierwasser. Ich schlüpfte in eine frische Jeans. Dann zog ich ein weißes Hemd aus dem Schrank, das immer noch in exakt denselben Falten lag, in denen ich es damals zornig und unglücklich in meinen Koffer geworfen hatte. Ich schüttelte es aus und zog es mir über. Es roch noch ganz schwach nach dem Waschmittel, dass meine Mutter benutzte. Sie hatte damals meine Hemden für mich gewaschen und gebügelt.
Eigentlich wollte ich es nicht tragen. Der Typ, der geschniegelte weiße Hemden trug, existierte nicht mehr. Andererseits sah ich, als ich einen letzten kritischen Blick in den Spiegel warf, bevor ich mich auf den Weg zum Mirador El Santo machte, dass das Hemd mir nicht übel stand. In Deutschland war ich meistens blass gewesen. Nun hob sich mein gesundes, braungebranntes Gesicht besonders gut gegen das blendend-weiße Hemd ab.
Gut so. Anita sollte sich ruhig ein wenig nach mir verzehren, dachte ich.
Auch wenn ich einen Horror vor dem gehobenen Ambiente des neuen Restaurants hatte, (genau wie weiße Hemden, waren schicki-micki Lokale so gar nicht mehr meine Welt), so war die Lage des „Acueducto” nicht ungünstig.
Ich konnte meinen Wagen einfach stehen lassen, und unter zügigem Ausschreiten das Restaurant in weniger als fünfzehn Minuten erreichen. Kaum hatte ich die Carretera General Valle Gran Rey erreicht, die Hauptstraße, die das Valle mit dem Rest der Insel verbindet, da hielt ein Auto neben mir. Zwei Frauen in einem Mietwagen kurbelten das Fenster herunter und fragten mich, ob sie mich ein Stückchen mitnehmen sollten. Es waren unverkennbar deutsche Touristinnen, ziemlich flippig und vergnügt, etwa in meinem Alter.
Ich bedankte mich, aber lehnte ab. Sie machten deutlich enttäuschte Gesichter und fuhren weiter.
Hm, dachte ich mir, vielleicht sollte ich doch das Hemd häufiger aus dem Schrank holen.
Die kleine Gegebenheit tat mir gut. Die positive Rückmeldung über mein Aussehen gab meinem Selbstbewusstsein genau den Kick, den ich brauchte, als ich vor dem imposanten Eingang des Luxusrestaurants stand, und es galt hineinzugehen.
Man erreichte den Eingang, indem man einige Stufen von der Terrasse hinabstieg. Eine Glastür öffnete sich wie von Geisterhand und glitt hinter mir wieder zu. Ich stand auf einem polierten schwarzen Marmorboden. Die Deckenleuchten spiegelten sich auf seiner Fläche. Vom Gastraum hörte man das diskrete Klappern von Besteck auf Geschirr und leise Barockmusik, vermutlich Vivaldi.
Ein Kellner im akkuraten Anzug empfing mich und geleitete mich in den Gastraum. Auf dem Weg dorthin, sah ich ihn von der Seite an. Ich hätte schwören können, dass es Manuel war, der vor kurzem noch im Supermarkt in Borbalan an der Kasse gesessen hatte, aber vielleicht irrte ich mich auch.
„Ein Tisch für wieviele Personen?“, fragte er mich auf Deutsch, interessanterweise, ohne dass ich mich überhaupt als Deutscher zu erkennen gegeben hatte. Heimlich dachte ich mir, dass dies bezüglich des üblichen Klientels hier tief blicken ließ.
„Nur für mich, bitte.“
Ich merkte, dass er leicht verwundert war, aber er führte mich zu einem kleinen Tisch am Fenster, der für zwei Personen gedeckt war. Flink entfernte er das überzählige Gedeck, zündete die Kerze an und eilte davon, um mir die Speisekarte zu holen.
Eigentlich wäre für jeden Gast an meiner Stelle das der Moment, wo er sich dem Fenster zuwenden müsste, um sich voll und ganz dem Genuss des herrlichen Blicks hinunter nach Taguluche und hinaus aufs weite Meer zu widmen, aber meine Augen suchten stattdessen das Lokal nach Anita ab.
Das war gar nicht so einfach, denn der Raum war erstaunlich gut besetzt. Es waren nur wenige Tische frei. Ganz am Ende des Saals waren mehrere Tische zu einer langen Tafel zusammengestellt und eine größere Gesellschaft wurde dort bewirtet. Wahrscheinlich eine Familienfeier, dachte ich mir.
Und da sah ich sie; sie stand hinter dem Stuhl eines Gastes an dem langen Tisch, hatte den linken Arm hinter ihren Rücken gelegt und beugte sich vor, um mit der rechten Hand Wein nachzugießen.
Sie trug ein schwarzes Top, einen geraden schwarzen Rock und eine lange, weinrote Schürze, wie die anderen Kellnerinnen, die ich umherhuschen sah. Ihre Haare hatte sie zu einem flachen Zopf in den Nacken frisiert. Sie hielt sich sehr gerade und wirkte ernst und vornehm, kein bisschen wie die kesse, hüftschwingende Anita aus der Casa Maria, aber auch das stand ihr gut.
Am liebsten wäre ich gleich aufgesprungen und zu ihr hingerannt, aber das ging natürlich nicht. Ich musste mich gedulden.
Jetzt kam Manuel, (oder doch nicht Manuel), mit der Speisekarte zurück.
Ich studierte die Weinkarte und bestellte mir einen Tajinaste aus Teneriffa. Wenn ich hier schon teuer essen und trinken musste, um nahe bei meiner Angebeteten zu sein, konnte ich ja gleich mal testen, was die Konkurrenz so zuwege brachte, dachte ich.
Die Menükarte bereitete mir allerdings Kopfzerbrechen. Darin gab es nur schicki-micki Speisen, passend zum Ambiente dieses abgehobenen Restaurants. Entsprechend waren auch die Preise. Ich überlegte, ob ich lieber die Karte zuklappen sollte und bei meinem Wein bleiben, war mir aber sicher, dass das unangenehm auffallen würde.
Seufzend wünschte ich, dass Anita sich bald meinem hartnäckigen Werben ergeben würde, denn das Acueducto war als Stammlokal für eine soliden, aber bescheidenen Weinbauer eher ungeeignet.
Ich entschied mich für geschmortes Kaninchen in Knoblauchsoße. Die Arbeit im Weinberg hatte mich hungrig gemacht.
Anita hatte dem Gast fertig eingegossen und drehte sich, um zur Küche zu eilen. Da fielen ihre Augen auf mich.
Ich war wie auf die Folter gespannt. Was würde sie jetzt machen? Würde sie mich bewusst ignorieren, oder würde sie mir zunicken?
Aber meine Sorgen verflüchtigten sich schnell. Als sie mich erkannte, breitete sich ein freudiges Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie blickte schnell nach rechts und links, als ob sie sich vergewissern wollte, dass keiner im Moment sonderlich auf sie achtete und kam flink an meinen Tisch.
„Juan! Du hier?“, begrüßte sie mich. „Ich freue mich so, dich zu sehen. Ich habe noch häufiger an den Abend neulich denken müssen.“ Sie senkte ihre Lider und blickte auf ihre Schuhspitzen. Wieder staunte ich über ihre herrlich langen Wimpern, die wie die Flügel eines Vogels Schatten auf ihre Wangen warfen.
„Und?“, fragte ich ungeduldig, „Gerne, oder nicht so gern?“
„Ach, es tut mir schon leid, wie es ausgegangen ist“, sprudelte es aus ihr heraus. „Carlos kann so unmöglich sein. Aber es bleibt dabei. Es ist besser, wenn du uns nicht zu Hause besuchst. Aber wenn ich dich hier ab und zu sehen kann, dann freue ich mich schon sehr. Du siehst heute wahnsinnig gut aus, so elegant.“ Sie wurde rot.
Nun kam Manuel mit meinem Wein. Er funkelte Anita böse an.
„Anita, du weißt, wir sollen die Gäste nicht mit unserem belanglosen Geplauder belästigen“, sagte er auf Spanisch. „Außerdem wirst du am Tisch zwölf gebraucht. Schnell, lauf hin.“
Anita machte ein schuldbewusstes Gesicht, sah mich so lieb und bedauernd an, dass mir das Herz aufging, und eilte wieder davon.
Manuel entkorkte den Wein, goss mir einen Schluck ein und reichte ihn mir zum Verkosten.
Das muss man sagen, die Bedienung ist hier sehr gut geschult, dachte ich mir, während ich am Glas nippte, den Wein über meine Zunge rollen ließ und sein Aroma testete. Der Wein war herber, als mein eigener. Auch hatte er einen bitteren Abgang. Aber ich war mir sicher, dass Manuel nicht wirklich an meiner Meinung interessiert war. Seine Augen verfolgten stattdessen die davoneilende Anita.
Aha, hätte ich mir doch gleich denken können, dass auch er sich in sie verliebt hatte.
Ich nickte, um anzudeuten, dass der Wein mir genehm sei, aber er sah es gar nicht. Ich musste mich erst räuspern, bis er mich überhaupt wahrnahm.
Er füllte mein Glas voll und knallte die Flasche hart auf den Tisch. Dabei sah er mich nicht besonders freundlich an.
Aha, dachte ich, eifersüchtig ist er also auch noch.
Als Manuel wieder davongegangen war, überlegte ich mir, wie es sein würde, wenn ich tatsächlich eines Tages mit Anita verheiratet sein würde. Würden die Männer meiner Frau weiterhin so hinterher starren? Würde ich dann auch so reagieren, wie der unbeherrschte Carlos, und ihnen dafür den Kragen umdrehen? Möglich wäre es.
Ich blickte jedenfalls immer wieder in Anitas Richtung und freute mich über den Anblick, den ihre schlanke, bewegliche Figur bot, als sie emsig umher huschte. Ab und zu warf sie mir ein Lächeln zu und ich lächelte zurück.
Manuel brachte das sündhaft teure Kaninchen und ich zerlegte es und aß es. Bestimmt war es meisterlich zubereitet. Das Fleisch zerging auf der Zunge. Es hätte jedoch genauso gut Sägemehl sein können, so abgelenkt war ich.
Eine Weile lang verschwand Anita in die Küche. Da wandte ich mich endlich dem Panoramafenster zu und genoss den spektakulären Ausblick.
Das Acueducto lag direkt nach Westen ausgerichtet. In dieser fantastischen Lage konnte man den Sonnenuntergang über dem Atlantik in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit erleben. Es war ein klarer und ruhiger Abend, so dass man meinte, bis in die Unendlichkeit blicken zu können. Das Meer wurde beim Zusehen immer tiefer blau, im Himmel färbten sich die wenigen Wolken rosa, und die Sonne nahm im Sinken eine dunkelrote Färbung an. Die kleinen, fernen Wellen auf dem Meer, das tief unter uns ausgebreitet lag, fingen das Licht des purpurfarbigen Balls auf und warfen es wieder in tausenden glitzernden Reflexen zurück. Man konnte meinen, man säße an der verlöschenden Glut eines Feuers, und jemand würde einen Holzscheit hineinwerfen, der einen atemberaubenden Funkenflug hochwirbelte. Palmen hoben sich wie schwarze Scherenschnitte majestätisch vor dem prächtigen Hintergrund des Naturschauspiels ab.
Im Speisesaal des Acueducto wurde alles in ein goldenes Licht getaucht. Selbst die Gesichter der Gäste leuchteten überirdisch schön.
Die Gespräche verstummten. Alle Augen drehten sich wie verzaubert dem Anblick zu.
Wie gut, wie richtig, wie selbsterklärend, dachte ich, hier an diesem Ort einen Versammlungsort für Menschen einzurichten. Wie vernünftig von den Betreibern, dass sie endlich etwas aus dem schlummernden, gewaltigen Potenzial dieser ehemaligen Bauruine gemacht hatten.
Kein Mensch, der den Zauber eines solchen Sonnenuntergangs aus dieser Perspektive erleben darf, der nicht mit der Sehnsucht davongeht, recht bald das gleiche Schauspiel wieder erleben zu dürfen!
Selbst die Küchentür öffnete sich und der Chefkoch, seine Assistenten, die Bedienung, alle traten heraus und stellten sich am Fenster auf, um schweigend zuzusehen, wie die Sonne unterging. Anita bewegte sich ganz beiläufig peu a peu am Fenster entlang, bis sie ziemlich nah bei mir stand. Ich freute mich darüber. Fast hätten wir uns mit den Händen berühren können, aber wir taten das natürlich nicht. Manuel, der Blödmann, hatte uns fest im Blick.
Eine hintere Tür ging auf und ein Herr im dunklen Anzug mit einer schweren Brille betrat den Raum und sah ebenfalls zum Fenster hinaus. Auf einen Schlag hielt sich das ganze Personal noch ein Stück gerader und unterbrach sein murmelndes Geplauder.
„Wer ist das?“, fragte ich Anita aus einem Mundwinkel.
„Der Manager“, flüsterte sie, „Mateo Costa.“
Es dauerte eine kleine Weile, dann tauchte die Sonne hinter den Horizont. Wie auf Kommando, seufzten alle Anwesenden bewegt, und diejenigen, die förmlich die Luft angehalten hatten, atmeten wieder. Das Personal kehrte in die Küche zurück, die Gäste wandten sich einander wieder zu und setzten ihre Unterhaltungen fort.
Ich freute mich noch eine Weile an dem Abendrot, das sich noch im Himmel hielt und schaute nach den ersten Sternen aus, die nach und nach auftauchten.
Ich goss mir aus meiner Weinflasche nach und lehnte mich zurück. Ein Gefühl wohliger Zufriedenheit erfüllte mich.
Anita mochte mich noch. Ich würde weiter hierher kommen und sie sehen dürfen. Es war nur eine Frage der Zeit, dann würde Carlos selbständig sein und sich an seinen neuen Schwager gewöhnt haben. Vielleicht würden wir sogar richtig gute Freunde werden, wer weiß?
Das Leben war schön und würde noch schöner werden.
Meine wohlige Stimmung wurde jäh unterbrochen durch eine plötzliche Unruhe, die am Tisch der großen Festgesellschaft entstand. Stühle wurden auf einmal zurück geschoben, so dass die Beine auf dem harten Marmorboden scharrten, die Gäste sprangen auf. Stimmen wurden laut und hektisch. Eine Frau schrie auf und fing an zu schluchzen. Sie und die anderen Gäste beugten sich über den Körper des Tischvorsitzenden, ein betagter Mann, der im Laufe des Abends eine kleine Ansprache gehalten hatte. Vermutlich war es seine Geburtstagsfeier gewesen. Er war in sich zusammengesackt. Sein Kopf lag seitwärts gedreht auf der Tischplatte, seine Arme hingen schlaff an beiden Seiten herunter.
Obwohl es mir durch und durch zuwider war, folgte ich meinem natürlichen Impuls, sprang auf und eilte zu der Gruppe.
„Ist was geschehen? Kann ich helfen? Ich bin Arzt.“
Zehn Gesichter drehten sich mir zu.
„Ein Arzt?“, sagte die ältere Dame, vermutlich die Frau des alten Mannes, „Gott sei Dank! Mein Mann ist eben kollabiert. Ganz plötzlich. Bitte helfen Sie ihm!“
Ich wollte mich schon über den Mann beugen, da drängte sich Manuel dazwischen und sagte: „Das wird sicher nicht nötig sein. Wir haben den Notarzt schon alarmiert. Er wird sofort da sein. Kehren Sie bitte an Ihren Tisch zurück.“
So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich war empört. Manuel konnte ja meinetwegen eifersüchtig auf mich sein, aber das ging entschieden zu weit. Hier ging es schließlich um Leben und Tod. Der Mann benötigte sofortige Hilfe.
Ich schob ihn gewaltsam beiseite und beugte mich wieder über den Patienten. Doch als ich meine Hand an seine Halsschlagader legte, spürte ich keinen Puls mehr. Ich hielt meine Finger vor seinen Mund und merkte, das kein Atemzug ging. Es war ein eindeutiger Fall von Exitus.
Trotzdem wollte ich nichts unversucht lassen.
„Wir müssen ihn flach auf den Boden legen. Ich versuche eine Herzmassage und eine Mund-zu-Nase-Beatmung“, sagte ich.
Doch wieder schritt Manuel ein. „Ich glaube nicht, dass Sie die Befugnis dazu haben. Ich muss Sie wieder energisch auffordern: Kehren Sie an Ihren Tisch zurück oder verlassen Sie lieber sofort dieses Lokal.“
Ich war drauf und dran, ihm eine Tracht Prügel zu verpassen. Er hinderte mich möglicherweise daran, ein Leben zu retten. Was fiel ihm nur ein?
Da platzte jedoch die Tür auf und ein Arzt und ein Rettungssanitäter stürmten in den Raum.
Ich zog mich nun tatsächlich zurück. Mein Typ war offensichtlich nicht mehr verlangt. Aus einer gewissen Entfernung sah ich zu, wie der Arzt unbeholfene Rettungsversuche tätigte. Ich hätte das besser gemacht, dachte ich ärgerlich.
Dann brachte man eine Trage hinein, lud den Patienten drauf und trug ihn hinaus. Das ging natürlich nicht über die Wendeltreppe, sondern man trug ihn durch die Betriebsräume davon, die anscheinend zu einem Tor für die Lieferanten führte. Im Saal hörte man, wie draußen eine Autosirene aufheulte, die sich schnell entfernte. Hatte der Tölpel von Arzt immer noch nicht begriffen, dass, Dank seiner Stümperei, der Patient offensichtlich tot war?
Ich setzte mich erschüttert an meinen Platz zurück.
Die Tischgesellschaft war wie gelähmt. Die alte Dame saß weinend da, wie ein Häufchen Elend. Um sie scharte sich die restliche Gruppe und bemühte sich, sie zu trösten.
Jemand berührte meinen Ellenbogen. Es war Anita.
„Ich habe in einer halben Stunde Feierabend“, sagte sie. „Begleitest du mich bitte, bitte nach Hause. Nur bis zur Haustür. Ich bin völlig fertig. Das war gerade alles so grässlich.“
Ich griff nach ihrer schmalen Hand und drückte sie sanft.
„Natürlich mache ich das Anita. Wenn du mir noch ein Glas Wasser bringen würdest, dann warte ich eben noch so lange.“
Für mich war das noch ein beträchtlicher Umweg. Bis Las Hayas und zurück – das bedeutete noch fast eine Stunde, bis ich schlafen gehen konnte. Aber trotzdem freute ich mich darauf, mit Anita durch die einbrechende Nacht zu wandern.
Wenig später schritten wir seit an seit die Straße entlang. Hinter Arure nahmen wir denselben Weg querfeldein, den ich neulich gegangen war.
Es war eine helle Mondnacht, und so konnten wir gut erkennen, wo es entlang ging. Um uns herum dufteten die Blumen noch kräftiger als am Tag. Die Erde strahlte etwas Wärme ab und im Gestrüpp zirpten die Grillen unermüdlich vor sich hin.
„Es ist so seltsam“, sagte Anita. „Der Mann sah kurz vorher noch so gesund aus, so glücklich. Er hatte seine ganze Familie nach Gomera eingeladen, stell dir vor, um mit ihr seinen achtzigsten Geburtstag zu feiern. Bevor du kamst, hatten sie schon für ihn ein Ständchen gesungen und ihn alle umarmt und beglückwünscht. Und nun ist er tot. Ich kann es noch gar nicht fassen.“
Ich tröstete sie: „Das musst du nicht so tragisch sehen, Anita. Schau, der Mann war alt. Er hat offensichtlich ein glückliches, erfülltes Leben gehabt. Was gibt es eigentlich Schöneres, als wenn man nach einem guten Leben auch so einen guten Tod im Kreise seiner Lieben haben darf? Bestimmt wird seine Familie es auch bald so sehen.“
Anita zitterte leicht, als fröstle ihr. „Ja. Vermutlich hast du recht. Nicht wie bei meinen Eltern. Nicht viel zu jung und so plötzlich aus dem Leben gerissen.“
Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Dann sagte sie: „Und du bist wirklich Arzt?“
„Ja, aber ich habe den Beruf aufgegeben. Ich erzähle dir ein anderes Mal warum. Trotzdem habe ich einmal den Eid geschworen, dass ich jedem Menschen, der meine ärztliche Hilfe aus einem Notfall heraus benötigt, auch wirklich helfe. Deswegen konnte ich nicht einfach zusehen, wie der Mann hilflos da lag.“
„Seltsam, dass Manuel dir so dazwischengefahren ist, nicht?“, sagte Anita.
„Ja. Es war völlig unmöglich von ihm. Ich bin überzeugt davon, dass er es nicht verkraften konnte, dass ich unter deinen Augen plötzlich als großer Macker und Retter auftrat.“
„Meinst du wirklich?“
„Absolut. Er betrachtet mich als Konkurrenten.“
„Das ist völlig blöd von ihm. Du bist mir viel lieber.“
Mittlerweile waren wir an ihrer Haustür angelangt.
„Danke, Juan“, sagte Anita jetzt, „Das war total lieb von dir.“
„Musst du denn immer nach Feierabend alleine nach Hause gehen?“
„Na klar. Was sollte ich sonst machen?“
„Das ist mir nicht recht, dass du so alleine durch die Nacht geisterst. Und deinen verstorbenen Eltern wäre es auch nicht recht.“
Anita sah mich mit großen Augen an. „Ach was, ich bin doch schon groß und die Bewegung tut mir gut.“
„Nein. Ich werde dich Abends immer mit dem Auto abholen und nach Hause fahren.“
Doch Anita schüttelte den Kopf. „Ich will das nicht, Juan. Das regt bloß wieder Carlos auf. Außerdem habe ich dann das Gefühl, ich müsste das irgendwie wieder gutmachen, weil ich in deiner Schuld wäre.“
„Unsinn. Das musst du nicht. Ich würde nicht einmal von dir verlangen, dass du mich küsst.“
Sie legte ihren Kopf auf die Seite und sah mich verschmitzt an. „Nein? Schade.“
Also nahm ich sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.
Dann sagte ich ihr: „Morgen Abend hole ich dich ab und bringe dich nach Hause. Nicht vergessen!“
Sie verschwand in ihr Haus und ich trabte zurück nach Arure, weit beschwingter und glücklicher als vor wenigen Tagen.
Kapitel 6
Am nächsten Morgen fuhr ich vor der Arbeit bei Pedro vorbei.
Als ich Las Hayas erreichte, sah ich kaum auf die Straße, sondern blickte nach rechts und links, immer in der Hoffnung, Anita zu sehen. Schließlich war sie vormittags sicher irgendwo hier im Dorf. Ich überlegte, ob ich gleich an ihrem Haus vorbeischauen sollte, entschied mich aber dagegen. Ich wollte ihren Wunsch, sie dort nicht ungebeten aufzusuchen, lieber respektieren.
Pedro lag nicht mehr im Bett, sondern saß unter einer schattigen Laube auf einem bequemen Sessel, den Inez ihm herausgestellt hatte.
Er strahlte mich an. „Hey, Chef! Schön, dass du nach mir siehst.“
„Na, du lässt es dir hier gutgehen“, erwiderte ich und setzte mich auf eine Bank neben ihn.
Inez trat vor die Tür und begrüßte mich. „Darf ich dir etwas bringen? Einen Kaffee?“
Obwohl ich nun schon einige Zeit auf Gomera wohnte, konnte ich mich an den spanischen Kaffee nicht gewöhnen. Er war so ganz anders gebrannt, als unser deutscher Kaffee.
Deshalb schüttelte ich energisch den Kopf. „Nur ein Glas Wasser. Das wäre schön.“
„Und wie geht es dir wirklich, Pedro?“, fragte ich.
„Viel besser, Chef. Neulich dachte ich, ich würde am liebsten sterben. Solche Schmerzen habe ich noch nie gehabt. Aber jetzt geht es wieder. Deine Mittel helfen gut.“
„Natürlich tun sie das. Dafür sind sie doch da.“
„Aber ohne sie hätte ich es nicht ausgehalten.“
Ich dachte nach. Wie war das wohl früher gewesen, wenn so ein gomerianischer Weinbauer einen derartigen Hexenschuss gehabt hatte, vor den Zeiten von Opiaten und Voltaren?
„Du hättest es aushalten müssen, Pedro“, sagte ich einfach.
„Nein. Ich hätte mir einen Strick genommen“, sagte er. Dann lachte er. „Aber ich hätte sowieso damit nichts ausrichten können. Dafür war ich zu schmerzgekrümmt.“
Ich antwortete im selben Galgenhumor: „Und Inez hätte dir dabei auch nicht geholfen, soviel ist sicher.“
Wie auf Kommando kam Inez aus der Haustür heraus, stellte mir ein Glas Wasser hin und Pedro einen dampfenden Kaffeebecher. Dann schlang sie ihre Arme um ihren Mann und drückte ihm einen Kuss auf den Kopf.
„Ich bin so froh, dass es ihm besser geht“, sagte sie, „Ich wüsste nicht, was ich ohne meinen Pedro täte.“
Ich zwinkerte Pedro zu und er mir zurück. Nein, von Inez hätte er derlei „Hilfe“ niemals erwarten können, sagten wir uns gegenseitig mit unseren Blicken.
„Hast du noch genug Tabletten für ihn?“, fragte ich Inez.
Sie verschwand und brachte die halbleere Packung zurück.
„Hm“, sagte ich, „das könnte knapp werden. Du sollst zwar nicht dein restliches Leben Tabletten schlucken, Pedro, zumal diese hier sich ziemlich auf den Magen legen, aber bis die Entzündung ganz zurück gegangen ist, wirst du sie noch brauchen. Ich werde für Nachschub sorgen. Ansonsten musst du deine Beine und deinen Rücken schön warmhalten und dich auch ruhig mal ein bisschen bewegen. Die Bewegung tut auch gut.“
„Du kannst wohl gar nicht abwarten, bis ich wieder bei dir im Weinberg bin“, meinte Pedro mit künstlicher Empörung.
„Nein, kann ich nicht. Außerdem fehlst du mir. Mir ist verdammt einsam.“
„Und die schöne Anita? Hilft sie dir nicht über deine Einsamkeit hinweg?“, fragte Pedro spitz.
Ich blickte auf mein Glas, das ich in meinen Händen drehte.
„Du hattest recht. Es gestaltet sich alles ziemlich schwierig.“
Dann sprang ich plötzlich auf, stellte das Glas hin und wandte mich zum Gehen.
„Ich besorge dir noch mehr Tabletten und auch etwas zum Einreiben. Das kann dir Inez Abends auf dem Rücken auftragen. Werde schnell wieder gesund, Pedro. Wir brauchen dich.“
Dann ging ich zu meinem Lastwagen und fuhr in Richtung La Laguna Grande.
Am Abend, nach der Arbeit, putzte ich mich zwar nicht so übertrieben auf, wie neulich, als ich ins Acueducto gegangen war, aber ich schrubbte meine Hände, zog mir ein frisches T-Shirt an und wischte sogar mit einem alten Lappen den Staub von meinen Schuhen. Einerseits wollte ich einigermaßen nett aussehen, wenn ich Anita später abholte und nach Hause brachte, andererseits wollte ich nicht wieder unter dem kritischen Blick der Apothekerin leiden.
Auf der Fahrt hinunter ins Valle dachte ich über meine Unterhaltung vom Morgen mit Pedro nach.
Wie muss es früher gewesen sein, auf so einer Insel zu leben und ohne ausreichende ärztliche Versorgung? Heute war das alles kein Problem. Auf Gomera gab es Ärzte, ein Krankenhaus, sogar einen deutschen Arzt für die deutschen Touristen und Auswanderer. Die Ärzte waren sicherlich gut ausgebildet. Obwohl der Notarzt im Acueducto ein ziemlicher Trottel zu sein schien. So unbeholfen, wie der sich angestellt hatte... So etwas müsste eigentlich verboten sein.
Jedenfalls gab es die nötigen Mittel, um jemandem wie Pedro schnelle Erleichterung zu verschaffen. Früher blieb den Leuten in ihrer Not am Ende tatsächlich nur der Strick. Gruselig.
Die Apotheke in Borbalan kam mir nach diesen finsteren Gedanken besonders schön, sauber und friedlich vor. Schon als ich die weiße Fassade sah, freute ich mich auf den beruhigenden Duft nach Kräutern und Heilsubstanzen, auf die kühle Luft, die mindestens fünf Grad kälter war, als auf dem heißen Pflaster davor.
Auch heute war wieder die Apothekerin mit dem Lockenkopf im Dienst. Als ich durch die Tür trat, meldete mich eine Glocke an, und sie erschien aus dem hinteren Ladenbereich.
„Oh, welch hoher Besuch“, sagte sie spitz, „Der Arzt aus Deutschland.“
Ich legte eine braungebrannte, saubere Hand lässig auf die Theke.
„Erstens bin ich kein hoher Besuch, zweitens auch nicht mehr Arzt und drittens schon längst nicht mehr aus Deutschland. Ich lebe schon seit einigen Jahren auf Gomera.“
„Aha. Da hat es Sie also hin verschlagen, damals, nach der leidigen Geschichte“, sagte sie.
„Ja, hat es. Und das ist gut so. Ich lebe hier sehr zufrieden, danke.“
Ich wollte damit das Gespräch beenden und zu meinem eigentlichen Auftrag kommen, aber die Apothekerin verfolgte das Thema weiter.
„Sie dürfen mir nicht böse sein“, sagte sie jetzt in einem sanfteren Tonfall. „Es ist nur so, der Fall hat damals doch alle Welt beschäftigt und fasziniert. Sie waren doch das Tagesgespräch.“
„Wem sagen Sie das“, sagte ich säuerlich.
„Dabei weiß ich noch ganz genau“, fuhr sie fort, „das meine Kommilitonen und auch die Medizinstudenten seinerzeit in Münster alle auf Ihrer Seite waren. Wir haben uns nächtelang die Köpfe heiß geredet darüber, wie ungerecht das Ganze Ihnen gegenüber war.“
„Wie“, sagte ich nun überrascht, „Sie haben auch in Münster studiert?“
„Aber selbstredend. Münster hat doch einen der größten pharmazeutischen Lehrstühle in ganz Deutschland. Ich vermute mal, dass wir gleichzeitig dort waren.“
Ich kniff ein Auge zu und sah mir die junge Frau kritisch an. Da war kein Fältchen. Ihr Gesicht trug noch den Schmelz der Jugend, auch wenn sie das wahrscheinlich mit ihrer geraden Körperhaltung und strengen Art kaschieren wollte.
„Das ich nicht lache“, erwiderte ich. „Ich bin mittlerweile über dreißig. Sie, (oder ich darf wohl zu meiner ehemaligen Mitstudentin auch 'Du' sagen), du bist doch gerade erst aus den Kinderschuhen heraus.“
Da lachte die Apothekerin herzlich. „Nettes Kompliment. Ich bin selbst auch schon achtundzwanzig.“
Als sie lachte, sah sie richtig süß aus. Das Strenge fiel ganz von ihr ab und in jeder Wange bildete sich ein tiefes Grübchen.
„Und was hat dich nach Gomera verschlagen? Dein Spanisch ist verdammt gut, wie ich mich neulich überzeugen konnte.“
„Mein Vater hat auf einer Urlaubsreise meine Mutter kennengelernt. Sie war Lehrerin in der Dorfschule in Imada. Sie ist ihm nach Deutschland gefolgt. Ich bin zur Welt gekommen. Fertig.“
„Und dein Spanisch?“
„Meine Mutter hat nur Spanisch mit mir gesprochen. Ich bin zweisprachig aufgewachsen.“
„Und warum lebst du jetzt auf Gomera?“
„Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Er war sehr viel älter als meine Mutter, und meine Mutter zog es dann wieder in die Heimat zurück. Da bin ich einfach mitgegangen.“
„Und jetzt bist du hier Apothekerin.“
Sie nickte.
Ich fuhr fort: „...und du weißt meinen Namen, und ich deinen nicht.“
Da lachte sie wieder. „Entschuldigung. Das stimmt.“ Sie streckte mir ihre Hand entgegen. „Ich heiße Isabella. Isabella Weiß.“
Ich nahm ihre Hand und schüttelte sie. Ihr Händedruck war kräftig und selbstbewusst, wie der einer Frau, die sich ihrer Sache sicher war. Nicht unangenehm.
„Nun, Isabella, ich bin eigentlich nicht zum Plaudern gekommen“, sagte ich jetzt, „obwohl das Plaudern mit dir ganz nett war. Ich brauche noch eine Packung Voltaren und etwas zum Einreiben, Finalgon, oder so.“
„Für den armen, alten verehrungswürdigen Mann?“, scherzte sie.
„Ja, genau für den. Ich kann dir auch meinen Ärzteausweis zeigen.“ Ich griff in meine Tasche, aber sie sagte gleich: „Ist schon gut. Jetzt weiß ich ja Bescheid.“ Sie verschwand ins Lager. Kurz darauf kehrte sie wieder zurück und legte die Päckchen auf die Theke.
Während ich das Geld im Portmonee suchte, sagte sie: „Eigentlich schade, dass du deinen Beruf nicht mehr ausübst. Gomera könnte mit Sicherheit noch einen deutschen Arzt gebrauchen.“
„Vielleicht schon. Aber nicht einen deutschen Arzt, der schon einmal extrem unangenehm aufgefallen ist. Da verarzte ich doch lieber meine Weinstöcke. Wenn mir da einmal das Messer abrutscht, schreibt nicht gleich jeder hirnlose Reporter in der ganzen Republik einen blöden Artikel darüber“, sagte ich bitter.
Das traf nun wieder Isabellas Humor. Sie lachte herzlich. Irgendwie erfrischend.
Wir verabschiedeten uns jedenfalls als Freunde.
Als ich zurück nach Las Hayas fuhr, dachte ich darüber nach, dass dies das erste Mal seit dem schrecklichen Vorfall war, dass ich so locker darüber gesprochen und sogar gelacht hatte. Irgendwie hatte mir das ungeheuer gut getan. Mir war geradezu heiter zumute. Anscheinend dachte nicht alle Welt so schlecht über mich, wie ich immer gemeint hatte. Was hatte Isabella noch gesagt?
„Wir haben uns nächtelang die Köpfe heiß geredet darüber, wie ungerecht das Ganze Ihnen gegenüber war.“
Ich pfiff beim Fahren ein Lied vor mich hin. Ich glaube, die Sänger im Casa Maria hatten es neulich gesungen.
Kapitel 7
Nach Feierabend konnte ich es kaum abwarten, Anita wiederzusehen. Pünktlich zum abgemachten Zeitpunkt stand ich wartend mit meinem Laster vor dem Acueducto und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenker.
Ich rollte das Seitenfenster hinunter und genoss die kühle Abendluft, die hereinströmte. Es duftete nach Euphorbien und außerdem nach gutem Essen. Fast hätte ich Lust gehabt, hereinzugehen, um etwas zu essen, aber als ich an die astronomischen Preise im Lokal dachte, war ich froh, dass ich jetzt eine andere Möglichkeit hatte, meine Angebetete wenigstens einmal am Tag zu sehen.
Da hörte ich, wie ein Auto sich enorm schnell näherte. Es hielt mit quietschenden Bremsen vor dem Zugang zum Restaurant. Seltsam. Es war wieder ein Krankenwagen. Männer in weißen Kitteln sprangen heraus, holten eine Trage aus dem Innenraum und eilten in das Gebäude hinein.
Sollte ich mich wieder als Arzt zu erkennen geben? Brauchte man meine Hilfe?
Ich entschied mich dagegen. Anscheinend war ja professionelle Hilfe nun vor Ort.
Ich wartete.
Die Männer kamen wieder hinaus. Sie brachten einen Patienten auf der Trage, schoben ihn in den Krankenwagen hinein, sprangen selbst hinein und der Wagen fuhr in Windeseile mit Sirene und Blaulicht davon.
Merkwürdig. Das war nun der zweite Notfall in wenigen Tagen, dachte ich.
Wo blieb nur Anita?
Ich wartete noch eine ganze Weile. Erst als ich schon einen Fuß aus meinem Wagen gesetzt hatte, weil ich vorhatte, nach ihr zu schauen, näherte sich ihre Gestalt.
Ich sprang nun ganz hinaus, um sie zu begrüßen und ihr die Beifahrertür aufzuhalten. Sie zitterte am ganzen Leib und schien völlig aufgelöst zu sein.
„Anita, mein Herz, was ist mit dir?“, fragte ich sofort besorgt und nahm sie in die Arme.
„Ach Juan, es ist alles so grässlich“, schluchzte sie. „Es war genau so wie gestern. Die Leute waren so fröhlich und es war alles so nett. Diesmal war es eine Frau, die mit ihrem Mann zum Essen gekommen war. Plötzlich ist sie zusammengebrochen. Ich habe mich furchtbar erschrocken. Sie hatten gerade den Nachtisch gegessen und ich brachte den Mokka. Mir ist das Tablett aus der Hand gefallen.“
Dann weinte sie herzzerreißend.
Ich zog sie an meine Brust und klopfte ihr beruhigend auf den Rücken, wie bei einem kleinen Kind, das einen Albtraum gehabt hatte. Nach einer Weile ließ ihr Schluchzen nach.
„Komm“, sagte ich, „steig ein. Ich bringe dich nach Hause und du gehst zu Bett. Das ist alles schon fürchterlich, aber morgen früh sieht die Welt schon wieder besser aus.“
Während der Fahrt saß sie neben mir und putze sich die Nase. Das Zittern ließ allmählich nach.
Ich versuchte, sie aufzuheitern. „Das ist nicht gerade eine gute Reklame für die Küche des Acueducto, wenn die Leute darin reihenweise umfallen“, scherzte ich.
Aber sie sagte: „Das ist nicht komisch, Juan. Das Ganze gruselt mich. Ich meine, es ist nicht meine erste Begegnung mit dem Tod, schließlich habe ich damals schon mitbekommen, wie meine Eltern gestorben sind, aber dies ist bereits das zweite Mal in wenigen Tagen, dass ich Zeuge bei einem Sterbefall war. Am liebsten würde ich dort kündigen, aber die Bezahlung ist besser, als alles was ich jemals verdient habe.“
„Bist du dir denn überhaupt sicher, dass die Frau gestorben ist?“, fragte ich. „Vielleicht hatte sie nur einen Schwächeanfall und musste ins Krankenhaus. Schau, Anita, die Leute, die es sich leisten können im Acueducto zu essen sind doch durchwegs reiche, alte, fette Touristen.“
Jetzt musste Anita doch kichern. Dann schnäuzte sie sich wieder in ihr Taschentuch.
Ich fuhr fort: „Und diese Leute leben so etwas von ungesund. Der Schlaganfall oder Herzinfarkt lauert bei denen doch nur um die Ecke. Sie fahren in die Ferien, legen sich stundenlang in die Sonne, bekommen womöglich einen Sonnenstich und am Abend fressen sie sich die Plautze voll und trinken viel zu viel Alkohol. Da ist es das natürlichste auf der Welt, wenn sie mit dem Krankenwagen abgeholt werden müssen.“
Wieder kicherte Anita erleichtert.
Ich ergänzte: „Vermutlich geht es überall in allen Restaurants in ganz Gomera so zu, nur hast du es noch nicht mitgekriegt.“
Anita atmete erleichtert auf. „Ja. Bestimmt hast du recht, Juan. Danke, dass du mich so lieb tröstest. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich täte.“
Wir waren vor ihrem Haus angekommen. Sie sprang aus dem Wagen und ich bekam meinen Kuss, den Kuss, auf den ich mich jetzt täglich unbändig freute, auch weil er ein verführerischer Vorgeschmack davon war, welche Sinnenfreuden mich erwarteten, wenn ich Anita endlich heiraten dürfte. Ich gab ihr noch ein paar leichte Küsse auf die Wangen, die von ihren Tränen ganz salzig schmeckten.
„Ist alles wieder gut?“, fragte ich besorgt.
„Ja, alles wieder gut“, wiederholte sie meine Worte, „obwohl, ich schwöre, wenn da bald noch einer den Löffel abgibt, dann habe ich die Faxen dicke. Dann kündige ich wirklich.“
Da mussten wir beide lachen. „Obwohl ich vielleicht gar nicht kündigen müsste“, ergänzte Anita. „Unser Manager hat uns heute alle zusammengetrommelt und uns eine Ansprache gehalten, dass das Acueducto ein Ort sei, bei dem auch Prominente ein und ausgingen und er von uns zu allem, das darin geschieht, äußerste Diskretion erwarte, sonst würde er uns kündigen. Oder, nein, ich glaube er sagte sogar, er würde uns umbringen.“
„Na, das klingt ja ganz schön hart“, sagte ich.
„Oh ja, er ist wahnsinnig streng, aber – wie gesagt – er zahlt uns gut. Da kann man nicht meckern.“
„Da hast du wohl recht. Und das mit der Diskretion kann man auch nachvollziehen, denn die Medien schlachten doch alles, was sie bekommen können, schamlos aus“, sagte ich nicht ohne Bitterkeit.
Auf der Heimfahrt schmeckte ich noch das Salz von Anitas Wangen auf meinen Lippen.
Wie schön, dass es mir gelungen war, den dunklen Schatten aus ihrem Gemüt zu vertreiben.
Es hätte mich bekümmert zu wissen, dass sie eventuell die Nacht über weiter geweint hätte.
Es war schon ein seltsamer Zufall, dachte ich mir, dass dort zwei Gäste in so kurzem zeitlichen Abstand kollabiert waren. Aber solche Zufälle gab es bekanntlich ja immer einmal.
Am nächsten Morgen schaute ich vor der Arbeit wieder nach Pedro. Wider Erwarten, saß er nicht in seinem gemütlichen Sessel, sondern bewegte sich im Garten.
„Gut, Pedro“, rief ich ihm schon beim Aussteigen zu, „Du sollst dich ruhig ein wenig bewegen.“
Er hielt inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ja. Meine Frau hat mir keine Ruhe gelassen. Sie hat gesagt, dass ich lang genug faul gewesen sei, und wenn es mir schon so gut ginge, dass ich über die Straße zur Bar gehen könne, um eine cana zu trinken, dann könnte ich auch die reifen Orangen von unserem Baum ernten.“
Ich klopfte dem Alten auf die Schulter. „Ich freue mich, dass es dir wieder so gut geht, nicht nur für mich, weil ich deine Hilfe gebrauchen kann, sondern auch für dich. Es war schon schlimm, dich neulich so leiden zu sehen.“
Inez war vor die Tür getreten und hatte meinen letzten Satz mit gehört.
„Ja, und es war einfach nur wunderbar, dass du ihm so schnell helfen konntest. Wenn wir den Notarzt bestellt hätten, oder gar den Krankenwagen aus San Sebastian, dann hätten wir mit Sicherheit mindestens eine dreiviertel Stunde warten müssen. So schnell wie du wäre hier kein Mensch gewesen.“
Ich plauderte mit den beiden noch ein Weilchen, dann fuhr ich in meine Felder.
Auf dem Weg dorthin fuhr ein Tourist in einem Mietwagen vor mir langsam und behutsam durch die Kurven. Ich seufzte. Wie die Einheimischen, kannte ich alle Kurven wie im Schlaf und fuhr sie zügig und allermeist sicher. Wenn man so eine Schnarchnase vor sich hatte, konnte man für eine Strecke locker doppelt so lang benötigen, wie sonst. Überholen war zu riskant, denn die Kurven waren sehr unübersichtlich.
Ich dachte über Pedro nach und über meine Hilfsaktion von neulich. Selbst zur Apotheke ins Valle hatte es mich damals viel länger gebraucht, als es mir in der Situation recht war.
Inez' Worte klangen mir noch in den Ohren: „So schnell wie du, wäre hier kein Mensch gewesen.“
Mit einem Mal kam mir ein ganz eigenartiger Gedanke. Er war so plötzlich, dass ich erschrak und fast auf meinen Vordermann auffuhr, der gerade besonders heftig während einer Kurveneinfahrt bremste.
Wenn ein Krankenwagen so viel Zeit benötigte, um nach Las Hayas zu kommen, dann galt das doch wohl auch für Arure, das mit dem Auto nur zehn Minuten entfernt lag.
Was waren das für seltsame Krankenwagen, die am Acueducto nur wenige Minuten nach Eintreten eines Notfalls aufgetaucht waren?
Sie waren so schnell dagewesen, dass es einem geradezu gespenstisch anmuten musste. Als hätten sie nur darauf gelauert, herbeigeholt zu werden.
Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten und ich eine Gänsehaut bekam.
Was war das? Was ging da im Acueducto ab?
Ich erreichte meine Felder und arbeitete eine Zeit lang, aber diese neue Offenbarung ließ mich nicht los. Viel früher als sonst, warf ich mein Werkzeug hinten in den Laster und fuhr zurück nach Hause. Irgendwie kam mir der unruhige Gedanke, dass Anita an einem Ort, wo solche gespenstischen Krankenwagen angerauscht kamen und wieder verschwanden, nicht sicher sein könne. Ich wollte möglichst in ihrer Nähe sein.
Kurzentschlossen fuhr ich nicht direkt heim, sondern machte den kleinen Umweg zum Acueducto. Dort stellte ich meinen Laster am Straßenrand ab und schlenderte zum Restaurant hin. Ein Blick auf meine Uhr bestätigte mir, dass es noch viel zu früh war. Anita würde erst in einigen Stunden zum Dienst kommen. Was machte ich Idiot nur hier?
Egal, ich würde mich einfach einmal umsehen. Vielleicht fand ich irgendetwas, das mir half, das Geheimnis der gruseligen Krankenwagen zu lösen.
Vor der Ermita El Santo stand eine Bank. Von da aus konnte man gut erkennen, wer beim Acueducto kam und ging. Ich setzte mich hin, spielte den müden Touristen, und wartete.
Es war still, sonnig und überirdisch schön. Der Blick hinunter nach Taguluche nahm mich wieder einmal in seinen Bann. Das malerische Dorf lag wie eine Ansammlung winziger Zuckerwürfel tief unter mir. Auf einer Anhebung dahinter konnte man das kleine Dorfkirchlein San Salvador erkennen, das mit seinem gepflegten Versammlungsplatz der ganze Stolz der Dorfbewohner war. Dahinter ragte als finstere Kulisse die gewaltige Felswand des Roque de Mona. Schon manch ein Tourist hat sich darin verstiegen und musste entmutigt umdrehen, obwohl er eigentlich vorhatte, den Felsen zu umrunden. Ich hatte die Wanderung vor zwei Jahren gemacht. Sie war gefährlich, anspruchsvoll und anstrengend gewesen. Ich weiß noch wie heute, wie ich an einer Stelle, an der der Weg komplett ausgesetzt war, Halt an einem Stein in der Felswand gesucht hatte. In dem Moment, als ich ihn am stärksten benötigte, löste sich dieser Stein aus der Wand. Nur ein gewagter, verzweifelter Sprung hatte mich vom sicheren Absturz gerettet.
So ist Gomera. Bezaubernd schön, aber gleichzeitig auch gefährlich. Wie so manch eine Frau, dachte ich. Oder das Leben an sich.
Ich wäre fast auf der warmen Bank eingedöst. Hier war einfach nichts los.
Da nahm ich eine Bewegung aus meinem Augenwinkel wahr.
Flink sprang ich auf und flitzte hinter die Ecke der Kapelle. Dort konnte ich ungesehen auf den Platz schauen, von dem aus die Treppe hinunter ins Lokal führte.
Ein Mann kam zielstrebig über den Platz geschritten. Anscheinend wollte er etwas abgeben, denn er hatte eine Plastiktüte in der Hand.
Seine Erscheinung war seltsam, aber für Gomera nicht ungewöhnlich, denn auf der Insel gab es viele Menschen, die man nur als „Alt-Hippies“ beschreiben konnte.
Am auffälligsten war seine Frisur: Er hatte den ganzen Kopf voller langer Dreadlocks, die er zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen gezwängt hatte. Die wattige überschwängliche Frisur hätte eher in einen Hobbit-Film gepasst, als in unsere modernen Zeiten. Er trug eine Art gestreifte Haremshose, ein ausgefranstes, graues T-Shirt und einen knatsch-bunten Poncho. Der Mann ging auf die Treppe zu und verschwand im Lokal.
Ich wartete.
Nicht lange, da kam der Hippie wieder herauf, gefolgt vom Betreiber, Mateo Costa. Die Tasche trug der Hippie nun nicht mehr bei sich. Die beiden wechselten ein paar Worte und ich spitzte meine Ohren, um sie zu verstehen. Es war nicht leicht, denn sie sprachen mit gedämpfter Lautstärke.
„Fürs Erste müsste das dann reichen“, sagte Costa. „Danke.“
„Aber wir arbeiten weiter an der nächsten Lieferung, nicht wahr?“, fragte der Hippie.
„Ja, klar. Ich habe bereits weitere Anmeldungen für Ellas – ich kann mich kaum davor retten. Die Nachfrage ist enorm.“
Der Hippie grinste. „Sie melden sich also wieder.“
„Ja.“
Sie gaben sich die Hand und verabschiedeten sich. Der Hippie kehrte zurück auf die Straße, Costa stieg herab ins Lokal.
Jetzt war ich doch neugierig. Ich entschied mich, den Hippie zu verfolgen und eilte schnell hinter ihm her. Er war in einen alten verbeulten weißen Seat eingestiegen, vermutlich ein ausrangiertes Mietauto, wie es tausende auf der Insel gab.
Ich sprang in meinen Lastwagen, startete den Motor und verfolgte das Auto in einigem Abstand.
Es fuhr ziemlich schnell Richtung Las Hayas, dann durch den Ort durch, dann weiter nach Chipude. Ich vermutete, dass die Fahrt nach San Sebastian gehen sollte, und war schon kurz davor, die Verfolgung aufzugeben. So weit wollte ich heute nicht mehr fahren. Da überraschte mich der Hippie damit, dass er hinter Chipude von der Hauptstraße rechts abbog. Es ging zügig den Berg hinunter. Links von uns erhob sich die gewaltige Fortalezza, der alte Kultort der Guanchen.
Jetzt wurde mir klar: der Kerl fuhr nach La Dama. In La Dama gab es nichts. Nur riesige, hässliche Bananenplantagen, die unter Folie geschützt waren und die Insel verschandelten. Was hatte er dort nur verloren? Seltsam.
Nun bremste das Auto ab. Ich hatte eine Ahnung, dass er entdeckt hatte, dass ich ihn verfolgte. In La Dama ist der Hund dermaßen verfroren, dass auch kein nennenswerter Autoverkehr dorthin ging. Es waren nur der Seat mit dem Hippie und ich in meinem Laster auf der Straße, sonst niemand.
Da beschloss ich, die Verfolgung erst einmal aufzugeben. Besser, ich fuhr demnächst auf eigene Faust nach La Dama und erkundete dort die Lage in Ruhe.
An einer Ausweichstelle in einer Kurve wendete ich und fuhr zurück nach Arure. Ich musste mich um meine Ziegen kümmern und mich umziehen, damit ich einigermaßen manierlich aussah, wenn es Zeit war, Anita wieder abzuholen.
Auf der Rückfahrt dachte ich über das nach, das ich am Acueducto gehört und gesehen hatte.
Anscheinend lieferte der Hippie irgendetwas an, das Costa von ihm bestellte und ihm abkaufte. Was konnte das sein? Drogen?
Vielleicht züchtete der Hippie in La Dama Hanf und er belieferte das Lokal mit Haschisch.
Aber irgendwie machte das keinen Sinn. Was sollte so ein Luxuslokal mit Haschisch anfangen? Höchstens, dass Costa ein heimlicher Drogendealer war, oder so.
Die andere Frage war: was meinte Costa mit „Ellas“? Das war mir völlig schleierhaft. Übersetzte man „ellas“ ins Deutsche, bedeutete es „sie“.
Was konnte das nur sein? Ging es um versteckte Prostitution? Oder um irgendwelche Lustorgien? Brauchte Costas dafür die Drogen, sozusagen als Enthemmer für die Gäste?
Halt, sagte ich mir, jetzt geht deine Fantasie mit dir durch, Jan. Du malst dir nur solche wilden Konstruktionen aus, weil du dir Sorgen um Anita machst, wie ein überbeschützender Vater. Das ist alles bei den Haaren herbeigezogen. Sicher gibt es für alles eine ganz normale Erklärung.
Und trotzdem: Was hatte es mit den seltsamen Krankenwagen auf sich? Die waren schon sehr merkwürdig.
Mein Hirn rotierte und rotierte, ohne dass mir irgendeine Antwort zu meinen tausend Fragen zuflog.
Ich wartete bis zu Anitas Feierabend und fuhr dann zum Acueducto hin.
Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber kaum bog ich um die Ecke am Mirador El Santo, da sah ich, dass schon wieder ein Krankenwagen vor dem Restaurant stand.
Mein Herz begann zu wummern. Ich musste die Gelegenheit nutzen, um hinter das Geheimnis zu kommen, das schwor ich mir.
Also hielt ich meinen Laster, sprang schnell heraus und rannte zu dem Krankenwagen.
Die Sanitäter trugen gerade einen älteren Mann auf der Trage hinaus. Neben der Trage ging eine elegante Dame, die sich an sie herandrängte und die Sanitäter fast bei ihrer Arbeit behinderte. Dicht hinter ihr folgte eine junge Frau, eigentlich noch ein richtiges Mädchen von 17 oder vielleicht 18 Jahren, das ein Taschentuch an sein Gesicht presste und vor Kummer ganz aufgelöst war.
Der tollpatschige Arzt von neulich gab Anweisungen, wie die Sanitäter den Kranken zu betreuen hätten.
„Ist okay, Dr. Luengo,“ nickte einer der Sanitäter.
Während der Patient in den Wagen geschoben wurde, näherte ich mich der jungen Frau und sprach sie an.
„Ein Unfall?“
Sie schluchzte nur laut auf und nickte.
„Hören Sie“, raunte ich ihr hastig zu, „Ich weiß nicht was hier abgeht, aber ich habe das Gefühl, dass jemand der Sache auf den Grund gehen sollte. Ich werde dem Krankenwagen hinterher fahren. In etwa einer Stunde bin ich zurück. Wenn es Ihnen möglich ist, treffen Sie mich bitte dann hier an dieser Stelle. Ich möchte mit Ihnen reden.“
Das Mädchen kämmte sich seine glatten, blonden Haare mit der Hand aus dem Gesicht und sah mich mit ihren porzellanblauen, rotgeweinten Augen an. Darin sah ich etwas, das mich überraschte. Es war nicht die reine Verzweiflung, sondern ein Funke Wut und Kampfgeist. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie mein Anliegen sofort begriff und unterstützte.
Dann rannte ich zurück zu meinem Laster und startete den Motor.
Kapitel 8
Der Krankenwagen fuhr zügig los.
Er schlug die Richtung nach San Sebastian ein, was mir sehr Recht war, denn diese Straße ist sehr befahren, und meine Verfolgung würde nicht weiter auffallen.
Zunächst fuhr mein Vordermann mit Blaulicht und Sirene. Ich hoffte schon, dass er nicht zu schnell fahren würde, denn es wurde schon dunkel und ich hatte keine Lust, wie ein Bekloppter über die gefährliche Straße zu rasen.
Dann geschah aber etwas Seltsames. Kaum waren wir außer Sichtweise des Acueducto, da stellte der Fahrer sowohl die Sirene als auch das Blaulicht aus und verlangsamte sein Tempo auf eine normale Fahrgeschwindigkeit.
Was zum Henker! War der Patient etwa gestorben und es lohnte sich nicht mehr zu rasen? Anders konnte ich mir diese Änderung nicht erklären.
Wir kamen auf die Höhen unterhalb des Garajonay, der höchsten Erhebung Gomeras. Hier fuhren wir durch den Lorbeerwald, in dem sich die Passatwolken immer wieder verfangen. Die Sicht wurde mit einem Mal durch Nebelschwaden eingeschränkt. An einer Abbiegung schob sich ein fremdes Auto vor mich. Ich machte den Scheibenwischer an und kniff meine Augen zusammen, um den Krankenwagen vor mir nicht aus dem Blick zu verlieren.
Der Wagen vor mir war wieder mal ein Tourist und fuhr sehr vorsichtig.
Verflucht! Der Abstand zwischen dem Krankenwagen und mir wuchs zusehends. In einer verwegenen Aktion überholte ich den Touristen an einer halbwegs geraden Strecke. Ein Reisebus kam mir auf der Fahrbahn entgegen. Ich drückte auf das Gas und zog gerade noch an dem Touristen vorbei. Sowohl vom Bus als auch vom Touristen ertönte zorniges Hupen.
Toll! Das sollte doch eigentlich eine diskrete Verfolgungsjagd sein, dachte ich fluchend.
Ich heftete mich wieder an die Fersen des Krankenwagens.
Eigentlich müsste er ins Krankenhaus nach San Sebastian fahren. Doch ganz gegen meine Erwartungen, bog er bald nach rechts ab und wählte die Route nach Alajero. Wo wollte er nur hin?
Es wurde immer dunkler und die ersten Lichter in den fernen Dörfern flackerten wie Glühwürmchen auf. Konzentriert fuhr ich hinter dem Krankenwagen weiter. Er hatte nun seine Scheinwerfer angemacht und seine Rücklichter waren deutlich zu erkennen, wie sie vor mir über die Serpentinen herunter nach Alajero hertanzten, in den Kurven kurz verschwanden und dann wieder auftauchten.
Mit einem Mal wurde mir klar: Der Krankenwagen fuhr nicht zum Krankenhaus, auch nicht auf Umwegen. Der Krankenwagen fuhr direkt zum Flughafen, dem einzigen Flughafen auf Gomera.
Nun machte ich mir wieder Sorgen, ob meine Vordermänner erkennen würden, dass ich sie verfolgte.
Ich bremste ab und fiel deutlich zurück. Am Flughafen blendete ich meine Scheinwerfer ab und suchte einen Ort, an dem ich unauffällig parken könnte. Ich fand einen überwucherten Geröllhaufen aus altem Bauschutt, der abseits der Flughalle lag. Nun musste ich mich durch unwegsames Gestrüpp kämpfen, und da es hier zudem dunkel war, war es ein unbeholfenes Treten und Stolpern.
Bald schlug mir das Herz bis zum Hals und mein Atem brannte in der Lunge.
Ich hielt inne und atmete einen Moment lang durch, dann suchte ich mit meinen Augen den Krankenwagen. Er stand an einer Art Halle, die sich abseits von der eigentlichen Flughalle befand, vermutlich ein Umschlagplatz für Frachtgut.
Frachtgut. Mich fröstelte. Der Mann in dem Krankenwagen war vielleicht vor einer Stunde noch lebendig gewesen. Jetzt war er anscheinend Frachtgut.
In der Dunkelheit konnte man die weißen Kittel der Sanitäter und des Arztes ausmachen. Sie waren aus dem Krankenwagen ausgestiegen und machten sich am Heck zu schaffen. Ich pirschte mich noch näher heran, so nah wie möglich, ohne gesehen zu werden. Da sah ich durch eine Spalte in der Halle, was sich darin abspielte.
Der leblose Körper des „Patienten“ wurde aus dem Wagen herausgezogen. Ein Zinksarg stand bereit. Die Sanitäter hoben den Leichnam in den Zinksarg. Ein Arbeiter im Blaumann tauchte von irgendwo auf und half ihnen, den Deckel auf den Sarg zu setzen.
Nach getaner Arbeit stand die kleine Gruppe noch herum und plauderte. Ein Licht flackerte auf und rote Punkte schwebten in der Luft. Der Duft nach Tabaksqualm zog unter meine Nase.
„Wann geht der raus?“, fragte jemand.
„Gleich morgen früh. Er wird auf Teneriffa umgeladen. Dann -zzt! - ab nach Deutschland.“
„Ab in die Heimat“, sagte eine andere Stimme und lachte. Die anderen Männer lachten mit.
„Ja“, sagte einer, „Diesmal nicht mit dem Luxusflieger. Da gibt es keinen Film, keine süßen Stewardessen und kein Dutyfree.“
Sie lachten noch kräftiger.
Ich hatte genug gehört. Eines war mir klar: den Arzt und die Sanitäter hatte dieser „Patient“ schon von Anfang an nicht mehr gebraucht. Der war mausetot, und sie hatten es schon gleich gewusst.
Ich bekam eine Gänsehaut. Mir war sonnenklar: ich war da einer Sache auf der Spur, die gänzlich makaber und mit Sicherheit auch kriminell war.
Ein Blick auf meine Uhr zeigte mir, dass es höchste Zeit war, zurück zum Acueducto zu fahren. Ich musste Anita abholen und nach Hause bringen. Sicher wartete sie schon ungeduldig auf mich. Und ich musste sehen, ob das blonde Mädchen tatsächlich bereit war, mit mir über die Vorkommnisse des Abends zu sprechen.
Nun musste ich mühsam zu meinem Laster zurückkämpfen. Einmal musste ich mich hinter eine niedrige Betonmauer ducken, als der Krankenwagen wieder auftauchte und durch das Gelände zurück zur Hauptstraße raste. Um ein Haar wäre ich in seinen Scheinwerferkegel geraten.
Als ich endlich hinter dem Lenker saß, war ich schweißgebadet.
Ich fuhr zurück nach Arure so schnell ich konnte, aber aus der geplanten Stunde waren fast zwei geworden.
Ob Anita überhaupt auf mich gewartet hatte? Vermutlich nicht. Es war spät geworden. Sicher hatte sie den Weg nach Hause bereits zu Fuß angetreten. Ich überlegte, ob ich statt zum Acueducto erst nach Las Hayas fahren sollte. Vielleicht konnte ich sie auf dem Heimweg noch aufsammeln. Aber, nein. Sie ging zu Fuß sicher querfeldein. Da käme ich mit dem Auto sowieso nicht an ihr vorbei.
Als ich mich der Gaststätte näherte, hielt ich Ausschau nach der jungen Frau. Es war nun ganz dunkel und es gab kaum Laternen. Entmutigt dachte ich, dass sie sicher auch zurück in ihr Hotel gekehrt war. Die wilde Verfolgungsjagd zum Flughafen hatte alles durcheinander gebracht. Andererseits war ich froh, dass ich sie unternommen hatte, denn jetzt wusste ich, dass mein Eindruck, dass etwas im Acueducto faul sei, keinesfalls täuschte.
Ich hielt mit meinem Wagen etwas abseits des Lokals, stellte den Motor aus und wartete.
Es war mittlerweile Mitternacht. Kein Mensch bewegte sich hier.
Ich musste mir ehrlich eingestehen, dass ich anstelle der jungen Frau auch nicht stundenlang vor dem geschlossenen Restaurant auf einen fremden Mann gewartet hätte, der mich mit wirrem Zeug zu gequatscht hatte und dann davon gerast war. Würde ich sie jemals wiedersehen?
Es war alles so überaus ärgerlich. Ich hatte mir schon erhofft, dass eine Unterhaltung mit ihr mich mit meiner Recherche weitergebracht hätte. Aber das konnte ich jetzt wohl auch vergessen.
Ich startete meinen Motor wieder und fuhr nach Hause. Unterwegs machte ich Pläne für den nächsten Tag. Auf jeden Fall würde ich noch einmal nach La Dama fahren und mich dort umsehen. Ich wüsste zu gerne, was der Hippie dort verloren hatte. Dann müsste ich versuchen, herauszufinden, um was für eine seltsame Truppe sich das handelte, die zu den „Rettungseinsätzen“ am Acueducto auftauchten. Meine Weingärten müssten erst einmal ohne mich auskommen, so viel war sicher.
Kapitel 9
Als ich in meine Einfahrt einbog, sah ich etwas, das sich wie ein dunkler Schatten vor meinem Haus bewegte. Mein Puls beschleunigte sich. Wer konnte das sein? Lauerte mir da jemand etwa auf? Jemand, der schon Wind von meiner Schnüffelei bekommen hatte, und dem das nicht gefiel?
Ich bremste ab und suchte nach etwas, das ich als Waffe benutzen könnte. Ein kurzer Spaten lag im Beifahrerfußraum. Die linke Hand am Lenker, beugte ich mich herunter und hob ihn mit der rechten auf. Nun war mir etwas wohler, aber mein Puls ging nach wie vor schnell.
Ich stellte meinen Laster ab und öffnete die Fahrertür langsam, wobei ich mich nach allen Richtungen umsah.
Da stürzte jemand heran. Ein Mann.
Mit einem Satz sprang ich aus dem Wagen und schwang mit dem Spaten nach dem Fremden.
Der Kerl war auf meinen Angriff unvorbereitet und fiel mit einem Aufschrei zu Boden. Obwohl ich voller Zorn gegen den Eindringling auf meinem Land war, hoffte ich sofort inständig, dass ich niemanden ernstlich verletzt hatte.
Ich griff nach einer Taschenlampe, die ich immer vorne auf der Ablage hatte, und leuchtete dem Mann voll in das Gesicht.
„Was zur Hölle?“, rief ich entgeistert.
„Argh! Das frage ich mich auch, du Saukerl!“, war die empörte Antwort.
Im Lichtkegel meiner Taschenlampe saß, in sich zusammengekauert, Carlos und hielt seinen Arm. Blut lief aus dem Ärmel über den Ellenbogen herunter. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.
Meine Knie wurden ganz weich vor Schreck. Ich hätte gerade fast meinen zukünftigen Schwager erschlagen, schoss es mir durch den Kopf.
„Komm“, sagte ich nur, „Steh auf und komm mit ins Haus. Wir müssen uns das näher angucken“, ich zeigte auf seinen Arm, „und dann kannst du mir gleich erklären, warum du hier nachts um mein Haus herumschleichst.“
Ich half Carlos auf die Füße und legte seinen gesunden Arm um meinen Nacken. Dann schleppte ich ihn zur Haustür, schloss mit meiner freien Hand auf, machte Licht und nahm ihn hinein.
Ich setzte ihn auf einen Stuhl.
„Bleib da sitzen und bewege dich nicht vom Fleck“, sagte ich streng, „ich hole eben mein Verbandszeug.“
Es dauerte keine Minute, da saß ich auf einem Stuhl neben ihm und schnitt mit der Verbandsschere seinen Hemdärmel ab. Ich zog das durchgeblutete Stück Stoff behutsam von seinem Arm weg. Es sah nicht gut aus. Der Spaten hatte ihn mit der harten Kante getroffen und das Blut lief aus einem Schnitt heraus.
„Ich werde das jetzt reinigen und sehr fest verbinden“, sagte ich, „Der Schnitt sieht zwar schlimm aus, aber genäht werden muss er wohl nicht.“
„Woher willst du das denn wissen, du Arsch“, herrschte mich Carlos an, „Bring mich lieber zu einem Arzt.“
„Ich bin Arzt“, zischte ich ihn an, „Wenn du willst, zeige ich dir meinen Ausweis. Wenn ich dich jetzt bis nach San Sebastian bringe, ohne dass deine Verletzung versorgt wird, kannst du entweder verbluten oder an einer Blutvergiftung sterben.“
Gut, das war ein wenig dick aufgetragen, aber es war wichtig, dass Carlos begriff, dass er sich von mir postwendend verarzten lassen musste, selbst wenn er voller Widerwillen gegen mich war.
„Ein toller Arzt bist du“, spie er jetzt aus, „der andere Leute krankenhausreif schlägt.“
Ich schraubte die Flasche mit Desinfektionsmittel auf, goss etwas davon auf einen Tupfer und reinigte die Wundstelle. Carlos jaulte vor Schmerz auf. Er tat mir leid, der arme Kerl, aber schließlich hatte er sich nur selbst zu verdanken, dass es so weit gekommen war.
Dann nahm ich eine Bandage und wand sie fest um die Verletzung. Zu guter Letzt nahm ich ein Dreickstuch, führte es um seinen Hals und knotete es zu einer Schlinge. Den verletzten Arm stellte ich ruhig.
„Du darfst den Arm einige Tage nicht bewegen“, sagte ich.
„Na toll, und was sage ich den Leuten auf dem Bau? Die schmeißen mich doch raus!“
„Ach Quatsch, es wird dort immer mal vorkommen, dass einer krank ist. Jetzt werd' mal nicht überdramatisch“, sagte ich schroff.
Ich holte eine Flasche von meinem Wein, entkorkte sie, und goss uns jedem ein Glas voll ein. Dann holte ich etwas Brot und eine Schale mit angemachtem Ziegenkäse, mit Almogrote. Ich strich für Carlos ein Brot, legte es auf einen Teller und schob es ihm unter die Nase.
„Da, iss was“, sagte ich, „Wir haben beide eine Stärkung nötig, nach dem Schreck in der Nachtstunde.“
Ich sah ihn an. Mein Herz ging auf, als ich die Ähnlichkeit zu Anita erkannte. Er hatte dieselben großen, dunklen Augen, dieselben langen Wimpern. Nur funkelte er mich unter zusammengezogenen Augenbrauen böse an. Die Aggressivität, die er ausstrahlte, war wie eine physische Präsenz in meinem kleinen Haus.
„Wo ist sie?“, platzte er jetzt heraus, „Was hast du mit ihr gemacht?“
„Wen meinst du?“, fragte ich, obwohl ich schon ahnte, wen er meinte, und mein Herz fing an, vor Angst und Sorge gegen meine Rippen zu klopfen.
„Anita. Sie ist heute Abend nicht nach Hause gekommen. Ich habe gewartet und gewartet. Ich habe sie immer wieder auf ihr Handy angerufen, und sie ist nicht dran gegangen. Dann bin ich den ganzen Weg zum Restaurant zu Fuß durch die Dunkelheit gegangen. Ich dachte, ich würde sie unterwegs treffen, aber nada.“
Ich spürte, wie mir ganz schwach wurde. Ich griff nach meinem Weinglas und nahm einen kräftigen Schluck. Der Wein lief meine Speiseröhre hinunter, traf meinen Magen und verbreitete ein trügerisches warmes Gefühl. Er konnte das Zittern, das meinen Körper erfasst hatte, nicht vertreiben.
Carlos erzählte weiter, wobei seine Stimme anfing, zu beben. Man merkte, wie er mit sich kämpfte, um nicht vor seinem Erzfeind in Tränen auszubrechen.
„Da dachte ich mir, dass sie vielleicht bei dir wäre. Übernacht. Sie ist ja ganz verrückt nach dir.“
Ich sah Carlos mit weit aufgerissenen Augen an. Dann fuhr ich mir mit der Zunge über meine trockenen Lippen. „Hier ist sie auch nicht“, erwiderte ich tonlos. Dann entfuhr es mir: „Oh Gott! Wo ist sie dann?“
Carlos verbarg sein Gesicht mit einer Hand. Seine Schultern begannen zu zucken. Er weinte.
Ich dachte fieberhaft nach. Was sollten wir nur machen? Es war mitten in der Nacht. In der Dunkelheit würden wir nichts erkennen können. Eine Suchaktion wäre völlig hirnrissig.
Und dann, vielleicht war ja alles in Ordnung. Vielleicht gab es für Anitas vermeintliches Verschwinden sogar eine vernünftige Erklärung.
Ich sprach es laut aus: „Vielleicht hat sie nur ein Missgeschick bei der Arbeit gehabt. Sie könnte in der Küche ausgerutscht sein und sich verletzt haben. Vielleicht liegt sie wohlversorgt im Krankenhaus und ist ein wenig traurig darüber, dass sie dich nicht benachrichtigen kann.“
„Könnte sie doch“, schniefte Carlos, „Schließlich haben wir beide Handys.“
„Ja, aber vielleicht erlauben sie ihr im Krankenhaus nicht, es zu benutzen.“
Carlos hob jetzt seinen Kopf und sah mich an. Ein Hoffnungsfunken flackerte in seinen dunklen Augen.
„Ich schlage Folgendes vor:“, sagte ich, „Wir legen uns jetzt schlafen. Ich habe ein Bett für dich in meinem Gästezimmer. Morgen früh fahren wir als Erstes nach San Sebastian in das Krankenhaus. Da kannst du deinen Arm noch einmal versorgen lassen. Es würde sicher nicht schaden, ihn sicherheitshalber röntgen zu lassen. Und wir werden bestimmt Anita dort antreffen. Es wird sich alles aufklären, du wirst es sehen.“
Carlos nickte stumm und wischte sich mit einen Ärmel über seine feuchten Augen.
Ich sprang auf, räumte die Lebensmittel schnell weg und machte das Bett für ihn zurecht.
Etwa eine halbe Stunde später war es in meinem Haus dunkel und still.
Ich war physisch todmüde, geradezu erschlagen. Aber mein Geist war hellwach.
Wo war Anita? Dunkle Ahnungen erfüllten mich.
Ich warf mich in den verbleibenden Nachtstunden von der einen Seite auf die andere. Erst als ein Vogel vor meinem Fenster sang, und das Tageslicht dämmerte, fiel ich in einen unruhigen, fieberähnlichen Schlaf.
Kapitel 10
Ich wurde davon wach, dass ich das seltsame Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Ich lag zunächst mit geschlossenen Augen da und bekam eine Gänsehaut, als ich deutlich hörte, wie neben meinem Bett regelmäßige Atemzüge gingen.
Als ich meine Augen plötzlich aufschlug, machte mein Herz einen Freudensprung. Ich blickte in Anitas Gesicht.
Dann krampfte es sich sofort zusammen, als die Erinnerung zurückströmte.
Das war nicht Anitas Gesicht, es war das ihres Bruders Carlos, der ihr so ähnlich sah.
Anita war seit gestern verschwunden.
Carlos blickte vorwurfsvoll auf mich hinab. „Ich dachte, wir fahren heute nach San Sebastian.“
„Ja“, sagte ich schlaftrunken, „Ja, Carlos, machen wir auch. Gib mir bitte zwei Minuten, zum wach werden, ja? Nimm dir etwas zum Frühstück aus dem Kühlschrank. Ich bin gleich bei dir.“
Als er verschwunden war stöhnte ich und presste meine Hände auf die Augen.
Ich hatte Angst vor dem Tag der vor mir lag, eine Höllenangst. Was würde er bringen?
Mit Sicherheit nichts Gutes. Es würde verdammt schwer werden, meine schlimmen Befürchtungen vor Carlos zu verbergen. Der Glückliche wusste nichts von den seltsamen Vorkommnissen am Mirador und von den gespenstischen Krankenwagen, die dort nachts kamen und gingen.
Ich raffte mich mit schwerem Herzen auf, zog mich mechanisch an und gesellte mich zu ihm am Küchentisch. Mit dem gesunden Appetit der Jugend war er gerade dabei, eine dicke Scheibe Brot mit Schinken zu verschlingen.
Ich nahm eine Scheibe Brot aus dem Korb, warf sie aber wieder zurück. Stattdessen braute ich mir einen starken deutschen Kaffee. Meine Mutter versorgte mich damit in Carepaketen aus Münster. Ich kippte das Gebräu brühheiß hinunter, stellte den Becher in die Spüle und griff nach meinem Autoschlüssel.
„Also dann, Sportsfreund, wir starten in fünf Minuten“, sagte ich und ging hinaus vor die Tür. Der Himmel war schon tiefblau und die Sonne schien gerade hinter der Blütendolde der Agave, die an meinem Zaun wuchs. Sie leuchtete weißer denn je, als wäre sie eigentlich eine kostbar geschmiedete Lampe. Der Tau glitzerte auf dem Gras unter meinem Mandelbaum und es duftete nach den Blüten, die darauf wie blassrosa Tropfen hingen. Die Ziegen meckerten im Stall, und ich ging und trieb sie hinaus. Kaum waren sie im Freien, da beugten sie ihre gehörnten Köpfe und begannen genussvoll das feuchte Gras zu rupfen.
Es könnte alles so schön sein, so perfekt, dachte ich, wenn nicht diese dunkle schwere Decke auf mir liegen würde und mich auf den Boden drückte; das Gefühl, dass etwas geschehen sein könnte, das meine ganze Welt aus dem Lot werfen würde.
Ich seufzte schwer und setzte mich hinter den Lenker meines Lasters. Bis Carlos erschien, saß ich nur da und starrte durch die Windschutzscheibe, ohne dass ich irgendetwas wahrnahm.
Als er dann eingestiegen war, fuhr ich schweigend los. Mir war nicht nach Plauderei.
Carlos ging es anscheinend genauso.
Nach etwa einer halben Stunde fragte ich nur: „Hast du gut geschlafen?“
Carlos nickte.
„Und der Arm?“
„Geht so“, sagte Carlos.
Dann schwiegen wir die restliche Strecke bis San Sebastian.
Nach einer Stunde erreichten wir das Hospital Nuestra Senora de Guadalupe. Das beeindruckende moderne Gebäude mit seiner schlichten grauen Fassade sah nicht sonderlich einladend aus. Seit meinen Erfahrungen als junger Arzt in Deutschland mied ich Krankenhäuser wenn irgend möglich. Am liebsten hätte ich Carlos gesagt: „Geh du mal rein, ich hole dich dann später ab.“ Schließlich war er doch schon groß. Er könnte alleine klarkommen. Aber noch viel wichtiger als sein Arm, war die brennende Frage, ob Anita hier wäre.
Also stellte ich das Auto ab, und wir gingen seit an seit in das Gebäude. Sofort umfingen uns die typischen Gerüche und Geräusche eines Krankenhauses. Es roch nach Desinfektionsmitteln und Sauberkeit. Schwestern eilten zielstrebig in ihren weißen Uniformen vorbei. Ihre Schritte klapperten hart auf dem spiegelblank polierten Boden. Carlos und ich gingen zum Empfang.
Eine sehr effizient aussehende Dame im dunkelblauen Kostüm tippte etwas in einen Computer. An ihren Ohrläppchen klemmten überdimensionierte Ohrclips mit künstlichen Perlen.
Als wir vor ihr standen, tippte sie noch eine Weile weiter, dann sah sie uns über ihre Brille an.
„Dieser junge Mann hat einen Unfall gehabt und muss nachversorgt werden“, sagte ich ihr.
„Zweiter Stock, den Gang hinunter bis zum Ende. Melden Sie sich dort erneut an“, sagte sie wie aus der Pistole geschossen.
Ich sah Carlos aufmunternd an. „Du gehst schon mal vor. Ich komme dann gleich.“
Er fragte: „Und was ist mit...?“
Ich sagte hastig: „Das kläre ich gleich mit der freundlichen Dame hier. Bestimmt kann ich dir gleich Näheres berichten, wenn ich zu dir herauf komme. Du solltest den Doktor nicht warten lassen.“
Ich wartete, bis er mit hängenden Schultern ins Treppenhaus verschwunden war. Dann wandte ich mich an die Dame.
Sie sah mich wieder über die Brille an. „War da noch etwas?“
„Ja. Ich möchte mich nach einer Patientin erkundigen, nach einer Anita Morales. Aus Las Hayas. Sie müsste noch gestern Abend hier eingeliefert worden sein.“
Die Dame runzelte die Stirn. „Ich kann mich nicht an den Namen erinnern, obwohl ich heute früh die Neuzugänge alle registriert habe.“
Mein Herz sank.
„Vielleicht ist er Ihnen nur entfallen. Bitte sehen Sie noch einmal nach.“
„Mir entfällt eigentlich nie etwas“, sagte sie spitz, fing aber an, einige Tasten des Computers zu drücken.
Ich hielt den Atem an und betete heimlich. Die Frau starrte auf den Bildschirm. Dann schüttelte sie ihren Kopf. „Nein. Da ist keine Anita Morales gemeldet. Tut mir Leid.“
„Aha“, sagte ich, „Danke für Ihre Mühe“. Dann wandte ich mich schnell ab und schritt zu einem Fenster. Dort stand ich und starrte vor die Glasscheibe.
Nicht hier.
Das hättest du im Voraus wissen können Jan, sagte ich mir. Die Sache mit dem Krankenhaus hattest du dir doch nur zurechtgelegt, um Carlos zu beruhigen. Du hast doch nie selbst daran geglaubt.
Trotzdem spürte ich, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Es hätte ja doch war sein können, dachte ich rebellisch, sie hätte ja doch hier im Krankenhaus liegen können.
Wo war Anita? War sie etwa – um Himmels Willen – auch in so einem gespenstischen Krankenwagen geholt worden und in einen Zinksarg gelegt worden? Allein die Idee drohte, mich in eine tiefe Verzweiflung zu stürzen.
Mir kam ein Gedanke. Ich kehrte zur Empfangsdame zurück, stellte mich an die Theke und räusperte mich.
„Noch etwas?“ Sie sah ungeduldig zu mir auf.
„Ja. Mich würde interessieren, ob es auf Gomera in der letzten Zeit auffällig viele Noteinsätze in Arure gegeben hat.“
„Guter Mann“, sagte die Frau jetzt kühl, „Sie werden sich doch wohl denken, dass ich Ihnen darüber keine Auskunft geben darf, selbst wenn es so wäre. Ich sage nur so viel: Auf Gomera gibt es nicht mehr oder weniger Noteinsätze, als auf jeder anderen Kanareninsel. Und meines Wissens trifft das genauso auf die verschiedenen Ortschaften hier auf der Insel zu. Reicht Ihnen das?“
Nein, es reichte nicht. Am liebsten hätte ich sie bei ihren blau-kostümierten Schultern gepackt und es aus ihr heraus geschüttelt, bis ihre dicken Ohrclips durchs Zimmer geflogen wären, die blöde Kuh. Stattdessen wandte ich mich frustriert ab. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Carlos war jetzt schon eine halbe Stunde lang beim Arzt. Ich kalkulierte, dass es wohl noch etwas länger dauern würde.
Wieder schritt ich zum Krankenhausdrachen.
„Würden Sie mir bitte einen Gefallen tun?“
Sichtlich genervt, sagte sie ironisch: „Aber gerne doch.“
„Wenn der junge Mann von eben wieder auftaucht, sagen Sie ihm bitte, dass er auf mich hier warten soll. Ich bin in einer Sekunde wieder da.“
Sie machte eine Wedel-Bewegung mit der Hand, die ich als positive Antwort deutete.
Ich verließ die kühle Krankenhauslobby und stand draußen in der brennenden Sonne. Einen Moment überlegte ich, wo es wohl lang ging. Ich verfolgte die Gebäudefront, bis ich um die Ecke kam und mich an der Seite befand. Da fand ich, was ich suchte: Die Anfahrrampe für die Rettungsfahrzeuge. Etwas abseits standen vier Krankenwagen unter einem Dach und warteten auf ihren Einsatz. Ich ging hin und sah sie mir genau an. Es waren alles vier Wagen von ein und der selben Automarke, nämlich Ford Transits. Der Krankenwagen in Arure war ein VW T4 gewesen, da war ich mir 100% sicher. Ein Sanitäter trat vor die Tür. Er sah mich und kam auf mich zu.
„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, fragte er nicht sonderlich freundlich.
„Nein“, erwiderte ich, „Ich vertrete mir nur ein bisschen die Beine. Ich warte auf meinen Schwager. Der ist noch im Krankenhaus“, ich zeigte mit dem Daumen auf das Gebäude.
Sein Gesicht entspannte sich. „Ach so.“
Ich zeigte auf die Krankenwagen. „Da haben Sie ja eine tolle Einsatzflotte. Macht sicher richtig Spaß, damit Einsätze zu fahren.“
Der Mann nickte und sagte stolz: „Die sind ganz neu. Das beste, was es auf dem Markt gibt. Da hat sich die Gemeinde nicht lumpen lassen.“ Dann grinste er. „Wäre ja schade, wenn wir nur so alte Karossen hätten, bei dem supermodernen Krankenhaus.“
„Und alles Ford Transits?“, fragte ich.
„Ja klar, sieht man doch.“
„Früher hatte man auf Gomera doch T4s“, behauptete ich probeweise.
Aber der Sanitäter zuckte nur mit den Schultern. „Da dürfen Sie mich nicht fragen. Ich bin erst neu hier am Krankenhaus. Seit einem Jahr.“
„Und der Notarzt, der “, (was hatte der Sanitäter am Acueducto noch gesagt? Luco? Lento?), „der Dr. Luengo“, (es war war mir wieder eingefallen), „ findet er die neuen Wagen auch gut?“
Der Sanitäter kniff seine Augen zusammen und sah mich misstrauisch an.
„Wollen Sie mich hier etwa komisch ausfragen oder was?“, fragte er aggressiv, „Was soll der Quatsch? Einen Dr. Luengo gibt es hier gar nicht. Hat es meines Wissens auch nie gegeben. Und jetzt gehen Sie wieder zurück ins Krankenhaus. Ihr Schwager wird auf Sie schon warten.“
Er machte auf der Hacke kehrt und verschwand im Seiteneingang.
Pfff.
So war das also. Hätte ich mir denken können. Einen Dr. Luengo gibt es hier gar nicht.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Der Sanitäter hatte Recht gehabt. Mein „Schwager“ würde auf mich schon warten.
Ich eilte zurück in die kühle Krankenhauslobby. Carlos saß auf einem der Wartestühle. An seinem Arm war ein neuer Verband. Er war ganz in sich zusammengefallen, den Kopf zwischen den Schultern. Ich ging zu ihm und fasste ihn beim Arm.
„Hier bin ich wieder, Carlos.“
Als er seinen Kopf hob, sah ich, dass seine Augen rot geweint waren. Ich warf einen Blick zu der Empfangsdame. Sie zuckte mit den Schultern, als wolle sie sagen: „Nicht meine Schuld.“
„Sie ist nicht hier“, schniefte Carlos, „Du hast gelogen.“
Ich ging in die Hocke und sah ihm in das Gesicht. Dann redete ich mit ihm, wie mit einem Kind.
„Nein, ich habe nicht gelogen, Carlos. Ich habe nur gesagt, dass es möglich wäre, dass Anita hier ist. Ich war mir genauso wenig sicher wie du, dass wir sie hier finden würden. Gott alleine weiß, wie sehr ich mir das auch gewünscht hätte“, stieß ich aus, „Aber sie ist nun mal nicht hier. Wir werden sie schon noch finden. Vielleicht ist sie schon längst in Las Hayas zu Hause und wartet auf dich, wer weiß? Wir fahren jetzt dorthin und sehen nach.“
Carlos nickte stumm und stand auf. Wir gingen hinaus zu meinem Laster, stiegen ein und fuhren zurück nach Westen.
Kapitel 11
Auf der Fahrt waren wir ebenso wortkarg, wie auf der Hinfahrt.
Mir ging viel zu viel durch den Kopf, schreckliche, beunruhigende Dinge. Der alte Krankenwagen, den es offiziell gar nicht mehr auf Gomera gab. Der Notarzt, der eigentlich nicht existierte.
Der Notarzt, der eigentlich nicht existierte.
Mir kam eine Idee. Obwohl wir schon auf der Ausfallstraße aus San Sebastian heraus waren, suchte ich eine Gelegenheit zum wenden. Carlos runzelte die Stirn. „Ich dachte, wir fahren nach Las Hayas.“
„Tun wir auch. Ich muss nur vorher noch etwas klären.“ Ich fuhr zurück nach San Sebastian.
„Aber ich will zurück nach Las Hayas. Jetzt“, sagte er trotzig.
„Da fahren wir sofort hin. Es dauert nicht lang, du wirst sehen.“
Erstaunlich schnell fand ich am Straßenrand, was ich suchte, eine Telefonzelle. Darin schlug ich das Telefonverzeichnis auf und blätterte. Dann schlug ich es wieder zu, eilte zum Auto zurück und fuhr wieder los.
„Wir machen einen kleinen Umweg über Hermigua“, sagte ich.
„Warum?“
„Weil ich mir über etwas Klarheit verschaffen will.“
Carlos fragte nicht weiter, sondern schwieg wieder. Ich sah ihn von der Seite an. „Und? Was sagt der Arzt?“
„Er sagt, er ist okay“, war die wortkarge Antwort.
„Hat er ihn auch geröntgt?“
„Ja.“
„Und?“
„Alles okay.“
„Hat er dir ein Attest für die Baustelle geschrieben?“
Carlos nickte und fasste an die Brusttasche seines Hemdes, in der etwas raschelte.
Wir schwiegen uns wieder an.
Nach etwa einer viertel Stunde räusperte sich Carlos und sagte: „Der Arzt meinte, dass der Arm expertenmäßig versorgt worden sei. Er fragte, wer das gemacht hat.“
„Und?“
„Ich habe ihm gesagt, ein Kumpel von mir.“
Ein Kumpel von mir. Mir wurde warm ums Herz.
Nach einer gefühlten halben Stunde sagte Carlos: „Der Doktor sagte dann, dass mein Kumpel wohl ein verdammt guter Arzt wäre.“
Ein verdammt guter Arzt. Es war lange her, dass mich jemand so genannt hatte. Es fühlte sich gut an.
In Hermigua kurvte ich hin und her, bis ich endlich die Calle del Tabaibal fand. Ich hielt vor dem Haus mit der Hausnummer aus dem Telefonbuch. Es war verschlossen. In den brüchigen Steinen vor der Haustür wuchs Gestrüpp. Die Fensterläden waren zugeklappt. Das Haus schien gar kein Dach mehr zu haben.
Ich sagte Carlos: „Warte hier. Ich bin gleich wieder da.“
Dann stieg ich eine schmale Steintreppe hoch, die auf die nächste, höhere, Straßenebene führte. Hier konnte ich über ein Geländer auf das fragliche Haus hinabsehen.
So etwas Seltsames hatte ich noch nie gesehen. Das Ganze mutete mir an, wie die stark vernachlässigte Puppenstube eines kleinen Mädchens, bei der man ungeniert in die Zimmer hineinblicken kann, nur dass man hier die Einsicht von oben hatte, denn das Haus hatte tatsächlich überhaupt kein Dach mehr.
Man sah hinab auf zwei bescheidene Zimmer: ein Schlafzimmer und eine kleine Wohnküche. Im Schlafzimmer war das schmale Ehebett akkurat gemacht worden. Eine Steppdecke lag ordentlich auf das Bett gebreitet. Zwei Kissen lagen seit an seit am Kopfende, bereit für zwei müde Köpfe. Schlichte Arbeitskleider hingen an Wandhaken. Wegen des trockenen Klimas auf dieser Insel sah alles noch gut erhalten aus. Bei uns in Deutschland hätte der Regen alles weg rotten lassen. Ein Waschtisch hielt eine Emaille-Schüssel bereit. Im Nachbarraum war der Schrank ganz schief, aber ein, zwei blau-weiße Keramikteller standen auf seinem Bord. Über allem war ein Staubschleier. Reste des eingefallenen Daches lagen auf dem Boden verstreut, sowie auf dem Bett und den Möbeln. Das Merkwürdigste an dem ganzen Anblick war eine alte Kinderpuppe. Vom Stil her stammte sie aus den 50-er Jahren. Sie lag rücklings mitten auf dem Bett und grinste mich übermütig an, und jeden anderen, der auf das Haus fasziniert herabblickte.
Ich sah mich um. Da entdeckte ich an der Straße einen alten Mann, der auf einer Bank saß. Er trug eine Schiebermütze auf seinem Kopf, die Hände hatte er übereinander auf den Knauf eines Gehstocks gelegt, den er vor seine Füße gestellt hatte. Er nickte mir freundlich zu.
„Bitte“, fragte ich ihn, „Können Sie mir sagen, wem dieses Haus gehört?“
Er meinte: „Sagen Sie lieber: wem es einmal gehört hat. Es steht schon ewig leer.“
„Aber wo sind die Besitzer hin? Sind sie...“, mich überlief ein Frösteln, „...bei einem Unfall ums Leben gekommen?“ Ich musste unwillkürlich an Anita und Carlos' Eltern denken, denen auch so ein Unglück widerfahren war.
„Unsinn“, sagte der Alte. „Wo sollten sie schon sein? Ausgewandert sind sie.“ Er warf seinen Arm aus in die allgemeine Richtung des Meeres, „Fort. Nach Amerika. Wie alle.“
„Und wissen Sie, wie sie hießen?“
„Ja. Das waren die Luengos“, sagte er, „Sie sind nie wieder zurückgekehrt.“
„Kann es sein, dass ihre Nummer noch immer im Telefonbuch steht?“
Er grinste. „Auf Gomera schon.“
Sie sind nie wieder zurückgekehrt.
Ich hatte erfahren, was ich wissen wollte. Meine Vermutung war bestätigt. Der Notarzt, der in Arure Dienst gemacht hatte, war gar keiner. Ich hätte mir das gleich denken können, als ich seine unbeholfenen Rettungsversuche gesehen hatte.
Ich bedankte mich bei dem alten Mann und kehrte zum Auto zurück.
Carlos war ärgerlich.
„Du warst doch ganz schön lange weg. Was sollte das?“
„Es musste sein“, antwortete ich kurz.
„Hatte das denn irgendetwas mit Anita zu tun?“, bohrte er weiter.
„Sicher nicht“, sagte ich, um ihn zu beruhigen.
Insgeheim dachte ich: Gebe Gott, dass es so ist!
Auf der Fahrt zurück nach Las Hayas musste ich immerfort an das seltsame Geisterhaus in Hermigua denken.
Seine Besitzer hatten es vor Jahrzehnten verlassen. Sie hatten das Bett ordentlich gemacht, vielleicht alles noch einmal durchgefegt, dann hatten sie die Tür abgeschlossen, sich nicht mehr umgedreht, waren vermutlich nach Teneriffa oder aufs Festland gereist, hatten ein Schiff bestiegen und hatten ihr Glück in der Neuen Welt gesucht.
Ob sie jemals wieder einen Gedanken an ihr Haus verschwendet hatten? Hatten sie vorgehabt, einmal zurückzukehren? War ihnen am Ende in der Fremde etwas zugestoßen? Und die Puppe: Hatte ihre Tochter erst auf der Fähre nach Teneriffa gemerkt, dass sie die Puppe vergessen hatte? Hatte sie deswegen bitterlich geweint?
Ich ahnte schon, warum dieses eigentümliche Haus mich so besonders anrührte; es war diese Atmosphäre, die es atmete: Hier wurde etwas abgebrochen. Hier wurde etwas nicht zu Ende geführt. Hier hingen abgerissene Fäden in der Luft, die eigentlich verknotet sein sollten.
Mein Leben war auch so. Seit dem Vorfall in Deutschland. Ich hatte diese Tatsache immer gut verdrängt, aber nun lebte sie wieder auf und bedrückte und bedrängte mich auf das Neue. Ich hasste das.
„Gleich kommt die Stelle“, unterbrach Carlos plötzlich meine Gedanken.
„Welche Stelle?“, fragte ich verwirrt.
„Wo es geschehen ist.“
Da fiel es mir ein. Die Stelle, an der das Auto seiner Eltern in die Tiefe gestürzt war.
Ich konnte darauf nichts erwidern. Sonderbar, wie dieser Hinweis genau in meine Überlegungen passte. Abgebrochenes Leben. Abgerissene Fäden.
Ich legte eine Hand kurz auf Carlos' Hand und drückte sie fest, sagte aber nichts. Worte würden nur stören.
Als wir endlich in Las Hayas ankamen, war Carlos deutlich blass und er kaute nervös an seinen Fingernägeln.
Ich hielt vor dem Haus. Mein Herz klopfte unruhig.
„Geh hinein und schau nach“, sagte ich. „Ich warte hier. Wenn sie da ist, brauchst du nur winken, dann bin ich beruhigt und fahre weiter.“
Angespannt verfolgte ich mit meinen Augen seine Gestalt, als sie durch das Gartentor verschwand.
Vielleicht, sagte ich mir, vielleicht kommt Anita gleich lachend herausgerannt, schlingt ihre Arme um mich, drückt mir einen Kuss auf die Wange und macht mir und Carlos Vorwürfe, dass wir uns so um sie gesorgt hatten.
Doch es kam nur Carlos. Sein Gesicht war fahl, seine Schultern hingen resigniert herunter.
Was nun? Wie soll es weitergehen?, dachte ich fieberhaft.
Wenn sie nicht hier war, wo war sie dann?
Jedenfalls konnte ich den armen Kerl nicht alleine in dem verwaisten Haus zurücklassen. Das brachte ich nicht übers Herz.
„Komm, steig ein“, sagte ich, „Du kommst mit nach Arure. Da sehen wir weiter.“
Aber Carlos stand nur da und schüttelte seinen Kopf.
„Warum nicht?“, fragte ich. „Du kannst gerne wieder bei mir übernachten.“
„Nein“, sagte er, „Ich bleibe hier. Vielleicht kommt sie zurück, und dann wäre das Haus leer. Du suchst dort und ich warte hier. Wenn sie auftaucht, rufe ich dich auf dein Handy an. Wenn du sie findest, benachrichtigst du mich.“
„Gut“, sagte ich, „dann gib mir bitte deine Handynummer, und Anitas möchte ich auch.“
Er sah mich finster an. „Anita hat mir streng verboten, irgendwelchen Männern ihre Handynummer zu geben. Sonst wird sie ständig mit Anrufen belästigt.“
Ich verdrehte die Augen. „Da hat sie sicher recht, aber du weißt, dass dies hier ein Notfall ist.“
Er diktierte mir die beiden Nummern und ich tippte sie in mein Handy.
Ich sah ihn an. Noch vor kurzer Zeit war er der aufbrausende Halbstarke gewesen, der mich im Casa Maria tätlich angegriffen hatte. Nun wirkte er wie ein kleiner, hilfloser Junge, der eine Heidenangst hatte. Mein Herz flog ihm entgegen, schon weil er seiner Schwester so ähnelte. Wäre es Anita gewesen, die da als Häufchen Elend stand, wäre ich ausgestiegen und hätte sie in meine Arme geschlossen. Das ging bei Carlos natürlich nicht. Stattdessen nickte ich ihm nur freundlich zu.
„Wir bleiben im Kontakt, Carlos. Halt die Ohren steif.“
Er nickte mit bebenden Lippen zurück; ein Kind, das versuchte männlich zu wirken, und für das ich unendliches Mitleid empfand.
Mitleid auch deshalb, weil ich im wahrsten Sinne mit litt. Und weil ich genau solch eine Heidenangst hatte und selbst ein Häufchen Elend war.
Ich fuhr kurz nach Hause, fütterte meine Ziegen, aß und trank etwas, war aber schon im Gedanken in Arure am Acueducto. Der Motor meines Wagens war noch nicht kalt, da sprang ich wieder hinter den Lenker und fuhr weiter.
Kapitel 12
Es war nun früher Nachmittag. Der eigentliche Betrieb würde erst am Abend einsetzen. Der Mirador El Santo lag einsam und friedlich im Licht der Sonne, die Schatten waren kaum merklich länger geworden.
Bienen sirrten in den Euphorbienstämmchen. Ab und zu rauschte ein Auto auf der Hauptstraße vorbei. Sonst war es verträumt und beschaulich hier.
Wo sollte ich mit meiner Suche anfangen? Sollte ich einfach zum Eingang des Restaurants marschieren und Einlass begehren?
Aber in der jetzigen Situation wollte ich keine Aufmerksamkeit auf mich lenken. Ich machte mir sowieso schon Sorgen, dass ich eventuell der seltsamen Rettungscrew oder dem Hippie von neulich aufgefallen sein könnte.
Da fiel mir mein Handy ein. Ich könnte Anita anrufen. Wenn sie irgendwo im Restaurant wäre, würde sie sicher rangehen und wenn möglich zu mir hinaus kommen.
Mit zitternden Fingern tippte ich auf die Tasten des Telefons. Dann presste ich es an mein Ohr. Ich hörte, wie es in der Leitung klingelte. Es dauerte einen Moment, bis ich merkte, dass irgendwo nicht weit von meinem Standort Musik erklang. Es waren die ersten Takte von „Toda una vida“, eines der Lieder, das die Sänger im Casa Maria immer gerne sangen:
Ich möchte ein Leben lang mit dir sein. Ich weiß nicht, wie ich es aushalten könnte, jemals ohne dich zu sein.
Ein Leben lang würde ich dich verwöhnen.Ich wäre sanft. Denn mein Leben kann nur gut sein, wenn ich für dich sorgen darf.
Ach wie müde macht mich das Leben, denn immer wieder
gibt es die Angst, Angst und Verzweiflung.
Ich möchte ein Leben lang mit dir sein,
Ich weiß nicht, wie ich es aushalten könnte, jemals ohne dich
zu sein.
Mit einem Mal schnürte es mir die Kehle zu. Das waren Klänge aus Anitas Handy, so sicher wie das Amen in der Kirche.
Ich hielt mein Handy weiter fest an das Ohr gepresst und folgte dem Klang der lockenden Musik. Dann ließ ich es sinken.
Ich stand direkt vor der Mauer hinter der es steil in den Abgrund ging, kurz vor dem Einstieg in den Weg nach Taguluche.
Ich lehnte mich vor und sah herab.
Etwas blitzte im Sonnenlicht direkt unter der Mauer. Es hing an einem Strauch, der gerade in meiner Reichweite war. Ein kurzer Frauenarm könnte nicht dorthin reichen.
Ich beugte mich noch weiter vor und griff danach. Kühles Metall lag in meiner geschlossenen Faust. Ich öffnete sie und blickte hinein.
Es war Anitas Silberkette mit dem Operculum.
„Anita!“, brüllte ich, „Anita, Anita!“
Doch schon während ich ihren Namen rief, ahnte ich, dass sie mir nicht antworten würde.
Ich lehnte mich noch weiter vor, so weit, dass mir schwindelig wurde. Da erschrak ich fürchterlich. Unten lag eine Puppe, wie die in dem Haus in Hermigua. Nur blickte sie nicht vergnügt. Ihre Augen waren geschlossen und sie war sehr blass. Das Liebeslied spielte wie zum Hohn unaufhörlich weiter.
Zornig drückte ich auf die Austaste meines Handys und schob es mitsamt der Kette in meine Tasche. Dann stürmte ich an der kleinen Kapelle vorbei und in den Weg hinein, der hinunter in das Tal führt.
Ich rannte wie ein Berserker. Ich glaube, mein Leben war regelrecht in Gefahr, denn ich achtete nicht auf das tückische Lavageröll, das meinen Füßen so gut wie keinen Halt bot. Wie die Erbsen, die die Kölner Schneidersfrau ausgestreut hatte, rollte es unter mir weg und ich fiel hin.
Ich sprang auf und stürmte weiter. Wieder fiel ich hin. Diesmal ruderte ich wie wild, auf der Suche nach etwas, woran ich mich festhalten konnte. Im Sturz fasste ich an die runde, grüne Scheibe eines Opuntienkaktus. Sofort brannte meine Hand wie Feuer, denn sie war voller Stachel. Fluchend versuchte ich, sie mit den Zähnen heraus zu pflücken, aber es waren zu viele.
Ruhig, Jan, nur ruhig, schimpfte ich mit mir, du musst deine Nerven bewahren, atme durch.
Mit zitternden Händen zog ich ein Heftpflaster aus meiner Börse, das ich immer für den Notfall dabei hatte. Ich riss das Schutzpapier ab und drückte die Klebefläche immer wieder auf die zerstochene Handfläche, bis das Pieksen nachließ.
Ich musste vernünftiger sein, soviel war klar.
Also setzte ich meine Füße behutsamer. Immer wieder sah ich auf und überlegte, wo ich entlang gehen sollte, um Anita zu erreichen. Ich musste den Weg verlassen. Es war verdammt schwer, denn es war sausteil und hier gab es nur halsbrecherische Ziegenpfade.
Nach etwa einer halben Stunde erreichte ich endlich die Stelle, an der Anita lag. Ich keuchte vor Anstrengung und war nassgeschwitzt.
Sie lag friedlich auf dem Rücken, wie die Puppe. Ein Hauch ihres Orangenblütenparfüms schwebte noch um sie herum. Ihre Haare verdeckten die eine Hälfte ihres Gesichts. Als ich sie sanft wegstrich, merkte ich, dass sie ganz verklebt waren. Aus einem Schnitt an ihrer Stirn war Blut herausgelaufen, aber nun war es ganz angetrocknet.
Anitas Haut fühlte sich kühl an und ich wusste, dass sie tot war.
Da brach ich zusammen. Ich kauerte neben ihrem leblosen Körper wie ein verlorenes Bündel und weinte mein ganzes Elend heraus. Ich rief ihren Namen, küsste ihr kaltes Gesicht und schluchzte wie ein Kind. Verworrene Gedanken kreisten durch meinen Kopf.
Abgebrochenes Leben.
Abgerissene Fäden.
Ich möchte ein Leben lang mit dir sein,
Ich weiß nicht, wie ich es aushalten könnte, jemals ohne dich zu
sein.
Abgebrochenes Leben.
Abgerissene Fäden.
Ein Leben lang würde ich dich verwöhnen.Ich wäre sanft, denn mein Leben kann nur gut sein,
wenn ich für dich sorgen darf.
Wie hatte Anita damals den plötzlichen Tod des alten Gastes noch kommentiert? Ihre Worte klangen in meinen Ohren:
„Nicht wie bei meinen Eltern. Nicht viel zu jung und so plötzlich aus dem Leben gerissen.“
Nun hatte meine arme, süße Anita auch so ein früher Tod ereilt.
Nach einiger Zeit, ich weiß nicht wie lange es
dauerte, ließ mein Schluchzen nach.
Ich nahm Anitas schmale Hand und küsste sie.
Dann betrachtete ich sie mit brennenden Augen.
Was war geschehen?, dachte ich mir, wie war es zu diesem schrecklichen Unglück gekommen?
Sie hatte an der Mauer gestanden und den Blick bewundert. Es muss gestern Abend gewesen sein. Der Verschluss ihrer Kette muss sich gelöst haben, und die Kette war abgefallen. Anita hatte versucht, das Kleinod zu erhaschen, und hatte die Balance verloren. So kam es zu dem verhängnisvollen Todessturz.
Es war eine einfache und schlüssige Erklärung.
Aber irgendwie wollte ich nicht daran glauben.
Ich zog die Kette aus meiner Tasche und prüfte den Verschluss. Er war völlig intakt. Die Kette war neben dem Verschluss zerrissen. Nachdenklich schob ich sie zurück in die Tasche.
Anitas Körper war bis auf den relativ kleinen Schnitt auf ihrer Stirn unversehrt.
Ich sah hinauf und erkannte, dass eine Spur durch das Gestrüpp und Geröll von direkt unter der Mauer bis zu diesem Fundort verlief. Anita war nicht hoch durch die Luft geflogen und dann aufgeprallt, sondern nur über die Mauer gefallen und dann über den steilen Abhang bis hierher gerutscht. Die losen Lavakiesel hatten wie eine Rollbahn funktioniert.
Nun tastete ich behutsam Anitas Kopf ab. Da war keine Beule, keine Fraktur.
Vielleicht hatte sie sich das Genick gebrochen.
Also fühlte ich ihren Hals und Nacken sorgsam ab.
Auch da war nichts festzustellen.
Ich musste unwillkürlich denken, dass der heftige Schlag mit meinem Spaten Carlos weit stärker beeinträchtigt hatte, als dieser Sturz Anita.
Und doch war Anita tot.
Woran war sie um Himmels Willen gestorben?
Denkbar wäre, dass sie einen Schwächeanfall gehabt hatte, als sie über die Mauer ins Tiefe geblickt hatte. Aber ein Schwächeanfall bringt keinen Menschen um, und Anita war eine gesunde junge Frau gewesen.
Schwächeanfall.
Mit einem Mal stellten sich meine Nackenhaare auf.
„Schwächeanfälle“ waren im Acueducto keine Seltenheit gewesen.
Ich zitterte.
Aus einem Impuls heraus, suchte ich Anitas Taschen ab. Sie trug eine Jeans, denn sie hatte sich wohl nach Feierabend ihre Alltagskleidung angezogen.
In der einen Tasche fand ich etwas. Ich zog den flachen Gegenstand heraus. Es war ein gomerianisches Mandelplätzchen, ein Almandredo.
Das süße, mandelhaltige Gebäck gilt als Spezialität auf der Insel. Bei meinem Besuch im Acueducto hatte man mir einen Almandredo nach dem Essen neben meine Mokkatasse gelegt. Er war köstlich gewesen, wie alles in dem Restaurant.
An Anitas Almandredo fehlte ein Stück, als hätte sie davon abgebissen.
Ich nahm mein großes Stofftaschentuch heraus und legte das Plätzchen in die Mitte. Dann suchte ich mein Taschenmesser, klappte eine scharfe Klinge heraus und schnitt vorsichtig einige der Haare von Anitas Stirn ab. Ich legte sie zu dem Almandredo dazu, faltete das Taschentuch wieder zusammen und steckte es ein.
Eine Weile kniete ich noch neben Anitas Körper und sah ihn wehmütig an. Dann beugte ich mich über sie und drückte einen sanften Kuss auf ihre weiße Stirn.
„Ade, Anita“, flüsterte ich. „Ich muss jetzt wieder gehen, aber ich verspreche dir, dass ich der Ursache deines Todes auf den Grund gehen werde und ich werde, wenn er tatsächlich auf Menschenschuld beruht, deinen Tod rächen, das schwöre ich.“
Dann drehte ich mich um und stieg den Berg wieder hinauf zum Mirador.
Als ich oben angekommen war, nahm ich mein Handy heraus und rief die Policia in San Sebastian an.
Ich erzählte ihnen, dass ich ein Tourist sei und beim Wandern unterhalb des Mirador El Santo auf eine Frauenleiche gestossen sei.
Als man mich nach meinem Namen fragte, legte ich auf.
Kapitel 13
Auf dem Weg zu meinem Wagen sank mir das Herz, als mir einfiel, was mir jetzt bevorstand.
Ich musste mich mit Carlos in Verbindung setzen.
Wenn du sie findest, benachrichtigst du mich.
Ja Carlos, sagte ich ihm im Geist, ich habe deine Schwester gefunden, aber nicht wie du dachtest und hofftest, sondern wir wir es beide in unseren schlimmsten Albträumen uns nicht ausmalen konnten.
Wie sollte ich ihm das nur sagen?
Über das Handy ging das sicherlich nicht, also fuhr ich gleich weiter nach Las Hayas.
In diesen Dörfern sausten Gerüchte wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus. Carlos sollte es nicht über Dritte erfahren.
Als ich vor seinem Haus hielt, dauerte es keine Sekunde, da kam er schon herausgerannt. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Ich stieg aus und stand vor ihm.
Wir sahen uns gegenseitig in die Augen.
Mein Gesicht verriet alles, das war mir nun klar, denn Carlos schüttelte erst heftig seinen Kopf, als wolle er das verleugnen, was er darin lesen konnte, dann brach er zusammen und weinte herzzerreissend.
Ich trat auf ihn zu und legte meine Arme um ihn und er drückte seine Stirn gegen meine Schulter und weinte hemmungslos weiter, so dass mein Hemd ganz durchnäßt wurde.
Passanten auf der Dorfstraße wurden aufmerksam. Jetzt galt es, Carlos vor ihrer Neugier zu schützen.
“Komm, Carlos, komm”, sagte ich sanft zu ihm, “wir wollen lieber in das Haus gehen und dann sprechen wir in Ruhe miteinander.”
Er löste sich von mir, nickte und führte mich mit hängendem Kopf in das kleine Häuschen.
Dort war es dunkel und kühl. Schon bevor sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, spürte ich, wie sehr das Haus durch Anita geprägt war. Kleine, ausgetretene Schuhe standen neben der Tür. An einem Wandhaken hing ihre Jacke.
Blumen standen auf dem Fensterbrett. Es duftete nach ihrem Parfüm.
Ich war überwältigt durch das Gefühl ihrer Nähe und hätte am liebsten sofort kehrt gemacht, um zu fliehen, aber das ging natürlich nicht.
Carlos ging in die Küche, ließ kaltes Wasser laufen und wusch sich das Gesicht. Ich spürte, dass ihm jetzt peinlich war, dass er vor mir so zusammengebrochen war.
Wir setzten uns an den Küchentisch.
Darauf standen noch die Reste einer bescheidenen Mahlzeit, die Carlos eingenommen hatte.
Carlos starrte vor sich hin auf die Tischplatte. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm.
Er wusste, nun war er alleine in der Welt. Seine Schwester, die für ihn Halt war, Vater und Muttersersatz zugleich, war tot.
Ich fing leise an, ihm zu erzählen, wie ich Anita gefunden hatte. Ich sagte ihm, dass sie, obwohl sie tot sei, noch wunderschön aussähe. Meine Stimme brach und ich musste eine Pause machen, bevor ich weiterreden konnte. Dann erzählte ich ihm, dass ich die Polizei benachrichtigt hätte, und dass mit Sicherheit bald jemand kommen würde, um ihm das Unglück mitzuteilen.
“Warum ist sie dort herabgestürzt?”, fragte Carlos klagend.
“Anscheinend hatte sich der Verschluss ihrer Kette gelöst, und sie hat versucht, danach zu greifen”, sagte ich ihm. Meinen schrecklichen Verdacht bezüglich der Todesursache behielt ich lieber für mich. Ich griff in meine Hosentasche und legte die Kette mit dem Operculum auf den Tisch.
“Da. Ich habe die Kette bergen können und sie dir mitgebracht.”
Carlos sah sie angewidert an.
“Ich hasse diese Kette!”, entfuhr es ihm, “Sie ist Schuld am Tod meiner Schwester. Entweder du nimmst sie sofort weg, oder ich schmeiße sie hinaus auf die Straße.”
Ich nickte, nahm die Kette auf und steckte sie wieder ein.
Wir saßen eine Weile schweigend da. Beide waren wir vom Schmerz so überwältigt, dass wir uns nicht trauten, viel miteinander zu reden.
Nach einer langen Pause räusperte ich mich und sagte: “Ich möchte dich nicht hier so alleine lassen. Du brauchst jemanden, der sich in deiner Trauer um dich kümmert. Ich schlage dir zwei Möglichkeiten vor; entweder du kommst mit mir nach Arure, oder ich begleitete dich zu Inez und Pedro. Sie sind herzensgut und sie werden dich trösten und begleiten, solange du das brauchst.”
Carlos überlegte. Dann sagte er: “Ich kenne Pedro und Inez gut. Sie haben uns damals zunächst aufgenommen, nachdem das mit meinen Eltern passiert war. Ich glaube, dass ich zu ihnen möchte.”
Wir standen auf.
Carlos hob sein Kinn und straffte seinen Rücken. Er war sichtbar bemüht, wieder als Mann dazustehen und nicht als Kind.
“Du musst mich nicht hinbegleiten”, sagte er, “ich werde alleine zu ihnen gehen. Danke, dass du mich benachrichtigt hast”, er reichte mir seine Hand, aber ich ignorierte sie und drückte ihn stattdessen kurz an meine Brust.
Dann wandte ich mich schnell ab und ging mit großen Schritten zu meinem Wagen.
Als ich losfuhr, spürte ich wie mir die Augen brannten.
Auf der Fahrt nach Hause spielte mir das Lied unaufhörlich durch meinen Kopf.
Ich möchte ein Leben lang mit dir sein,
Ich weiß nicht, wie ich es aushalten könnte, jemals ohne dich zu
sein.
Als ich endlich vor meinem Haus angekommen war, legte ich meinen Kopf auf den Lenker und weinte bitterlich. Hier konnte mich keiner sehen.
Kapitel 14
Am nächsten Tag war ganz Gomera in Aufruhr. Die Tageszeitung berichtete von dem Unglück. Die Polizei stufte es eindeutig als Unfall ein.
Es geschah nicht alle Tage auf der Insel, dass so eine schöne, junge Frau solch einen tragischen Tod fand. Man beklagte ihr frühes Ende allgemein.
Inez und Pedro hatten anscheinend mit Carlos die Bestattungsformalitäten eingeleitet, denn in den Anzeigen fand ich bereits Anitas Todesnachricht, sowie eine Angabe über Ort und Zeitpunkt der Trauerfeier und Beisetzung.
Sie sollte übermorgen stattfinden, und zwar in der Friedhofskapelle und danach im kleinen Friedhof, der im Hang oberhalb der Straße zwischen Las Hayas und Arure lag.
Ich trauerte fürchterlich um Anita, aber gleichzeitig wuchs in mir ein enormer Zorn, ein Zorn auf die Menschen, die die Schuld an ihrem Tod trugen.
Ich war fest überzeugt, dass ihr Tod kein Unfall gewesen war, und dass er in irgendeiner Verbindung zu den seltsamen Vorgängen im Acueducto stand. Ich musste daran denken, wie Anita gesagt hatte, Costa hätte dem Personal gedroht, er würde denjenigen „umbringen“, der über eventuelle Vorgänge in dem Lokal tratschte. Mit mir hatte sie recht offenherzig darüber gesprochen. Hatte sie mit anderen Menschen auch darüber geredet? Hätte sie die Drohung ernst nehmen müssen, aber es in ihrer Arglosigkeit nicht getan?
Nach dem, was ich neulich am Flughafen gesehen hatte, hielt ich den Mann zu allem fähig. Jetzt galt es nur, der Sache durch gezielte Arbeit auf den Grund zu gehen, so wie ich es Anita versprochen hatte.
Ich überlegte. Womit sollte ich zuerst anfangen?
Auf jeden Fall musste ich heute hinunter ins Valle Gran Rey fahren, denn ich hatte zwei Ideen, die ich nur verfolgen konnte, indem ich mich dorthin aufmachte.
Das erste Ziel, das ich dort aufsuchte, war das Internetcafé in La Playa. Zum Glück war es nicht voll, und ich fand sofort einen Computer, an dem ich meine Recherchen machen konnte.
Ich googlete nach „Acueducto, El Gomera“. Mittlerweile hat jedes kleine Lokal seinen eigenen Webauftritt, dachte ich, da wird so ein motziges Etablissement wie das Acueducto sicher auch vertreten sein.
Und so war es auch.
Das Acueducto warb geradezu pompös um seine Kunden. Nicht nur, dass man sofort einen virtuellen Spaziergang durch das Lokal machen konnte, nein, es spielte eine gedämpfte, elegante Musik dazu. Die Betreiberin des Cafés sah schmunzelnd zu mir herüber, legte aber gleich einen Finger an die Lippen, um anzudeuten, dass ich die anderen Gäste stören könnte. Also drückte ich den Ton aus.
Ich sah mir die ganze Website akribisch an, denn ich suchte etwas Bestimmtes.
Der Hippie und Costa hatten von „Ellas“ gesprochen. Was waren diese „Ellas“?
Anscheinend lieferte der Hippie irgendetwas an, das zu diesen „Ellas“ nötig war.
Die Ellas waren eine Art Veranstaltung, so viel war klar. Aber solange ich auch suchte und googlete, auch außerhalb der Website, ich fand absolut nichts, was mir irgendwie weiterhelfen würde. Nicht einmal im klitzeklein Gedruckten.
Frustriert stand ich auf, warf der Betreiberin das Geld auf den Tresen und verließ das Café. Wenn das so weiterging, dann würde ich Jahrzehnte brauchen, bis ich hinter das Geheimnis käme. Wer weiß, wie viele „Krankenwagen“ dann schon vom Mirador zum Flughafen gefahren sein würden.
Ich musste meine zweite Spur verfolgen.
Also fuhr ich wieder los und parkte vor der Apotheke in Borbalan.
Isabella freute sich anscheinend, mich zu sehen. Es war ein Riesenunterschied zu meinem ersten Besuch in der Apotheke. Diesmal war ein alter, schwerhöriger Mann vor mir dran. Als sie mich sah, gab sie sich deutlich Mühe, den Kunden mit seinen Fragen abzuwimmeln und aus dem Geschäft heraus zu komplimentieren. Dabei warf sie mir die ganze Zeit nette Blicke zu, als hätte sie Angst, ich könne wieder fortgehen.
Als der alte Señor endlich zufrieden heraus gewackelt war, begrüßte sie mich und fragte mich, wie es mir ginge.
„Sag mal“, fragte ich spitz, „war das nicht gerade ein ehrwürdiger alter Mann, der unseren Respekt verdient?“
Sie lachte verlegen. „Nein, das war nur der alte Mario, der mindestens dreimal die Woche vorbeikommt und mich nervt. Ich glaube, er genießt es, dass es hier drinnen so angenehm kühl ist.“
Dann sah sie mich besorgt an.
„Bist du krank? Nimm es mir nicht übel, aber du siehst irgendwie schlecht aus.“
Ich fuhr mit einer Hand über mein Gesicht. Dann sagte ich: „Ein Trauerfall, sozusagen in der Familie.“
„Das tut mir Leid. Möchtest du darüber sprechen?“
Ich schüttelte stumm meinen Kopf.
Ihre sanfte Nachfrage und ihre höfliche Zurückhaltung taten mir gut. So gut, dass ich befürchtete, gleich vor ihr zu weinen und mich zum völligen Affen zu machen.
Sie stützte die Ellenbogen auf den Tresen und fragte nun in einem sachlichen Tonfall: „Gut. Was kann ich also für dich tun?“
Ich zog das Bündel aus meiner Tasche, das ich neben Anitas Leiche zusammen geknüpft hatte, band es auf und legte es auf den Ladentisch.
Sie runzelte die Stirn. „Normalerweise nehmen die Kunden etwas von hier mit. Es ist eher ungewöhnlich, der Apothekerin etwas mitzubringen.“
„Ich komme, weil ich glaube, dass du die einzige Person auf Gomera bist, die mir damit helfen kann.“
„Nun, ich hoffe, dass ich dich nicht enttäuschen muss.“ Sie nahm den Almandredo in die Hand. Dann blickte sie mich an, als ob sie an meinem Verstand zweifelte.Trotzdem sagte sie geduldig: „Dieses hier erkenne ich. Es ist ein angebissener Almandredo. Die schmecken gut, die Dinger. Als Kind war ich ganz verrückt darauf, aber jetzt esse ich sie nur noch selten, weil sie eine wahnsinnige Kalorienbombe sind. Sie bestehen praktisch nur aus Mandeln, Eiweiß, sehr, sehr viel Zucker und geriebener Zitronenschale. Und dieser Almandredo ist offensichtlich nicht so lecker gewesen, denn er ist nur angebissen, nicht aufgegessen worden.“ Sie schmunzelte.
„Richtig“, sagte ich, als wäre sie meine Schülerin und ich ihr Lehrer, „darauf gibt es eine Eins. Und jetzt meine Frage: Wenn dieser Almandredo nun gewissermaßen als Trägersubstanz benutzt worden wäre...wenn etwas darin enthalten wäre, das solch eine Wirkung auf denjenigen hätte, der ihn isst, dass er gar nicht mehr die Möglichkeit gehabt hätte, den Keks aufzuessen...“.
Isabella hob eine ihrer perfekt geschwungenen Augenbrauen und sah mich skeptisch an. „Das hört sich meiner Meinung nach ziemlich schräg an.“
„Kann sein, aber ich frage mal trotzdem nach. Um welches Gift könnte es sich handeln?“
Sie furchte ihre Stirn und dachte nach. Dann sagte sie: „Bei einem Mandelplätzchen wäre das naheliegende Gift natürlich Bittermandel. Es wäre wunderbar kaschiert, weil der Keks sowieso gänzlich aus Mandeln besteht. Der Esser würde höchstens merken, dass das Gebäck bitterer schmeckt, als gewöhnlich. Das könnte übrigens die Erklärung sein, warum der Keks nicht aufgegessen wurde.“
„Also könnte so ein Almandredo schon einen Menschen töten“, sagte ich.
Aber Isabella schüttelte ihren Kopf, so dass eine ihrer Locken sich aus dem Haarband löste. Sie strich sie zurück hinter ihr Ohr.
„Das halte ich für sehr unwahrscheinlich“, sagte sie. „Zwar enthalten Bittermandeln Amygdalin. Das ist ein cyanogenes Glycosid. Während des Verdauungsprozesses wird die giftige Blausäure abgespalten. Es entstehen Benzaldeyd und Blausäure. Die Blausäure ist hochgiftig. Wenn du willst, schreibe ich dir dafür die Strukturformel auf.“
Ich wehrte ab. „Nein, damit könnte ich ehrlich gesagt nicht viel anfangen, Strukturformeln waren nie meine Stärke, aber ich bin beeindruckt. Du hast beim Studium anscheinend sehr gut aufgepasst.“
Isabella machte eine Grimasse. „Zu sehr, wie sich später herausstellte. Mein Studium hat mir einen Riesenspaß gemacht. Ich habe alle meine Examina und Prüfungen ausnahmslos mit Eins abgeschlossen. Aber so etwas hat auch seine Tücken. Man wird automatisch zum nerdigen Außenseiter gestempelt.“
„Also, noch mal zum Thema“, sagte ich, „Hältst du es für möglich, dass jemand, der dieses Plätzchen isst, an einer Blausäurevergiftung sterben könnte?“
Isabella schüttelte wieder den Kopf.
„Nein. Der entscheidende Grund dafür ist, dass das Plätzchen gebacken wird. Blausäure ist sehr flüchtig und hitzeempfindlich. Nach dem Backprozess befindet sich nur eine ungefährliche Menge an Blausäure in diesem Keks.“ Sie reichte mir den Almandredo zurück.
„Du kannst den Keks also unbesorgt aufessen, auch wenn er dir offensichtlich nicht besonders gemundet hat. Wo hast du ihn gekauft? Damit ich Bescheid weiß, wo man sie lieber nicht kaufen sollte“, lachte sie. Aber ich lachte nicht mit.
„Ich denke nicht, dass ich das tun werde“, sagte ich ernst, „denn ich habe den Verdacht, dass irgendein letales Gift tatsächlich darin vorhanden ist. Ich weiß nur nicht, was es ist.“
„Wie kommst du bloß darauf?“, fragte Isabella und sah mich amüsiert an, „Liest du vielleicht zu viele Krimis?“
Da schob ich ihr mit bebenden Händen das Taschentuch hin. „Weil du noch nicht alles gesehen hast, das ich mitgebracht habe.“
Isabella faltete es weiter auseinander und beugte sich darüber. Sie berührte die Haare, Anitas blutverschmierte Haare, mit den Fingerspitzen. Als sie realisierte, worum es sich handelte, zuckte sie zurück.
„Sind das Menschenhaare?“, fragte sich erschrocken.
„Ja“, antwortete ich tonlos, „das sind Menschenhaare.“
„Offensichtlich hat die Person eine ziemliche Verletzung. Das sieht aus wie Blut.“
„Die Person ist tot, und – ja – es handelt sich tatsächlich um Blut.“
Isabella schüttelte sich, als fröstele ihr. „Das ist furchtbar gruselig. Warum bringst du diese Totenhaare hierher, und was haben sie mit dem Keks zu tun? Ich bin jetzt total verwirrt.“
Ich schwieg und dachte nach.
Wie sollte ich es ihr erklären? Was würde sie zu meinen Ausführungen sagen? Würde sie mich für völlig verrückt halten und mir die Tür zeigen? Ich würde das an ihrer Stelle wahrscheinlich auch tun.
Aber ich brauchte ihre Hilfe. Nur sie konnte mir weiterhelfen.
Also sagte ich geradeheraus: „Die Haare stammen von der Leiche von Anita Morales.“
„Anita Morales! Ist das nicht die junge Frau, die am Mirador verunglückt ist? Ich habe in der Zeitung davon gelesen.“
„Ja.“
Dann fasste ich mir ein Herz und sagte: „Isabella, ich möchte dich etwas fragen.“
„Schieß' los“, sagte sie.
„Wenn ich dir jetzt etwas erzähle, kannst du es ganz für dich behalten? Kann ich dir vertrauen, dass es erst einmal unter uns bleibt?“
Ich muss sie ziemlich intensiv angestarrt haben, denn sie wirkte irritiert und senkte ihren Blick. Sie schien nachzudenken.
Dann sagte sie: „Ich gehe davon aus, dass du mir diese vertraulichen Dinge deshalb erzählen willst, weil du meine pharmazeutischen Kenntnisse brauchst, nicht weil du mich einfach süß findest und gerne nette Geheimnisse mit mir teilen willst.“
„So ist es.“
Isabella schmunzelte ein wenig und sagte: „Schade.“ Dabei bildeten sich wieder die Grübchen in ihren Wangen. Dann änderte sie aber ihren Tonfall und sagte ernst: „Natürlich helfe ich dir gerne. Ich hoffe nur, dass mein Wissen dazu ausreicht.“
„Gut“, sagte ich, „es handelt sich um Folgendes.“
Doch da ging die Ladentür auf, und eine junge Mutter kam herein. An der Hand hielt sie ein Kind mit blutendem Knie.
Geistesgegenwärtig raffte ich mein Taschentuch samt Inhalt zusammen und verstaute es in meiner Hosentasche.
Isabella verband dem kleinen Patienten das Bein und schenkte ihm einen Traubenzucker. Dann zogen Mutter und Kind wieder davon.
Als sie wieder weg waren, schlug Isabella vor: „Komm, wir gehen in das Hinterzimmer, wo ich mein Labor habe. Ich höre schon, wenn jemand kommt. Die Ladenglocke meldet uns das.“
Der Raum, in den sie mich mitnahm, zeugte von ihrer Begeisterung für ihre Wissenschaft. Obwohl ich als Mediziner selbstredend auch ein Praktikum gemacht hatte, war ich beeindruckt von der Anzahl chemischer Geräte und hätte keins davon sicher benennen können.
Ich holte mein Taschentuch wieder heraus und entfaltete es auf der Theke.
„Wo waren wir stehen geblieben?“, fragte Isabella.
„Ganz am Anfang meiner Ausführungen.“, sagte ich und lächelte ein wenig. „Also, Isabella. Die Haare habe ich persönlich von der Leiche abgeschnitten.“
„Wo? Im Krankenhaus in San Sebastian? In der Pathologie?“
„Nein. Ich habe die Tote aufgefunden.“
„Wie – du! Da stand aber gar nichts davon in der Zeitung.“
„Nein. Darin steht, dass ein anonymer Wanderer die Polizei über Handy benachrichtigt hat.“
„Ja, aber ich verstehe zwei Dinge nicht. Erstens, wie kam es, dass ausgerechnet du die Leiche gefunden hast, und zweitens, warum hast du dich nicht als Finder zu erkennen gegeben?“
„Zu deiner ersten Frage: weil ich die Verstorbene gesucht habe. Sie war am Abend nicht nach Hause gekommen und ihr jüngerer Bruder hatte sie vermisst. Zur zweiten Frage: Ich habe mich nicht als Finder geoutet, weil ich den Wirbel um meine Person nicht ertragen hätte. Nicht in dieser Situation. Hinzu kam, dass ich mir nicht erklären konnte, woran sie gestorben ist. Ich möchte es aber unbedingt erfahren. Das ist der Punkt, wo ich deine Hilfe brauche.“
Isabella dachte wieder nach. Dann fragte sie: „Hast du diese Anita Morales etwa gesucht, weil sie dir nahestand?“
Ich nickte stumm. Dann sagte ich heiser: „Sehr nahe.“
Da weiteten Isabellas Augen sich und wurden feucht. „Ach du meine Güte! Wie furchtbar für dich! Das tut mir unendlich Leid.“
Ich spürte, wie es auch in meinen Augen gefährlich brannte.
Jetzt nicht zusammenbrechen, Jan, sagte ich mir streng.