ERNST JÜNGER • AUF DEN MARMOR-KLIPPEN
Ernst Jünger
AUF
DEN
MARMOR
KLIPPEN
22. Tausend

HANSEATISCHE VERLAGS ANSTALT HAMBURG
Begonnen Ende Februar 1939 in Überlingen am Bodensee Beendet
am 28. Juli 1939 in Kirchhorst bei Hannover
Durchgesehen im September 1939 beim Heer
Gedruckt in der Hanseatischen
Verlagsanstalt Akt.-Ges., Hamburg-Wandsbek
Copyright 1939/1940 by Hanseatische Verlagsanstalt
Aktiengesellschaft, Hamburg 36
Printed in Germany
1.
Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung
an Zeiten des Glückes ergreift. Wie unwiderruflich sind sie doch
dahin, und un- barmherziger sind wir von ihnen getrennt als durch
alle Entfernungen. Auch treten im Nachglanz die Bilder lockender
hervor; wir denken an sie wie an den Körper einer toten Geliebten
zurück, der tief in der Erde ruht, und der uns nun gleich einer
Wüsten- Spiegelung in einer höheren und geistigeren Pracht
erschauern läßt. Und immer wieder tasten wir in unseren durstigen
Träumen dem Vergangenen in jeder Einzelheit, in jeder Falte nach.
Dann will es uns scheinen, als hätten wir das Maß des Lebens und
der Liebe nicht bis zum Rande gefüllt gehabt, doch keine Reue
bringt das Versäumte zurück. Oh, möchte dieses Gefühl uns doch für
jeden Augenblick des Glückes eine Lehre sein!
Und süßer noch wird die Erinnerung an unsere Mond- und
Sonnenjahre, wenn jäher Schrecken sie beendete. Dann erst begreifen
wir, wie sehr es schon ein Glücksfall für uns Menschen ist, wenn
wir in un- seren kleinen Gemeinschaften dahinleben, unter
friedlichem Dach, bei guten Gesprächen und mit liebevollem Gruß am
Morgen und zur Nacht. Ach, stets zu spät erkennen wir, daß damit
schon das Füllhorn reich für uns geöffnet war.
So denke ich auch an die Zeiten, in denen wir an der
großen Marina lebten, zurück — erst die Erinne- rung treibt ihren
Zauber hervor. Damals freilich schien es mir, als ob manche Sorge,
mancher Kum- mer uns die Tage verdunkelten, und vor allem waren wir
vor dem Oberförster auf der Hut. Wir lebten daher mit einer
gewissen Strenge und in schlichten Gewändern, obwohl kein Gelübde
uns band. Zweimal im Jahre ließen wir indessen das rote Futter
durchleuchten — einmal im Frühling und einmal im Herbst.
Im Herbste zechten wir als Weise und taten den
köstlichen Weinen, die an den Südhängen der gro- ßen Marina
gedeihen, Ehre an. Wenn wir in den Gärten zwischen dem roten Laub
und den dunklen Trauben die scherzenden Rufe der Winzer ver-
nahmen, wenn in den kleinen Städten und Dörfern die Torkel zu
knarren begannen, und der Geruch der frischen Trester um die Höfe
seine gärenden Schleier zog, stiegen wir zu den Wirten, den Küfern
und Weinbauern hinab und tranken mit ihnen aus dem bauchigen Krug.
Auch trafen wir dort immer heitere Genossen an, denn das Land ist
reich und schön, so daß unbekümmerte Muße in ihm gedeiht, und Witz
und Laune gelten als bare Münze in ihm.
So saßen wir Abend für Abend beim fröhlichen Mahl. In
diesen Wochen ziehen vermummte Win- gerts-Wächter vom Morgengrauen
bis zur Nacht mit Knarren und Flinten in den Gärten umher und hal-
ten die lüsternen Vögel in Schach. Spät kehren sie mit Kränzen von
Wachteln, von gesprenkelten Dros- seln und Feigenfressern zurück,
und bald erscheint dann ihre Beute in mit Weinlaub ausgelegten
Schüsseln auf dem Tisch. Auch aßen wir gern ge- röstete Kastanien
und junge Nüsse zum neuen Wein, und vor allem die herrlichen Pilze,
nach denen man dort mit Hunden in den Wäldern spürt — die weiße
Trüffel, die zierliche Werpel und den roten
Kaiserschwamm.
Solange der Wein noch süß und honigfarben war, saßen wir
einträchtig am Tisch, bei friedlichen Ge- sprächen, und oft den Arm
auf die Schulter des Nachbarn gelegt. Sobald er jedoch zu arbeiten
und die erdigen Teile abzustoßen begann, wachten die Lebensgeister
mächtig auf. Es gab dann glänzende Zweikämpfe, bei denen die Waffe
des Gelächters ent- schied, und bei denen sich Fechter begegneten,
die sich durch die leichte, freie Führung des Gedankens
auszeichneten, wie man sie nur in einem langen, müßigen Leben
gewinnt.
Aber höher noch als diese Stunden, die in fun- kelnder
Laune dahineilten, schätzten wir den stillen Heimweg durch Gärten
und Felder in der Tiefe der Trunkenheit, während schon der
Morgentau sich auf die bunten Blätter schlug. Wenn wir das Hah-
nentor der kleinen Stadt durchschritten hatten, sa- hen wir zu
unserer Rechten den Seestrand leuchten, und zu unserer Linken
stiegen im Mondlicht glei- ßend die Marmor-Klippen an. Dazwischen
ein- gebettet streckten sich die Rebenhügel aus, in deren Hängen
sich der Pfad verlor.
An diese Wege knüpfen sich Erinnerungen an ein helles,
staunendes Erwachen, das uns zugleich mit Scheu erfüllte und
erheiterte. Es war, als tauchten wir aus der Lebenstiefe an ihre
Ober- fläche auf. Gleichwie ein Pochen uns aus unserm Schlaf
erweckt, fiel da ein Bildnis in das Dunkel un- seres Rausches ein —
vielleicht das Bockshorn, wie es dort der Bauersmann an hohen
Stangen in den Bo- den seiner Gärten stößt, vielleicht der Uhu, der
mit gelben Augen auf dem Firste einer Scheuer saß, oder ein Meteor,
das knisternd über das Gewölbe schoß. Stets aber blieben wir wie
versteinert stehen, und ein jäher Schauer faßte uns im Blut. Dann
schien es uns, als ob ein neuer Sinn, das Land zu schauen, uns
verliehen sei; wir blickten wie mit Augen, denen es gegeben ist,
das Gold und die Kristalle tief unter der gläsernen Erde in
leuchtenden Adern zu sehn. Und dann geschah es, daß sie sich
näherten, grau und schattenhaft, die uransässigen Geister des
Landes, längst hier beheimatet, bevor die Glocken der Klo-
sterkirche erklangen, und bevor ein Pflug die Scholle brach. Sie
näherten sich uns zögernd, mit groben, hölzernen Gesichtern, deren
Miene in unergründ- licher Übereinstimmung heiter und furchtbar
war; und wir erblickten sie, mit zugleich erschrockenem und tief
gerührtem Herzen. Zuweilen schien es uns, als ob sie sprechen
wollten, doch bald entschwanden sie wie Rauch.
Schweigend legten wir dann den kurzen Weg zur
Rauten-Klause zurück. Wenn das Licht in der Bi- bliothek
aufflammte, sahen wir uns an, und ich er- blickte das hohe,
strahlende Leuchten in Bruder Othos Gesicht. In diesem Spiegel
erkannte ich, daß die Begegnung kein Trug gewesen war. Ohne ein
Wort zu wechseln, drückten wir uns die Hand, und ich stieg ins
Herbarium hinauf. Auch ferner war von solchem nie die Rede zwischen
uns.
Oben saß ich noch lange am offenen Fenster in großer
Heiterkeit und fühlte von Herzen, wie sich der Lebensstoff in
goldenen Fäden von der Spindel wand. Dann stieg die Sonne über Alta
Plana auf, und leuchtend erhellten sich die Lande bis an die
Grenzen von Burgund. Die wilden Schroffen und Gletscher funkelten
in Weiß und Rot, und zitternd formten sich die hohen Ufer im grünen
Spiegel der Marina ab.
Am spitzen Giebel begannen nun die Haus- Rotschwänzchen
ihren Tag und fütterten die zweite Brut, die hungrig zirpte, als
würden Messerchen ge- wetzt. Aus den Schilfgürteln des Sees stiegen
Ketten von Enten auf, und in den Gärten pickten Fink und Stieglitz
die letzten Beeren von den Reben ab. Dann hörte ich, wie die Tür
der Bibliothek sich öffnete, und Bruder Otho trat in den Garten, um
nach den Lilien zu schauen.
2.
Im Frühling aber zechten wir als Narren, wie es dortzulande
üblich ist. Wir hüllten uns in bunte Narrenkittel, deren
eingefetzter Stoff wie Vogel- federn leuchtete, und setzten die
starren Schnabel- Masken auf. Dann sprangen wir im Narrenschritte
und die Arme wie Flügel schwingend hinab ins Städtchen, auf dessen
altem Markte der hohe Nar- renbaum errichtet war. Dort fand im
Fackelschein der Masken-Aufzug statt; die Männer gingen als Vögel,
und die Frauen waren in die Prachtgewänder vergangener Jahrhunderte
vermummt. Sie riefen uns mit hoher, verstellter Spieluhr-Stimme
Scherz- worte zu, und wir erwiderten mit schrillem Vogel-
schrei.
Schon lockten uns aus den Schenken und Küfer- Kellern
die Märsche der Feder-Innungen — so die dünnen, stechenden Flöten
der Distelfinken, die schwirrenden Zithern der Mauer-Käuze, die
röh- renden Baßgeigen der Auerhähne und die quieken- den
Handorgeln, mit denen die Wiedehopf-Zunft ihre schändlichen Verse
instrumentiert. Bruder Otho und ich gesellten uns den
Schwarzspechten zu, bei denen man den Marsch mit Kochlöffeln auf
hölzerne Zuber schlägt, und hielten närrischen Rat und Gericht.
Hier galt es behutsam zu trinken, denn wir mußten den Wein mit
Halmen durch die Nü- stern der Schnäbel aus dem Glase ziehen. Wenn
uns der Kopf zu rauchen drohte, erfrischte uns ein Streif- zug
durch die Gärten und Gräben am Ringwalle, auch schwärmten wir auf
die Tanzböden aus, oder wir schlugen in der Laube eines Wirtes die
Maske auf und speisten in Gesellschaft eines flüchtigen Liebchens
aus Buckel-Pfannen ein Gericht von Schnecken auf Burgunder
Art.
Überall und bis zum Morgengrauen ertönte in diesen
Nächten der schrille Vogelruf— in den dunk- len Gassen und an der
großen Marina, in den Kasta- nien-Hainen und Weingärten, von den
mit Lam- pionen geschmückten Gondeln auf der dunklen Fläche des
Sees und selbst zwischen den hohen Zy- pressen der Friedhöfe. Und
immer, wie sein Echo, hörte man auch den erschreckten, flüchtenden
Schrei, der ihn erwiderte. Die Frauen dieses Landes sind schön und
voll der spendenden Kraft, die der alte Pulverkopf die schenkende
Tugend nennt.
Wißt Ihr, nicht die Schmerzen dieses Lebens, doch sein
Übermut und seine wilde Fülle bringen, wenn wir uns an sie
erinnern, uns den Tränen nah. So liegt dieses Stimmen-Spiel mir
tief im Ohre, und vor allem jener unterdrückte Schrei, mit dem
Lauretta mir am Wall begegnete. Obwohl ein weißer, gold- bordierter
Reifrock ihre Glieder und die Perlmutt- Larve ihr Gesicht verbarg,
hatte ich sie an der Art, in der sie schreitend ihre Hüfte bog, im
Dunkel der Allee sogleich erkannt, und ich barg mich listig hin-
ter einem Baum. Dann erschreckte ich sie durch das
Spechts-Gelächter und verfolgte sie, indem ich mit den weiten,
schwarzen Ärmeln flatterte. Oben, wo der Römerstein im Weinland
steht, fing ich die Er- schöpfte ein, und zitternd preßte ich sie
in den Arm, die feuerrote Maske über ihr Gesicht gebeugt. Als ich
sie wie träumend und durch Zaubermacht ge- bannt so in meinem
Griffe ruhend fühlte, faßte mich das Mitleid an, und lächelnd
streifte ich die Vogel- Larve auf die Stirn empor.
Da begann auch sie zu lächeln, und leise legte sie die
Hand auf meinen Mund — leise, daß ich nur den Atem, der durch ihre
Finger wehte, in der Stille noch vernahm.
3.
Sonst aber lebten wir in unserer
Rauten-Klause tag- aus, tagein in großer Eingezogenheit. Die Klause
stand am Rande der Marmor-Klippen, inmitten einer der
Felsen-Inseln, wie man sie hier und dort das Rebenland durchbrechen
sieht. Ihr Garten war in schmalen Bänken aus dem Gestein gespart,
und an den Rändern seiner locker aufgeführten Mauern hatten sich
die wilden Kräuter angesiedelt, wie sie im fetten Weinbergland
gedeihen. So blühte im frühen Jahr die blaue Perlen-Traube der
Muskat- Hyazinthe, und im Herbst erfreute uns die Juden- kirsche
mit ihrer gleich roten Lampionen leuchten- den Frucht. Zu allen
Zeiten aber säumten Haus und Garten die silbergrünen Rauten-Büsche,
denen bei hohem Sonnenstande wirbelnd ein krauser Duft ent-
stieg.
Am Mittag, wenn die große Hitze die Trauben kochte, war
es in der Klause erquickend kühl, denn nicht nur waren ihre Böden
nach südlicher Manier mit Mosaiken ausgelegt, sondern es ragten
manche ihrer Räume auch in den Fels hinein. Doch lag ich um diese
Zeit auch gerne auf der Terrasse aus- gestreckt und hörte halb im
Schlaf dem gläsernen Gesänge der Zikaden zu. Dann fielen die
Segelfalter in den Garten ein und flogen die Teller-Blüten der
wilden Möhre an, und auf den Klippen sonnten die Perlen-Echsen sich
am Stein. Und endlich, wenn der weiße Sand des Schlangen-Pfades in
Hochglut flammte, schoben sich langsam die Lanzen-Ottern auf ihn
vor, und bald war er von ihnen wie ein Hieroglyphen-Band
bedeckt.
Wir hegten vor diesen Tieren, die zahlreich in den
Klüften und Schrunden der Rauten-Klause hausten, keine Furcht;
vielmehr ergötzte uns bei Tage ihr Farbenglanz und nachts das
feine, klingende Pfei- fen, mit dem sie ihre Liebes-Spiele
begleiteten. Oft schritten wir mit leicht gerafften Kleidern über
sie hinweg und schoben sie, wenn wir Besuch bekamen, dem vor ihnen
graute, mit den Füßen aus dem Weg. Stets aber gingen wir mit
unseren Gästen auf dem Schlangen-Pfade Hand in Hand; und oft
bemerkte ich dabei, daß ein Gefühl der Freiheit und der tän-
zerischen Sicherheit, das uns auf dieser Bahn ergriff, sich ihnen
mitzuteilen schien.
Viel wirkte wohl zusammen, die Tiere so ver- traut zu
machen, doch hätten wir von ihrem Trei- ben ohne Lampusa, unsere
alte Köchin, kaum ge- ahnt. Lampusa stellte ihnen, solange der
Sommer währte, Abend für Abend vor die Felsen-Küche ein
Silber-Kesselchen voll Milch; dann lockte sie die Tiere mit dunklem
Ruf herbei. Da sah man in den letzten Sonnenstrahlen überall im
Garten die gol- dene Windung leuchten, über der schwarzen Erde der
Lilien-Beete und den silbergrünen Rauten-Pol- stern, und hoch im
Hasel- und Holunderstrauch. Dann legten die Tiere, das Zeichen des
geflammten Feuer-Rades bildend, sich um das Kesselchen und nahmen
die Gabe an.
Bei dieser Spende hielt Lampusa schon früh den kleinen
Erio auf dem Arm, der ihren Ruf mit sei- nem Stimmchen begleitete.
Wie sehr erstaunte ich indessen, als ich eines Abends, kaum daß es
laufen konnte, das Kind das Kesselchen ins Freie schleppen sah.
Dort schlug es seinen Rand mit einem Birnholz- Löffel, und
leuchtend glitten die roten Schlangen aus den Klüften der
Marmor-Klippen vor. Und wie im Helltraum hörte ich den kleinen Erio
lachen, als er zwischen ihnen auf dem gestampften Lehm des
Küchen-Vorhofs stand. Die Tiere umspielten ihn halb aufgerichtet
und wiegten über seinem Scheitel in schnellem Pendelschlage die
schweren Dreiecks- Köpfe hin und her. Ich stand auf dem Altan und
wagte meinen Erio nicht anzurufen, wie jemand, den man schlafend
auf steilen Firsten wandeln sieht. Doch da erblickte ich die Alte
vor der Felsen-Küche — Lampusa, die mit gekreuzten Armen lächelte,
und es erfaßte mich das herrliche Gefühl der Sicherheit in
flammender Gefahr.
Seit jenem Abend war es Erio, der uns so das
Vesper-Glöcklein läutete. Wenn wir den Klang des Kesselchens
vernahmen, legten wir die Arbeit nieder, um uns am Anblick seiner
Spende zu erfreuen. Bru- der Otho eilte aus seiner Bibliothek und
ich aus dem Herbarium auf den inneren Altan, und auch Lam- pusa
trat vom Herd hinzu und lauschte dem Kinde mit stolzem, zärtlichem
Gesicht. Wir pflegten uns dann an seinem Eifer zu ergötzen, mit dem
es die Tiere in Ordnung hielt. Bald konnte Erio ein jedes bei Namen
nennen und trippelte mit seinem Röck- chen aus blauem, goldgefaßtem
Sammet in ihrem Kreis umher. Auch achtete er sehr darauf, daß alle
von der Milch bekamen und schaffte für die Nach- züglerinnen Raum
am Kesselchen. Dann pochte er diese oder jene der Trinkerinnen mit
seinem Birn- holz-Löffel auf den Kopf, oder er packte sie, wenn sie
nicht schnell genug den Platz verließen, am Nacken-Ansatz und
zerrte sie mit aller Kraft hinweg. Wie derb er sie indes auch
fassen mochte, immer blie- ben die Tiere gegen ihn ganz sanft und
zahm, selbst in der Häutung, wo sie sehr empfindlich sind. So
lassen während dieser Zeit die Hirten ihr Vieh nicht bei den
Marmor-Klippen auf die Weide gehen, denn ein gezielter Biß fällt
selbst den stärksten Stier mit Blitzes Kraft.
Vor allem liebte Erio das größte, schönste Tier, das
Bruder Otho und ich die Greifin nannten, und das, wie wir aus Sagen
der Wingerts-Bauern schlos- sen, seit alten Zeiten in den Klüften
saß. Der Körper der Lanzen-Ottern ist metallisch rot, und häufig
sind Schuppen von hellem Messing-Glanze in sein Muster
eingesprengt. Bei dieser Greifin war jedoch der reine, makellose
Goldschein ausgeprägt, der sich am Kopfe nach Juwelen-Art zugleich
ins Grüne wandte und an Leuchtkraft steigerte. Auch konnte sie im
Zorn den Hals zum Schilde dehnen, der wie ein goldener Spiegel im
Angriff funkelte. Es schien, daß ihr die anderen Respekt erwiesen,
denn keine rührte an das Kesselchen, bevor die Goldene ihren Durst
gestillt. Dann sahen wir, wie Erio mit ihr scherzte, während sie,
wie manchmal Katzen tun, den spitzen Kopf an seinem Röckchen
rieb.
Nach diesem trug Lampusa uns zur Vesper auf, zwei Becher
des geringen Weines und zwei Scheiben vom dunklen, salzigen
Brot.
4.
Von der Terrasse schritt man durch eine Glastür in die
Bibliothek. In schönen Morgenstunden stand diese Türe weit
geöffnet, so daß Bruder Otho an seinem großen Tische wie in einem
Teil des Gartens saß. Ich trat stets gern in dieses Zimmer ein, an
dessen Decke grüne, laubige Schatten spiel- ten, und in dessen
Stille das Zirpen der jungen Vögel und das nahe Summen der Bienen
drang.
Am Fenster trug eine Staffelei das große Zeichen- brett,
und an den Wänden türmten sich bis zur Decke die Bücher-Reihen an.
Die unterste von ihnen stand in einem hohen Fache, das für die
Folianten zuge- schnitten war — für den großen Hortus Plantarum
Mundi und mit der Hand illuminierte Werke, wie man sie nicht mehr
druckt. Darüber sprangen die Repositorien vor, die sich durch
Schübe noch ver- breitern ließen — mit flüchtigen Papieren und ver-
gilbten Herbarien-Blättern überdeckt. Auch nah- men ihre dunklen
Tafeln eine Sammlung von in Stein gepreßten Pflanzen auf, die wir
in Kalk- und Kohlengruben ausgemeißelt hatten, dazwischen
mancherlei Kristalle, wie man sie als Zierat aus- stellt oder auch
bei sinnendem Gespräche in den Händen wiegt. Darüber stiegen dann
die kleinen Bände an — ein nicht sehr ausgedehnter botanischer
Bestand, doch lückenlos in allem, was je über die Lilien erschien.
Auch strahlte dieser Teil der Bü- cherei noch in drei allgemeine
Zweige aus — in Werke, die sich mit der Gestalt, der Farbe und dem
Duft beschäftigten.
Die Bücher-Reihen setzten sich noch in der klei- nen
Halle fort, und sie begleiteten die Treppe, die nach oben führte,
bis an das Herbarium. Hier stan- den die Kirchenväter, die Denker
und die klassischen Autoren der alten und der neuen Zeit, und vor
allem eine Sammlung von Wörterbüchern und Enzyklo- pädien aller
Art. Am Abend traf ich mich mit Bruder Otho in der kleinen Halle,
wo im Kamin ein Feuerchen aus dürrem Rebholz flackerte. Wenn über
Tag die Arbeit gut gediehen war, dann pflegten wir uns durch jene
lässigere Unterhaltung zu zer- streuen, bei der man aufgebahnten
Wegen schreitet und Daten und Autoritäten anerkennt. Wir scherz-
ten mit den Quisquilien des Wissens und mit dem seltenen oder das
Absurde streifenden Zitat. Bei diesen Spielen kam uns die Legion
der stummen, in Leder oder Pergament geschnürten Sklaven gut
zupaß.
Meist stieg ich früh in das Herbarium hinauf und setzte
dort bis über Mitternacht die Arbeit fort. Bei unserm Einzug hatten
wir den Boden gut mit Holz verschalen lassen und lange Reihen von
Schränken in ihm aufgestellt. In ihren Fächern häuften sich zu
Tausenden die Bündel der Herbarien-Blätter auf. Sie waren nur zum
kleinsten Teil von uns ge- sammelt und stammten meist von längst
verdorrter Hand. Zuweilen, wenn ich eine Pflanze suchte, stieß ich
sogar auf von der Zeit gebräunte Bogen, deren verblaßte Signatur
vom hohen Meister Linnaeus selbst geschrieben war. In diesen Nacht-
und Mor- genstunden führte und vermehrte ich auf vielen Zet- teln
die Register — einmal den großen Namens- Katalog der Sammlung und
sodann die Kleine Flora, in der wir alle Funde im Gebiete der
Marina sorgsam verzeichneten. Am andern Tage sah Bru- der Otho dann
an Hand der Bücher die Zettel ein, und viele wurden von ihm noch
bezeichnet und koloriert. So wuchs ein Werk heran, das uns schon im
Entstehen viel Genuß bereitete.
Wenn wir zufrieden sind, genügen unseren Sin- nen auch
die kärgsten Spenden dieser Welt. Von je- her hatte ich das
Pflanzenreich verehrt und seinen Wundern in vielen Wanderjahren
nachgespürt. Und wohl war mir der Augenblick vertraut, in dem der
Herzschlag stockt, wenn wir in der Entfaltung die Geheimnisse
erahnen, die jedes Samenkorn in sich verbirgt. Dennoch war mir die
Pracht des Wachs- tums niemals näher als auf diesem Boden, den ein
Ruch von längst verwelktem Grün durchwitterte.
Bevor ich mich zur Ruhe legte, schritt ich noch ein
wenig in seinem schmalen Mittelgange auf und ab. Oft glaubte ich in
diesen Mitternächten, die Pflanzen leuchtender und herrlicher als
jemals sonst zu sehen. Auch spürte ich von fern den Duft der
weißbesternten Dornen-Täler, den ich im Winter- Frühling von Arabia
deserta trank, und den Va- nille-Hauch, der in der schattenlosen
Glut der Kandelaber-Wälder den Wanderer erquickt. Dann wieder
schlugen sich wie Seiten eines alten Buches Erinnerungen an Stunden
des wilden Überflusses auf — an heiße Sümpfe, in denen die Victoria
regia blühte, und Meeres-Haine, wie man sie auf blei- chen Stelzen
weit vor den Palmen-Küsten im Mit- tag schwelen sieht. Doch fehlte
mir die Furcht, die uns ergreift, wo immer wir dem Übermaß des
Wachstums gegenüberstehen wie einem Götter- bild, das tausendarmig
lockt. Ich fühlte, wie mit unseren Studien zugleich die Kräfte
wuchsen, den heißen Lebensmächten standzuhalten und sie zu
bändigen, so wie man Rosse am Zügel führt.
Oft graute schon der Morgen, ehe ich mich auf das
schmale Feldbett streckte, das im Herbarium auf- geschlagen
war.
5.
Lampusas Küche ragte in den
Marmorfels hin- ein. Dergleichen Höhlen boten in alten Zeiten den
Hirten Schutz und Unterkunft und wurden später gleich
Zyklopen-Kammern in die Gehöfte ein- gebaut. Schon früh, wenn sie
das Morgen-Süppchen für Erio kochte, sah man die Alte am Feuer
stehen. Dem Herdraum schlossen sich noch tiefere Gewölbe an, in
denen es nach Milch, nach Früchten und aus- getropften Weinen roch.
Ich trat nur selten in diesen Teil der Rauten-Klause ein, da mir
Lampusas Nähe ein beklommenes Gefühl erweckte, das ich gern ver-
mied. Dafür war Erio hier mit jedem Winkelchen vertraut.
Auch Bruder Otho sah ich oftmals bei der Alten am Feuer
stehen. Ihm war das Glück wohl zu ver- danken, das mir mit Erio,
dem Kind der Liebe von Silvia, Lampusas Tochter, zuteil geworden
war. Wir taten damals bei den Purpur-Reitern Dienst im Feldzug, der
den freien Völkern von Alta Plana galt, und der dann scheiterte.
Oft, wenn wir zu den Pässen ritten, sahen wir Lampusa vor ihrer
Hütte stehen und neben ihr die schlanke Silvia im roten Kopftuch
und im roten Rock. Bruder Otho war neben mir, als ich die Nelke,
die Silvia aus ihrem Haar genommen und in den Weg geworfen hatte,
aus dem Staube hob, und warnte mich im Weiter- reiten vor der alten
und vor der jungen Hexe — spöttisch, und mit besorgtem Unterton.
Doch mehr verdroß mich noch das Lachen, mit dem Lampusa mich
gemustert hatte, und das ich als schamlos kupplerisch empfand. Und
doch ging ich in ihrer Hütte bald ein und aus.
Als wir nach unserem Abschied an die Marina
wiederkehrten und in die Rauten-Klause zogen, er- fuhren wir von
der Geburt des Kindes und auch davon, daß Silvia es zurückgelassen
hatte und mit fremdem Volke davongegangen war. Die Nachricht kam
mir ungelegen — vor allem, da sie mich am Be- ginne eines
Abschnitts traf, der nach den Plagen der Kampagne den stillen
Studien vorbehalten war.
Daher erteilte ich Bruder Otho Vollmacht, Lam- pusa
aufzusuchen, um mit ihr zu sprechen und ihr zuzubilligen, was ihm
angemessen schien. Wie sehr erstaunte ich indessen, als ich erfuhr,
daß er das Kind und sie sogleich in unseren Haushalt aufge- nommen
hatte; und doch erwies sich dieser Schritt sehr bald als für uns
alle segensreich. Und wie man eine rechte Handlung insonderheit
daran erkennt, daß in ihr auch das Vergangene sich rundet, so
leuchtete auch Silvias Liebe mir in einem neuen Licht. Ich
erkannte, daß ich sie und ihre Mutter mit Vorurteil betrachtet, und
daß ich sie, weil ich sie leicht gefunden, auch allzu leicht
behandelt hatte, wie man den Edelstein, der offen am Wege leuchtet,
als Glas ansieht. Und doch kommt alles Köstliche uns nur durch
Zufall zu — das Beste ist umsonst.
Freilich bedurfte es, die Dinge so ins Lot zu brin- gen,
der Unbefangenheit, die Bruder Otho eigen- tümlich war. Sein
Grundsatz war es, die Menschen, die sich uns näherten, wie seltene
Funde zu behan- deln, die man auf einer Wanderung entdeckt. Auch
nannte er die Menschen gern die Optimaten, um anzudeuten, daß alle
zum eingeborenen Adel dieser Welt zu zählen sind, und daß ein jeder
von ihnen uns das Höchste spenden kann. Er erfaßte sie als Gefäße
des Wunderbaren und erkannte ihnen als hohen Bildern Fürsten-Rechte
zu. Und wirklich sah ich alle, die ihm nahe kamen, sich entfalten
wie Pflanzen, die aus dem Winterschlaf erwachen — nicht daß sie
besser wurden, doch sie wurden mehr sie selbst.
Lampusa nahm sich gleich nach ihrem Einzug der
Wirtschaft an. Die Arbeit ging ihr leicht von- statten, und auch im
Garten hatte sie keine dürre Hand. Während Bruder Otho und ich
streng nach der Regel pflanzten, verscharrte sie die Samen flüchtig
und ließ das Unkraut wuchern, wie es ihm gefiel. Und doch zog sie
mit leichter Mühe das Dreifache von unseren Saaten und von unserer
Frucht. Oft sah ich, wie sie spöttisch lächelnd auf unseren Beeten
die ovalen Täfelchen aus Porzellan betrachtete, auf denen Art und
Gattung zu lesen war, von Bruder Otho in feiner Etiketten-Schrift
gemalt. Dabei entblößte sie wie einen Hauer den letzten großen
Schneidezahn, der ihr geblieben war.
Obwohl ich sie nach Erios Weise Altmutter nannte, sprach
sie zu mir fast nur von Wirtschafts- Dingen, und oft recht
närrisch, wie Schaffnerinnen tun. Auch Silvias Name fiel niemals
zwischen uns. Trotzdem sah ich es ungern, daß Lauretta am andern
Abend nach jener Nacht am Walle mich abzuholen kam. Und dennoch
erwies sich gerade hier die Alte besonders aufgeräumt und holte
eilig Wein, Mor- sellen und süße Kuchen zum Empfang.
An Erio empfand ich den natürlichen Genuß der
Vaterschaft, sowie den geistigen der Adoption. Wir liebten seinen
stillen, aufmerksamen Sinn. Wie alle Kinder die Geschäfte
nachzuahmen pflegen, die sie in ihrer kleinen Welt erblicken, so
wandte er sich früh den Pflanzen zu. Oft sahen wir ihn lange auf
der Terrasse sitzen, um eine Lilie zu betrachten, die vor der
Entfaltung stand, und wenn sie sich geöffnet hatte, eilte er in die
Bibliothek, um Bruder Otho mit der Nachricht zu erfreuen.
Desgleichen stand er in der Frühe gerne vor dem Marmor-Becken, in
dem wir Wasser-Rosen aus Zipangu zogen, deren Blüten- hüllen der
erste Sonnenstrahl mit einem zarten Laute sprengt. Auch im
Herbarium hatte ich ein Stühlchen für ihn stehen — er saß dort oft
und schaute mir bei der Arbeit zu. Wenn ich ihn still an meiner
Seite spürte, fühlte ich mich erquickt, als trügen durch die tiefe,
heitere Lebensflamme, die in dem kleinen Körper brannte, die Dinge
einen neuen Schein. Auch war es mir, als ob die Tiere seine Nähe
suchten — so sah ich immer, wenn ich ihn im Garten traf, die roten
Käfer um ihn fliegen, die beim Volke die Frigga-Hähnchen heißen;
sie liefen über seine Hände und umspielten ihm das Haar. Sehr
seltsam war auch, daß die Lanzen-Ottern auf Lampusas Ruf das
Kesselchen im glühenden Geflecht um- ringten, während sie bei Erio
die Figur der Strahlen- Scheibe bildeten. Bruder Otho hatte das
zuerst bemerkt.
So war es denn gekommen, daß unser Leben sich von den
Plänen, die wir gesponnen hatten, unter-
schied. Doch merkten wir, daß dieser Unterschied der Arbeit günstig war.
6.
Wir waren mit dem Plan gekommen, uns von Grund auf mit den
Pflanzen zu beschäftigen, und fingen daher mit der altbewährten
Ordnung des Geistes durch Atmung und Ernährung an. Wie alle Dinge
dieser Erde wollen auch die Pflanzen zu uns sprechen, doch bedarf
es des klaren Sinnes, um ihre Sprache zu verstehen. Wenngleich in
ihrem Kei- men, Blühen und Vergehen ein Trug sich birgt, dem kein
Erschaffener entrinnt, so ist sehr wohl zu ah- nen, was
unveränderlich im Schreine der Erschei- nung eingeschlossen ist.
Die Kunst, sich so den Blick zu schärfen, nannte Bruder Otho „die
Zeit absau- gen” — doch er meinte, daß die reine Leere diesseits
des Todes unerreichbar sei.
Nachdem wir eingezogen waren, bemerkten wir, daß unser
Thema, beinahe gegen unseren Willen, sich erweiterte. Vielleicht
war es die starke Luft der Rauten-Klause, die unserem Denken eine
neue Richtung gab, gleichwie im reinen Sauerstoff die Flamme
steiler und heller brennt. So schien es mir bereits nach kurzen
Wochen, als ob die Gegenstände sich veränderten — und die
Veränderung nahm ich zunächst als Mangel wahr, insofern als die
Sprache mich nicht mehr befriedigte.
Eines Morgens, als ich von der Terrasse aus auf die
Marina blickte, erschienen ihre Wasser mir tiefer und leuchtender,
als ob ich sie zum ersten Male mit ungetrübtem Sinn betrachtete. Im
gleichen Augen- blicke fühlte ich, fast schmerzhaft, wie das Wort
von den Erscheinungen sich löste, so wie die Sehne vom allzu straff
gespannten Bogen springt. Ich hatte ein Stückchen vom Iris-Schleier
dieser Welt gesehen, und von Stund an leistete die Zunge mir nicht
mehr den gewohnten Dienst.
Doch zog zugleich ein neues Wach-Sein in mich ein. Wie
Kinder, wenn das Licht sich aus dem In- neren ihrer Augen nach
außen wendet, mit den Hän- den tastend greifen, so suchte ich nach
Worten und nach Bildern, um den neuen Glanz der Dinge zu er-
fassen, der mich blendete. Ich hatte nie zuvor geahnt, daß Sprechen
solche Qual bereiten kann, und dennoch sehnte ich mich nach dem
unbefangeneren Leben nicht zurück. Wenn wir wähnen, daß wir eines
Tages fliegen könnten, ist der unbeholfene Sprung uns teurer als
die Sicherheit auf vorgebahn- tem Weg. So erklärt sich wohl auch
ein Gefühl des Schwindels, das mich oft bei diesem Tun
ergriff.
Leicht kommt es, daß auf unbekannten Bahnen uns das Maß
verlorengeht. So war es ein Glück, daß Bruder Otho mich begleitete,
und daß er behutsam mit mir vorwärtsschritt. Oft, wenn ich ein Wort
er- gründet hatte, eilte ich, die Feder in der Hand, zu ihm
hinunter, und oft stieg er mit gleicher Botschaft in das Herbarium
herauf. Auch liebten wir, Ge- bilde zu erzeugen, die wir Modelle
nannten — wir schrieben in leichten Metren drei, vier Sätze auf ein
Zettelchen. In ihnen galt es, einen Splitter vom Mosaik der Welt zu
fassen, so wie man Steine in Me- talle faßt. Auch bei den Modellen
waren wir von den Pflanzen ausgegangen und setzten immer weiter
daran an. Auf diese Weise beschrieben wir die Dinge und die
Verwandlungen, vom Sandkorn bis zur Marmor-Klippe und von der
flüchtigen Sekunde bis zur Jahreszeit. Am Abend steckten wir uns
diese Zettel zu, und wenn wir sie gelesen hatten, ver- brannten wir
sie im Kamin.
Bald spürten wir, wie uns das Leben förderte, und wie
uns eine neue Sicherheit ergriff. Das Wort ist König und Zauberer
zugleich. Wir gingen vom hohen Bei- spiel des Linnaeus aus, der mit
dem Marschallstab des Wortes in das Chaos der Tier- und
Pflanzenwelt ge- treten war. Und wunderbarer als alle Reiche, die
das Schwert erstritt, währt seine Herrschaft über Blüten- Wiesen
und die namenlosen Legionen des Gewürms.
So trieb auch uns die Ahnung, daß in den Ele- menten
Ordnung waltet, an. Auch fühlt der Mensch den Trieb, die Schöpfung
mit seinem schwachen Geiste nachzubilden, so wie der Vogel den
Trieb zum Nester-Bauen hegt. Was unsere Mühen dann über- reich
belohnte, das war die Einsicht, daß Maß und Regel in den Zufall und
in die Wirren dieser Erde unvergänglich eingebettet sind. Im
Steigen nähern wir uns dem Geheimnis, das der Staub verbirgt. So
schwindet in den Bergen mit jedem Schritt, den wir gewinnen, das
Zufalls-Muster des Horizontes ein, und wenn wir hoch genug
gestiegen sind, umschließt uns überall, wo wir auch stehen, der
reine Ring, der uns der Ewigkeit verlobt.
Wohl blieb es Lehrlings-Arbeit und Buchstabie- ren, was
wir so verrichteten. Und doch empfanden wir Gewinn an Heiterkeit,
wie jeder, der nicht am Gemeinen haften bleibt. Das Land um die
Marina verlor das Blendende, und trat doch klarer, trat more
geometrico hervor. Die Tage flossen, wie unter hohen Wehren,
schneller und kräftiger dahin. Zuweilen, wenn der Westwind wehte,
spürten wir eine Ahnung vom Genuß der schattenlosen
Fröhlichkeit.
Vor allem aber verloren wir ein wenig von jener Furcht,
die uns beängstigt, und wie Nebel, die aus den Sümpfen steigen, den
Sinn verwirrt. So kam es denn, daß wir die Arbeit nicht im Stiche
ließen, als der Oberförster in unserem Gebiet an Macht ge- wann,
und als der Schrecken sich verbreitete.
7.
Der Oberförster war uns seit langem
als Alter Herr der Mauretania bekannt. Wir hatten ihn auf den
Conventen oft gesehen und manche Nacht mit ihm beim Spiel gesessen
und gezecht. Er zählte zu den Gestalten, die bei den Mauretaniern
zu- gleich als große Herren angesehen und als ein wenig ridikül
empfunden werden — so wie man etwa einen alten Oberst der
Landwehr-Kavallerie, der hin und wieder von seinen Gütern kommt,
beim Regiment empfängt. Er prägte sich im Gedächtnis ein, schon
weil sein grüner, mit goldenen Ilex-Blättern be- stickter Frack die
Blicke auf ihn richtete.
Sein Reichtum galt als ungeheuer, und auf den Festen,
die er in seinem Stadthaus feierte, regierte Überfluß. Es wurde
dort nach alter Sitte derb ge- gessen und getrunken, und die
Eichenplatte des großen Spieltischs bog sich unter goldener Last.
Auch waren die asiatischen Partien, die er den Adep- ten in seinen
kleinen Villen gab, berühmt. So fand ich oft Gelegenheit, ihn nah
zu sehen, und mich be- rührte ein Hauch von alter Macht, der ihn
von sei- nen Wäldern her umwitterte. Damals empfand ich auch das
Starre an seinem Wesen kaum als störend, denn alle Mauretanier
nehmen im Lauf der Zeit den automatischen Charakter an. Vor allem
in den Blik- ken tritt dieser Zug hervor. So lag auch in den Augen
des Oberförsters, besonders wenn er lachte, der Schimmer einer
fürchterlichen Jovialität. Sie waren, wie bei alten Trinkern, von
einem roten Hauche überflammt, doch lag in ihnen zugleich ein
Ausdruck von List und unerschütterlicher Kraft — ja, zu- weilen von
Souveränität. Damals war seine Nähe uns angenehm — wir lebten im
Übermute und an den Tafeln der Mächtigen der Welt.
Ich hörte später Bruder Otho über unsere Mau-
retanier-Zeiten sagen, daß ein Irrtum erst dann zum Fehler würde,
wenn man in ihm beharrt. Das Wort erschien mir um so wahrer, wenn
ich an die Lage dachte, in der wir uns befanden, als dieser Orden
uns an sich zog. Es gibt Epochen des Niederganges, in denen sich
die Form verwischt, die innerst dem Le- ben vorgezeichnet ist. Wenn
wir in sie geraten, taumeln wir als Wesen, die des Gleichgewichts
er- mangeln, hin und her. Wir sinken aus dumpfen Freuden in den
dumpfen Schmerz, auch spiegelt ein Bewußtsein des Verlustes, das
uns stets belebt, uns Zukunft und Vergangenheit verlockender. So
weben wir in abgeschiednen Zeiten oder in fernen Utopien, indes der
Augenblick verfließt.
Sobald wir dieses Mangels innewurden, strebten wir aus
ihm hinaus. Wir spürten Sehnsucht nach Präsenz, nach Wirklichkeit
und wären in das Eis, das Feuer und den Äther eingedrungen, um uns
der Langeweile zu entziehen. Wie immer, wo der Zwei- fel sich mit
Fülle paart, bekehrten wir uns zur Ge- walt — und ist nicht sie das
ewige Pendel, das die Zeiger vorwärtstreibt, sei es bei Tage, sei
es in der Nacht? Also begannen wir, von Macht und Über- macht zu
träumen und von den Formen, die sich kühn geordnet im tödlichen
Gefecht des Lebens aufeinander zubewegen, sei es zum Untergange,
sei es zum Triumph. Und wir studierten sie mit Lust, wie man die
Ätzungen betrachtet, die eine Säure auf den dunklen Spiegeln
geschliffener Metalle niederschlägt. Bei solcher Neigung war es un-
vermeidlich, daß Mauretanier sich uns näherten. Wir wurden durch
den Capitano, der den großen Aufstand in den Iberischen Provinzen
erledigt hatte, eingeführt.
Wer die Geschichte der geheimen Orden kennt, der weiß,
daß sich ihr Umfang schwierig schätzen läßt. Desgleichen ist die
Fruchtbarkeit bekannt, mit der sie Zweige und Kolonien bilden, so
daß man, wenn man ihren Spuren folgt, sich bald in einem Labyrinth
verliert. Das traf auch für die Maure- tanier zu. Besonders seltsam
war es für den Neuling, wenn er in ihren Räumen Angehörige von
Gruppen, die sich tödlich haßten, im friedlichen Gespräche sah. Zu
den Zielen der Mauretanier zählte auch die ar- tistische Behandlung
der Geschäfte dieser Welt. Sie verlangten, daß die Macht ganz ohne
Leidenschaft und göttergleich gehandhabt würde, und entspre- chend
sandten ihre Schulen einen Schlag von kla- ren, freien und stets
fürchterlichen Geistern aus. Gleichviel, ob sie innerhalb des
Aufruhrs oder an der Ordnung tätig waren — wo sie siegten, siegten
sie als Mauretanier, und das stolze „Semper victrix” dieses Ordens
galt nicht seinen Gliedern, sondern seinem Haupte, der Doktrin.
Mitten in der Zeit und ihren wilden Läufen stand er
unerschütterlich, und in seinen Residenzen und Palästen setzte man
den Fuß auf festen Grund.
Doch es war nicht der Genuß der Ruhe, was uns gerne dort
verweilen ließ. Wenn der Mensch den Halt verliert, beginnt die
Furcht ihn zu regieren, und in ihren Wirbeln treibt er blind dahin.
Bei den Mauretaniern aber herrschte unberührte Stille wie im
Zentrum des Zyklons. Wenn man in den Abgrund stürzt, soll man die
Dinge in dem letzten Grad der Klarheit wie durch überschärfte
Gläser sehen. Die- sen Blick, doch ohne Furcht, gewann man in der
Luft der Mauretania, die von Grund auf böse war. Gerade, wenn der
Schrecken herrschte, nahm die Kühle der Gedanken und die geistige
Entfernung zu. Bei den Katastrophen herrschte gute Laune, und man
pflegte über sie zu scherzen wie die Pächter einer Spielbank über
die Verluste ihrer Klientel.
Damals wurde es mir deutlich, daß die Panik, deren
Schatten immer über unseren großen Städten lagern, ihr Pendant im
kühnen Übermut der Weni- gen besitzt, die gleich Adlern über
dumpfem Leiden kreisen. Einmal, als wir mit dem Capitano tranken,
blickte er in den betauten Kelch wie in ein Glas, in dem vergangene
Zeiten sich erschließen, und meinte träumend: „Kein Glas Sekt war
köstlicher als jenes, das man uns an die Maschinen reichte in der
Nacht, da wir Sagunt zu Asche brannten.” Und wir dachten: Lieber
noch mit diesem stürzen, als mit jenen leben, die die Furcht im
Staub zu kriechen zwingt.
Doch ich schweife ab. Bei den Mauretaniern konnte man
die Spiele lernen, die den Geist, den nichts mehr bindet, und der
selbst des Spottes müde wurde, noch erfreuen. Bei ihnen schmolz die
Welt zur Karte ein, wie man sie für Amateure sticht, mit Zirkelchen
und blanken Instrumenten, die man mit Genuß berührt. Daher schien
es sonderbar, daß man in diesem hellen, schattenlosen und abstrak-
testen der Räume auf Figuren wie den Oberförster stieß. Dennoch
werden immer, wenn der freie Geist sich Herrschafts-Sitze gründet,
auch die Auto- chthonen sich ihm zugesellen, wie die Schlange zu
den offenen Feuern kriecht. Sie sind die alten Kenner der Macht und
sehen eine neue Stunde tagen, die Tyrannis wieder aufzurichten, die
seit Anbeginn in ihren Herzen lebt. So entstehen in den großen
Orden die geheimen Gänge und Gewölbe, deren Führung kein Historiker
errät. So entstehen auch die feinsten Kämpfe, die im Inneren der
Macht entbrennen. Kämpfe zwischen Bildern und Gedanken, Kämpfe
zwischen den Idolen und dem Geist.
In solchen Zwisten mußte mancher schon erfah- ren, wo
die List der Erde ihren Ursprung hat. So war es auch mir ergangen,
als ich, um nach dem verschollenen Fortunio zu suchen, in das
Jagdgebiet des Oberförsters eingedrungen war. Seit jenen Ta- gen
kannte ich die Grenzen, die dem Übermut ge- zogen sind, und
vermied, den dunklen Saum der Forsten zu betreten, die der Alte
seinen „Teutoburger Wald” zu nennen liebte, wie er überhaupt in
vorge- spielter, schlingenreicher Biederkeit ein Meister
war.
8.
Als ich nach Fortunio suchte, war ich in den Nord- rand dieser
Wälder eingedrungen, während unsere Rauten-Klause unweit ihres
Südpunkts lag, der das Burgundische berührt. Bei unserer Rückkehr
fanden wir die alte Ordnung an der Marina nur gleich einem Schatten
vor. Bis dahin hatte sie fast seit Carolus Zeiten unversehrt
gewaltet, denn ob fremde Herren kamen oder gingen, immer blieb das
Volk, das dort die Reben zieht, bei Sitte und Gesetz. Auch ließen
Reichtum und Köstlichkeit des Bodens ein jedes Regiment sich bald
zur Milde wenden, ob es auch hart begann. So wirkt die Schönheit
auf die Macht. Der Krieg vor Alta Plana aber, den man führte, wie
man gegen Türken kämpft, schnitt tiefer ein. Er heerte gleich einem
Frost, der in den Bäumen das Kernholz sprengt, und dessen Wirkung
oft erst nach Jahren sichtbar wird. So lief an der Marina das Le-
ben im Kreislauf fort. Es war das alte, und war doch zugleich das
alte nicht. Zuweilen, wenn wir auf der Terrasse standen und auf den
Blütenkranz der Gär- ten blickten, verspürten wir den Hauch
versteckter Müdigkeit und Anarchie. Und gerade dann berührte die
Schönheit dieses Landes uns bis zum Schmerz. So leuchten, bevor die
Sonne scheidet, die Lebens- farben noch gewaltig auf.
In diesen ersten Zeiten hörten wir vom Oberför- ster
kaum. Doch seltsam war es, wie er im gleichen Maße, in dem die
Schwächung zunahm und die Wirklichkeit entschwand, sich näherte.
Zunächst vernahm man nur Gerüchte, wie eine Seuche, die in fernen
Häfen wütet, sich dunkel anzukünden pflegt. Sodann verbreiteten
sich Meldungen von nahen Übergriffen und Gewaltsamkeiten, die von
Mund zu Munde gingen, und endlich geschahen solche Taten ganz
unverhüllt und offenbar. So wie im Bergland ein dichter Nebel die
Wetter kündet, ging dem Ober- förster eine Wolke von Furcht voraus.
Die Furcht verhüllte ihn, und ich bin überzeugt, daß darin seine
Kraft weit mehr als in ihm selbst zu suchen war. Er konnte erst
wirken, wenn die Dinge aus sich selbst heraus ins Wanken kamen —
dann aber lagen seine Wälder günstig für den Zugriff auf das
Land.
Wenn man die Höhe der Marmor-Klippen er- stieg, war das
Gebiet, darin er die Gewalt er- strebte, in seinem vollen Umfang
einzusehen. Um auf die Zinne zu gelangen, pflegten wir die schmale
Treppe zu erklimmen, die bei Lampusas Küche in den Fels geschlagen
war. Die Stufen waren vom Regen ausgewaschen und führten auf eine
vor- geschobene Platte, von der man weithin in die Runde sah. Hier
weilten wir manche Sonnen-Stunde, wenn die Klippen in bunten
Lichtern strahlten, denn wo am blendend weißen Fels die
Sickerwässer nagten, da waren rote und falbe Fahnen in ihn
eingesprengt. Auch fiel in mächtigen Behängen das dunkle Efeu- Laub
von ihm herab, und in den feuchten Schrun- den funkelten die
Silberblätter der Lunaria.
Beim Aufstieg streifte unser Fuß die roten Brom-
beer-Ranken und schreckte die Perlen-Echsen auf, die sich
grünleuchtend auf die Zinnen flüchteten. Dort wo der fette, mit
blauem Enzian gesternte Rasen überhing, waren von Kristallen
gesäumte Drusen in den Fels gebettet, in deren Höhlen die Käuzchen
träumend blinzelten. Auch nisteten die schnellen, rostbraunen
Falken dort; wir schritten so nah an ihrer Brut vorbei, daß wir die
Nüstern in ihren Schnäbeln sahen, die eine feine Haut gleich blauem
Wachse überzog.
Hier auf der Zinne war die Luft erquickender als unten
im Kessel, wo die Reben im Glaste zitterten. Zuweilen preßte die
Hitze einen Windschwall hoch, der in den Schrunden sich melodisch
wie in Orgel- pfeifen fing und Spuren von Rosen, Mandeln und
Melisse mit sich trug. Von unserem Felsensitze sahen wir das Dach
der Rauten-Klause nun tief unter uns. Im Süden, jenseits der
Marina, ragte im Schutze seiner Gletscher-Gürtel das freie Berg-
land von Alta Plana auf. Oft waren seine Gipfel vom Dunst, der aus
dem Wasser stieg, verhüllt, dann wie- der war die Luft so rein, daß
wir die Zirbel-Hölzer unterschieden, die dort bis hoch in die
Gerölle vor- geschoben sind. An solchen Tagen spürten wir den Föhn
und löschten im Haus die Feuer über Nacht.
Oft ruhte unser Blick auch auf den Inseln der Marina,
die wir im Scherz die Hesperiden nannten, und an deren Ufern
Zypressen dunkelten. Im streng- sten Winter kennt man auf ihnen
weder Frost noch Schnee; die Feigen und Orangen reifen in freier
Luft, die Rosen tragen das ganze Jahr. Zur Zeit der Man- del- und
der Aprikosenblüte läßt sich das Volk an der Marina gern
hinüberrudern; sie schwimmen dann wie helle Blumenblätter auf der
blauen Flut. Im Herbst dagegen schifft man sich ein, um dort den
Peters-Fisch zu speisen, der in gewissen Voll- mond-Nächten aus
großer Tiefe zur Oberfläche steigt und überreich die Netze füllt.
Die Fischer pflegen ihm schweigend nachzustellen, denn sie mei-
nen, daß selbst ein leises Wort ihn schreckt, und daß ein Fluch den
Fang verdirbt. Auf diesen Fahrten zum Peters-Fisch ging es stets
fröhlich zu; und man versorgte sich mit Wein und Brot, da auf den
Inseln die Rebe nicht gedeiht. Es fehlen dort die kühlen Nächte im
Herbst, in denen der Tau sich auf die Trauben schlägt, und wo ihr
Feuer durch eine Ahnung des Unterganges an Geist gewinnt.
An solchen Feiertagen mußte man auf die Marina blicken,
um zu ahnen, was Leben heißt. Am frühen Morgen drang die Fülle der
Geräusche hier her- auf — ganz fein und deutlich, wie man Dinge im
umgekehrten Fernrohr sieht. Wir hörten die Glocken in den Städten
und die Böller, die den bekränzten Schiffen in den Häfen Salut
erwiesen, dann wieder die Gesänge frommer Scharen, die zu den
Wunder- Bildern wallten, und den Ton der Flöten vor einem
Hochzeitszug. Wir hörten das Lärmen der Dohlen um die Wetterfahnen,
den Hahnenschrei, den Kuckucksruf, den Klang der Hörner, wie sie
die Jägerburschen blasen, wenn es zur Reiher-Beize aus dem Burgtor
geht. So wunderlich klang alles dies her- auf, so närrisch, als sei
die Welt aus buntem Schel- men-Tuch gestückt — doch auch
berauschend wie Wein am frühen Tag.
Tief unten säumte die Marina ein Kranz von klei- nen
Städten mit Mauern und Mauertürmen aus Römer-Zeiten, hoch von
altersgrauen Domen und Merowinger-Schlössern überragt. Dazwischen
lagen die fetten Weiler, um deren Firsten Tauben-Schwärme kreisten,
und die von Moos begrünten Mühlen, zu denen man im Herbst die Esel
mit den Malter- Säcken traben sah. Dann wieder Burgen, auf hohen
Felsen-Spitzen eingenistet, und Klöster, um deren dunkle
Mauer-Ringe das Licht in Karpfenteichen wie in Spiegeln
funkelte.
Wenn wir vom hohen Sitze auf die Stätten schau- ten, wie
sie der Mensch zum Schutz, zur Lust, zur Nahrung und Verehrung sich
errichtet, dann schmolzen die Zeiten vor unserm Auge innig inein-
ander ein. Und wie aus offenen Schreinen traten die Toten
unsichtbar hervor. Sie sind uns immer nah, wo unser Blick voll
Liebe auf altbebautem Lande ruht, und wie in Stein und Ackerfurchen
ihr Erbe lebt, so waltet ihr treuer Ahnen-Geist in Feld und
Flur.
In unserm Rücken, gegen Norden, grenzte die Campagna an;
sie wurde von der Marina durch die Marmor-Klippen wie durch einen
Wall getrennt. Im Frühling dehnte dieser Wiesengürtel sich als ein
hoher Blumen-Teppich aus, in dem die Rinder- herden langsam
weideten, wie schwimmend im bunten Schaum. Am Mittag ruhten sie im
sumpfig kühlen Schatten der Erlen und der Zitter-Pappeln, die auf
der weiten Fläche belaubte Inseln bildeten, aus denen oft der Qualm
der Hirtenfeuer stieg. Auch sah man weit verstreut die großen Höfe
mit Stall und Scheuer und den hohen Stangen der Brunnen, die die
Tränken wässerten.
Im Sommer war es hier sehr heiß und dunstig, und im
Herbst, zur Zeit der Schlangen-Paarung, war dieser Strich wie eine
Wüsten-Steppe, einsam und verbrannt. An seinem andern Rande ging er
in ein Sumpfland über, in dessen Dickicht kein Zeichen der
Besiedlung mehr zu spüren war. Nur Hütten aus grobem Schilf, wie
sie zur Entenjagd errichtet wer- den, ragten hin und wieder am Ufer
der dunklen Moorgewässer auf, und in die Erlen waren verdeckte
Sitze wie Krähen-Nester eingebaut. Hier herrschte bereits der
Oberförster, und bald begann der Boden anzusteigen, in dessen Grund
der Hochwald wur- zelte. Von seinen Säumen sprangen noch wie lange
Sicheln Gehölze, die man im Volk die Hörner nannte, in die
Weidestriche vor.
So war das Reich, das um die Marmor-Klippen dem Blick
sich rundete. Wir sahen von ihrer Höhe das Leben, das auf altem
Grunde wohl gezogen und gebunden wie die Rebe sich entfaltete und
Früchte trug. Und wir sahen auch seine Grenzen: die Gebirge, in
denen hohe Freiheit, doch ohne Fülle bei Barbaren-Völkern wohnte,
und gegen Mit- ternacht die Sümpfe und dunklen Gründe, aus denen
blutige Tyrannis droht.
Gar oft, wenn wir zusammen auf der Zinne stan- den,
bedachten wir, wieviel dazu gehört, bevor das Korn geerntet und das
Brot gebacken wird, und wohl auch dazu, daß der Geist in Sicherheit
die Flügel regen kann.
9.
In guten Zeiten hatte man der Händel, die von je auf der
Campagna spielten, kaum geachtet, und das mit Recht, da sich
dergleichen an allen Or- ten wiederfinden, an denen Hirten und
Weidesteppen sind. In jedem Frühjahr gab es Streitigkeiten um das
noch ungebrannte Vieh, und dann die Kämpfe an den Wasserplätzen,
sobald die Trockenzeit be- gann. Auch brachen die großen Stiere,
die Ringe in den Nüstern trugen und den Frauen an der Marina bange
Träume schufen, in fremde Herden ein und jagten sie den
Marmor-Klippen zu, an deren Fuße man Hörner und Rippen bleichen
sah.
Vor allem aber war das Volk der Hirten wild und
ungezähmt. Ihr Stand vererbte sich seit Anbeginn vom Vater auf den
Sohn, und wenn sie in zerlump- tem Kreis um ihre Feuer saßen, mit
Waffen in der Faust, wie die Natur sie wachsen läßt, dann sah man
wohl, wie sie sich von dem Volke unterschieden, das an den Hängen
die Rebe baut. Sie lebten wie in Zeiten, die weder Haus, noch
Pflug, noch Webstuhl kannten, und in denen das flüchtige Obdach
auf- geschlagen wurde, wie der Zug der Herden es ge- bot. Dem
entsprachen auch ihre Sitten und ein rohes Gefühl für Recht und
Billigkeit, das ganz auf die Vergeltung zugeschnitten war. So
fachte jeder Totschlag ein langes Rachefeuer an, und es gab Sippen-
und Familienfehden, von deren Ursprung längst die Kunde erloschen
war, und die doch Jahr für Jahr den Blutzoll forderten.
Campagna-Fälle pflegten daher die Juristen an der Marina das grobe,
ungereimte Zeug zu nennen, das ihnen unterlief; auch luden sie die
Hirten nicht aufs Forum, sondern entsandten Kommissarien in ihr
Gebiet. In anderen Bezirken übten die Pächter der Magnaten und Le-
hens-Herren, die auf den großen Weidehöfen saßen, die
Gerichtsbarkeit. Daneben gab es noch freie Hir- ten, die reich
begütert waren, wie die Bataks und Belovars.
Im Umgang mit dem rauhen Volke lernte man auch das Gute
kennen, das ihm zu eigen war. Dazu gehörte vor allem die
Gastfreiheit, die jeden, der sich an seine Feuer setzte, einbezog.
So kam es, daß man im Kreis der Hirten auch städtische Gesichter
sehen konnte, denn allen, die aus der Marina wei- chen mußten, bot
die Campagna eine erste Zuflucht dar. Hier traf man vom Arrest
bedrohte Schuldner und Scholaren, denen bei einer Zecherei ein
allzu guter Stoß gelungen war, in der Gesellschaft von
entsprungenen Mönchen und fahrendem Gelichter an. Auch junge Leute,
die nach Freiheit strebten, und Liebespaare, die nach Art der
Schäfer leben wollten, suchten gerne die Campagna auf.
So wob zu allen Zeiten ein Netz von Heimlich- keiten,
das die Grenzen der festen Ordnung über- spann. Die Nähe der
Campagna, in der das Recht geringer durchgebildet war, war manchem
günstig, dessen Sache sich böse wendete. Die meisten kehrten
wieder, nachdem die Zeit und gute Freunde für sie gewirkt, und
andere verschwanden in den Wäldern auf Nimmerwiedersehn. Nach Alta
Plana aber ge- wann, was sonst zum Lauf der Dinge zählte, unheil-
vollen Sinn. So dringt in den erschöpften Körper das Verderben oft
durch Wunden, die der Gesunde kaum bemerkt.
Auch wurden die ersten Zeichen nicht erkannt. Als die
Gerüchte von Tumulten aus der Campagna drangen, schien es, daß die
alten Blutrache-Zwiste sich verschärften, doch bald erfuhr man, daß
neue und ungewohnte Züge sie verdüsterten. So ging der Kern von
roher Ehre, der die Gewalt gemildert hatte, verloren; und die reine
Untat blieb bestehen. Auch hatte man den Eindruck, daß in die
Sippen- bünde aus den Wäldern Späher und Agenten ein- gedrungen
waren, um sich ihrer zu fremden Dien- sten zu bemächtigen. Auf
diese Weise verloren die alten Formen ihren Sinn. So etwa war seit
jeher, wenn an einem Kreuzweg ein Leichnam mit vom Dolch
gespaltener Zunge aufgefunden wurde, kein Zweifel, daß hier ein
Verräter den auf seine Spur gesetzten Rächern erlegen war. Auch
nach dem Kriege konnte man auf Tote stoßen, die solche Marke
trugen, doch nunmehr wußte jeder, daß es sich um Opfer der reinen
Meintat handelte.
Desgleichen hatten die Bünde stets Tribut erho- ben,
doch hatten ihn die Grundherren gern gezahlt, die ihn zugleich als
eine Art von Prämie auf den guten Stand des Weideviehs
betrachteten. Nun aber schwollen die Forderungen unerträglich an,
und wenn der Pächter den Erpresser-Brief am Pfosten leuchten sah,
dann hieß es zahlen oder außer Lan- des gehen. Zwar hatte mancher
auch auf Wider- stand gesonnen, und in solchen Fällen war es zur
Plünderung gekommen, die offensichtlich nach überlegtem Plane vor
sich ging.
Es pflegte dann Gesindel, das unter Führung von Leuten
aus den Wäldern stand, nachts vor den Höfen zu erscheinen, und wenn
der Einlaß ihm verweigert wurde, schränkte es die Schlösser mit
Gewalt. Man nannte diese Banden auch die Feuer-Würmer, denn sie
gingen die Tore mit Balken, auf denen kleine Lichter glühten, an.
Von andern wurde dieser Name dahin ausgedeutet, daß sie nach
geglücktem Sturme den Leuten mit Feuer zuzusetzen pflegten, um zu
erfahren, wo das Silber verborgen war. Auf alle Fälle hörte man von
ihnen das Niederste und Un- terste, des Menschen fähig sind. Dazu
gehörte auch, daß sie, um Schrecken zu erregen, die Leichen der
Ermordeten in Kisten oder Fässer packten; und solche unheilvolle
Sendung wurde dann mit den Frachten, die aus der Campagna kamen,
den An- gehörigen ins Haus gebracht.
Weitaus bedrohlicher erschien jedoch der Um- stand, daß
alle diese Taten, die das Land erregten und nach dem Richter
schrien, kaum noch Sühne fanden — ja, es kam so, daß man von ihnen
nicht mehr laut zu sprechen wagte, und daß die Schwäche ganz
offensichtlich wurde, in der das Recht sich gegenüber der Anarchie
befand. Zwar hatte man gleich nach Beginn der Plünderungen die Kom-
missarien entsandt, die von Piketts begleitet waren, doch hatten
diese die Campagna bereits in offenem Aufruhr angetroffen, so daß
es zur Verhandlung nicht gekommen war. Um nun scharf einzuschnei-
den, mußten nach der Satzung die Stände ein- berufen werden, denn
in Ländern, die wie die Ma- rina von alter Rechtsgeschichte sind,
verläßt man ungern den richterlichen Weg.
Bei diesem Anlaß zeigte sich, daß die von der Campagna
auch in der Marina schon vertreten waren, wie denn seit jeher die
zurückgekehrten Städter teils eine Klientel von Hirten
beibehielten, teils auch durch Bluts-Trunk sich in die Sippen-
bünde gliederten. Auch diese Bande folgten nun der Wendung zum
Schlimmeren, und dort besonders, wo die Ordnung schon brüchig
war.
So blühten dunkle Konsulenten auf, die vor den Schranken
das Unrecht schützten, und in den klei- nen Hafenschenken nisteten
die Bünde sich offen ein. An ihren Tischen konnte man nun Bilder
wie draußen an den Weidefeuern sehen — da hockten alte Hirten, die
Beine mit rauhem Fell umwunden, neben Offizieren, die seit Alta
Plana auf Halbsold saßen; und alles, was zu beiden Seiten der
Marmor- Klippen an mißgelauntem oder auf Veränderung erpichtem
Volke lebte, pflegte hier zu zechen und schwärmte wie in dunklen
Stabs-Quartieren aus und ein.
Es konnte die Verwirrung nur vermehren, daß auch Söhne
von Notabeln und junge Leute, die die Stunde einer neuen Freiheit
gekommen glaubten, an diesem Treiben sich beteiligten. So gab es
Lite- raten, die begannen, die Hirtenlieder nachzuahmen, wie man
sie bisher nur von den Ammen, die aus der Campagna kamen, an den
Wiegen hatte lallen hö- ren, und die man nun, anstatt in wollenen
und lei- nenen Gewändern in Zotten-Fellen und mit der- ben Knüppeln
auf dem Corso wandeln sah.
In diesen Kreisen wurde es auch üblich, den Bau der Rebe
und des Kornes zu verachten und den Hort der echten, angestammten
Sitte im wilden Hirtenland zu sehen. Indessen kennt man die leicht
ein wenig qualmigen Ideen, die die Begeisterten ent- zücken, und
man hätte darüber lachen können, wenn es nicht zum offenen Sakrileg
gekommen wäre, das jedem, der nicht die Vernunft verloren hatte,
ganz unverständlich war.
10.
In der Campagna, wo die Weidepfade die Gren- zen der Bezirke
überschnitten, sah man häufig die kleinen Hirten-Götter stehen.
Diese Hüter der Marken waren ungefüge aus Steinen oder altem
Eichenholz geschnitzt, und man erriet sie schon von ferne am
ranzigen Geruch, den sie verbreiteten. Die hergebrachte Spende
nämlich bestand in heißen Güssen von Butter und Gekröse-Schmeer,
wie ihn das Opfer-Messer zur Seite schiebt. Aus diesem Grunde sah
man um die Bilder auch stets die schwar- zen Narben von Feuerchen
im grünen Wiesengrund. Von ihnen hegten die Hirten nach
dargebrachter Gabe ein verkohltes Stengelchen, mit dem sie zur
Nacht der Sonnen-Wende den Leib von allem, was trächtig werden
sollte von Weib und Vieh, mit einem Male zeichneten.
Wenn wir den Mägden, die vom Melken kamen, an solchem
Ort begegneten, dann zogen sie das Kopftuch vors Gesicht, und
Bruder Otho, der Freund und Kenner der Garten-Götter war, ging nie
vorüber, ohne ihnen einen Scherz zu weihen. Auch schrieb er ihnen
ein hohes Alter zu und nannte sie Gefährten des Jupiter aus seiner
Kinderzeit.
Dann war da noch, unweit des Filler-Hornes, ein
Vorgehölz aus Trauer-Weiden, in dem das Bildnis eines Stieres mit
roten Nüstern, roter Zunge und rotbemaltem Gliede stand. Der Ort
galt als ver- rufen, und die Kunde grausamer Feste war mit ihm
verknüpft.
Wer aber hätte glauben mögen, daß man den Schmalz- und
Buttergöttern, die den Kühen die Euter füllten, nun an der Marina
zu huldigen be- gann. Und das geschah in Häusern, wo seit langem
über Opfer und Opferdienst gespottet war. Dieselben Geister, die
sich für stark genug erachtet hatten, die Bande des alten
Ahnen-Glaubens zu zerschneiden, wurden so vom Zauber barbarischer
Idole unter- jocht. Das Bild, das sie in ihrer Blendung boten, war
widriger als Trunkenheit, die man am Mittag sieht. Indem sie zu
fliegen wähnten und sich dessen rühmten, wühlten sie im
Staub.
Ein schlimmes Zeichen lag auch darin, daß die Verwirrung
auf die Toten-Ehrung übergriff. Zu allen Zeiten war an der Marina
der Stand der Dich- ter hoch berühmt. Sie galten dort als freie
Spender, und die Gabe, den Vers zu bilden, wurde als die Quelle der
Fülle angesehn. Daß die Rebe blühte und Früchte trug, daß Mensch
und Vieh gediehen, die bösen Winde sich zerstreuten und heitre Ein-
tracht in den Herzen wohnte — das alles schrieb man dem Wohllaut
zu, wie er in Liedern und Ge- sängen lebt. Davon war auch der
kleinste Winzer überzeugt, und auch nicht minder davon, daß der
Wohllaut die Heilkraft birgt.
So arm war keiner dort, daß nicht das Erste und Beste,
das sein Garten an Früchten brachte, in die Denker-Hütten und
Dichter-Klausen ging. So konnte jeder, der sich berufen fühlte, der
Welt im Geist zu dienen, in Muße leben — zwar in Armut, doch ohne
Not. In Hin und Wider jener, die den Acker bauten und das Wort
bestellten, galt als Vor- bild der alte Satz: das Beste geben die
Götter uns umsonst.
Es ist ein Zeichen guter Zeiten, daß in ihnen die
Geistesmacht auch sichtbar und gegenwärtig wirkt. So war es hier;
im Wechsel der Jahreszeiten, des Götterdienstes und des
Menschenlebens war kein Festtag möglich ohne das Gedicht. Vor allem
aber stand dem Dichter bei den Totenfeiern, nachdem der Leichnam
eingesegnet war, das Amt des Toten- richters zu. Ihm lag es ob, auf
das entschwundene Leben einen göttergleichen Blick zu tun und es im
Vers zu preisen, so wie ein Taucher aus der Muschel die Perle
hebt.
Seit Anbeginn gab es zwei Maße für die Toten- Ehrung,
von denen das übliche das Elegeion war. Das Elegeion galt als
Spende, die dem rechtlich in Bitterkeit und Freude zugebrachten
Leben ziemte, wie es uns Menschen zugemessen wird. Sein Ton war auf
die Klage abgestimmt, doch auch voll Sicher- heit, wie sie dem
Herzen im Leiden Trost gewährt.
Dann aber gab es das Eburnum, das im Alter- tume den
Erlegern der Ungeheuer, die vor der Men- schen-Siedlung in den
Sümpfen und Klüften hausten, vorbehalten war. Das klassische
Eburnum mußte in höchster, erlauchter Heiterkeit gehalten sein; es
hatte in der Admiratio zu enden, während deren aus zerbrochenem
Käfig ein schwarzer Adler in die Lüfte stieg. In dem Maße, in dem
die Zeiten sich milderten, erkannte man das Eburnum auch jenen, die
man die Mehrer oder Optimalen nannte, zu. Wer nun zu diesen zählte,
dessen war das Volk sich stets bewußt gewesen, obgleich mit der
Verfeinerung des Lebens sich auch die Ahnenbilder
wandelten.
Nun aber erlebte man zum ersten Male, daß um den Spruch
der Totenrichter Streit entstand. Es drangen nämlich mit den Bünden
auch die Blut- rache-Fehden der Campagna in die Städte ein. Wie
eine Seuche, die noch unberührten Boden findet, so schwoll auch
hier der Haß gewaltig an. Nachts und mit niederen Waffen drang man
aufeinander ein, und das aus keinem anderen Grunde, als weil vor
hundert Jahren der Wenzel durch den Jegor er- schlagen worden war.
Doch was sind Gründe, wenn die Verblendung uns ergreift. So ging
bald keine Nacht vorüber, in der die Wache nicht auf den Stra- ßen
und bei den Quartieren auf Tote stieß, und man- chen traf man mit
Wunden, die des Schwertes nicht würdig sind — ja selbst mit
solchen, mit denen die blinde Wut den schon Gefallenen
zerstückt.
In diesen Kämpfen, die zu Menschenjagden, Hinterhalten
und Mordbrand führten, verloren die Parteien jedes Maß. Bald hatte
man den Eindruck, daß sie sich kaum noch als Menschen sahen, und
ihre Sprache durchsetzte sich mit Wörtern, die sonst dem Ungeziefer
galten, das ausgerottet, vertilgt und ausgeräuchert werden soll.
Den Mord ver- mochten sie nur auf der Gegenseite zu erkennen, und
dennoch war bei ihnen rühmlich, was dort als ver- ächtlich galt.
Während ein jeder die anderen Toten kaum für würdig hielt, bei
Nacht und ohne Licht verscharrt zu werden, sollte um die Seinen das
Purpurtuch geschlungen werden, es sollte das Ebur- num klingen und
der Adler steigen, der das Lebens- bild der Helden und Seher zu den
Göttern trägt.
Freilich fand keiner von den großen Sängern, und ob sie
goldene Lasten boten, zu solcher Schändung sich bereit. Da holten
jene denn die Harfenisten, die auf der Kirchweih zum Tanze spielen,
und die blin- den Zither-Schläger, wie sie vor den Triklinien der
Freudenhäuser die trunkenen Gäste durch Lieder von der
Venus-Muschel oder vom Fresser Herkules erfreuen. So waren denn die
Kämpen und die Bar- den einander wert.
Nun weiß man aber, daß das Metron ganz un- bestechlich
ist. An seine unsichtbaren Säulen und Tore reichen die Feuer der
Zerstörung nicht hinan. So waren auch jene nur betrogene Betrüger,
die wähnten, daß Opfer-Spenden vom Range des Ebur- nums käuflich
seien. Wir wohnten nur der ersten dieser Totenfeiern bei, und was
wir davon erwar- tet hatten, sahen wir geschehen. Der Mietling, der
den hohen, aus leichtem Feuerstoff gefügten Bogen des Gedichtes
beschreiten sollte, begann sogleich zu stammeln und verwirrte sich.
Dann aber wurde die Sprache ihm geläufig und kehrte sich zu
niederen Haß- und Rachejamben, die im Staube züngelten. Bei diesem
Schauspiel sahen wir die Menge in den roten Festgewändern, die man
zum Eburnum trägt, und auch die Magistrate und den Klerus im Ornat.
Sonst herrschte, wenn der Adler aufstieg, Stille, diesmal aber
brach wilder Jubel aus.
Bei diesen Tönen ergriff uns Trauer, und mit uns
manchen, denn wir fühlten, daß nun aus der Marina der gute
Ahnen-Geist gewichen war.
11.
So ließen sich noch viele Zeichen nennen, in denen der
Niedergang sich äußerte. Sie glichen dem Ausschlag, der erscheint,
verschwindet und wieder- kehrt. Dazwischen waren auch heitre Tage
ein- gesprengt, in denen alles wie früher schien.
Gerade hierin lag ein meisterhafter Zug des Ober-
försters: er gab die Furcht in kleinen Dosen ein, die er allmählich
steigerte, und deren Ziel die Lähmung des Widerstandes war. Die
Rolle, die er in diesen Wirren, die sehr fein in seinen Wäldern
ausgespon- nen wurden, spielte, war die der Ordnungsmacht, denn
während seine niederen Agenten, die in den Hirtenbünden saßen, den
Stoff der Anarchie ver- mehrten, drangen die Eingeweihten in die
Ämter und Magistrate, ja selbst in Klöster ein, und wurden dort als
starke Geister, die den Pöbel zu Paaren treiben würden, angesehen.
So glich der Oberför- ster einem bösen Arzte, der zunächst das
Leiden för- dert, um sodann dem Kranken die Schnitte zuzu- fügen,
die er im Sinne hat.
Wohl gab es in den Magistraten Köpfe, die dieses Spiel
durchschauten, doch fehlte ihnen, es zu hin- dern, die Gewalt. An
der Marina hatte man seit jeher fremde Truppen in Sold gehalten,
und solange die Dinge in Ordnung waren, war man gut bedient. Als
nun die Händel bis an die Ufer drangen, suchte ein jeder die
Söldner zu gewinnen, und Biedenhorn, ihr Führer, stieg über Nacht
zu hoher Geltung auf. Es konnte ihm wenig daran gelegen sein, auf
eine Wendung einzuwirken, die ihm so günstig war; vielmehr begann
er, den Schwierigen zu spielen, und hielt die Truppen zurück wie
Geld, das man auf Zinsen legt. Er hatte sich mit ihnen in eine alte
Festung, den Zwinger, eingeschanzt, und lebte dort wie die Maus im
Speck. So hatte er im Gewölbe des großen Turmes ein Trinkgemach
errichtet, wo er behaglich zechend im Gemäuer saß. Im bunten Glase
des Fensters erblickte man sein Wappen, zwei Hörner mit dem
Spruche:
„De Willekumm / Geiht um!”
In dieser Klause hauste er, voll jener jovialen List des
Nordens, die man leicht unterschätzt, und hörte mit gut gespieltem
Kummer die Kläger an. Im Zechen pflegte er sich dann für Recht und
Ordnung zu ereifern — doch sah man nie, daß er zum Schla- gen kam.
Daneben verhandelte er nicht nur mit den Sippenbünden, sondern auch
mit den Kapitänen des Oberförsters, die er auf Kosten der Marina in
Saus und Braus bewirtete. Mit diesen Wald-Kapi- tänen spielte er
den Gemeinden einen bösen Streich. Indem er sich hilfsbedürftig
stellte, schob er ihnen und ihrem Waldgesindel die Aufsicht über
die ländlichen Bezirke zu. Damit begann der Schrecken ganz und gar
zu herrschen und nahm die Maske der Ordnung an.
Die Kontingente, die den Kapitänen zur Verfü- gung
standen, waren zunächst gering, auch wurden sie vereinzelt, wie
Gendarmerie, ins Feld gebracht. Dies galt vor allem für die Jäger,
die wir häufig um die Rauten-Klause streichen sahen, und die leider
auch im Lampusas Küche vesperten. Das war das Waldgelichter, wie es
im Buche steht, klein, blinzelnd und mit dunklen Hängebärten in den
zerfressenen Gesichtern; ein Rotwelsch sprechend, das von allen
Zungen das Übelste sich angeeignet hatte und wie aus blutigem Kot
gebacken war.
Wir fanden sie mit minderen Waffen, mit Schlin- gen,
Garnen und gekrümmten Dolchen, die sie Blutzapfer nannten,
ausgerüstet; auch waren sie zu- meist ringsum behangen mit niederem
Getier. So stellten sie an unserer Marmorklippen-Treppe den großen
Perlen-Echsen nach; sie fingen sie auf jene altbekannte Art, bei
der man eine feine Schlinge mit Speichel netzt. Die schönen,
goldgrünen und leuchtend weiß gesternten Tiere hatten unser Auge
oft erfreut, besonders wenn wir sie im Brombeerlaub erblickten, das
als ein rotes Rankenwerk die Klippen überspann. Die Häute waren bei
den welschen Kur- tisanen, die der Alte auf seinen Höfen aushielt,
sehr begehrt; auch ließen seine Muscadins und Spintrier sich daraus
Gürtel und feine Futterale fertigen. So wurden diese grünen
Zauberwesen unbarmherzig verfolgt und schlimme Grausamkeiten an
ihnen aus- geübt. Ja, diese Schinder nahmen sich nicht einmal die
Mühe, sie zu töten, sondern beraubten sie noch lebend ihrer Haut
und ließen sie als weiße Schemen die Klippen hinunterschießen, an
deren Fuß sie un- ter Qualen verendeten. Tief ist der Haß, der in
den niederen Herzen dem Schönen gegenüber brennt.
Solche Aasjäger-Stückchen gaben indessen nur den Vorwand
her, um bei den Höfen und Häusern zu spionieren, ob in ihnen noch
ein Rest von Freiheit lebendig war. Dann wiederholten sich die
Banditen- Streiche, die man schon aus der Campagna kannte, und die
Bewohner wurden bei Nacht und Nebel ab- geführt. Von dort kam
keiner wieder, und was wir im Volk von ihrem Schicksal raunen
hörten, erin- nerte an die Kadaver der Perlen-Echsen, die wir
geschunden an den Klippen fanden, und füllte un- ser Herz mit
Traurigkeit.
Dann tauchten auch die Förster auf, die man oft an den
Rebenhängen und auf den Hügeln bei der Arbeit sah. Sie schienen das
Land neu zu vermessen, denn sie ließen Löcher in den Boden graben
und pflanzten Stangen mit Runenzeichen und tierischen Symbolen auf.
Die Art, in der sie sich in Feld und Flur bewegten, war noch
bestürzender als die der Jäger, denn sie durchstreiften den
altgepflügten Grund wie Heideland, indem sie weder Weg noch Grenze
achteten. Auch zollten sie den heiligen Bil- dern nicht den Gruß.
So sah man sie das reiche Land durchqueren wie unbestellte und
ungeweihte Wü- stenei.
Aus solchen Zeichen ließ sich erraten, was von dem
Alten, der tief in seinen Wäldern lauerte, noch zu erwarten war.
Ihm, der den Pflug, das Korn, die Rebe und die gezähmten Tiere
haßte, und dem die lichte Siedlung und das offene Menschen-Wesen
zu- wider waren, war es um Herrschaft über solche Fülle nicht zu
tun. Ihm ging das Herz erst auf, wenn auf den Trümmern der Städte
Moos und Efeu grün- ten, und wenn in den geborstenen Kreuzgewölben
der Dome die Fledermaus im Mondstrahl flatterte. Die letzten seiner
großen Bäume sollten die Wurzeln an den Ufern der Marina baden, und
über ihren Kronen sollte der Silber-Reiher auf den Schwarz- storch
treffen, der aus den Eichenschlägen zum Sumpfe flog. Es sollten in
der dunklen Weinberg- Erde die Eber mit den Hauern wühlen, und auf
den Klosterteichen sollten die Biber kreisen, wenn auf verborgenen
Pfaden das Wild zur Dämmerung in starken Rudeln an die Tränke zog.
Und an den Rändern, wo die Bäume im Sumpf nicht Wurzel schlugen,
sollte im frühen Jahr die Schnepfe strei- chen und spät im Herbst
die Drossel an die rote Beere gehen.
12.
Auch liebte der Oberförster weder Bauernhöfe, noch
Dichter-Klausen, noch irgendeinen Ort, wo man besonnen tätig war.
Das Beste, was auf sei- nen Territorien hauste, war noch ein Schlag
von rüden Kerlen, deren Lebenslust im Spüren und im Hetzen ruhte,
und die dem Alten ergeben waren vom Vater auf den Sohn. Dies waren
die Weid- gerechten, während jene niederen Jäger, die wir an der
Marina sahen, aus sonderbaren Dörfern stamm- ten, die der Alte im
tiefen Tannicht unterhielt.
Fortunio, der das Reich des Alten noch am besten kannte,
hatte mir von ihnen berichtet als von Ge- nisten altersgrauer
Hütten — die Mauern aus Lehm und Häcksel-Schilf errichtet, und die
spitzen Giebel mit fahlem Moos gedeckt. Dort hauste wie in Alben-
Höhlen in Vogelfreiheit eine dunkle Brut. Wenn die- ses Volk auch
fahrend war, so blieb in seinen Nestern und Spelunken doch immer
ein Stamm zurück, so wie im Pfeffertopfe stets der letzte Grund als
Würze zurückbehalten wird.
In diese Waldes-Gründe hatte sich geflüchtet, was je in
Kriegen oder Zeiten, in denen der Land- friede ruhte, der
Vernichtung entronnen war — so Hunnen, Tataren, Zigeuner,
Albigenser und ketze- rische Sekten aller Art. Zu diesen hatte sich
gesellt, was immer den Profossen und der Henkershand entsprungen
war, versprengte Scharen der großen Räuberbanden aus Polen und vom
Nieder-Rhein und Weiber, die keine Arbeit leisten als mit der Hand,
darauf man sitzt, und die der Büttel aus dem Tore fegt.
Auch schlugen hier die Magier und die Hexen- meister,
die dem Scheiterhaufen entronnen waren, ihre Zauberküchen auf; und
bei den Eingeweihten, Venedigern und Alchimisten zählten diese
unbe- kannten Dörfer zu den Horten der schwarzen Kunst. In
Fortunios Händen hatte ich ein Manuskript ge- sehen, das von dem
Rabbi Nilüfer stammte, der, aus Smyrna ausgetrieben, auf seinen
Wanderungen auch in den Wäldern zu Gast gewesen war. Man sah aus
seiner Schrift, daß sich die Weltgeschichte hier wie in trüben
Tümpeln, an deren Ufern Ratten nisten, spiegelte. Auch ruhte der
Schlüssel zu man- chem ihrer dunklen Fächer hier; so hieß es, daß
Meister Villon nach der Vertreibung aus Perouard in einem dieser
Tannicht-Nester Unterschlupf ge- funden hatte, in denen, wie der
Stammsitz vieler dunkler Zünfte, so auch jener der Coquillards ge-
legen war. Sie wechselten dann nach Burgund hin- über, doch blieb
hier stets ein Zufluchtsort.
Was immer aus der Welt in ihnen untertauchte, das gaben
diese Wälder mit Zins und Zinseszins aus ihrem Schoß zurück. Aus
ihnen zogen vor allem jene niederen Jäger, die sich erbieten, in
Haus und Feld das Ungeziefer zu vertilgen — und wie Nilüfer meinte,
war dies die Stätte, darinnen der Pfeifer von Hameln mit den
Kindern verschwunden war. Mit diesen Scharen gingen Raub und Händel
land- aus, landein. Doch stammten aus den Wäldern auch die
zierlichen Betrüger, die mit Wagen und Diener- schaft erscheinen,
und die man selbst an Fürsten- höfen trifft. So floß von hier ein
dunkler Blutstrom in die Bahnen der Welt. Wo immer Meintat und
Neidingswerk geschahen, war einer von den schlim- men Zünften mit
dabei — und mit im Reigen, wo auf den Galgenhügeln der Wind die
armen Schelme zum Tanz aufführt.
Für alle diese war der Alte der große Boß, den sie am
Saume des roten Jagdrocks küßten oder am Stiefelschaft, wenn er zu
Pferde saß. Er wiederum verfuhr mit diesem Volke nach Belieben und
ließ zu- weilten ein paar Dutzend wie Krammets-Vögel in die Bäume
knüpfen, wenn es sich allzu üppig zu vermehren schien. Sonst mochte
es in seinen Grün- den hausen und schmausen, wie es ihm
gefiel.
Als Schutzherr der Vaganten-Heimat war der Alte auch
draußen in der Welt von großer, verbor- gener und weit verzweigter
Macht. Wo immer die Gebäude, wie Menschen-Ordnung sie errichtet,
brüchig wurden, schoß seine Brut wie Pilzgeflecht hervor. Sie wob
und wirkte, wo Knechte dem an- gestammten Hause die Gefolgschaft
weigerten, wo man auf Schiffen im Sturme meuterte, wo man den
Schlachten-König im Stiche ließ.
Allein der Oberförster war von solchen Kräften gut
bedient. Wenn er in seinem Stadthaus die Mau- retanier empfing,
umgab ihn eine Fülle von Diener- schaft — von grün livrierten
Jägern, von Lakaien in rotem Frack und schwarzen Eskarpins, von
Haus- beamten und Vertrauten aller Art. Man spürte bei solchen
Festen ein wenig von der Gemütlichkeit, wie sie der Alte in seinen
Wäldern liebte; die weite Halle war warm und strahlend — nicht wie
vom Sonnenlicht, doch wie von Flammen und wie vom Golde, das in
Höhlen glänzt.
Wie in den Tiegeln der Alchimisten der Diamant aus
niederer Kohlenglut erstrahlt, so wuchsen in den Waldgenisten
zuweilen Weiber von erlesener Schön- heit auf. Sie waren, wie jeder
in den Wäldern, dem Alten leibeigen, und auf seinen Reisen führte
er stets Sänften im Gefolge mit. Wenn er in seinen kleinen Häusern
vor den Toren die jungen Mauretanier zu Gaste hatte und guter Laune
war, dann kam es vor, daß er die Odalisken zur Schau ausstellte,
wie andere seiner Kostbarkeiten auch. Er ließ sie in das
Billardzimmer rufen, wo man nach schwerem Mahle beim Ingwer-Trunk
versammelt war, und setzte ihnen dort die Bälle zur Partie. Dann
sah man die enthüllten Körper, im roten Lichtschein auf das grüne
Tuch gebeugt, sich lang- sam in den mannigfachen Posen biegen und
wen- den, die das Spiel verlangt. Aus seinen Wäldern hörte man in
dieser Hinsicht Dinge, die gröber waren, wenn er nach langer Hetze
auf den Fuchs, den Elch, den Bären auf der mit Waffen und Ge-
weihen geschmückten Tenne zechte und im mit blutbetauten Brüchen
besteckten Hochsitz saß.
Daneben dienten solche Weiber ihm als Lock- vögel
feinster Sorte, wo immer in der Welt er in Ge- schäfte verwickelt
war. Wer sich den trügerischen Blüten, die dem Sumpf entsprossen
waren, nahte, verfiel dem Banne, der die Niederung regiert; und
schon so manchen sahen wir in unseren Maureta- nier-Zeiten
untergehen, dem ein großes Schicksal winkte — denn in solchen
Ränken verfängt am ersten sich der hohe Sinn.
Derart war der Bestand beschaffen, der das Gebiet
besiedeln sollte, wenn der Alte vollends über die Marina Herr
geworden war. So folgen Stechapfel, Mohn und Bilsenkraut den edlen
Früchten, wenn die Gärten vom Feind verwüstet sind. Dann würden
statt der Spender von Wein und Brot die fremden Götter auf den
Sockeln sich erheben — so die Diana, die in den Sümpfen zu wilder
Fruchtbarkeit entartet war und dort mit traubenförmigen Behän- gen
von goldenen Brüsten prunkte, und so die Schreckensbilder, die mit
Klauen, Hörnern und Zähnen Furcht erregen und Opfer fordern, wie
sie der Menschen nicht würdig sind.
13.
So standen die Dinge im siebten Jahre nach Alta Plana, und auf
diesen Feldzug führten wir die Übel, die das Land verdüsterten,
zurück. Zwar hat- ten auch wir beide daran teilgenommen, und das
Gemetzel vor den Pässen bei den Purpur-Reitern mitgemacht — doch
nur, um unsere Lehenspflicht zu leisten, und in diesem Stande lag
es uns ob, zu schlagen, nicht aber, nachzugrübeln, wo Recht und
Unrecht war. Doch wie man seinem Arme leichter als dem Herzen
gebieten kann, so lebte unser Sinn bei jenen Völkern, die ihre
angestammte Freiheit so wacker gegen jede Übermacht verteidigten,
und wir erblickten in ihrem Siege mehr als Waffen- glück.
Auch hatten wir auf Alta Plana Gastfreundschaft
gewonnen, denn vor den Pässen war der junge Ans- gar, der Sohn des
Wirtes von der Bodan-Alp in un- sere Hand gefallen und hatte
Geschenke mit uns ge- tauscht. Von der Terrasse sahen wir ganz in
der Ferne die Bodan-Alp als eine blaue Matte, die tief im Meer der
Gletscher-Zacken verborgen war, und der Gedanke, daß auf ihrem
Talhof zu jeder Stunde Sitz und Stätte wie für Brüder für uns
bereitet war, verlieh uns Sicherheit.
Als wir in unserer Vater-Heimat hoch im Norden die
Waffen wieder in die Rüstkammer eingeschlos- sen hatten, erfaßte
uns der Sinn nach einem Leben, das von Gewalt gereinigt war, und
wir gedachten unserer alten Studien. Wir kamen bei den Maure-
taniern um ehrenvollen Abschied ein und wurden mit dem
schwarz-rot-schwarzen Bande in die Feier- zunft versetzt. In diesem
Orden hoch emporzustei- gen, hatte es uns wohl nicht an Mut und
Urteilskraft gefehlt. Doch war die Gabe uns versagt geblieben, auf
das Leiden der Schwachen und Namenlosen herabzusehen, wie man vom
Senatoren-Sitze in die Arena blickt. Wie aber, wenn die Schwachen
das Gesetz verkennen, und so in der Verblendung mit eigener Hand
die Riegel öffnen, die zu ihrem Schütze geschlossen sind? So
konnten wir auch die Maure- tanier nicht durchaus tadeln, denn tief
war Recht und Unrecht nun vermischt; die Festen wankten, und die
Zeit war für die Fürchterlichen reif. Die Menschen-Ordnung gleicht
dem Kosmos darin, daß sie von Zeit zu Zeiten, um sich von neuem zu
gebären, ins Feuer tauchen muß.
So taten wir wohl recht, den Händeln auszuwei- chen, bei
denen Ruhm nicht zu gewinnen war, und friedlich an die Marina
zurückzukehren, um an den leuchtenden Gestaden uns den Blumen
zuzuwenden, in deren flüchtig bunten Zeichen das Unveränder- liche
ruht wie in geheimer Bilderschrift, und die den Uhren gleichen, auf
denen stets die rechte Stunde zu lesen ist.
Kaum waren aber Haus und Garten gerichtet und die Arbeit
so gediehen, daß ihre ersten Früchte winkten, da glomm bereits der
Mordbrand-Schim- mer an der Campagna-Front der Marmor-Klippen auf.
Als dann der Trubel auf die Marina übergriff, da waren wir
gezwungen, Nachrichten einzuziehen, um mit der Art und Größe der
Bedrohung vertraut zu sein.
Auf der Campagna hatten wir den alten Belovar, den wir
im Scherze den Arnauten nannten, und der häufig in Lampusas Küche
zu treffen war. Er kam mit Kräutern und mit seltenen Wurzeln, die
seine Frauen aus der fetten Erde der Weidegründe gruben, und die
Lampusa für ihre Tränke und Mixturen trocknete. Aus diesem Grunde
hatten wir uns mit ihm angefreundet und auf der Bank im Küchen-
Vorhof manche Kanne Wein mit ihm geleert. Er war sehr zuverlässig
in bezug auf alle Namen, mit denen das Volk die Blumen nennt, von
denen es eine große Anzahl zu unterscheiden weiß; und wir horchten
ihn gerne, um unsere Synonymik zu berei- chern, darüber aus. Auch
kannte er Standorte rarer Arten — wie der Riemenzunge, die in den
Büschen mit Bocksgeruch erblüht, des Ohnhorns, dessen Lippe in Form
des Menschenleibes gebildet ist, und einer Ragwurz, deren Blüte dem
Panther-Auge glich. So kam es, daß wir uns oft von ihm begleiten
ließen, wenn wir jenseits der Marmor-Klippen sam- melten. Er wußte
dort bis zu den Wäldern Weg und Steg; vor allem aber erwies sich,
als die Hirten aufsässig wurden, sein Geleit als sicherer
Schutz.
In diesem Alten verkörperte sich das Beste, was die
Weidegründe zu bieten hatten — freilich auf andre Art, als sie die
Muscadins erträumten, die in dem Hirtenvolke den idealen Menschen
entdeckt zu haben glaubten, den sie in rosafarbenen Gedich- ten
feierten. Der alte Belovar war siebzigjährig, von hoher, hagerer
Gestalt, mit weißem Barte, der zu dem schwarzen Haupthaar in
sonderbarem Gegen- satze stand. An seinem Antlitz fielen vor allem
die dunklen Augen auf, die weithin spähend mit Falken- schärfe den
Grund beherrschten, doch die im Zorne nach Wolfsart leuchteten. Der
Alte trug goldene Ringe in den Ohren, auch schmückten ihn ein rotes
Kopftuch und ein rotes Gürtelband, das Knauf und Spitze eines
Dolches sehen ließ. Ins Holz des Griffes dieser alten Waffe waren
elf Kerben eingeschnitten und mit Färberröte nachgebeizt.
Als wir ihn kennenlernten, hatte der Alte eben seine
dritte Frau genommen, ein Weibchen von sechzehn Jahren, das er
trefflich in Ordnung hielt, und wohl auch prügelte, wenn er
betrunken war. Wenn er auf die Blutrache-Fehden zu sprechen kam,
begannen seine Augen Glanz zu sprühen, und wir begriffen, daß das
Herz des Feindes ihn anzog wie ein übermächtiger Magnet, solange es
lebendig schlug; und daß der Nachglanz dieser Rachetaten ihn zu
einem Sänger machte, wie es deren manche auf der Campagna gab. Wenn
dort am Feuer zu Ehren der Hirten-Götter getrunken wurde, geschah
es häufig, daß einer aus der Runde sich erhob und dann in
eingegebener Rede den Totschlag rühmte, den er am Feind
vollzog.
Im Lauf der Zeit gewöhnten wir uns an den Alten und
sahen ihn gerne, so wie man einen treuen Hund wohl leiden mag,
obgleich die Wolfsnatur noch in ihm glüht. Wenn auch das wilde
Erdfeuer in ihm lohte, so lebte doch nichts Schmähliches in ihm,
und daher waren die dunklen Mächte, die aus den Wäl- dern in die
Campagna drangen, ihm verhaßt. Auch merkten wir gar bald, daß
dieses rohe Leben nicht ohne Tugend war; es brannte auch im Guten
heißer, als man es in den Städten kennt. So war in ihm die
Freundschaft mehr als ein Gefühl; sie flammte nicht minder
unbedenklich und unbezähmbar als der Haß. Auch wir bekamen das zu
spüren, als Bruder Otho in den ersten Jahren einen bösen Handel, in
den die Konsulenten der Marina den Alten ver- wickelt hatten, vor
dem Forum zum Besten wen- dete. Da begann er, uns in sein Herz zu
schließen, und seine Augen leuchteten, wenn er uns nur von ferne
sah.
Bald mußten wir uns hüten, in seiner Nähe einen Wunsch
zu äußern, denn er wäre ins Nest des Greifen eingedrungen, um uns
durch seine Jungen zu er- freuen. Wir konnten zu jeder Stunde über
ihn ver- fügen wie über eine gute Waffe, die man in Händen hält;
und wir erkannten in ihm die Macht, die wir genießen, wenn sich ein
anderer völlig uns zu eigen gibt, und die im Laufe der Gesittung
verlorengeht.
So fühlten wir uns gegen die Gefahren, die von der
Campagna drohten, allein durch diese Freund- schaft gut gedeckt. So
manche Nacht, da wir im Bücher-Zimmer und im Herbarium still an der
Ar- beit saßen, flammte der Mordbrand-Schimmer am Klippenrande auf.
Oft lagen die Dinge uns so nahe, daß, wenn der Nordwind wehte, ihr
Klang zu uns herüberdrang. Wir hörten dann die Rammbock- Stöße an
das Hoftor schlagen, und das Klagen des Viehes, das in
Flammen-Ställen stand. Auch trug der Wind ganz leise das Gewirr von
Stimmen her- über und den Ton der Glocken, die in den kleinen
Hauskapellen läuteten — und wenn dies alles jäh verstummte,
lauschte das Ohr noch lange in die Nacht.
Doch wußten wir, daß unserer Rauten-Klause kein Unheil
drohte, solange noch der alte Hirte mit seiner wilden Sippe in der
Steppe lag.
14.
An der Marina-Front der Marmor-Klippen hin- gegen durften wir
auf Beistand eines Christen- Mönches zählen, des Pater Lampros aus
dem Kloster der Maria Lunaris, die man im Volk als die Fal- cifera
verehrt. In diesen beiden Männern, dem Hir- ten und dem Mönche,
trat die Verschiedenheit zu- tage, wie sie der Boden auf die
Menschen nicht minder als auf die Pflanzen übt. Im alten Bluträcher
lebten die Weidegründe, in die noch nie das Eisen einer Pflugschar
eingeschnitten hatte, wie in dem Priester die Weinbergs-Krume, die
in den vielen hun- dert Jahren durch die Sorge der Menschenhand so
fein wie Sanduhr-Staub geworden war.
Von Pater Lampros hatten wir zunächst aus Up- sala
gehört, und zwar von Ehrhardt, der dort als Kustos am Herbarium
wirkte und uns mit Material für unsere Arbeiten versah. Wir waren
damals mit der Art beschäftigt, in der die Pflanzen den Kreis auf-
teilen, mit der Axen-Stellung, die den organischen Figuren zugrunde
liegt — und letzten Endes mit dem Kristallismus, der unveränderlich
dem Wachs- tum Sinn erteilt, so wie dem Zeiger das Zifferblatt der
Uhr. Nun teilte uns Ehrhardt mit, daß wir an der Marina ja den
Autor des schönen Werkes von der Symmetrie der Früchte wohnen
hätten — Phyllo- bius, unter welchem Namen der Pater Lampros sich
verbarg. Da diese Nachricht uns begierig stimmte, machten wir dem
Mönche, nachdem wir ihm ein Zettelchen geschrieben hatten, im
Kloster der Fal- cifera Besuch.
Das Kloster lag uns so nahe, daß man von der
Rauten-Klause die Spitze seines Turmes sah. Die Klosterkirche war
Wallfahrtsort, und zu ihr führte der Weg durch sanfte Matten, auf
denen die alten Bäume so herrlich blühten, daß kaum ein grünes
Blättchen im Weiß erschien. Am Morgen war in den Gärten, die der
Seewind frischte, kein Mensch zu sehen; und doch war durch die
Kraft, die in den Blüten lebte, die Luft so geistig wirkend, daß
man durch Zaubergärten schritt. Bald sahen wir das Kloster vor uns
liegen, das weit von einem Hügel schaute, mit seiner Kirche, die im
heitren Stile er- richtet war. Von ferne hörten wir bereits die
Orgel tönen, die den Gesang, mit dem die Pilger das Bild verehrten,
begleitete.
Als uns der Pförtner durch die Kirche führte, er- wiesen
auch wir dem Wunderbilde unseren Gruß. Wir sahen die hohe Frau auf
einem Wolken-Throne, und ihre Füße ruhten wie auf einem Schemel auf
dem schmalen Monde, in dessen Sichel ein Gesicht, das erdwärts
blickte, gebildet war. So war die Gottheit dargestellt als Macht,
die über dem Veränderlichen thront, und die man so als Bringerin
und Fügerin verehrt.
Am Claustrum nahm uns der Circulator in Emp- fang, der
uns zur Bibliothek geleitete, die unter Pater Lampros’ Aufsicht
stand. Hier pflegte er die Stunden zu verbringen, die für die
Arbeit vorgesehen waren, und hier, umringt von hohen Folianten,
weilten wir oftmals im Gespräch mit ihm. Als wir zum ersten Male
durch die Türe traten, sahen wir den Pater, der soeben aus dem
Klostergarten gekom- men war, im stillen Räume stehen, mit einer
purpur- roten Siegwurz-Rispe in der Hand. Er trug den breiten
Castor-Hut noch auf dem Kopfe, und auf dem weißen Mantel spielte
das bunte Licht, das durch die Kreuzgang-Fenster fiel.
Wir fanden in Pater Lampros einen Mann, der etwa fünfzig
Jahre zählen mochte, von mittlerer Ge- stalt und feinem Gliederbau.
Als wir ihm näher- traten, faßte uns ein Bangen, denn Gesicht und
Hände dieses Mönches kamen uns ungewöhnlich und befremdend vor. Es
schien, wenn ich es sagen soll, als ob sie einem Leichnam
angehörten, und es war schwer zu glauben, daß Blut und Leben sich
darin befand. Sie waren wie aus zartem Wachs gebildet — so kam es,
daß das Mienenspiel nur langsam an die Oberfläche drang und mehr im
Schimmer als in den Zügen des Gesichtes lag. Auch wirkte es seltsam
starr und zeichenhaft, wenn er, wie er es liebte, während des
Gespräches die Hand erhob. Und dennoch webte in diesem Körper eine
Art von feiner Leichtigkeit, die in ihn ein- gezogen war gleich
einem Atem-Hauche, der ein Puppenbild belebt. Auch fehlte es ihm
nicht an Heiterkeit.
Bei der Begrüßung sagte Bruder Otho, um das Bild zu
loben, daß er in ihm den Liebreiz der For- tuna mit dem der Vesta
in höherer Gestalt vereinigt finde — worauf der Mönch mit höflicher
Gebärde das Gesicht zur Erde senkte, und es dann lächelnd gegen uns
erhob. Es war, als nähme er das kleine Wort, nachdem er es besonnen
hatte, als eine Opfer- gabe in Empfang.
Aus diesem und vielen anderen Zügen erkannten wir, daß
Pater Lampros die Diskussion vermied; auch wirkte er im Schweigen
stärker als im Wort. So hielt er es auch in der Wissenschaft, in
der er zu den Meistern zählte, ohne sich am Streit der Schulen zu
beteiligen. Sein Grundsatz war, daß jede Theorie in der
Natur-Geschichte einen Beitrag zur Genesis bedeute, weil der
Menschengeist in jedem Alter die Schöpfung von neuem concipiere —
und daß in jeder Deutung nicht mehr an Wahrheit lebe als in einem
Blatte, das sich entfaltet und gar bald vergeht. Aus diesem Grunde
nannte er sich auch Phyllobius, „der in den Blättern lebt” — in
jener wunderlichen Mischung von Bescheidenheit und Stolz, die ihm
zu eigen war.
Daß Pater Lampros den Widerspruch nicht liebte, war auch
ein Zeichen der Höflichkeit, wie sie in seinem Wesen zu hoher
Feinheit ausgebildet war. Da er zugleich die Überlegenheit besaß,
verfuhr er so, daß er das Wort des Partners entgegennahm, und
wiedergab, indem er es in einem höheren Sinne be- stätigte. So
hatte er Bruder Othos Gruß erwidert, und darin lag nicht nur Güte,
wie sie der Kleriker im Lauf der Jahre erwirbt und steigert wie ein
edler Wein — es lag darin auch Courtoisie, wie sie in hohen Häusern
gezogen wird, und wie sie ihre Sprossen mit einer zweiten,
leichteren Natur begabt. So lag auch Stolz darin—denn wenn man
herrscht, besitzt man Urteil und läßt die Meinungen auf sich
beruhn.
Es hieß, daß Pater Lampros einem altburgundi- schen
Geschlecht entstamme, doch sprach er nie- mals über die
Vergangenheit. Aus seiner Weltzeit hatte er einen Siegelring
zurückbehalten, in dessen roten Karneol ein Greifen-Flügel
eingegraben war, darunter die Worte „meyn geduld hat ursach” als
Wappenspruch. Auch darin verrieten sich die beiden Pole seines
Wesens — Bescheidenheit und Stolz.
Bald weilten wir häufig im Kloster der Falcifera, sei es
im Blumengarten, sei es in der Bibliothek. Auf diese Weise gedieh
uns unsere Florula weit rei- cher als bisher, da Pater Lampros seit
vielen Jahren an der Marina sammelte, und wir nie von ihm gin- gen
ohne einen Stoß Herbarien-Blätter, die er mit eigener Hand
beschriftet hatte, und deren jedes ein kleines Kunstwerk
war.
Auch wirkte dieser Umgang günstig auf unsere Arbeit über
die Axen-Stellung ein, denn es bedeutet viel für einen Plan, wenn
man ihn hin und wieder mit einem guten Geist erwägen kann. In
dieser Hin- sicht gewannen wir den Eindruck, daß der Pater ganz
unauffällig und ohne jeden Ehrgeiz auf Autor- schaft an unserem
Werke sich beteiligte. Nicht nur besaß er eine große Kenntnis der
Erscheinungen, sondern er wußte auch die Augenblicke hohen Ranges
zu vermitteln, in denen der Sinn der eigenen Arbeit uns wie ein
Blitz durchdringt.
So führte er uns eines Morgens an einem Blumen- Hange,
an dem die Kloster-Gärtner in der Frühe ge- jätet hatten, zu einer
Stelle, über die ein rotes Tuch gebreitet war. Er meinte, daß er
dort der Unkraut- Hacke ein Gewächs entzogen hätte, um unser Auge
zu erfreuen — doch als er dann das Tuch entfernte, erschien nichts
anderes als eine junge Staude von jener Wegerich-Sorte, der
Linnaeus den Namen major gab, und wie man sie auf allen Pfaden
findet, die je ein Menschenfuß betrat. Indessen, als wir uns auf
sie herniederbeugten und sie aufmerksam musterten, erschien es uns,
als ob sie ungewöhnlich groß und regelmäßig gewachsen sei; ihr Rund
war als ein grüner Kreis gebildet, den die ovalen Blätter
unterteilten und zackig ränderten, in deren Mitte sich leuchtend
der Wachstumspunkt erhob. Die Bil- dung schien zugleich so frisch
und zart im Fleische, wie unzerstörbar im Geistesglanze der
Symmetrie. Da faßte uns ein Schauer an; wir fühlten, wie die Lust
zu leben und die Lust zu sterben sich in uns einten; und als wir
uns erhoben, blickten wir in Pater Lampros’ lächelndes Gesicht. Er
hatte uns ein My- sterium vertraut.
Wir durften die Muße, die uns Pater Lampros schenkte, um
so höher schätzen, als sein Name bei den Christen in hohem Ansehn
stand, und viele, die Rat und Trost erhofften, sich ihm näherten.
Doch liebten ihn auch solche, die an den Zwölf Göttern hingen, oder
die aus dem Norden stamm- ten, wo man die Asen in weiten Hallen und
um- zäunten Hainen ehrt. Auch ihnen, wenn sie zu ihm kamen,
spendete der Pater aus der gleichen Kraft, doch nicht in
priesterlicher Form. Oft nannte Bruder Otho, der viele Tempel und
Mysterien kannte, es an diesem Geiste das Wundersame, daß er so
hohe Grade der Erkenntnis mit der strikten Regel zu vereinigen
verstand. Bruder Otho meinte, daß wohl auch das Dogma die Grade der
Ver- geistigung begleite — wie ein Gewand, das auf den frühen
Stufen mit Gold und Purpurstoff durch- flochten ist und dann mit
jedem Schritte an unsicht- barer Qualität gewinnt, indes das Muster
sich all- mählich im Licht verliert.
Bei dem Vertrauen, das alle Kräfte, die an der Marina
wirkten, dem Pater Lampros zollten, war er in den Gang der Dinge
vollkommen eingeweiht. Er übersah das Spiel, das dort getrieben
wurde, wohl besser als jeder andere, und daher kam es uns selt- sam
vor, daß er in seinem klösterlichen Leben sich nicht berühren ließ.
Es schien vielmehr, daß in den gleichen Graden, in denen die Gefahr
sich näherte, sein Wesen sich erheiterte und stärker
leuchtete.
Oft sprachen wir darüber, wenn wir in unserer
Rauten-Klause am Rebholz-Feuer saßen — denn in bedrohten Zeiten
ragen solche Geister wie Türme aus dem schwankenden Geschlecht. Wir
fragten uns zuweilen, ob die Verderbnis ihm schon zu weit fort-
geschritten scheine, um sie zu heilen; oder ob Be- scheidenheit und
Stolz ihn hinderten, im Streite der Parteien aufzutreten, sei es in
Worten, sei es mit der Tat. Doch traf wohl Bruder Otho den
Zusammen- hang am besten, wenn er sagte, daß für Naturen wie die
seine die Zerstörung des Schrecklichen entbehre, und sie geschaffen
seien, in die hohen Grade des Feuers einzutreten wie durch Portale
in das Vater- haus. Er, der gleich einem Träumer hinter Kloster-
mauern lebe, sei von uns allen vielleicht allein in voller
Wirklichkeit.
Wie dem auch sei — wenn Pater Lampros die Sicherheit für
sich verschmähte, so zeigte er sich doch getreu um uns besorgt. Oft
kamen seine Zettel, die er als Phyllobius unterschrieb, und mahnten
uns, hier oder dort nach einer seltenen Blume, die gerade blühe,
auf Exkursion zu gehn. Wir ahnten dann, daß er uns zu bestimmter
Stunde an entferntem Orte wissen wollte, und handelten danach. Er
mochte diese Form wohl wählen, weil er vieles unter Siegeln, die
unverletzlich sind, erfuhr.
Auch fiel uns auf, daß seine Boten, wenn wir nicht in
der Klause weilten, uns diese Briefe durch Erio, nicht aber durch
Lampusa übermittelten.
15.
Als die Vernichtung stärker an die Marmor- Klippen brandete,
lebten Erinnerungen an un- sere Mauretanier-Zeiten in uns auf, und
wir erwogen den Ausweg der Gewalt. Noch hielten die Mächte an der
Marina sich so die Waage, daß geringe Kräfte den Ausschlag geben
konnten, denn solange die Sippenbünde miteinander kämpften, und
Bie- denhorn mit seinen Söldnern sich zweifelhaft ver- hielt,
verfügte der Oberförster über geringes Per- sonal.
Wir erwogen, mit Belovar und seiner Sippe nachts auf die
Jäger Jagd zu machen und jeden, der uns ins Garn geriet, zerfetzt
am Kreuzweg aufzuhängen, um so den Gäuchen aus den Tannicht-Dörfern
in einer Sprache zuzusprechen, wie sie ihnen allein verständlich
war. Wenn wir solche Pläne berieten, ließ der Alte vor Wonne den
breiten Dolch in seiner Scheide hüpfen wie zum Liebes-Spiele und
drängte, daß wir die Fangeisen schärfen sollten, und daß die Hetzer
hungerten, bis ihnen die Blutwitte- rung die roten Zungen zum Boden
hecheln ließ. Dann fühlten auch wir, daß uns die Macht des Triebes
wie ein Blitzstrahl in die Glieder fuhr.
Wenn wir indessen im Herbarium oder in der Bibliothek
die Lage gründlicher besprachen, ent- schlossen wir uns immer
fester, allein durch reine Geistesmacht zu widerstehn. Nach Alta
Plana glaubten wir erkannt zu haben, daß es Waffen gibt, die
stärker sind als jene, die schneiden und durch- bohren, doch fielen
wir zuweilen wie Kinder in jene frühe Welt, in welcher der
Schrecken allmächtig ist, zurück. Wir kannten noch nicht die volle
Herr- schaft, die dem Menschen verliehen ist.
In dieser Hinsicht war der Umgang mit Pater Lampros uns
von höchstem Wert. Wohl würden wir uns auch aus eigenem Herzen in
jenem Sinne, in dem wir an die Marina zurückgekommen waren,
entschieden haben; und doch wird uns vor solcher Wendung ein
anderer zur Hilfe beigesandt. Die Nähe des guten Lehrers gibt uns
ein, was wir im Grunde wollen, und sie befähigt uns, wir selbst zu
sein. Daher lebt uns das edle Vorbild tief im Herzen, weil wir an
ihm erahnen, weß wir fähig sind.
So brach für uns an der Marina eine sonderbare Zeit
heran. Indes die Untat im Lande wie ein Pilz- geflecht im morschen
Holze wucherte, versenkten wir uns immer tiefer in das Mysterium
der Blumen, und ihre Kelche schienen uns größer und leuchten- der
als sonst. Vor allem aber setzten wir unsere Ar- beit an der
Sprache fort, denn wir erkannten im Wort die Zauberklinge, vor
deren Strahle die Ty- rannen-Macht erblaßt. Dreieinig sind das
Wort, die Freiheit und der Geist.
Ich darf wohl sagen, daß die Mühe uns gedieh. An manchem
Morgen erwachten wir in großer Heiter- keit, und wir verspürten auf
der Zunge den Wohl- geschmack, wie seiner der Mensch im Stande der
höheren Gesundheit teilhaftig wird. Dann fiel es uns nicht schwer,
die Dinge zu benennen, und wir be- wegten uns in der Rauten-Klause
wie in einem Raume, der in den Kammern magnetisch aufgela- den war.
In einem feinen Rausch und Wirbel durch- schritten wir die Gemächer
und den Garten und legten zuweilen unsere Zettelchen auf den
Kamin.
An solchen Tagen suchten wir bei hohem Sonnen- Stande
die Zinne der Marmor-Klippen auf. Wir schritten über die dunklen
Hieroglyphen der Lanzen- Ottern auf dem Schlangen-Pfade und stiegen
die Stufen der Felsentreppe an, die hell im Lichte schim- merten.
Vom höchsten Grat der Klippen, der im Mit- tag blendend und fernhin
leuchtete, sahen wir lange auf das Land, und unsere Blicke suchten
sein Heil in jeder Falte, in jedem Raine zu erspähen. Dann fiel es
uns wie Schuppen von den Augen, und wir begrif- fen es, so wie die
Dinge in den Gedichten leben, im Glänze seiner
Unzerstörbarkeit.
Und freudig erfaßte uns das Wissen, daß die Ver-
nichtung in den Elementen nicht Heimstatt findet, und daß ihr Trug
sich auf der Oberfläche gleich Nebelbildern kräuselt, die der Sonne
nicht wider- stehn. Und wir erahnten: wenn wir in jenen Zellen
lebten, die unzerstörbar sind, dann würden wir aus jeder Phase der
Vernichtung wie durch offene Tore aus einem Festgemach in immer
strahlendere gehn.
Oft meinte Bruder Otho, wenn wir auf der Höhe der
Marmor-Klippen standen, daß dies der Sinn des Lebens sei — die
Schöpfung im Vergänglichen zu wiederholen, so wie das Kind im Spiel
das Werk des Vaters wiederholt. Das sei der Sinn von Saat und
Zeugung, von Bau und Ordnung, von Bild und Dich- tung, daß in ihnen
das große Werk sich künde wie in Spiegeln aus buntem Glase, das gar
bald zerbricht.
16.
So denken wir an unsere stolzen Tage gern zu- rück. Doch
sollen wir auch jene nicht verschwei- gen, in denen das Niedere
über uns Gewalt gewann. In unseren schwachen Stunden erscheint uns
die Vernichtung in schrecklicher Gestalt, wie jene Bil- der, die
man in den Tempeln der Rache-Götter sieht.
So graute für uns gar mancher Morgen, an dem wir zagend
durch die Rauten-Klause schritten, und freudlos sannen wir im
Herbarium und in der Bi- bliothek. Dann pflegten wir die Läden fest
zu schlie- ßen und lasen bei Licht vergilbte Blätter und Skrip-
turen, die uns dereinst auf mancher Fahrt begleiteten. Auch sahen
wir in alte Briefe und schlugen zum Troste die bewährten Bücher
auf, in denen Herzen uns Wärme spenden, die seit viel hundert
Jahren ver- modert sind. So lebt die Glut der großen Erden- sommer
in dunklen Kohlen-Adern nach.
An solchen Tagen, die der Spleen regierte, schlos- sen
wir auch die Türen, die zum Garten führten, da uns der frische
Blumenduft zu feurig war. Am Abend schickten wir Erio in die
Felsenküche, damit Lampusa ihm einen Krug von jenem Weine füllte,
der im Kometenjahr gekeltert war.
Wenn dann das Rebholz-Feuer im Kamine flammte, setzten
wir nach einem Brauche, den wir uns in Britannien angeeignet
hatten, die Duft- Amphoren auf. Wir pflegten dazu die Blütenblätter
einzusammeln, wie sie die Jahreszeiten brachten, und preßten sie,
nachdem wir sie getrocknet hatten, in weite, bauchige Gefäße ein.
Wenn wir zur Winters- zeit die Deckel von den Krügen hoben, dann
war der bunte Flor längst abgeblaßt und in den Farben ver- gilbter
Seide und fahlen Purpurstoffs dahingewelkt. Doch kräuselte aus
diesem Blüten-Grummet gleich der Erinnerung an Reseden-Beete und
Rosengärten ein matter, wundersamer Duft empor.
Auch brannten wir zu diesen trüben Festen schwere Kerzen
aus Bienenwachs. Sie stammten noch aus der Abschieds-Gabe des
Provencalen-Ritters Deo- dat, der längst im wilden Taurus gefallen
war. Bei ihrem Scheine gedachten wir dieses edlen Freundes und der
Abendstunden, die wir auf Rhodos’ hohem Mauer-Ringe mit ihm
verplaudert hatten, indes die Sonne am wolkenlosen Himmel der Ägäis
unter- ging. Mit ihrem Sinken drang ein milder Lufthauch aus dem
Galeeren-Hafen in die Stadt. Dann mischte sich der süße Duft der
Rosen mit dem Ruch der Fei- genbäume, und in die Meeresbrise
schmolz die Essenz von fernen Wald- und Kräuterhängen ein. Vor
allem aber stieg aus den Graben-Werken, auf deren Grund in gelben
Polstern die Kamille blühte, ein tiefer, köstlicher Geruch
empor.
Mit ihm erhoben sich die letzten, honigschweren Bienen
und flogen durch die Mauerschlitze und Zinnen-Scharten den Körben
in den kleinen Gärten zu. Ihr trunkenes Schwirren hatte, wenn wir
auf dem Bollwerk der Porta d’Amboise standen, uns so oft ergötzt,
daß Deodat beim Scheiden uns eine Last von ihrem Wachse mit auf den
Weg gegeben hatte — „daß ihr die goldenen Summerinnen der Rosen-
Insel nicht vergeßt”. Und wirklich sprühte, wenn wir die Kerzen
brannten, von ihren Dochten ein zartes, trockenes Arom nach
Spezereien und nach den Blumen, die in Sarazenen-Gärten
blühn.
So leerten wir das Glas auf alte und ferne Freunde und
auf die Länder dieser Welt. Uns alle faßt ja ein Bangen, wenn die
Lüfte des Todes wehn. Dann essen und trinken wir im Sinnen, wie
lange an die- sen Tafeln noch der Platz für uns bereitet ist. Denn
die Erde ist schön.
Daneben bedrückte uns ein Gedanke, der allen, die an
Werken des Geistes schaffen, geläufig ist. Wir hatten so manches
Jahr beim Studium der Pflanzen verbracht und dabei Öl und Mühe
nicht gespart. Auch hatten wir gern das väterliche Erb- teil
zugesetzt. Nun fielen die ersten reifen Früchte uns in den Schoß.
Dann waren da die Briefe, die Skripturen, Kollektaneen und
Herbarien, die Tage- bücher aus Kriegs- und Reisejahren und
insbeson- dere die Materialien zur Sprache, die wir aus vielen
tausend Steinchen gesammelt hatten und deren Mosaik schon weit
gediehen war. Aus diesen Manu- skripten hatten wir erst weniges
ediert, denn Bruder Otho meinte, daß vor Tauben zu musizieren, ein
schlechtes Handwerk sei. Wir lebten in Zeiten, in denen der Autor
zur Einsamkeit verurteilt ist. Und dennoch hätten wir bei diesem
Stande der Dinge gar manches gern gedruckt gesehen — nicht um des
Nachruhms willen, der ja nicht minder zu den Formen des Wahnes als
der Augenblick gehört, sondern weil sich im Druck das Siegel des
Ab- geschlossenen und Unveränderlichen verbirgt, an dessen Anblick
sich auch der Einsame ergötzt. Wir gehen lieber, wenn die Dinge in
Ordnung sind.
Wenn wir um unsere Blätter bangten, gedachten wir oft
der heiteren Ruhe des Phyllobius. Wir lebten doch ganz anders in
der Welt. Uns schien es allzu schwer, daß wir uns von den Werken
trennen soll- ten, in denen wir webten und wurzelten. Doch hatten
wir zum Trost den Spiegel Nigromontans, an dessen Anblick wir uns
stets, wenn wir in solcher Stimmung waren, erheiterten. Er stammte
aus dem Nachlaß meines alten Lehrers, und seine Eigenschaft war
die, daß sich die Sonnenstrahlen durch ihn zu einem Feuer von hoher
Kraft verdichteten. Die Dinge, die man an solcher Glut entzündete,
gingen ins Unver- gängliche auf eine Weise, von der Nigromontanus
meinte, daß sie am besten dem reinen Destillat vergleichbar sei. Er
hatte diese Kunst in Klöstern des Fernen Orients erlernt, wo man
den Toten ihre Schätze zu ewigem Geleit verbrennt. Ganz ähnlich
meinte er, daß alles, was man mit Hilfe dieses Spiegels entflammen
würde, im Unsichtbaren weit sicherer als hinter Panzertüren
aufgehoben sei. Es würde durch eine Flamme, die weder Rauch noch
niedere Röte zeige, in Reiche, die jenseits der Zer- störung
liegen, überführt. Nigromontanus nannte das die Sicherheit im
Nichts, und wir beschlossen, sie zu beschwören, wenn die Stunde der
Vernichtung gekommen war.
Wir hielten daher den Spiegel wert wie einen Schlüssel,
der zu hohen Kammern führt, und öff- neten an solchen Abenden
behutsam das blaue Futteral, das ihn umschloß, um uns an seinem
Fun- keln zu erfreuen. Dann glänzte im Kerzenlichte seine Scheibe
aus hellem Bergkristall, die rundum von einem Ring aus Elektron
umgeben war. In diese Fassung hatte Nigromontan in Sonnen-Runen
einen Spruch gegraben, der seiner Kühnheit würdig war.
„Und sollte die Erde wie ein Geschoß zer-
springen,
Ist unsere Wandlung Feuer und weiße Glut.”
Auf der Gegenseite waren ameisenfüßig in Pali- Schrift die Namen dreier Witwen von Königen ge-
ritzt, die singend beim Totenprunke den Scheiter- haufen
bestiegen hatten, nachdem er von Brah- manen-Hand mit Hilfe dieses
Spiegels entzündet war.
Neben dem Spiegel lag noch eine kleine Lampe, die auch
aus Bergkristall geschnitten und mit dem Zeichen der Vesta versehen
war. Sie war bestimmt, die Kraft des Feuers für Stunden der
Sonnenferne zu bewahren oder für Augenblicke, in denen Eile ge-
boten war. Mit dieser Lampe, und nicht mit Fackeln, wurde auch der
Scheiterhaufen bei Olympia ent- zündet, als Peregrinus Proteus, der
sich dann Phoe- nix nannte, im Angesichte einer ungeheuren Men-
schenmenge ins offene Feuer sprang, um sich dem Äther zu
vereinigen. Die Welt kennt diesen Mann und seine hohe Tat nur durch
das lügenhafte Zerr- bild Lukians.
In jeder guten Waffe liegt Zauberkraft; wir fühlen uns
schon im Anblick wunderbar gestärkt. So ging es uns auch mit dem
Spiegel Nigromontans; sein Blitzen weissagte uns, daß wir nicht
gänzlich untergehen würden, ja, daß das Beste in uns den niederen
Ge- walten unzugänglich war. So ruhen unsere hohen Kräfte
unverletzlich wie in den Adler-Schlössern aus Kristall.
Der Pater Lampros freilich lächelte und meinte, es gäbe
Sarkophage auch für den Geist. Die Stunde der Vernichtung aber
müsse die Stunde des Lebens sein. So konnte ein Priester sprechen,
der sich vom Tode angezogen fühlte wie von fernen Katarak- ten, in
deren Wirbelfahnen die Sonnenbogen stehen. Wir aber waren in der
Lebensfülle und fühlten uns der Zeichen sehr bedürftig, die auch
das körperliche Auge erkennen kann. So glänzt uns Sterblichen erst
in der Mannigfaltigkeit der Farben das eine und un- sichtbare
Licht.
17.
Es fiel uns auf, daß jene Tage, an denen uns der Spleen
erfaßte, auch Nebeltage waren, an denen das Land sein heiteres
Gesicht verlor. Die Schwaden brauten dann aus den Wäldern wie aus
üblen Kü- chen und wallten in breiten Bänken auf die Cam- pagna
vor. Sie stauten sich an den Marmor-Klippen und schoben bei
Sonnenaufgang träge Ströme ins Tal hinab, das bald bis an die
Spitzen der Dome im weißen Dunst verschwunden war.
Bei solchem Wetter fühlten wir uns der Augenkraft
beraubt und spürten, daß sich das Unheil wie unter einem dichten
Mantel ins Land einschlich. Wir ta- ten daher gut, wenn wir den Tag
bei Licht und Wein im Haus verbrachten; und dennoch trieb es uns
oft, hinauszugehn. Es schien uns nämlich nicht allein, daß draußen
die Feuerwürmer ihr Wesen trieben, sondern als ob zugleich das Land
sich in der Form verändere — als ob sich seine Wirklichkeit ver-
mindere. Daher beschlossen wir oft auch an Nebel- tagen, auf
Exkursion zu gehen, und suchten dann vor allem die Weidegründe auf.
Auch war es stets ein ganz bestimmtes Kraut, das zu erbeuten wir
uns zum Ziele setzten; wir suchten, wenn ich so sagen darf, im
Chaos uns an Linnaeus’ Wunder- werk zu halten, das einen der
Säulen-Türme stellt, von denen der Geist die Zonen des wilden
Wachs- tums überblickt. In diesem Sinne spendete ein kleines
Pflänzlein, das wir brachen, uns oft großen Schein.
Auch kam noch etwas anderes hinzu, das ich als eine Art
von Scham bezeichnen möchte — wir sahen nämlich das Waldgelichter
nicht als Gegner an. In diesem Sinne hielten wir stets darauf, daß
wir auf Pflanzenjagd und nicht im Kampfe waren, und so die niedere
Bosheit zu vermeiden hatten, wie man den Sümpfen und wilden Tieren
aus dem Wege geht. So billigten wir dem Lemuren-Volke nicht
Willensfreiheit zu. Nie dürfen solche Mächte uns in einem Maße das
Gesetz vorschreiben, daß uns die Wahrheit aus den Augen
kommt.
An solchen Tagen waren die Treppenstufen, die auf die
Marmor-Klippen führten, vom Nebel feucht, und kühle Winde sprühten
die Schwaden über sie hinab. Obwohl sich auf den Weidegründen viel
ver- ändert hatte, waren uns doch die alten Pfade noch vertraut.
Sie führten durch die Ruinen reicher Höfe, die nun ein kalter
Brandgeruch durchwob. Wir sa- hen in den eingestürzten Ställen die
Knochen des Viehes bleichen, mit Huf und Horn und mit der Kette
noch um den Hals. Im Innenhofe türmte sich der Hausrat, wie er von
den Feuer-Würmern aus den Fenstern geworfen und dann geplündert
worden war. Da lag die Wiege zerbrochen zwischen Stuhl und Tisch,
und Nesseln grünten um sie empor. Nur sel- ten stießen wir auf
versprengte Trupps von Hirten; sie führten wenig und kümmerliches
Vieh. Von den Kadavern, die auf den Weiden faulten, waren Seu- chen
aufgestiegen und hatten das große Sterben in die Herden eingeführt.
So bringt der Untergang der Ordnung niemandem Heil.
Nach einer Stunde stießen wir auf den Hof des alten
Belovar, der fast allein an alte Zeiten erinnerte, denn er lag
reich an Vieh und unversehrt im Kranze der grünen Weiden da. Der
Grund lag darin, daß Belovar zugleich ein freier Hirte und
Sippenführer war, und daß er seit Beginn der Wirren sein Gut von
allem streifenden Gesindel sauber gehalten hatte, so daß seit
langem kein Jäger und kein Feuer-Wurm sich traute, auch nur von
ferne an ihm vorbeizugehn. Was er von diesen in Feld und Busch
erschlug, das zählte er seinen guten Werken zu und schnitt aus
solchem Grunde nicht einmal eine neue Kerbe in seinen Dolch. Auch
hielt er streng darauf, daß alles Vieh, das ihm in seinen Marken
zugrunde ging, tief eingegraben und mit Kalk beschüttet wurde,
damit die böse Luft sich nicht verbreitete. So kam es, daß man zu
ihm durch große Herden von roten und bunt gescheckten Rindern ging,
und daß sein Haus und seine Scheuern noch weithin leuchteten. Auch
lach- ten die kleinen Götter, die seine Grenzen schützten, uns
stets im Glänze frischer Spenden an.
So liegt zuweilen im Kriege ein Außenfort noch
unversehrt, wenn längst die Festung gefallen ist. In dieser Weise
bot uns der Hof des Alten einen Stützpunkt dar. Wir konnten hier
sicher rasten und mit ihm plaudern, indes Milina, sein junges Weib-
chen, uns in der Küche Wein mit Safran kochte und Kuchen im
Butterkessel sott. Auch hatte der Alte noch eine Mutter, die fast
an hundert Jahr alt war und dennoch aufrecht wie ein Licht durch
Haus und Höfe schritt. Wir sprachen mit der Bestemutter gern, denn
sie war kräuterkundig und kannte Sprüche, deren Kraft das Blut
gerinnen macht. Auch ließen wir uns von ihrer Hand betasten, wenn
wir Abschied nah- men, um weiter vorzugehn.
Meist wollte der Alte uns begleiten, doch nahmen wir ihn
nur ungern mit. Es schien, als zöge seine Nähe uns das Gelichter
aus den Tannicht-Dörfern auf den Hals, so wie die Hunde sich
rühren, wenn der Wolf um die Gemarkung streift. Das war wohl nach
des Alten Herzen; wir aber hatten dort an- deres im Sinn. Wir
gingen ohne Waffen, ohne Knechte und zogen leichte, silbergraue
Mäntel über, um im Nebel verborgener zu sein. So tasteten wir uns
durch Moor- und Schilfgelände behutsam auf die Hörner und auf den
Waldrand vor.
Sehr bald, wenn wir den Weidegrund verließen, bemerkten
wir, daß die Gewalt nun näher und stär- ker war. Die Nebel wallten
in den Büschen, und das Röhricht zischelte im Wind. Ja, selbst der
Boden, auf dem wir schritten, kam uns fremder und unbe- kannter
vor. Vor allem aber war es bedenklich, daß sich die Erinnerung
verlor. Dann wurde das Land ganz trügerisch und schwankend und den
Gefilden ähnlich, die man in Träumen sieht. So gab es im- mer Orte,
die wir mit Sicherheit erkannten, doch gleich daneben wuchsen wie
Inseln, die aus dem Meere tauchen, neue und rätselhafte Streifen
an. Um hier die rechte und wahre Topographie zu schaffen, bedurfte
es unserer ganzen Kraft. Wir ta- ten daher wohl, die Abenteuer zu
vermeiden, nach denen der alte Belovar begierig war.
So schritten und weilten wir oft viele Stunden in Moor
und Ried. Wenn ich die Einzelheiten dieses Werkes nicht beschreibe,
so liegt das daran, daß wir Dinge trieben, die außerhalb der
Sprache liegen, und die sich daher dem Banne, den Worte üben,
entziehen. Indessen erinnert sich ein jeder, daß sein Geist, sei es
in Träumen oder tiefem Sinnen, sich angestrengt in Regionen mühte,
die er nicht schildern kann. Es war, als ob er sich in Labyrinthen
zurechtzutasten suchte oder die Zeichnungen zu schauen, die im
Vexierbild eingeschlossen sind. Und manchmal erwachte er wundersam
gestärkt. In Solchem findet unsere beste Arbeit statt, und so
schien es auch uns, daß uns im Kampfe selbst die Sprache noch nicht
genüge, son- dern daß wir bis in die Traumes-Tiefe dringen müßten,
um die Bedrohung zu bestehn.
Und wirklich erschien uns, wenn wir einsam in Moor und
Röhricht standen, das Beginnen oft wie ein feines Spiel mit Zug und
Gegenzug. Dann brauten die Nebel stärker auf, und doch schien auch
in unserem Inneren zugleich die Kraft zu wachsen, die Ordnung
schafft.
18.
Indessen ließen wir bei keinem dieser Gänge die lumen außer
acht. Sie gaben uns die Richtung, so wie der Kompaß den Weg durch
ungewisse Meere weist. So war es auch an jenem Tage, an dem wir in
das Innere des Filler-Hornes drangen, und dessen wir uns später nur
mit Grausen erinnerten.
Wir hatten uns am Morgen, als wir die Nebel aus den
Wäldern bis an die Marmor-Klippen kochen sahen, vorgenommen, nach
dem roten Waldvögelein zu fahnden, und hatten uns, nachdem Lampusa
das Frühstück zugerüstet, bald auf den Weg gemacht. Das rote
Waldvögelein ist eine Blume, die vereinzelt in Wäldern und
Dickichten gedeiht, und führt den Namen Rubra, den Linnaeus ihr
verliehen, im Unterschiede zu zwei blassen Arten, doch blüht es
seltener als sie. Da diese Pflanze die Stellen liebt, an denen die
Dickungen sich lichten, meinte Bruder Otho, daß sie vielleicht am
besten bei Köppels-Bleek zu suchen sei. So nannten die Hirten einen
alten Kahlschlag, der an dem Orte liegen sollte, an dem der
Waldrand in die Sichel des Filler-Hornes mündet, und der verrufen
war.
Am Mittag waren wir bei dem alten Belovar, doch nahmen,
da wir uns der vollen Geisteskraft be- dürftig fühlten, wir keine
Nahrung an. Wir streiften die silbergrauen Mäntel über, und da die
Bestemutter uns, ohne Widerstand zu finden, abgetastet hatte,
entließ der Alte uns getrost.
Gleich hinter seiner Grenze setzte ein tolles Ne-
beltreiben ein, das alle Formen verwischte und uns bald Weg und
Steg verlieren ließ. So irrten wir im Kreis auf Moor und Heide und
machten zuweilen zwischen Gruppen von alten Weiden oder an trüben
Tümpeln, aus denen hohe Binsen wuchsen, Halt.
Die Ödnis schien an diesem Tage belebter, denn wir
hörten im Nebel Rufe und glaubten Gestalten zu erkennen, die nah im
Dunst an uns vorüberglit- ten, doch ohne uns zu sehn. Wir hätten in
diesem Trubel gewiß den Weg zum Filler-Horn verfehlt, allein wir
hielten uns an den Sonnentau. Wir wuß- ten, daß dieses Kräutlein
den feuchten Gürtel, der den Wald umringte, besiedelt hielt, und
folgten dem Muster seiner glänzend grünen und rot behaarten Blätter
wie einem Teppichsaum. Auf diese Weise er- reichten wir die drei
hohen Pappeln, die sonst bei klarem Wetter die Spitze des
Filler-Hornes wie Lan- zenschäfte weithin zeichneten. Von diesem
Punkte tasteten wir uns an der Sichelschneide bis an den Waldrand
vor und drangen dort in die größte Breite des Filler-Hornes
ein.
Nachdem wir einen dichten Saum von Schlehdorn und
Kornellen durchbrochen hatten, traten wir in den Hochwald ein, in
dessen Gründen noch nie der Schlag der Axt erklungen war. Die alten
Stämme, die den Stolz des Oberförsters bildeten, standen im
feuchten Glanz wie Säulen, deren Kapitale der Dunst verbarg. Wir
schritten unter ihnen wie durch weite Vestibüle, und gleich dem
Zauberwerk auf einer Bühne hingen Efeuranken und Clematis- Blüten
aus dem Unsichtbaren auf uns herab. Der Boden war hoch bedeckt mit
Mulm und modern- dem Geäst, auf dessen Rinde sich Pilze, brennend
rote Becherlinge, angesiedelt hatten, sodaß uns ein Gefühl von
Tauchern, die durch Korallengärten wandeln, überschlich. Wo einer
dieser Riesenstämme vom Alter oder durch den Blitz geworfen war, da
traten wir auf kleine Lichtungen hinaus, auf denen der gelbe
Fingerhut in dichten Büscheln stand. Auch wucherten
Tollkirschen-Sträucher auf dem mor- schen Grunde, an deren Zweigen
die Blumenkelche in braunem Violett wie Toten-Glöckchen schaukel-
ten.
Die Luft war still und drückend, doch scheuchten wir
mannigfache Vögel auf. So hörten wir das feine Zirpen, mit dem das
Feuer-Hähnchen durch die Lärchen streift, und auch die
Warnungs-Rufe, mit denen die aufgeschreckte Drossel ihr Liedchen
un- terbricht. Mit Kichern barg sich der Wendehals im hohlen
Erlenstamm, und in den Eichenkronen ga- ben uns die Pirole mit
gaukelndem Gelächter das Geleit. Auch hörten wir in der Ferne den
trunkenen Täuber girren und das Hämmern der Spechte am toten
Holz.
So pürschten wir langsam einen flachen Hügel an, bis
Bruder Otho, der ein wenig im voraus war, mir zurief, daß die
Rodung ganz nahe sei. Dies war der Augenblick, in dem ich das rote
Waldvögelein, nach dem wir suchten, im Dämmer schimmern sah, und
freudig eilte ich darauf zu. Das Blümlein machte seinem Namen Ehre,
denn es schien einem Vögelchen zu gleichen, das heimlich im
kupferbraunen Bu- chenlaube nistete. Ich sah die schmalen Blätter
und die Purpur-Blüte mit der blassen Spitze der Honig- lippe, durch
die sie ausgezeichnet ist.
Den Forscher, den so der Anblick eines Pflänzleins oder
eines Tieres überrascht, ergreift ein glückliches Gefühl, als hätte
die Natur ihn reich beschenkt. Bei solchen Funden pflegte ich, ehe
ich sie berührte, Bruder Otho anzurufen, daß er die Freude mit mir
teile, doch als ich eben den Blick zu ihm erheben wollte, hörte ich
einen Klagelaut, der mich er- schrecken ließ. So strömt nach
Wunden, die uns tief verletzten, der Lebensatem langsam aus der
Brust. Ich sah ihn wie gebannt dicht vor mir auf der Hügelkuppe
stehen, und als ich zu ihm eilte, hob er die Hand und lenkte meinen
Blick. Da fühlte ich es wie mit Krallen mir nach dem Herzen
greifen, denn vor mir ausgebreitet lag die Stätte der Unter-
drückung in ihrer vollen Schmach.
19.
Wir standen hinter einem kleinen
Busche, der feuerrote Beeren trug, und schauten auf die Rodung von
Köppels-Bleek hinaus. Das Wetter hatte sich geändert, denn wir
erblickten von den Nebel- schwaden, die uns seit den Marmor-Klippen
be- gleitet hatten, hier keine Spur. Die Dinge traten vielmehr in
voller Deutlichkeit hervor, so wie im Zentrum eines Wirbelsturmes,
in stiller und un- bewegter Luft. Auch waren die Vogelstimmen nun
verstummt, und nur ein Kuckuck lichterte, wie es die Sitte seiner
Sippschaft ist, am dunklen Wald- rand hin und her. Bald nah, bald
ferner hörten wir sein spöttisches und fragendes Gelächter
Kuck-Kuck, Kuck-Kuck rufen, und dann sich triumphierend
überschlagen, daß unser Blut ein Frösteln überlief. Die Rodung war
mit dürrem Grase überwachsen, das nur im Hintergrunde der grauen
Karden- Distel, die man auf Abraum-Plätzen findet, wich. Von diesem
trockenen Bestände hoben sich selt- sam frisch zwei große Büsche
ab, die wir beim ersten Blick für Lorbeer-Sträucher hielten, doch
waren die Blätter gelb gescheckt, wie man dergleichen in
Fleischerläden sieht. Sie wuchsen zu beiden Seiten einer alten
Scheuer, die weit geöffnet auf der Ro- dung stand. Das Licht, das
sie beschien, war zwar kein Sonnenlicht, doch gleißend und
schattenlos und hob den weißgetünchten Bau sehr scharf her- vor.
Die Mauern waren durch schwarze Balken, die auf drei Füßen standen,
in Fächer eingeteilt, und über ihnen stieg spitz ein graues
Schindeldach em- por. Auch waren Stangen und Haken an sie an-
gelehnt.
Über dem dunklen Tore war am Giebel-Felde ein Schädel
festgenagelt, der dort im fahlen Lichte die Zähne bleckte und mit
Grinsen zum Eintritt auf- zufordern schien. Wie eine Kette im
Kleinod endet, so schloß in ihm ein schmaler Giebelfries, der wie
aus braunen Spinnen gebildet schien. Doch gleich er- rieten wir,
daß er aus Menschen-Händen an die Mauer geheftet war. Wir sahen das
so deutlich, daß wir den kleinen Pflock erkannten, der durch den
Teller einer jeden getrieben war.
Auch an den Bäumen, die die Rodung säumten, bleichten
die Totenköpfe, von denen mancher, dem in den Augenhöhlen schon
Moos gewachsen war, mit dunklem Lächeln uns zu mustern schien. Es
war ganz still bis auf den tollen Tanz, mit dem der Kuckuck um die
Schädel-Bleiche lichterte. Ich hörte, wie Bruder Otho, halb
träumend, flüsterte: „Ja, das ist Köppels-Bleek.”
Das Innere der Scheune lag fast im Dunkel, und wir
erkannten nur dicht am Eingang eine Schinder- bank mit
aufgespannter Haut. Dahinter schimmerten noch bleiche, schwammige
Massen aus dem finstren Grund. Zu ihnen sahen wir in die Scheuer
Schwärme stahlfarbener und goldener Fliegen schwirren wie in ein
Bienenhaus. Dann fiel der Schatten eines großen Vogels auf den
Platz. Er rührte von einem Geier, der mit ausgezackten Schwingen
auf das Kardenfeld herniederstieß. Erst als wir ihn bis an den
roten Hals langsam im aufgewühlten Grunde schnäbeln sahen,
erkannten wir, daß dort ein Männlein mit der Hacke am Werke war,
und daß der Vogel seine Arbeit begleitete, so wie der Rabe dem
Pfluge folgt.
Nun legte das Männlein die Hacke nieder und schritt, ein
Liedchen pfeifend, auf die Scheuer zu. Es war in einen grauen Wams
gekleidet, und wir sahen, daß es sich wie nach wackrem Werk die
Hände rieb. Nachdem es in die Scheuer eingetreten war, begann ein
Pochen und Schaben an der Schin- derbank, dazu es in lemurenhafter
Heiterkeit sein Liedchen weiterpfiff. Dann hörten wir, wie zur Be-
gleitung, im Tannicht den Wind sich wiegen, sodaß die bleichen
Schädel an den Bäumen im Chore klapperten. Auch mischten sich in
sein Wehen das Schwingen der Haken und das Kraspeln der dürren
Hände an der Scheuerwand. Das klang so hölzern und beinern wie im
Reich des Todes ein Marionet- ten-Spiel. Zugleich trieb mit dem
Winde ein zäher, schwerer und süßer Hauch der Verwesung an, der uns
bis in das Mark der Knochen erzittern ließ. Wir fühlten, wie in
unserem Inneren die Lebens-Melodie auf ihre dunkelste, auf ihre
tiefste Saite übergriff.
Wir wußten später nicht zu sagen, wie lange wir diesen
Spuk betrachtet hatten — vielleicht nicht länger als einen
Augenblick. Dann, wie erwachend, faßten wir uns an den Händen und
stürzten in den Hochwald des Filler-Horns zurück, indes der
Kuckucks-Ruf uns höhnend geleitete. Nun kannten wir die üble Küche,
aus der die Nebel über die Marina zogen — da wir nicht weichen
wollten, hatte der Alte sie uns ein wenig deutlicher gezeigt. So
sind die Keller, darauf die stolzen Schlösser der Tyrannis sich
erheben, und über denen man die Wohlgerüche ihrer Feste sich
kräuseln sieht —: Stankhöhlen grauenhafter Sorte, darinnen auf alle
Ewigkeit verworfenes Gelichter sich an der Schän- dung der
Menschenwürde und Menschenfreiheit schauerlich ergötzt. Dann
schweigen die Musen, und die Wahrheit beginnt zu flackern wie eine
Leuchte in böser Wetterluft. Da sieht man die Schwachen schon
weichen, wenn kaum die ersten Nebel brauen, doch selbst die
Krieger-Kaste be- ginnt zu zagen, wenn sie das Larven-Gelichter aus
den Niederungen auf die Bastionen emporgestiegen sieht. So kommt
es, daß Kriegesmut auf dieser Welt im zweiten Treffen steht; und
nur die Höchsten, die mit uns leben, dringen bis in den Sitz des
Schreckens ein. Sie wissen, daß alle diese Bilder ja nur in unserem
Herzen leben, und schreiten als durch vorgestellte Spiegelungen
durch sie in stolze Siegestore ein. So werden sie durch die Larven
gar herrlich in ihrer Wirklichkeit erhöht.
Uns aber hatte der Totentanz auf Köppels- Bleek im
Innersten geschreckt, und schaudernd standen wir im tiefen Walde
und lauschten dem Kuckucks-Ruf. Dann aber begann die Scham uns zu
ergreifen, und es war Bruder Otho, der verlangte, daß wir uns
gleich noch einmal an die Rodung zu- rückbegeben sollten, weil das
rote Waldvögelein nicht in das Fundbuch eingetragen worden sei. Wir
pflegten nämlich über alle Pflanzenfunde an Ort und Stelle Tagebuch
zu führen, da wir erfahren hat- ten, daß uns in der Erinnerung viel
entging. So dürfen wir wohl sagen, daß unsere Florula Marinae im
Feld entstanden ist.
Wir pürschten also, ohne uns an den Kuckucks- Ruf zu
kehren, wieder bis an den kleinen Hügel vor und suchten dann im
Laube das Pflänzlein auf. Nachdem wir es noch einmal gut betrachtet
hatten, hob Bruder Otho seinen Wurzelstock mit unserem Spatel aus.
Dann maßen wir das Kraut in allen seinen Teilen mit dem Zirkel aus
und trugen mit dem Datum auch die Einzelheiten des Fundorts in
unser Büchlein ein.
Wir Menschen, wenn wir so in den uns zugemesse- nen
Berufen am Werke sind, stehen im Amt — und es ist seltsam, daß uns
dann sogleich ein stärkeres Gefühl der Unversehrbarkeit ergreift.
Wir hatten das bereits im Feld erfahren, wo der Krieger, wenn die
Nähe des Todes an ihm zu zehren droht, sich gern den Pflichten
widmet, die seinem Stande vorge- schrieben sind. In gleicher Weise
hatte uns die Wis- senschaft gar oft gestärkt. Es liegt im Blick
des Auges, der sich erkennend und ohne niedere Blen- dung auf die
Dinge richtet, eine große Kraft. Er nährt sich von der Schöpfung
auf besondre Weise, und hierin liegt allein die Macht der
Wissenschaft. So fühlten wir, wie selbst das schwache Blümlein in
seiner Form und Bildung, die unverwelklich sind, uns stärkte, dem
Hauche der Verwesung zu wider- stehn.
Als wir dann durch das hohe Holz zum Waldrand schritten,
war die Sonne hervorgetreten, wie man das zuweilen noch kurz vor
ihrem Untergange an Nebeltagen sieht. In den durchbrochenen Kronen
der Riesenbäume lag goldener Schein, und golden war auch der Glanz
des Mooses, das unser Fuß be- trat. Die Kuckucks-Rufe waren nun
längst ver- stummt, doch in den höchsten, Wipfeldürren Zweigen
waren unsichtbar die Sprosser aufgezogen, köstliche Sänger, deren
Stimme die kühle Feuchte inniglich durchdrang. Dann stieg mit
grünem Schimmer, wie aus Grotten, der Abend auf. Den Geißblatt-
Ranken, die aus der Höhe herniederhingen, ent- strömte tiefer Duft,
und schwirrend stiegen die bunten Abendschwärmer zu ihren gelben
Blüten- Hörnern auf. Wir sahen sie leise zitternd und wie im
Wollust-Traum verloren vor den Lippen der auf- gereckten Kelche
stehen, dann stießen sie vibrie- rend den schmalen und leicht
gekrümmten Rüssel in den süßen Grund. xxx
Als wir bei den drei Pappeln das Filler-Horn ver-
ließen, begann bereits die bleiche Sichel des Mondes sich in Gold
zu färben, und die Sterne traten am Firmament hervor. Im
Binsengrunde stießen wir auf den alten Belovar, der in der
Dämmerung mit seinen Knechten und Hetzern auf unsere Spur ge-
gangen war. Der Alte lachte, als wir ihm nachher beim Safran-Weine
die rote Blume zeigten, die wir in Klöppels-Bleek erbeutet hatten;
wir aber schwiegen und baten ihn beim Abschied, auf seinem schönen
und unversehrten Hofe wohl auf der Hut zu sein.
20.
Es gibt Erfahrungen, die uns von
neuem zur Prüfung zwingen, und zu ihnen zählte für uns der Einblick
in die Schinderhütte bei Köppels-Bleek. Zunächst beschlossen wir,
den Pater Lampros aufzu- suchen, doch ehe wir ins Kloster der
Falcifera gelang- ten, brach schon die Katastrophe über uns herein.
Am nächsten Tage ordneten wir lange Skripturen im Herbarium und in
der Bibliothek und legten vieles schon brandgerecht. Dann saß ich
noch ein wenig bei Beginn der Dunkelheit im Garten auf der
Terrassen-Brüstung, um mich am Duft der Blu- men zu erfreuen. Noch
lag die Sonnenwärme auf den Beeten, und doch stieg aus den
Ufergräsern bereits die erste Kühlung auf, die den Geruch des
Staubes niederschlug. Dann fiel der Hauch der Mondviolen und der
hellen Nachtkerzen-Blüten kas- kadisch von den Marmor-Klippen in
den Garten der Rauten-Klause ein. Und wie es Düfte gibt, die
sinken, und andere, die aufwärtssteigen, so drang durch diese
schweren Wellen ein leichteres und fei- neres Arom empor.
Ich ging ihm nach und sah, daß in der Dämmerung die
große Goldband-Lilie aus Zipangu aufgesprun- gen war. Es war noch
Licht genug, den goldenen Flammenstrich zu ahnen, und auch die
braune Ti- gerung, durch die der weiße Kelch gar prächtig ge-
zeichnet war. In seinem hellen Grunde stand wie der Klöppel in der
Glocke das Pistill, um das sechs schmale Staubgefäße sich im Kreise
ordneten. Sie waren mit braunem Puder wie mit dem feinsten Auszug
von Opium bedeckt und von den Faltern ganz unbeflogen, sodaß die
zarte Scheide in ihrer Mitte noch leuchtete. Ich beugte mich über
sie und sah, daß sie an ihren Fäden zitterten wie Spielwerk der
Natur: gleich einem Glockenspiele, das statt der Töne muskatische
Essenz verströmen ließ. Für immer wird es ein Wunder bleiben, daß
diese zar- ten Lebe-Wesen so starke Liebeskraft beseelt.
Indem ich so die Lilien beschaute, blitzte unten am
Weinbergs-Wege ein feiner blauer Lichtstrahl auf und schob sich
tastend am Rebenhügel vor. Dann hörte ich, wie unten vor der
Rautenklausen- Pforte ein Wagen hielt. Obgleich wir Gäste nicht
erwarteten, eilte ich doch, der Lanzen-Ottern we- gen, zum Tor
hinab und sah dort einen starken Wagen stehen, der leise summte wie
ein Insekt, das fast unhörbar schwirrt. Er trug die Farben, die der
hohe Adel von Neu-Burgund sich vorbehalten hat, und vor ihm standen
zwei Männer, von denen der eine das Zeichen schlug, mit dem die
Mauretanier sich in der Dunkelheit verständigen. Er nannte mir
seinen Namen, Braquemart, an den ich mich er- innerte, und stellte
mich dann dem andern vor, dem jungen Fürsten von Sunmyra, einem
hohen Herren aus neuburgundischem Geschlecht.
Ich bat sie, in die Rauten-Klause einzutreten und faßte
sie, um sie zu führen, bei der Hand. So schritten wir zu dritt im
schwachen Scheine den Schlangen- pfad empor, und ich bemerkte, daß
der Fürst der Tiere kaum achtete, indessen Braquemart sie spöt-
tisch und doch sehr aufmerksam vermied.
Wir gingen in die Bibliothek, in der wir Bruder Otho
trafen, und während Lampusa Wein und Ge- bäck aufsetzte, begannen
wir mit unseren Gästen das Gespräch. Wir kannten Braquemart bereits
von früher, doch hatten wir ihn immer nur kurz ge- sehen, da er
häufig auf Reisen war. Er war ein kleiner, dunkler, hagerer
Geselle, den wir ein wenig grob- drähtig fanden, doch wie alle
Mauretanier nicht ohne Geist. Er zählte zu jenem Schlage, den wir
im Scherz die Tigerjäger nannten, weil man ihnen zu- meist in
Abenteuern, die exotischen Charakter tru- gen, begegnete. Er ging
in die Gefahr, wie man zum Sport in kluftenreiche Massive steigt;
ihm waren die Ebenen verhaßt. Er hatte ein starkes Herz von jener
Sorte, die nicht vor Hindernissen scheut; doch leider gesellte sich
dieser Tugend Verachtung zu. Wie alle Schwärmer von Macht und
Übermacht verlegte er seine wilden Träume in die Reiche der Utopie.
Er war der Meinung, daß es auf Erden seit Anbeginn zwei Rassen
gebe, die Herren und die Knechte, und daß im Lauf der Zeiten
zwischen ihnen Vermi- schung eingetreten sei. In dieser Hinsicht
war er ein Schüler vom alten Pulverkopf und forderte wie die- ser
die neue Sonderung. Auch lebte er, wie jeder grobe Theoretiker, vom
Zeitgemäßen in der Wissen- schaft und trieb besonders die
Archäologie. Er war nicht fein genug, zu ahnen, daß unser Spaten
un- fehlbar alle Dinge findet, die uns im Sinne leben, und er
hatte, wie schon so mancher vor ihm, auf diese Weise den ersten
Sitz des menschlichen Ge- schlechts entdeckt. Wir waren mit in der
Sitzung, in der er über diese Grabungen berichtete, und hörten, daß
er in einer fernen Wüste auf ein groteskes Tafel- Land gestoßen
war. Dort wuchsen hohe Porphyr- Sockel aus einer großen Ebene empor
— sie waren von der Verwitterung ausgespart und standen wie
Bastionen oder Felsen-Inseln auf dem Grund. Sie hatte Braquemart
erstiegen und auf den Hochpla- teaus Ruinen von Fürstenschlössern
und Sonnen- tempeln aufgefunden, deren Alter er als vor der Zeit
bezeichnete. Nachdem er ihre Maße und ihre Eigen- art beschrieben
hatte, ließ er das Land im Bilde auf- erstehen. Er zeigte die
fetten, grünen Weidegründe, auf denen, so weit das Auge reichte,
die Hirten und die Ackerbauern mit ihren Herden saßen, und über
ihnen auf den Porphyr-Türmen im roten Prunk die Adlernester der
Urgebieter dieser Welt. Auch ließ er den längst versiegten Strom
die Schiffe mit den Purpurdecks hinunterfahren; man sah die hundert
Ruder mit insektenhaftem Regelmaß ins Wasser tauchen und hörte den
Klang der Becken und der Geißel, die auf den Rücken der
unglückseligen Ga- leeren-Sklaven fiel. Das waren Bilder für
Braque- mart. Er zählte zum Schlage der konkreten Träu- mer, der
sehr gefährlich ist.
Den jungen Fürsten sahen wir abwesend in ganz anderer
Art. Er mochte zwanzig Jahr kaum über- schritten haben, doch stand
zu diesem Alter ein Aus- druck schweren Leidens, den wir an ihm
bemerkten, in sonderbarem Gegensatz. Obwohl er hoch gewach- sen
war, hielt er sich tief gebeugt, als ob die Größe ihm Schwierigkeit
bereitete. Auch schien er kaum zu hören, was wir verhandelten. Ich
hatte den Eindruck, daß hohes Alter und große Jugend sich in ihm
ver- einigten — das Alter des Geschlechtes und die Jugend der
Person. So war in seinem Wesen die Dekadenz tief eingeprägt; man
merkte an ihm den Zug alt an- gestammter Größe, und auch den
Gegenzug, wie ihn die Erde auf alles Erbe übt — denn Erbe ist
Totengut.
Ich hatte wohl erwartet, daß in der letzten Phase des
Ringens um die Marina der Adel in Erscheinung treten würde — denn
in den edlen Herzen brennt das Leiden des Volkes am heißesten. Wenn
das Ge- fühl für Recht und Sitte schwindet, und wenn der Schrecken
die Sinne trübt, dann sind die Kräfte der Eintags-Menschen gar bald
versiegt. Doch in den alten Stämmen lebt die Kenntnis des wahren
und legitimen Maßes, und aus ihnen brechen die neuen Sprossen der
Gerechtigkeit hervor. Aus diesem Grunde wird bei allen Völkern dem
edlen Blute der Vorrang eingeräumt. Doch hatte ich geglaubt, daß
eines Tages aus den Schlössern und Burgen sich Bewaffnete erheben
würden als ritterliche Führer im Freiheitskampf. Statt dessen sah
ich diesen frühen Greis, der selbst der Stütze bedürftig war, und
des- sen Anblick mir vollends deutlich machte, wie weit der
Untergang schon vorgeschritten war. Und dennoch schien es
wunderbar, daß dieser müde Träu- mer sich berufen fühlte, Schutz zu
gewähren — so drängen die Schwächsten und die Reinsten sich zu den
ehernen Gewichten dieser Welt.
Ich hatte schon unten vor der Pforte geahnt, was diese
beiden mit abgeblendeten Laternen zu uns führte, und auch mein
Bruder Otho schien es zu wissen, ehe noch ein Wort gefallen war.
Dann bat uns Braquemart um eine Schilderung der Lage, die Bruder
Otho ihm bis ins einzelne erstattete. Der Art, in der sie
Braquemart ergriff, war zu entneh- men, daß er über alle Kräfte und
Gegenkräfte vor- trefflich unterrichtet war. Auch hatte er schon
mit Biedenhorn gesprochen, nur Pater Lampros war ihm
unbekannt.
Der Fürst hingegen verharrte in gebeugter Träu- merei.
Selbst die Erwähnung von Köppels-Bleek, die Braquemart in Laune
versetzte, schien von ihm abzugleiten; nur, als er von der
Schändung des Eburnums hörte, fuhr er zornig von seinem Sitz empor.
Dann streifte Bruder Otho noch in allgemei- nen Sätzen die Meinung,
die wir von den Dingen hegten, und das Verhalten, das uns
angemessen schien. Dem hörte Braquemart zwar höflich und doch mit
schlecht verhehltem Spotte zu. Es war ihm von der Stirne abzulesen,
daß er uns nur als schwächliche Phantasten betrachtete, und daß
sein Urteil schon gebildet war. So gibt es Lagen, in de- nen jeder
jeden für einen Träumer hält.
Es mag nun wunderlich erscheinen, daß Braque- mart in
diesem Handel dem Alten entgegentreten wollte, obgleich doch beide
in ihrem Sinnen und Trachten viel Ähnliches verband. Es ist jedoch
ein Feh- ler, der uns im Denken häufig unterläuft, daß wir bei
Gleichheit der Methoden auch auf die gleichen Ziele schließen und
auf die Einheit des Willens, der hinter ihnen steht. Darin bestand
jedoch Verschiedenheit insofern, als der Alte die Marina mit wilden
Bestien zu bevölkern im Sinne hatte, indessen Braquemart sie als
den Boden für Sklaven und für Sklaven-Heere betrachtete. Es drehte
sich dabei im Grunde um einen der inneren Konflikte unter
Mauretaniern, den hier in seinen Einzelheiten zu beschreiben nicht
tunlich ist. Es sei nur angedeutet, daß zwischen dem ausgeformten
Nihilismus und der wilden Anarchie ein tiefer Gegensatz besteht. Es
handelt sich bei die- sem Kampfe darum, ob die Menschen-Siedlung
zur Wüste oder zum Urwald umgewandelt werden soll. Was Braquemart
betrifft, so waren alle Züge des späten Nihilismus an ihm sehr
ausgeprägt. Ihm war die kalte, wurzellose Intelligenz zu eigen und
auch die Neigung zur Utopie. Auch faßte er wie alle seinesgleichen
das Leben als ein Uhrwerk auf, und so erblickte er in Gewalt und
Schrecken die Antriebs-Räder der Lebensuhr. Zugleich erging er sich
in den Begriffen einer zweiten und künstlichen Natur, berauschte
sich am Dufte nachgeahmter Blu- men und den Genüssen einer
vorgespielten Sinn- lichkeit. Die Schöpfung war in seiner Brust
getötet und wie ein Spielwerk wieder aufgebaut. Eisblumen blühten
auf seiner Stirn. Wenn man ihn sah, dann mußte man an den tiefen
Ausspruch seines Meisters denken: „Die Wüste wächst — weh dem, der
Wüsten birgt!”
Und dennoch spürten wir eine leise Neigung zu Braquemart
— nicht so sehr deshalb, weil er Herz besaß, denn wenn der Mensch
sich den Gesteinen nähert, verringert sich auch das Verdienst, das
auf dem Mut beruht. Es war vielmehr ein feiner Schmerz an ihm das
Liebenswerte — die Bitter- keit des Menschen, der sein Heil
verloren hat. Er suchte sich dafür an der Welt zu rächen, so wie
ein Kind in eitlem Zorn den bunten Blumenflor zer- stört. Auch
schonte er nicht sich selbst und drang mit kaltem Mute in die
Labyrinthe des Schreckens ein. So suchen wir, wenn uns der Sinn der
Heimat ver- loren ging, die fernen Abenteuer-Welten auf.
Im Denken suchte er das Leben nachzuzeichnen und hielt
darauf, daß der Gedanke Zähne und Kral- len zeigen muß. Doch
glichen seine Theorien einem Destillate, in das die eigentliche
Lebenskraft nicht überging; es fehlte ihnen das köstliche
Ingrediens des Überflusses, das alle Speisen erst schmackhaft
macht. Es herrschte Dürre in seinen Plänen, obgleich kein Fehler in
der Logik zu finden war. So schwindet der Wohlklang der Glocke
durch einen unsichtbaren Sprung. Es lag das daran, daß bei ihm die
Macht zu sehr in den Gedanken lebte, und zu wenig in der Grandezza,
in der angeborenen Désinvolture. In dieser Hinsicht war ihm der
Oberförster überlegen, der die Gewalt wie einen guten, alten
Jagdrock trug, der stets bequemer wird, je öfter er sich mit
Schlamm und Blut durchtränkt. Aus diesem Grunde hatte ich auch den
Eindruck, daß Braquemart sich auf ein böses Abenteuer einzulassen
auf dem Sprunge stand; bei solchen Treffen wurden die Ethiker noch
immer von den Praktikern erlegt.
Wahrscheinlich ahnte Braquemart von seiner Schwäche dem
Alten gegenüber und hatte deshalb den jungen Fürsten mitgebracht.
Uns schien in- dessen, daß dieser in ganz anderen Zusammenhän- gen
webte, und so ergeben sich oft Bünde wunder- licher Art. Vielleicht
war es der Fürst, der Braque- mart benutzte, wie man ein Boot zur
Überfahrt be- nutzt. In diesem schwachen Körper lebte ein starker
Zug aufs Leiden zu, und wie im Traume hielt er, fast ohne
Überlegung und doch mit Sicherheit, die Richtung ein. So raffen,
wenn im Felde das Horn zum Angriff ruft, die guten Krieger sich
sterbend noch vom Boden auf.
Mit Bruder Otho dachte ich später oft an dies Ge- spräch
zurück, das unter keinem guten Sterne stand. Der Fürst sprach kaum
ein Wort, und Braquemart entfaltete die unduldsame Überlegenheit,
an der man den Techniker erkennt. Man sah ihm an, daß er sich im
Geheimen über unsere Bedenken lustig machte, und ohne daß er über
seine Pläne ein Wort verloren hätte, fragte er uns nach der Lage
der Wälder und der Weidegründe aus. Auch zeigte er sich begierig
nach Einzelheiten über des Adepten Fortunios Aben- teuer und
Untergang. Wir sahen aus seinen Fragen, daß er dort zu erkunden
oder auch zu operieren plante, und ahnten, daß er das Übel
verschlimmern würde wie ein schlechter Arzt. Es war doch schließ-
lich kein Zufall und kein Abenteuer, daß der Alte mit dem
Lemuren-Volke aus dem Wälder-Dunkel herauszutreten begann und
Wirksamkeit entfaltete. Gelichter dieser Art ward früher gleich
Gaudieben abgefertigt, und sein Erstarken deutete auf tiefe
Veränderungen in der Ordnung, in der Gesundheit, ja, im Heile des
Volkes hin. Hier galt es anzusetzen, und daher taten Ordner not und
neue Theologen, denen das Übel von den Erscheinungen bis in die
feinsten Wurzeln deutlich war; dann erst der Hieb des konsekrierten
Schwertes, der wie ein Blitz die Finsternis durchdringt. Aus diesem
Grunde mußten die einzelnen auch klarer und stärker in der Bin-
dung leben als je zuvor — als Sammler an einem neuen Schatz von
Legitimität. So lebt man doch schon auf besondere Weise, wenn man
nur einen kurzen Lauf gewinnen will. Hier aber galt es das hohe Le-
ben, die Freiheit und die Menschen-Würde selbst. Dergleichen Pläne
freilich hielt Braquemart, da er dem Alten mit gleicher Münze
heimzuzahlen ge- dachte, für eitlen Firlefanz. Er hatte die Achtung
vor sich selbst verloren, und damit fängt alles Unheil unter
Menschen an.
So sprachen wir lange hin und her. Wenn wir uns in den
Worten nicht verstanden, so ging uns doch im Schweigen vieles auf.
Vor der Entschei- dung treffen sich die Geister wie die Ärzte am
Kran- kenbett. Der eine möchte zum Messer greifen, der andere will
den Kranken schonen, und der Dritte sinnt auf Mittel von besonderer
Art. Doch was sind Menschenrat und -wille, wenn in den Sternen
schon der Untergang beschlossen liegt? Indessen hält man Kriegsrat
auch vor verlorener Schlacht.
Der Fürst und Braquemart gedachten, noch in der gleichen
Nacht die Weidegründe aufzusuchen, und da sie weder Führung noch
Begleitung annehmen wollten, empfahlen wir ihnen den alten Belovar.
Dann gaben wir den beiden bis an die Stufen der
Marmorklippen-Treppe das Geleit. Wir nahmen förmlich Abschied, wie
man es pflegt, wenn die Begegnung ohne Wärme und ohne Frucht
verlief. Doch schloß sich daran noch eine stumme Szene, die mich
verwirrte, an. Die beiden blieben im ersten Dämmerlichte an den
Klippen stehen und musterten uns schweigend eine lange Zeit. Schon
stieg die Morgenkühle auf, in der die Dinge für eine kurze Spanne
dem Auge sichtbar werden, als ob sie sich aus ihrem Ursprung
entfalteten, neu und geheimnis- voll. So standen auch der Fürst und
Braquemart. Mir schien, daß Braquemart den überlegenen Spott ver-
loren hatte und menschlich lächelte. Der junge Fürst hingegen hatte
sich aufgerichtet und blickte uns heiter an — als ob er um die
Lösung eines Rätsels wüßte, das uns beschäftigte. Das Schweigen
währte eine lange Zeit, dann faßte Bruder Otho noch einmal nach des
Fürsten Hand und beugte sich tief auf sie hinab.
Nachdem die beiden am Zinnenrande der Mar- mor-Klippen
dem Blick entschwunden waren, suchte ich noch, bevor ich mich zur
Ruhe legte, die Gold- band-Lilie auf. Die feinen Staubgefäße waren
schon beflogen, und die grüngoldene Tiefe des Kelches war mit
Purpurstaub befleckt. Ihn hatten wohl die großen Nacht-Papilionen
beim Hochzeits-Schmaus verstreut.
So fließen aus jeder Stunde Süße und Bitterkeit. Und
während ich mich über die betauten Blüten- kelche beugte, ertönte
aus fernen Vorgehölzen der erste Kuckucks-Ruf.
21.
Den Vormittag verbrachten wir in Sorge, indes der Wagen
verlassen vor unserer Pforte stand. Beim Frühstück reichte Lampusa
uns einen Zettel von Phyllobius, aus dem wir sahen, daß der Besuch
ihm nicht entgangen war. Er bat uns darin, den Fürsten dringend in
das Kloster einzuladen; Lam- pusa hatte die Bestellung unheilvoll
versäumt.
Am Mittag kam der alte Belovar, um uns zu mel- den, daß
der junge Fürst mit Braquemart in aller Frühe auf seinem Hofe
erschienen war. Dort hatte ihn Braquemart, indem er ein bemaltes
Pergament studierte, nach Punkten in den Wäldern ausgefragt. Dann
waren sie wieder aufgebrochen, und der Alte hatte ihnen aus seiner
Sippe Späher nachgesandt. Die beiden waren in dem Striche zwischen
dem Filler-Horne und dem Vorgehölz des roten Stieres in die Wälder
eingetaucht.
Die Nachricht lehrte uns, daß Schlimmes zu er- warten
stand, und lieber hätten wir gesehen, daß die beiden mit den
Knechten und Söhnen des Alten auf- gebrochen wären, wie es ihnen
angeboten war. Wir kannten den Grundsatz Braquemarts, niemand sei
fürchterlicher als der einzelne von Rang, und hielten es für
möglich, daß sie den alten Blutfürsten selbst auf seinem Prunkhof
heimsuchen würden, um ihn zu bestehn. Dann aber gerieten sie in die
Netze der Dämonen-Macht — wir ahnten, daß schon Lam- pusas Säumnis
mit den Zugfäden dieser Netze in Beziehung stand. Wir dachten an
Fortunios Schick- sal, der doch ein Mensch von großen Gaben gewesen
war, und der sich lange mit den Wäldern beschäf- tigt hatte, ehe er
in sie vorgestoßen war. Es war wohl seine Karte, die nach manchem
Umweg in den Besitz von Braquemart geraten war. Wir hatten nach
Fortunios Tode lange nach ihr gefahndet und er- fahren, daß sie in
Schatzgräber-Hände gefallen war.
So waren die beiden unvorbereitet und ohne hohe Führung
in die Gefahr gegangen, wie man in bloße Abenteuer zieht. Sie
gingen gleich halben Menschen — dort Braquemart, der reine
Techniker der Macht, der immer nur kleine Teile und nie die Wurzeln
der Dinge sah, und hier der Fürst Sunmyra, der edle Geist, der die
gerechte Ordnung kannte, doch einem Kinde glich, das sich in
Wälder, in denen Wölfe heulen, wagt. Doch schien uns möglich, daß
Pater Lampros beide auf eine tiefe Weise hätte ändern und einen
können, wie es durch die Mysterien ge- schieht. Wir teilten ihm auf
einem Zettel die Lage der Dinge mit und sandten Erio eilig zum
Kloster der Falcifera.
Seitdem der Fürst und Braquemart bei uns er- schienen
waren, fühlten wir uns beklommen, doch sahen wir die Dinge nun
schärfer als bisher. Wir spürten, daß sie kulminierten, und daß wir
würden schwimmen müssen, wie man im Strudel durch einen Engpaß
schwimmt. Auch hielten wir es für an der Zeit, den Spiegel
Nigromontans bereitzuhalten und wollten durch ihn das Licht
entzünden, solange die Sonne noch günstig stand. Wir stiegen auf
den Altan und flammten auf die vorgeschriebene Weise am
Himmelsfeuer durch die kristallene Scheibe die Leuchte an. Mit
hoher Freude sahen wir die blaue Flamme sich niedersenken und
bargen Spie- gel und Leuchte in der Nische, in der die Laren
stehn.
Noch waren wir beschäftigt, uns wieder umzu- kleiden,
als Erio mit der Antwort des Mönches wie- derkam. Er hatte den
Pater im Gebet getroffen, der ihm sogleich, und ohne daß er unseren
Zettel gelesen hätte, ein Schreiben übergab. So überreicht man
Ordres, die seit langem versiegelt in Bereit- schaft
sind.
Wir sahen, daß die Botschaft zum ersten Male mit Lampros
unterzeichnet war; auch war das Wappen mit dem Spruche „meyn geduld
hat ursach” ihr beigefügt. Zum ersten Male war auch von Pflanzen in
ihr nicht die Rede, sondern der Pater bat mich in kurzen Worten,
den Fürsten aufzusuchen und für ihn zu sorgen, auch fügte er hinzu,
ich möchte nicht ohne Waffen gehen.
Da galt es, eilig sich zu rüsten, und ich legte, mit
Bruder Otho hastige Sätze wechselnd, den alten und langbewährten
Jagdrock an, der jeder Dorne ge- wachsen war. Mit Waffen freilich
war es in der Rauten-Klause schlecht bestellt. Nur über dem Kamin
hing eine Flinte, wie man sich ihrer zur Entenjagd bedient, doch
mit gekürztem Lauf. Wir hatten sie auf unseren Reisen hin und
wieder benutzt, um auf Reptilien zu schießen, die harte Haut und
zähes Leben vereinigen, und die ein grober Hagel weit sicherer als
der beste Büchsenschuß erlegt. Wenn sie mein Auge streifte, rief
die Erinnerung in mir die Moschus-Witterung hervor, wie sie im
heißen Uferdickicht dem Jäger, der sich den Lan- dungsplätzen der
großen Echsen nähert, entgegen- strömt. Für Stunden, in denen Land
und Wasser in der Dämmerung verfließen, hatten wir auf den Lauf ein
Silberkorn gesetzt. Dies war das einzige Gerät, das wir in unserem
Hause Waffe nennen konnten; ich nahm es daher an mich, und Bruder
Otho hing mir die große Ledertasche um, auf deren Klappe Schlingen
für erlegte Vögel gesponnen waren, indes im Inneren ein aufgenähter
Gurt Patronen hielt.
So greifen wir in der Eile nach dem ersten, was sich uns
bietet; auch hatte Pater Lampros mir die Waffe wohl mehr zum
Zeichen der Freiheit und der Feindschaft vorgeschrieben — so wie
man als Freund mit Blumen kommt. Der gute Degen, den ich bei den
Purpur-Reitern führte, hing hoch im Norden im Vaterhaus; doch hätte
ich ihn zu solchem Gange nie gewählt. Er hatte in heißen
Reiterschlachten, wenn die Erde unter dem Hufschlag donnert und die
Brust sich herrlich weitet, im Sonnenschein geblitzt. Ihn hatte ich
gezückt im leichten, wiegenden An- galopp, bei dem die Waffen erst
leise und dann immer stärker klirren, indes das Auge im feind-
lichen Geschwader bereits den Gegner wählt. Auch hatte ich mich auf
ihn verlassen in jenen Augen- blicken des Einzelkampfes, in denen
man im Getüm- mel die weite Ebene durchsprengt und viele Sättel
schon ledig sieht. Da gab es manchen Hieb, der auf das Stichblatt
fränkischer Rappiere und auf den Bügel schottischer Säbel fiel —
doch manchen auch, bei dem das Handgelenk den weichen Widerstand
der Blöße fühlte, an der die Klinge ins Leben schnitt. Doch alle
diese, und selbst die freien Söhne der Barbaren-Stämme, waren edle
Männer, die ihre Brust fürs Vaterland dem Eisen boten; und gegen
jeden hätten wir beim Gelage das Glas erheben können, wie man es
Brüdern tut. Die Tapferen dieser Erde machen im Streite die Grenzen
der Freiheit aus; und Waffen, die man gegen solche zückte, die
führt man gegen Schinder und Schinder-Knechte nicht. In Eile nahm
ich von Bruder Otho Abschied und auch von Erio. Ich faßte es als
gutes Zeichen, daß der Knabe mich dabei mit heiterer Sicherheit
betrach- tete. Dann machte ich mich mit dem alten Hirten auf den
Weg.
22.
Als wir den großen Weidehof
erreichten, brach schon die Dämmerung herein. Von weitem er-
kannten wir bereits, daß dort Unruhe herrschte; die Ställe
leuchteten im Schein von Fackeln und dröhn- ten vom Gebrüll des
Viehes, das hastig eingetrieben war. Wir trafen einen Teil der
Hirten in Waffen und erfuhren, daß andere noch in entfernten
Gründen der Campagna weilten, wo Vieh zu bergen war. Im Hof empfing
uns Sombor, der erste Sohn des Alten, ein Riese mit rotem Vollbart
und mit einer Geißel, an deren Riemen bleierne Kugeln hingen, in
der Hand. Er meldete, daß um die Mittagsstunde in den Wäldern
Unruhe aufgekommen war; man hatte Rauch aufsteigen sehen und Lärm
gehört. Dann waren aus den Moor-Gebüschen entlang dem Filler- Horne
Scharen von Feuer-Würmern und von Jägern hervorgetreten und hatten
eine Herde abgetrieben, die dort im Vorwerk lag. Zwar hatte Sombor
ihnen noch im Moore einen Teil der Beute wieder abge- nommen, doch
hatte er dabei auch Scharen von Förstern festgestellt, sodaß ein
Unternehmen zu er- warten stand. Inzwischen hatten seine Späher
auch an anderen Punkten, wie bei dem Vorgehölz des roten Stieres,
und selbst in unserem Rücken, Streiftrupps und Einzelgänger
ausgemacht. So hatte uns unser gutes Glück, noch eben ehe wir
abgeschnitten wur- den, bis auf den Hof gebracht.
Bei diesem Stand der Dinge konnte ich nicht er- warten,
daß Belovar mich bei dem Vorstoß in die Wälder begleiten würde, und
fand es billig, daß er sich um sein Gut und um die Seinen kümmerte.
Da kannte ich jedoch den alten Streiter noch immer nicht gut genug,
und nicht den Eifer, des er für Freunde fähig war. Sogleich
verschwur er sich, daß Haus und Stall und Scheuern bis auf den
Grund verbrennen sollten, ehe er mich an diesem Tage auch nur für
einen Schritt alleine ließe, und übertrug dem Sohne Sombor die
Sorge um den Hof. Bei die- sen Worten berührten die Weiber, die
schon die Kostbarkeiten aus dem Hause schleppten, eilig Holz und
drängten sich klagend an uns heran. Dann trat die Beste-Mutter auf
uns zu und tastete uns mit den Händen von Kopf zu Füßen ab. An
meiner rechten Schulter fanden die Finger Widerstand, doch glitten
sie beim zweiten Male eben darüber hin. Als sie jedoch die Stirn
des Sohnes berührte, faßte sie ein Schrecken, und sie verhüllte ihr
Gesicht. Da warf das junge Weibchen sich dem Alten an die Brust,
mit schrillem Wehruf, wie man ihn bei der Totenklage
hört.
Dem Alten aber fehlte der Sinn für Weibertränen, wenn es
ins Treffen ging, und wenn die erste Trun- kenheit des Kampfes ihm
schon im Blute lag. Er schaffte sich mit beiden Armen Raum, so wie
ein Schwimmer die Wogen teilt, und rief mit lauter Stimme Söhne und
Knechte namentlich zum Kampf. Er wählte nur eine Streifschar aus,
indes er alle anderen dem Sohne Sombor zur Sicherung des Ho- fes
überließ. Doch suchte er nur solche aus, die in den Sippen-Kämpfen
schon ihren Mann getötet hat- ten, und die er seine Hähnchen
nannte, wenn er bei Laune war. Sie kamen mit Lederkollern und
Leder- hauben und mit dem ungefügen Rüstzeug, wie man es in den
Waffenkammern der Weidehöfe seit der Urväter Zeiten aufbewahrt. Da
sah man im Fackel- scheine Hellebarden und Morgensterne und schwere
Stangen, die scharfe Äxte und Sägespieße trugen, auch Piken,
Mauerreißer und angeschliffene Haken mannigfacher Art. Damit
gedachte der Alte das Waldgelichter auszuputzen und auszufegen nach
Herzenslust.
Dann stießen die Hunde-Knechte die Zwinger auf, in denen
heulend schon die Meuten lärmten — die schlanken Hetzer und die
schweren Beißer, mit hellem und dunkelem Geläut. Hechelnd und knur-
rend schossen sie hervor, den Hof erfüllend, an ihrer Spitze der
schwere Leithund Leontodon. Er sprang an Belovar empor und setzte
ihm winselnd die Pran- ken auf die Schultern, obwohl der Alte ein
Riese war. Die Knechte ließen sie reichlich trinken und gossen
ihnen aus einer Metzelschüssel zum Lecken Blut auf den Estrich
aus.
Die beiden Meuten waren des Alten Stolz, und sicher war
es zum guten Teile ihnen zu verdanken, daß das Gelichter aus den
Tannicht-Dörfern in diesen Jahren seinen Grund in weitem Bogen
mied. Für seine leichte hatte er den schnellen Steppen- Windhund
fortgezüchtet, mit dem der freie Araber sein Lager teilt und dessen
Junge seine Frau aus ihren eigenen Brüsten trinken läßt. An diesen
Wind- spiel-Körpern war jeder Muskelzug so sichtbar, als hätte ein
Zergliederer sie abgewirkt, und die Be- wegung war in ihnen so
übermächtig, daß sie noch in den Träumen ein stetes Zittern
überlief. Es gab von allen Läufern dieser Erde nur den Geparden,
der sie überflügeln konnte, und auch dieser nur auf kurzer Bahn.
Sie jagten die Beute zu Paaren, indem sie die Bogen schnitten, und
machten sie an den Schultern fest. Doch gab es auch Solo-Fänger,
die ihr Opfer am Halse niederrissen und hielten, bis der Jäger
kam.
In seiner schweren Meute zog der Alte die Molosser
Dogge, ein herrliches, lichtgelbes und schwarz ge- stromtes Tier.
Die Unerschrockenheit, die dieser Rasse zu eigen ist, wurde durch
eingekreuztes Blut der Tibet-Dogge noch erhöht, die man in
römischen Arenen gegen Auerochsen und Löwen kämpfen ließ. Der
Einschlag zeigte sich durch die Größe, die stolze Haltung und die
Rute, die nach Standarten-Art ge- tragen wurde, an. Fast alle diese
Beißer trugen schwere Risse in den Decken — Denkzettel von
Branten-Hieben auf der Bärenhatz. Der Großbär, wenn er auf die
Weiden von Holze ging, mußte sich eng am Waldrand halten, denn wenn
die Hetzer ihn erreichten und stellten, fleischten die Packer ihn
zu Tode, noch ehe der Jäger Zeit ihn aufzuschärfen fand.
Das war ein Wälzen und Knurren und Würgen im Innenhofe,
und aus den roten Rachen funkelten uns die schrecklichen Gebisse
an. Dazu das Sprühen der Fackeln, das Waffenklirren und die Klage
der Weiber, die wie aufgescheuchte Tauben im Hofe flatterten. Das
war ein Toben, wie es dem Alten Freude machte, der mit der Rechten
wohlgefällig im Barte spielte, indes die Linke den breiten Dolch im
roten Gürteltuche tanzen ließ. Auch trug er eine schwere Doppelaxt
am Riemen um das Handgelenk.
Dann stürzten die Knechte mit Lederstulpen, die bis an
die Schultern reichten, sich auf die Hunde und koppelten sie mit
Korallen-Riemen fest. So ging es mit verlöschten Fackeln aus dem
Tore und über die letzten Marken den Wäldern zu.
Der Mond war aufgegangen, und in seinem Scheine gab ich
mich den Gedanken hin, die uns beschlei- chen, wenn wir ins
Ungewisse gehn. Erinnerungen herrlicher Morgenstunden stiegen in
mir auf, in denen wir bei der Vorhut vor unseren Zügen ritten, und
hinter uns in kühler Frühe der Chor der jungen Reiter klang. Da
fühlten wir das Herz so festlich schlagen, und alle Schätze dieser
Erde wären uns gering erschienen gegenüber der nahen Lust am
scharfen und ehrenvollen Gang. Oh, welch ein Unterschied war
zwischen jenen Stunden und dieser Nacht, in der ich Waffen, die den
Krallen und Hör- nern von Ungeheuern glichen, im bleichen Lichte
glitzern sah. Wir gingen in die Lemuren-Wälder ohne Menschenrecht
und -satzung, in denen kein Ruhm zu ernten war. Und ich empfand die
Nichtig- keit von Glanz und Ehre, und große Bitterkeit.
Doch war es mir ein Trost, daß ich nicht wie beim ersten
Male, als ich Fortunio suchte, im Banne ma- gischer Abenteuer kam,
sondern in guter Sache und berufen durch hohe Geistesmacht. Und ich
be- schloß, mich nicht der Furcht anheimzugeben und nicht dem
Übermut.
23.
Noch in der Nähe des Hofes teilten
wir zum Vor- marsch ein. Wir schickten Späher aus und ließen ihnen
die Hetzer-Koppeln folgen, während der Haupttrupp mit der schweren
Meute den Zug be- schloß. Das Mondlicht war so hell geworden, daß
man in seinem Schein Geschriebenes lesen konnte; daher behielten,
solange wir noch auf den Weide- gründen schritten, die einzelnen
Abteilungen sich leicht in Sicht. Auch sahen wir zu unserer Linken
wie schwarze Lanzen die drei hohen Pappeln und in der Front die
dunkle Masse des Filler-Hornes, so- daß sich ohne Mühe die Richtung
halten ließ. Wir schritten auf den Bogen zu, in dem die Sichel des
Filler-Hornes dem hohen Holz entsprang.
Ich hatte meinen Platz zur Seite des alten Blut- rächers
bei der leichten Meute, und wir behielten von dort die Spitze im
Gesicht. Als sie den Schilf- und Erlengürtel erreichte, der das
Moor begrenzte, sahen wir sie stutzen, dann drang sie in eine Lücke
ein. Kaum war sie unserem Blick entschwunden, da hörten wir ein
böses, schwirrendes Schnappen wie von einem Eisen-Rachen und einen
Todes- schrei. Die Späher stoben aus den Büschen aufs Feld zurück,
indes wir eilig vorwärts strebten, um sie auf- zufangen und zu
erfahren, was es gab.
Wir fanden die Blöße, durch die die Späher ein-
gedrungen waren, kniehoch mit Ginster und Heide- kraut bestellt.
Sie glänzte im Mondlicht, und in ihrer Mitte bot sich den Blicken
ein schlimmes Schauspiel dar. Gleich einem Wildbret sahen wir dort
einen von den jungen Knechten im schweren Eisenbügel einer Falle
aufgehängt. Die Füße berührten kaum den Boden, und Kopf und Arme
hingen rücklings ins Kraut hinab. Wir eilten zu ihm und erkannten,
daß ihn ein Gimpelfänger gegriffen hatte — wie der Alte die
schweren Teller-Eisen nannte, die er auf Menschen-Pfaden verborgen
stellen ließ. Der scharfe Rand des Bügels hatte ihm die Brust
zerschnitten, und ein Blick genügte, um zu erfassen, daß Rettung
nicht möglich war. Doch spannten wir mit verein- ten Kräften die
Feder, um den Leichnam aus der Umklammerung zu befreien. Wie fanden
dabei, daß der Bügel nach Art der Haifisch-Kiefern mit spitzen
Zähnen aus blauem Stahl bewaffnet war, und schlos- sen, nachdem wir
den Toten auf die Heide gebettet hatten, den Rachen behutsam wieder
zu.
Es war wohl anzunehmen, daß Spürer die Falle
überwachten, und wirklich hörten wir, als wir noch schweigend um
das hingestreckte Opfer der niedern Waffe standen, ein Rauschen in
den nahen Büschen und dann ein lautes, höhnisches Gelächter in der
Nacht. Nun wurde es rege im Mooricht, wie wenn man Krähen am
Schlafplatz stört. Es ging ein Bre- chen und Schleifen durch die
Kiefernstücke und ein Rascheln entlang den dunklen Gräben, an denen
der Alte die Entenhütten hielt. Zugleich ertönte das Moor von
Pfiffen und wüsten Stimmen, als ob ein Rattenschwarm in ihm sein
Wesen trieb. Wir hörten, wie das Gesindel sich ermutigte, so wie es
im Schlamm der Gossen und der Bagnos sich erkühnt, wenn es der
Mehrzahl sicher ist. Und in der Tat schien es in großer Übermacht,
denn wir vernahmen die frechen Lieder der Schelmen-Zünfte nah und
fern. So lärm- ten dicht vor uns die von La Picousière. Sie stapf-
ten im Moor und quakten wie Wasserfrösche:
„Catherine
a le craque moisi,
Des
seins pendants,
Des
pieds de cochon,
La
faridondaine.”
Und aus dem hohen Besenginster, dem Schilficht und den
Weidenbüschen schallte ihnen Antwort zu. In diesem Trubel sahen wir
Irrlichter grünlich auf den Tümpeln tanzen, und Wasservögel
streiften in scheuem Fluge ab.
Inzwischen war auch der Haupttrupp mit der schweren
Meute aufgelaufen, und wir bemerkten, daß vor diesem Spuk den
Knechten das Zagen nahe kam. Da war es der alte Belovar, der seine
Stimme mächtig erhob:
„Drauf, Kinder, drauf! Die Lumpenwische halten nicht
Stich. Doch nehmt euch vor den Fallen gut in acht!”
Damit begann er, ohne sich umzublicken, vorzu- gehen,
indem er die Schneiden der Doppelaxt im Mondlicht blinken ließ. Da
folgten ihm auch die Knechte und brannten, auf die Fallensteller
los- zugehen. Wir drückten in kleinen Rudeln durch Rohr und Busch
und prüften, so gut es ging, den Grund. So suchten wir die Pässe
zwischen Teichen, auf deren dunklen Spiegeln die Nixen-Rosen
leuchteten, und schlichen durch dürres Schilf, von dessen schwarzen
Kolben die Wolle blätterte. Bald hörten wir die Stimmen ganz nahe
und spürten, wie das Sausen von Geschossen uns um die Schläfen
strich. Nun mußten die Hunde-Knechte die Hetzer schärfen, daß ihr
Fell sich sträubte und ihre Lichter funkelten wie Kohlenglut. Dann
wurde ihnen Lauf gegeben und freudig winselnd schossen sie wie
bleiche Pfeile durch das dunkele Gestrüpp.
Der Alte hatte zu Recht vorhergesagt, daß das Gelichter
uns nicht trotzen würde — kaum daß die Hunde angeschlagen hatten,
hörten wir Klageschreie, die sich flüchtend im Busch verloren, und
hinter ihnen das Geläut der Meute, die auf den Spuren zog. Wir
eilten im Sturmschritt nach und sahen, daß jenseits des Gestrüpps
ein kleines Torfmoor lag, auf dem der Boden eben wie eine Tenne
war. Auf diese Fläche hatte das Gesindel sich geflüchtet und
strebte im Lauf ums Leben dem nahen Hochwald zu. Ihn konnte
indessen nur gewinnen, wer von den Hetzern unbehelligt blieb. Wir
sahen viele, die von den Hun- den angefallen waren, und die sich
stellen mußten — gleich bleichen Flammen im Reiche der Verdamm- ten
umkreisten die Tiere sie und sprangen gierig an ihnen hoch. Auch
waren hier und dort die Fliehen- den zu Fall gekommen und lagen am
Boden wie gelähmt, denn knurrend hielten die Solo-Fänger sie am
Hals.
Nun koppelten die Knechte die schwere Meute los, und
heulend stürmten die Bracken in die Nacht. Wir sahen, wie sie ihre
Opfer im Ansprung fällten, dann zerrten sie die Beute, die sie sich
streitig mach- ten, am Boden hin und her. Die Knechte folgten ihnen
und teilten den Fanghieb aus. Da gab es, wie im Inferno, nicht
Barmherzigkeit. Sie beugten sich auf die Hingestreckten nieder und
warfen den Hun- den ihr Jagdrecht zu. Dann schlossen sie mit großer
Mühe die Bestien wieder an.
So standen wir auf dem Moore wie auf dem Vorhof zum
dunklen Tann. Der alte Belovar war guter Laune; er lobte Knechte
und Hunde für ihr Werk und teilte Branntwein aus. Dann drängte er
zu neuem Vorstoß, ehe der Wald durch das geflüchtete Gelichter in
Aufruhr käme, und ließ mit Beilen eine Bresche in die schwere Hecke
legen, die ihn randete. Wir waren nicht weit von jener Stelle, an
der ich mit Bruder Otho, um das rote Waldvögelein zu suchen,
eingedrungen war, und planten zunächst den Angriff auf
Klöppels-Bleek.
Bald war die Bresche breit wie ein Scheunentor. Wir
steckten Fackeln an und traten wie durch einen dunklen Rachen in
den Hochwald ein.
24.
Wie rote Säulen glänzten die Stämme
im Feuer- schein; und senkrecht stieg der Rauch der Fackeln in
feinen Fäden, die sich in großer Höhe zum Baldachin verwoben, in
die unbewegte Luft. Wir schritten in breiter Ordnung, die sich
durch die gestürzten Stämme bald drängte und bald ausein- anderzog.
Doch hielten wir uns durch die Fackeln gut in Sicht. Zur Sicherung
der Fährte hatte der Alte Säcke voll Kreide mitgenommen, aus denen
er unseren Marsch durch eine helle Spur bezeichnen ließ. So trug er
Sorge, daß uns der Ausschlupf nicht verlorenging.
Die Hunde zogen in Richtung auf Klöppels- Bleek, so wie
sie immer der Ruch von Höllen und Schinder-Welten lockt. Durch ihre
Führung ge- wannen wir schnell an Feld und kamen leise voran. Nur
hin und wieder strich aus den Wipfel-Nestern mit schwerem
Flügelschlag ein Vogel ab. Und lautlos kreisten Schwärme von
Fledermäusen im Fackel- schein.
Bald glaubte ich den Hügel an der Lichtung zu erkennen;
er glänzte im matten Widerstrahle einer Feuersglut. Wir machten
halt und hörten nun auch Stimmen herüberdringen, doch nicht so
prahlend wie vorhin im Moor. Es schien, daß dort Abteilun- gen von
Förstern die Wälder sicherten, und Belovar gedachte, mit ihnen auf
die gleiche Weise aufzu- räumen wie mit dem Gaunervolk. Er zog die
Hetzer vor und ließ sie wie zum Wettlauf in eine Linie stellen,
dann sandte er sie wie leuchtende Geschosse in die Nacht. Indes sie
hechelnd durch die Büsche fuhren, hörten wir drüben Pfiffe und dann
ein Heu- len, als ob der wilde Jäger selbst erschienen wäre, der
sie empfing. Sie waren auf die Bluthund-Meute aufgelaufen, die der
Oberförster in seinen Zwingern hielt.
Fortunio hatte mir über diese rüden Beißer und ihre Wut
und Stärke einst Dinge, die an die Fabel streiften, mitgeteilt. In
ihnen hatte der Oberförster die Cuba-Dogge fortgezüchtet, die rote
Farbe und schwarze Maske trägt. Die Spanier hatten diese schwere
Doggen vor Zeiten abgerichtet, Indianer zu zerreißen, und hatten
sie in alle Länder ausgeführt, in denen es Sklaven und
Sklaven-Halter gibt. Mit ihrer Hilfe hatte man auch die Schwarzen
von Ja- maika, die ihren Aufstand mit der Waffe bereits ge- wonnen
hatten, ins Joch zurückgeführt. Ihr An- blick wird als fürchterlich
beschrieben, denn die Empörer, die das Eisen und das Feuer
verachtet hatten, boten, kaum daß die Sklavenjäger mit den Koppeln
gelandet waren, die Unterwerfung an. Das Leittier der roten Meute
war Chiffon Rouge, dem Oberförster teuer, weil er in gerader Linie
von dem Bluthund Becerillo stammte, dessen Name mit der Eroberung
von Cuba so unheilvoll verbunden ist. Es wird berichtet, daß sein
Herr, der Hauptmann Jago de Senazda, seinen Gästen zum
Augenschmause gefangene Indianerinnen von ihm in Stücke reißen
ließ. So kehren in der menschlichen Geschichte stets die Punkte
wieder, an denen sie in reines Dämonen- Wesen abzugleiten
droht.
Bei diesen fürchterlichen Rufen erkannten wir, daß
unsere leichte Meute, noch ehe wir Hilfe schicken konnten, verloren
war. Sie mußte um so schneller vernichtet werden, als sie aus
reinem Blute stammte, das bis zum Tode kämpft, anstatt
zurückzugehn. Wir hörten die roten Koppeln, nachdem sie an-
geschlagen hatten, packen; und in dem Maße, in dem ihr Heulen
lechzend in Fell und Fleisch verstummte, erstickte winselnd der
helle Windspiel- Ruf.
Der alte Belovar, der seine edlen Tiere im Nu ge- opfert
sah, begann zu toben und zu maledeien, und durfte doch nicht wagen,
ihnen noch die Molosser nachzuwerfen, denn diese blieben jetzt
unsere stärkste Karte im Ungewissen Spiel. So rief er den Knechten
zu, sich wohl zu rüsten, und diese rieben Brust und Lefzen der
großen Tiere mit Bilsen- Branntwein ein und halsten ihnen zum
Schutz die Stachelgurte um. Die anderen steckten zum Kampf die
Fackeln an tote Äste auf.
Das war im Nu geschehen, und schon, kaum daß wir wieder
Stand gefaßt, brach wie ein Wetter die rote Meute über uns herein.
Wir hörten sie durch die dunklen Büsche brechen; dann sprangen die
Bestien in den Umkreis, auf dem der Fackelschein wie Koh-
len-Schimmer lag. Die Spitze hielt Chiffon Rouge, um dessen Hals
ein Fächer von scharfen Klingen funkelte. Er hielt den Kopf gesenkt
und ließ die Zunge geifernd am Boden wehen; die Lichter blink- ten
spähend von unten her. Von weitem sah man die gebleckten Reißer
blenden, von denen das un- tere Paar gleich Hauern die Lefzen
überstand. Das Ungeheuer sprang trotz seiner Schwere in leichten
Sätzen vor — in queren, tänzelnden Fluchten, als ob es im Übermaß
der Kraft verschmähte, uns in ge- strecktem Laufe anzugehen. Und
hinter ihm er- schien in schwarz und roter Zeichnung die Blut-
hund-Meute im Fackelschein.
Bei diesem Anblick erschollen Schreckens-Schreie, und
Rufe nach den Molossern wurden laut. Ich sah den alten Belovar voll
Sorge nach seinen Packern blicken, doch zogen die stolzen Tiere,
die Augen scharf nach vorn gerichtet und die Ohren hoch auf-
gestellt, in unerschrockener Haltung die Koppel an. Da lachte der
Alte mir zu und gab das Zeichen, und wie von einer scharf
gespannten Sehne ab- geschossen, flogen die gelben Doggen auf die
roten zu. An ihrer Spitze stürzte sich Leontodon auf Chiffon
Rouge.
Nun gab es unter den Riesenstämmen im roten Lichte ein
Heulen und Frohlocken, als ob das wilde Heer vorüberzöge, und heiße
Mordgier breitete sich aus. In dunklen Massen wälzten und zerrten
die Tiere sich am Boden, und andere, die einander hetz- ten,
umfuhren unseren Stand in weitem Kreis. Wir suchten in das
Gemetzel, dessen Tosen die Luft er- füllte, einzugreifen, doch war
es schwierig, die roten Doggen mit Stichen und Schüssen zu
erreichen, ohne auch die Molosser zu beschädigen. Nur dort, wo uns
die Jagd gleich einer Ringelbahn umkreiste, gelang es die Figuren
getrennt aufs Korn zu bringen und krumm zu machen, wie man auf
Flugwild schießt. Hier zeigte sich, daß ich mit meiner Waffe, ohne
es zu ahnen, die beste Wahl getroffen hatte, die mög- lich war. Ich
suchte abzukommen, wenn das Auge über dem Silber-Korne die schwarze
Maske sah, und war dann sicher, daß sich das Tier im Feuer
streckte, ohne noch einen Zuck zu tun.
Aber auch drüben, auf der anderen Seite, sahen wir
Schüsse blitzen und errieten, daß man dort die Molosser aus der
Hetzbahn schoß. Auf diese Weise glich das Scharmützel einem Jagen,
das sich ellipsen- förmig um zwei Feuerpunkte schloß, indes die
große Meute auf der kurzen Achse im Kampfe lag. Die Bahn erhellte
sich im Verlauf des Treffens durch Feuersäulen, denn wo die Fackeln
zu Boden fielen, da flammte lohend das dürre Buschwerk
auf.
Bald zeigte sich, daß die Molosser dem Bluthund
überlegen waren, zwar nicht an Stärke des Gebisses, wohl aber an
Schwere und Angriffskraft. Doch wa- ren die roten Doggen in der
Überzahl. Auch schien es, daß von drüben noch frische Koppeln in
das Treiben geworfen wurden, denn es fiel uns immer schwerer, den
Hunden beizustehn. Der Bluthund nämlich war sorgsam abgerichtet,
den Menschen aufzusuchen, den der Oberförster als bestes Wild
bezeichnete; und als die Anzahl der Molosser nicht mehr genügte,
lenkte die Sorge für unsere Sicherheit die Blicke vom Jagen ab.
Bald aus den dunklen Büschen, bald aus dem Qualm der Feuerbrände
schoß eins der roten Tiere auf uns zu, und Schreie kündeten es an.
Da mußten wir eilig sorgen, daß es im Ansprung auf der Strecke
blieb — doch wurde manches erst von den Spießen der Knechte auf-
gefangen, und auf manches sauste die Doppelaxt des alten Belovar
hernieder, wenn es schon lechzend auf dem Opfer lag.
Schon sahen wir die ersten bösen Risse leuchten; auch
schien es mir, als ob die Rufe der Knechte hef- tiger und
aufgeregter würden — in solchen Lagen kündet ein Unterton wie
leises Weinen, daß die Ver- zweiflung sich zu nähern droht. In
diese Rufe mischte sich das Geheul der Meuten, das Knallen der
Schüsse und das Geistern der Flammen ein. Auch hörten wir aus dem
Tannicht ein mächtiges Gelächter schallen, ein röhrendes Joho, das
uns verkündete, daß nun der Oberförster mit im Trei- ben war. In
diesem Lachen erklang die fürchterliche Jovialität, die ihm zu
eigen war; der Alte gehörte noch zu den großen Herren, die hoch
frohlocken, wenn man ihnen trotzt. Auch war der Schrecken sein
Element.
In diesem Trubel begann mir heiß zu werden, und ich
fühlte, daß die Erregung auf mich übersprang. Doch tauchte, wie
schon oft in solchen Lagen, das Bildnis meines alten Waffenmeisters
van Kerkhoven in meinem Geiste auf. Dieser, ein kleiner Flame mit
rotem Barte, der mich im Fußdienst abgerichtet hatte, pflegte oft
zu sagen, daß ein gezielter Schuß zehn andere überwiege, die man zu
hastig aus dem Laufe wirft. Auch prägte er mir ein, an jenen Punk-
ten des Gefechtes, an denen der Schrecken sich verbreiten würde,
den Zeigefinger gestreckt zu hal- ten und ruhig Luft zu schöpfen —
denn jener sei am stärksten, der gut geatmet hat.
Dieser Kerkhoven also tauchte vor mir auf— denn jede
echte Lehre ist Geistes-Sache, und die Eben- bilder der guten
Lehrer stehn uns im Drangsal bei. Und wie dereinst im Norden vor
dem Scheiben- stande, setzte ich ab, um langsam durchzuatmen, und
fühlte, wie sogleich der Blick sich klärte, und die Brust mir
freier ward.
Mißlich vor allem, als das Treffen sich zum Bösen
wandte, war, daß der Qualm uns immer mehr das Schußfeld nahm. So
wurden die Kämpfer vereinzelt, und die Dinge tauchten ins Ungewisse
ein. Auch brachen die roten Doggen aus immer kürzerer Entfernung
vor. So sah ich mehr als einmal Chif- fon Rouge an meinem Stand
vorüberwechseln, doch suchte das kluge Ungeheuer, sowie ich in
Anschlag gehen wollte, die Deckung auf. Da faßte mich die Jagdgier,
und der Eifer, die Lieblings-Dogge des Oberförsters zu erlegen,
verführte mich, ihr nach- zuspringen, als ich sie wieder im Qualm
verschwin- den sah, der wie ein breiter Bach an mir vorüber-
floß.
25.
Im dichten Rauche glaubte ich hin und wieder das Untier
schattenhaft zu sehen, doch stets zu flüchtig zum wohlgezielten
Schuß. Auch narrten mich Trugbilder in den Wirbeln, sodaß ich
endlich lauschend im Ungewissen stehen blieb. Da hörte ich ein
Knistern, und mich packte der Gedanke, daß die Bestie einen Haken
geschlagen haben könnte, um mich von hinten anzugehn. Um mich zu
sichern, kniete ich mit vorgehaltener Flinte nieder und wählte zur
Rücken-Deckung einen Dornenbusch.
Wie sich in solchen Lagen unser Auge oft an geringe
Dinge heftet, so sah ich an der Stelle, an der ich kniete, im toten
Laub ein Kräutlein blühen und erkannte in ihm das rote
Waldvögelein. Ich mußte mich also an dem Ort befinden, zu dem ich
mit Bruder Otho vorgestoßen war, und damit dicht vor der
Hügelspitze bei Köppels-Bleek. Und wirklich gelang es mir, mit
wenig Schritten die kleine Kuppe zu erreichen, die sich wie eine
Insel aus dem Rauch erhob.
Von ihrem Rücken sah ich die Rodung bei Köp- pels-Bleek
im matten Scheine leuchten, doch wurde zugleich mein Blick fern in
die Wäldertiefe auf einen Feuerpunkt gelenkt. Dort sah ich winzig,
und wie aus rotem Filigran gebildet, ein Schloß mit Zinnen und
runden Türmen in Flammen stehen; und ich entsann mich, daß auf
Fortunios Karte diese Stelle als „südliche Residenz” bezeichnet
war. Die Feuers- brunst verriet mir, daß der Angriff des Fürsten
und Braquemarts bis an die Stufen des Palastes gelangt sein mußte;
und wie immer, wenn wir die Wirkung kühner Taten sehen, hob ein
Gefühl der Freude mir die Brust. Zugleich indessen fiel mir das
triumphie- rende Gelächter des Oberförsters ein, und eilig spähte
mein Blick auf Köppels-Bleek. Dort sah ich Dinge, die mich
erblassen ließen in ihrer Schänd- lichkeit.
Die Feuer, die Köppels-Bleek erhellten, waren noch
glühend, doch wie mit Silber-Kuppen von einer weißen Aschenschicht
bedeckt. Ihr Schimmer fiel auf die Schinder-Hütte, die weit
geöffnet stand, und färbte den Schädel, der am Giebel grinste, mit
rotem Licht. Aus Spuren, die sowohl den Boden um die Feuerstätten
als auch das Innere der üblen Höhle zeichneten, und die ich nicht
schildern will, war zu erraten, daß die Lemuren hier eines ihrer
schauerlichen Feste abgehalten hatten, dessen Nach- glanz noch auf
dem Orte lag. Wir Menschen blicken mit angehaltnem Atem und wie
durch Spalten auf solchen Spuk.
Nur so viel sei verraten, daß mein Auge unter all den
alten und längst entfleischten Köpfen auch zwei neue, an Stangen
hoch aufgesteckte entdecken mußte — die Köpfe des Fürsten und
Braquemarts. Sie blickten von ihren Eisenspitzen, an denen sich
Haken krümmten, auf die Feuersgluten, die weiß verblätterten. Dem
jungen Fürsten war nun das Haar gebleicht, doch fand ich seine Züge
noch edler und von jener höchsten, sublimen Schönheit, die nur das
Leid erzeugt.
Ich fühlte bei diesem Anblick die Tränen mir in die
Augen schießen — doch jene Tränen, in wel- chen mit der Trauer uns
herrlich die Begeisterung ergreift. Auf dieser bleichen Maske, von
der die ab- geschundene Haut in Fetzen herunterhing, und die aus
der Erhöhung am Marterpfahle auf die Feuer herniederblickte,
spielte der Schatten eines Lächelns von höchster Süße und
Heiterkeit, und ich erriet, wie von dem hohen Menschen an diesem
Tage Schritt für Schritt die Schwäche abgefallen war — so wie die
Lumpen von einem König, der als Bettler verkleidet ging. Da faßte
mich ein Schauer im Innersten, denn ich begriff, daß dieser seiner
frühen Ahnen und Bezwinger von Ungeheuern würdig war; er hatte den
Drachen Furcht in seiner Brust er- legt. Da wurde mir, woran ich
oft gezweifelt hatte, gewiß: es gab noch Edle unter uns, in deren
Herzen die Kenntnis der großen Ordnung lebte und sich bestätigte.
Und wie das hohe Beispiel uns zur Ge- folgschaft führt, so schwur
ich vor diesem Haupt mir zu, in aller Zukunft lieber mit den Freien
ein- sam zu fallen, als mit den Knechten im Triumph zu
gehn.
Die Züge von Braquemart dagegen sahen ganz un- verändert
aus. Er blickte spöttisch und mit leisem Ekel von seiner Stange auf
Köppels-Bleek und mit erzwun- gener Ruhe wie jemand, der einen
starken Krampf empfindet, doch das Gesicht bewahrt. So wäre ich
kaum erstaunt gewesen, in diesem Antlitz noch das Einglas
wahrzunehmen, das er im Leben trug. Auch war sein Haar noch schwarz
und glänzend, und ich erriet, daß er zur rechten Zeit die Pille
eingenommen hatte, die jeder Mauretanier am Körper führt. Es ist
dies eine Kapsel aus buntem Glase, die man zumeist im Ringe und in
den Augenblicken der Bedrohung im Munde führt. In dieser Haltung
genügt ein Biß, die Kapsel zu zermalmen, in die ein Gift von aus-
gesuchter Wirkung eingeschlossen ist. Dies ist die Prozedur, die in
der Mauretanier-Sprache als die Berufung an die dritte Instanz
bezeichnet wird — entsprechend dem dritten Grade der Gewalt, und
sie gehört zum Bilde, das man in diesem Orden von der Würde des
Menschen hegt. Man hält die Würde durch den gefährdet, der niedere
Gewalt erduldet; und man erwartet, daß jeder Mauretanier zu jeder
Stunde zum tödlichen Appell gerüstet sei. Das also war das letzte
Abenteuer von Braquemart.
Ich sah das Bild in der Erstarrung, und ohne zu wissen,
wie lange ich vor ihm weilte — wie außerhalb der Zeit. Zugleich
verfiel ich in ein waches Träumen, in dem ich die Nähe der Gefahr
vergaß. In solchem Stande gehen wir wie schlafend durch die Bedro-
hung — zwar ohne Vorsicht, doch dem Geist der Dinge nah. So trat
ich auf die Rodung von Köppels- Bleek, und wie im Rausche schienen
die Dinge mir deutlich, doch nicht außer mir. Sie waren mir wie im
Kinderland vertraut, und rings die bleichen Schädel an den alten
Bäumen sahen mich fragend an. Auch hörte ich Geschosse auf der
Lichtung sin- gen — sowohl das schwere Schwirren der Armbrust-
Bolzen, als auch den scharfen Büchsenschuß. Sie fuhren so nah
vorüber, daß sich mir die Schläfen- Haare hoben, doch achtete ich
ihrer nur wie einer tiefen Melodie, die mich begleitete und mir das
Maß für meine Schritte gab.
So kam ich im Schein der Silbergluten bis an die
Schreckens-Stätte und bog die Stange, die das Haupt des Fürsten
trug, zu mir herab. Mit beiden Händen hob ich es von der
Eisenspitze und bettete es in die Ledertasche ein. Indem ich kniend
dieses Werk ver- richtete, spürte ich an der Schulter einen harten
Schlag. Es mußte mich eines der Geschosse getrof- fen haben, doch
fühlte ich weder Schmerzen, noch sah ich Blut an meinem Lederrock.
Nur hing der rechte Arm gelähmt herab. Wie aus dem Schlaf
erwachend, blickte ich mich um und eilte mit der hohen Trophäe in
den Wald zurück. Die Flinte hatte ich am Fundort des roten
Waldvögeleins zu- rückgelassen, auch konnte sie mir nicht mehr
dien- lich sein. So strebte ich sogleich dem Orte, an dem ich die
Kämpfenden verlassen hatte, zu.
Hier war es ganz still geworden, und auch die Fackeln
leuchteten nicht mehr. Nur wo die Büsche gelodert hatten, lag noch
ein Schimmer von roter Glut. In ihm erriet das Auge am dunklen
Boden die Leichen vom Kämpfern und erlegte Hunde; sie waren
verstümmelt und fürchterlich zerfleischt. In ihrer Mitte, am Stamme
eines alten Eichbaums, lag Belovar. Ihm war der Kopf gespalten, und
der Blutstrom hatte den weißen Bart gefärbt. Vom Blut gerötet waren
auch die Doppelaxt an seiner Seite und der breite Dolch, den seine
Rechte noch fest umschloß. Zu seinen Füßen streckte sich der treue
Leontodon, mit ganz von Schüssen und Stichen zer- fetzter Haut, und
leckte im Sterben ihm die Hand. Der Alte hatte gut gefochten, denn
um ihn lag ein Kranz von Männern und Hunden hingemäht. So hatte er
den angemessenen Tod gefunden, im vollen Trubel der Lebensjagd, wo
rote Jäger rotes Wild- bret durch Wälder hetzen, in denen Tod und
Wollust tief verflochten sind. Ich sah dem toten Freunde lange in
die Augen und legte ihm mit der Linken eine Handvoll Erde auf die
Brust. Die große Mutter, deren wilde, blutfrohe Feste er gefeiert
hatte, ist solcher Söhne stolz.
26.
Um aus dem Dunkel des großen Waldes
auf die Weidegründe zurückzufinden, brauchte ich nur der Spur zu
folgen, die wir beim Kommen gezogen hatten, und sinnend schritt ich
den weißen Pfad entlang.
Es schien mir seltsam, daß ich während des Ge- metzels
mich bei den Toten befunden hatte, und ich faßte es als ein
Sinnbild auf. Auch stand ich immer noch im Banne der Träumerei. Der
Zustand war mir nicht völlig neu; ich hatte ihn auch früher an
Abenden von Tagen erfahren, an denen der Tod mir nahe ge- wesen
war. Wir treten dann mit der Geisteskraft ein wenig aus dem Körper
aus und schreiten gleichsam als Begleiter neben unserem Ebenbilde
her. Doch hatte ich die Lösung dieser feinen Fäden noch nie so
stark empfunden wie hier im Wald. Indem ich träumend die weiße Spur
verfolgte, erblickte ich die Welt im dunklen Schimmer des
Ebenholzes, in dem sich elfen- beinerne Figürchen spiegelten. Auf
diese Weise durch- querte ich auch das Moor am Filler-Horne und
trat unweit der hohen Pappeln in die Campagna ein.
Hier sah ich mit Schrecken, daß der Himmel von
Feuersbrünsten unheilvoll erleuchtet war. Auch herrschte ein böses
Treiben auf den Weidegründen, und Schatten eilten an mir vorbei. Es
mochten Knechte, die dem Gemetzel entronnen waren, dar- unter sein;
indessen vermied ich, sie anzurufen, denn viele schienen in
trunkener Wut. Auch sah ich solche, die Feuerbrände schwangen, und
hörte die Sprache der von La Picousière. Von diesen strebten
Scharen, die mit Beute beladen waren, schon wieder den Wäl- dern
zu. Das Vorgehölz des roten Stieres war hell erleuchtet; dort
mischten sich Weiberschreie in das Gelächter eines Triumph-Gelages
ein.
Voll böser Ahnung eilte ich dem Weidehofe zu, und schon
von weitem mußte ich erkennen, daß inzwischen auch Sombor mit den
Seinen dem Wald- gelichter erlegen war. Die reiche Siedlung stand
in hellen Flammen, die schon von Haus und Stall und Scheuer den
Dachstuhl abgehoben hatten, und Feuerwürmer tanzten heulend um die
Glut. Die Plünderung war schon in vollem Gange; sie hatten bereits
die Betten aufgeschnitten und füllten sie wie Säcke mit Beute an.
Auch sah ich Gruppen, die vom Gut der Vorrats-Häuser praßten, sie
hatten von gefüllten Fässern die Deckel eingeschlagen und schöpften
mit den Hüten ihren Trunk.
Die Mörder waren im Taumel der Völlerei, und dieser
Umstand war mir günstig, denn ich wandelte, fast wie im Schlafe,
durch ihren Kreis. Vom Feuer, vom Mord und von der Trunkenheit
geblendet, be- wegten sie sich wie Tiere, die man am Grund von
trüben Tümpeln sieht. Sie streiften dicht an mir vorüber, und
einer, der einen Filz voll Branntwein schleppte, hob ihn mit beiden
Armen gegen mich empor, und trollte sich fluchend, als ich ihm den
Willkomm weigerte. So schritt ich unangefochten durch sie hindurch,
als ob mir die vis calcandi supra scorpiones zu eigen
sei.
Als ich die Trümmer des Weidehofes verlassen hatte, fiel
mir ein Umstand auf, der meinen Schrecken noch steigerte. Es schien
mir nämlich, als ob im Rük- ken die Glut der Feuersbrunst verblaßte
— doch weniger infolge der Entfernung, als vor einer neuen und
grimmigeren Röte, die sich vor mir am Firmament erhob. Auch dieser
Teil der Weidegründe war nicht ganz unbelebt. So sah ich
versprengtes Vieh und Hirten auf der Flucht, und vor allem vernahm
ich in der Ferne das Geläute der roten Meute, das sich zu nähern
schien. Daher beeilte ich meine Schritte, obwohl mein Herz zugleich
ein Bangen vor dem fürchterlichen Flammenringe spürte, dem ich ent-
gegenging. Schon sah ich dunkel die Marmor- Klippen ragen, wie
schwarze Riffe am Lava-Meer. Und während ich die Hunde im Rücken
hörte, er- klomm ich hastig die schroffe Zinne, von deren Rande
unser Auge so oft in hohem Rausche die Schönheit dieser Erde in
sich eingetrunken hatte, die ich nun im Purpur-Mantel der
Vernichtung sah. Nun war die Tiefe des Verderbens in hohen Flammen
offenbar geworden, und weithin leuchte- ten die alten und schönen
Städte am Rande der Marina im Untergange auf. Sie funkelten im
Feuer gleich einer Kette von Rubinen, und kräuselnd wuchs aus den
dunklen Tiefen der Gewässer ihr Spiegelbild empor. Es brannten auch
die Dörfer und die Weiler im weiten Lande, und aus den stol- zen
Schlössern und den Klöstern im Tale schlug hoch die Feuersbrunst
empor. Die Flammen ragten wie goldene Palmen rauchlos in die
unbewegte Luft, indes aus ihren Kronen ein Feuer-Regen fiel. Hoch
über diesem Funken-Wirbel schwebten rot an- gestrahlte
Taubenschwärme und Reiher, die aus dem Schilfe aufgestiegen waren,
in der Nacht. Sie kreisten, bis ihr Gefieder sich in Flammen
hüllte, dann sanken sie wie brennende Lampione in die Feuersbrunst
hinab.
Als ob der Raum ganz luftleer wäre, drang nicht ein Laut
herauf; das Schauspiel dehnte sich in fürchterlicher Stille aus.
Ich hörte dort unten nicht die Kinder weinen und die Mütter klagen,
auch nicht das Kampfgeschrei der Sippenbünde und das Brüllen des
Viehes, das in den Ställen stand. Von allen Schrecken der
Vernichtung stieg zu den Mar- mor-Klippen einzig der goldene
Schimmer auf. So flammen ferne Welten zur Lust der Augen in der
Schönheit des Unterganges auf.
Auch hörte ich nicht den Schrei, der meinem Mund
entstieg. Nur tief in meinem Inneren, als ob ich selbst in Flammen
stünde, hörte ich das Knistern der Feuerwelt. Und nur dies feine
Knistern konnte ich vernehmen, während die Paläste in Trümmer
fielen und aus den Hafen-Speichern die Getreide- säcke hoch in die
Lüfte stiegen, um glühend zu zer- sprühn. Auch flog, die Erde
spaltend, der große Pulverturm am Hahnentore auf. Die schwere
Glocke, die seit tausend Jahren den Belfried zierte, und deren
Klänge Unzählige im Leben und im Sterben geleitet hatten, begann
erst dunkel und dann immer heller aufzuglühen und stürzte endlich,
den Turm zer- malmend, aus ihrem Lager ab. Auch sah ich die
Giebelfirste der Säulentempel in roten Strahlen leuchten, und von
den hohen Sockeln neigten sich mit Schild und Speer die
Götterbilder nieder und sanken lautlos in die Glut.
Vor diesem Feuermeere faßte mich zum zweiten Male, und
stärker noch, die Traumes-Starre an. Und wie wir in solchem Stande
vieles zugleich durch- schauen, so hörte ich auch, wie die Meute
und hinter ihr das Waldgelichter sich unablässig näherten. Schon
hatten die Hunde fast den Klippenrand er- reicht, und ich vernahm
in Pausen den tiefen An- schlag von Chiffon Rouge, den seine Meute
heulend begleitete. Doch war ich in dieser Lage nicht fähig, nur
den Fuß zu heben, und ich fühlte, wie mir der Schrei im Munde
blieb. Erst als ich die Tiere bereits erblickte, gelang es mir,
mich zu bewegen, doch blieb der Bann bestehn. So schien es mir, als
ob ich sanft die Marmorklippen-Treppe hinunterschwebte; auch hob
ich mich in leichtem Schwünge über die Hecke, die den Garten der
Rauten-Klause friedete. Und hinter mir im dichtgedrängten Rudel
hetzte polternd die wilde Jagd den schmalen Felsenpfad
hinab.
27.
Im Sprunge war ich in dem weichen
Boden der Lilien-Beete halb zu Fall gekommen, und mit Staunen sah
ich, daß der Garten wundersam erleuch- tet war. Die Blumen und die
Büsche strahlten im blauen Glanze, als wären sie auf Porzellan
gemalt und dann durch Zauberspruch belebt.
Oben im Küchen-Vorhof standen Lampusa und Erio, in den
Anblick der Feuersbrunst vertieft. Auch Bruder Otho sah ich im
festlichen Gewande auf dem Altan der Rauten-Klause; er lauschte in
der Richtung der Felsentreppe, auf der nun wie ein Gießbach das
Waldgelichter mit den Hunden herun- terbrach. Schon huschte es an
der Hecke wie ein Rattenschwarm, und Fäuste rüttelten am Garten-
tor. Da sah ich Bruder Otho lächeln, indem er prüfend die
bergkristallene Lampe, auf der ein blaues Flämmchen tanzte, vor die
Augen hob. Er schien kaum wahrzunehmen, wie indessen unter den
Streichen der Hundehetzer die Pforte barst und wie das dunkle Rudel
frohlockend in die Lilien- Beete brach, an seiner Spitze Chiffon
Rouge, um dessen Hals die Klingen funkelten.
In dieser Not erhob ich meine Stimme, um Bruder Otho
anzurufen, den ich noch immer wie lauschend auf dem Altane stehen
sah. Doch schien er mich nicht zu hören, denn er wandte sich
unbewegten Blickes und trat mit vorgestreckter Leuchte in das
Herbarium ein. So hielt er sich als hoher Bruder — da er im
Angesichte der Vernichtung dem Werke, dem wir unser Leben gewidmet
hatten, die Weihe geben sollte, fehlte ihm das Auge für meine
körperliche Not.
So rief ich denn Lampusa an, die mit vom Feuer- schein
erhellter Miene vor dem Eingang der Felsen- küche stand, und sah
sie flüchtig, mit gekreuzten Armen, indes ein grimmes Lächeln ihren
Zahn ent- blößte, in das Gewimmel schaun. Da wußte ich, daß von
dieser kein Mitleid zu erwarten stand. So- lange ich ihren Töchtern
Kinder zeugte und mit dem Schwertarm die Feinde schlug, war ich
will- kommen; doch war ihr jeder Sieger als Eidam gut, so wie sie
jeden in der Schwäche verachtete.
Da, als schon Chiffon Rouge im Ansprung stand, war es
mein Erio, der mir zu Hilfe kam. Der Knabe hatte das
Silber-Kesselchen ergriffen, das von der Schlangenspende noch im
Vorhof stand. Er schlug es, nicht wie sonst mit seinem
Birnholz-Löffel, son- dern mit einer erzenen Gabel an. So rief er
aus dem Becken einen Ton hervor, der einem Lachen glich und Mensch
und Tier erstarren ließ. Ich spürte, wie unter dem Fuß der
Marmor-Klippen die Klüfte bebten, dann erfüllte ein feines Pfeifen
hundertfach die Luft. Im blauen Glänze des Gartens brach ein helles
Leuchten auf, und blitzend schossen die Lan- zen-Ottern aus ihren
Schrunden vor. Sie glitten durch die Beete wie blanke
Peitschen-Schnüre, un- ter deren Schwunge ein Wirbel von
Blütenblättern sich erhob. Dann stellten sie, am Boden einen gol-
denen Kreis beschreibend, sich langsam bis zur Manneshöhe auf. So
wiegten sie das Haupt in schweren Pendelschlägen, und ihre zum
Angriff vor- gestellten Fänge blinkten tödlich wie Sonden aus
gekrümmtem Glase auf. Zu diesem Tanze durch- schnitt ein leises
Zischen, als ob sich Stahl in Wasser kühlte, die Luft; auch stieg
ein feines, hörnernes Klappern, wie von den Kastagnetten maurischer
Tänzerinnen, von der Fassung der Beete auf.
In diesem Reigen stand das Waldgelichter vor Schreck
versteinert, und die Augen quollen ihm aus den Höhlen vor. Am
höchsten war die Greifin auf- gerichtet; sie wiegte sich mit
lichtem Schilde vor Chiffon Rouge und kreiste ihn wie spielend mit
den Figuren ihrer Serpentinen ein. Das Untier folgte den Schwüngen
ihrer tänzerischen Windung bebend und mit gesträubtem Fell — dann
schien die Greifin es ganz leicht am Ohr zu streifen, und vom
Todes- krampf geschüttelt, die Zunge sich zerbeißend, wälzte der
Bluthund sich im Lilienflor.
Das war das Zeichen für die Schar der Tänzerin- nen, die
sich mit goldenen Ringen auf ihre Beute warf, so dicht verflochten,
daß nur ein Schuppen- leib die Männer und die Hunde zu umwinden
schien. Auch schien es nur ein Todesschrei, der diesem prallen Netz
entstieg, und den die schnürend feine Kraft des Giftes sogleich
erdrosselte. Dann löste sich die blinkende Verflechtung, und die
Schlangen zo- gen in ruhiger Windung wieder in ihre Klüfte
ein.
Inmitten der Beete, die nun dunkle und vom Gift geblähte
Kadaver deckten, hob ich den Blick zu Erio. Ich sah den Knaben mit
Lampusa, die ihn stolz und zärtlich führte, in die Küche treten,
und lächelnd winkte er zurück, indes das Felsentor sich knarrend
hinter ihnen schloß. Da spürte ich, daß das Blut mir leichter in
den Adern kreiste, und daß der Bann, der mich ergriffen hatte,
gewichen war. Auch konnte ich die Rechte wieder frei bewegen, und
eilig trat ich, da mich um Bruder Otho bangte, in die Rauten-Klause
ein.
28.
Als ich die Bibliothek
durchschritt, fand ich die Bücher und die Pergamente in strenger
Ord- nung, wie man sie schafft, wenn man auf eine lange Reise geht.
Die runde Tafel in der Halle trug die Laren-Bilder — sie waren mit
Blumen, Wein und Opferspeise wohl versehen. Auch dieser Raum war
festlich hergerichtet und strahlend von den hohen Kerzen des
Ritters Deodat erhellt. Ich fühlte mich in ihm so heimisch, als ich
ihn feierlich gerüstet fand. Indem ich so sein Werk betrachtete,
trat Bruder Otho oben aus dem Herbarium, dessen Türe er weit
geöffnet ließ. Wir fielen uns in die Arme und teilten uns, wie
einstmals in den Pausen des Gefechtes, un- sere Abenteuer mit. Als
ich erzählte, wie ich den jungen Fürsten angetroffen hatte, und
meine Beute aus der Ledertasche zog, sah ich Bruder Othos Ant- litz
erstarren — dann, mit den Tränen, zog ein wun- dersames Leuchten in
ihm auf. Wir wuschen mit dem Wein, der bei den Opferspeisen stand,
das Haupt vom Blut und Todesschweiße rein, dann betteten wir es in
eine der großen Duft-Amphoren, in der die Blätter von weißen Lilien
und Schiras- Rosen welkten, ein.
Nun füllte Bruder Otho zwei Pokale mit dem alten Weine,
die wir, nachdem wir die Libation vergossen hatten, leerten und
dann am Sockel des Kamins zerschmetterten. So feierten wir Abschied
von der Rauten-Klause, und mit Trauer verließen wir das Haus, das
unserem Geistesleben und unserer Bruder- schaft zum warmen Kleide
geworden war. Doch müssen wir ja von jeder Stätte weichen, die uns
auf Erden Herberge gab.
So eilten wir, unser Gut verlassend, durch die
Gartenpforte dem Hafen zu. Ich hielt in beiden Ar- men die Amphore,
und Bruder Otho hatte den Spiegel und die Leuchte an seiner Brust
verwahrt. Als wir die Biegung erreichten, an welcher der Pfad sich
in den Hügeln zum Kloster der Falcifera ver- liert, verweilten wir
noch einmal und blickten auf unser Haus zurück. Wir sahen es im
Schatten der Marmor-Klippen liegen, mit seinen weißen Mauern und
dem breiten Schieferdache, auf dem sich matt der Schimmer der
fernen Feuer spiegelte. Gleich dunklen Bändern zogen sich um die
hellen Wände die Terrasse und der Altan. So baut man in den schönen
Tälern, in denen unser Volk am Südhang wohnt.
Indem wir so die Rauten-Klause betrachteten, er- hellten
sich ihre Fenster, und aus dem Giebel fuhr eine Flamme bis zur Höhe
des Marmorklippen- Randes auf. Sie glich an Farbe dem Flämmchen auf
der Leuchte Nigromontans — tief dunkelblau —, und ihre Krone war
gleich dem Kelche der Enzian-Blüte ausgezackt. So sahen wir die
Ernte vieler Arbeits-Jahre den Elementen zum Raube fallen, und mit
dem Hause sank unser Werk in Staub. Doch dürfen wir auf dieser Erde
nicht auf Vollendung rechnen, und glücklich ist der zu preisen,
dessen Wille nicht allzu schmerzhaft in seinem Streben lebt. Es
wird kein Haus gebaut, kein Plan geschaffen, in welchem nicht der
Unter- gang als Grundstein steht, und nicht in unseren Werken ruht,
was unvergänglich in uns lebt. Dies leuchtete uns in der Flamme
ein, doch lag in ihrem Glänze auch Heiterkeit. So eilten wir mit
frischen Kräften den Pfad entlang. Noch war es dunkel, doch aus den
Rebenhügeln und Uferwiesen stieg schon die Kühlung des Morgens auf.
Auch schien es dem Gemüt, als ob die Feuer am Firmament ein wenig
von ihrer unheilvollen Kraft verlören; es mischte sich Morgenröte
ein.
Am Bergeshange sahen wir auch das Kloster der Maria
Lunaris in Gluten eingehüllt. Die Flammen schlugen am Turm empor,
sodaß das goldene Füll- horn glühte, das auf dem Knauf als
Wetterfahne schwang. Das hohe Kirchenfenster an der Seite des
Bild-Altares war schon zersprungen, und wir sahen im leeren Rahmen
den Pater Lampros stehn. In seinem Rücken glomm es wie aus dem
Feuer-Ofen, und wir eilten, um ihn zu rufen, bis an den Kloster-
graben vor. Er stand im Prunk-Ornate, und auf sei- nem Antlitz
sahen wir ein unbekanntes Lächeln leuchten, als ob die Starre, die
uns sonst an ihm er- schreckte, im Feuer dahingeschmolzen sei. Er
schien zu lauschen, und doch hörte er unsere Rufe nicht. Da hob ich
das Haupt des Fürsten aus der Duft- Amphore und streckte es mit der
Rechten hoch em- por. Bei seinem Anblick faßte uns ein Schauer,
denn die Feuchte des Weines hatte die Rosenblätter an- gezogen,
sodaß es nun im dunklen Purpur-Prunke aufzuleuchten
schien.
Doch war es noch ein anderes Bild, das uns, als ich das
Haupt erhob, ergriff — wir sahen im grünen Glänze die Rosette
strahlen, die in noch unversehr- ter Rundung den Fensterbogen
schloß, und ihre Bildung war uns wundersam vertraut. Uns schien,
als hätte uns ihr Vorbild in jenem Wegerich ge- leuchtet, den Pater
Lampros uns einst im Kloster- garten wies — nun offenbarte sich die
verborgene Beziehung dieser Schau.
Der Pater wandte, als ich ihm das Haupt ent-
gegenstreckte, den Blick zu uns, und langsam, halb grüßend und halb
deutend, wie bei der Consecratio, hob er die Hand, an welcher der
große Karneol im Feuer glomm. Als hätte er mit dieser Geste ein
Zei- chen von schrecklicher Gewalt gegeben, sahen wir die Rosette
in goldenen Funken auseinander- sprühen, und mit dem Bogen stürzten
wie ein Ge- birge Turm und Füllhorn auf ihn herab.
29.
Das Hahnentor war eingefallen; wir bahnten uns über seine
Trümmer einen Weg. Die Straßen waren von Mauer-Resten und
Balkenwerk bedeckt; und rings im Brandschutt lagen Erschlagene ver-
streut. Wir sahen finstere Bilder im kalten Rauch, und dennoch
lebte eine neue Zuversicht in uns. So bringt der Morgen Rat; und
schon die Wiederkehr des Lichtes nach dieser langen Nacht erschien
uns wunderbar.
In diesem Trümmerfelde erschienen die alten Händel so
sinnlos wie Erinnerungen an einen schlechten Rausch. Nichts als das
Unglück war zu- rückgeblieben, und die Kämpfer hatten Fahnen und
Zeichen abgelegt. Noch sahen wir plünderndes Ge- lichter in den
Seitengassen, doch zogen nun die Söldner in Doppel-Posten auf. Am
Zwinger trafen wir Biedenhorn, der sie verteilte und sich ein
großes Ansehn gab. Er stand in goldenem Küraß auf dem Platze, doch
ohne Helm, und rühmte sich, schon Tannen-Bäume aufgeputzt zu haben
— das heißt, er hatte die Erstbesten ergreifen lassen und in die
Ulmen am Walle aufgehängt. Nach martialischer Gewohnheit hatte er
sich während der Tumulte gut verschanzt gehalten — nun, da die
ganze Stadt in Scherben lag, trat er hervor und spielte den Wun-
dermann. Im übrigen war er gut informiert, denn auf dem runden Turm
des Zwingers wehte schon die Standarte des Oberförsters, der rote
Eberkopf.
Es schien, daß Biedenhorn schon scharf getrunken hatte;
wir trafen ihn in der grimmig guten Laune, die ihn zum Liebling
seiner Söldner machte, an. Ganz unverhohlen lebte in ihm das
Ergötzen, daß es den Schreibern, Versemachern und Philosophen der
Marina nun ans Leder ging. Auch war ihm, wie der alte Bildungsduft,
der Wein und seine Geistig- keit verhaßt. Er liebte die schweren
Biere, die man in Britannien und den Niederlanden braut, und sah
das Volk an der Marina als Schneckenfresser an. So war er ein
wilder Stößer und Zecher und glaubte felsenfest, daß jeder Zweifel
auf dieser Erde durch rechtes Einhaun zu entscheiden sei. Auf diese
Weise besaß er Ähnlichkeit mit Braquemart — doch war er insofern
viel gesünder, als er die Theorie ver- achtete. Wir schätzten ihn
ob seiner Unbefangen- heit und seines guten Appetites, denn wenn er
auch an der Marina fehl am Platze war, so darf man doch den Bock
nicht tadeln, den man zum Gärtner macht.
Zum Glück gehörte Biedenhorn zu denen, wel- chen der
Frühtrunk die Erinnerung belebt. So brauchten wir ihn nicht an jene
Stunde vor den Pässen zu gemahnen, in der er mit seinen Kürassie-
ren ins Gedränge geraten war. Dort war er zu Fall gekommen, und wir
sahen die freien Bauern von Alta Plana schon beschäftigt, ihm den
Panzer auf- zumeißeln — so wie man beim Prunkmahl einem Hummer, den
die Kunst des Koches vergoldete, die Schale bricht. Schon kitzelte
der Fugenstecher ihn am Halse, da schafften wir ihm und seinen
Söld- nern mit den Purpur-Reitern wieder Luft. Dies war die
Diversion, bei welcher der junge Ansgar uns in die Hand gefallen
war. Auch kannte uns Bieden- horn aus unseren Mauretanier-Zeiten,
und so kam es, daß er sich, als wir ihn um ein Schiff ersuchten,
nicht lumpen ließ. Gilt doch die Stunde der Kata- strophe als die
Stunde der Mauretanier. Er stellte uns die Brigantine zur
Verfügung, die er im Hafen hielt, und teilte uns zum Geleite eine
Gruppe von Söldnern zu.
Die Straßen, die zum Hafen führten, waren von
Flüchtlingen erfüllt. Doch schien es, daß nicht alle die Stadt
verlassen wollten, denn wir sahen aus den Ruinen der Tempel bereits
den Rauch von Opfern steigen, und aus den Trümmern der Kirchen
hörten wir Gesang. In der Kapelle der Sagrada Familia dicht am
Hafen war die Orgel verschont geblieben, und mächtig führten ihre
Klänge das Lied, das die Gemeinde sang:
„Fürsten sind Menschen, vom Weib geboren,
Und kehren um zu ihrem Staub;
Ihre Anschläge sind auch verloren,
Wenn nun das Grab nimmt seinen Raub.
Weil denn kein Mensch uns helfen kann,
Rufen wir Gott um Hülfe an.”
Am Hafen drängte sich das Volk, das mit den Resten seiner Habe beladen war. Doch waren die
Schiffe nach Burgund und Alta Plana schon über- füllt, und
jeden der Segler, den die Knechte mit ihren Stangen vom Kai
abstießen, verfolgte ein lau- tes Wehgeschrei. Inmitten dieses
Elends schaukelte, wie unter Tabu, die Brigantine Biedenhorns an
der Dückdalbe, die schwarz-rot-schwarz gezeichnet war. Sie glänzte
in dunkelblauem Lack und kupfernen Beschlägen, und als ich Order
zur Abfahrt gab, zo- gen die Knechte die Persenning von den roten
Leder- polstern der Ruhebänke fort. Indes die Söldner mit ihren
Piken die Menge in Achtung hielten, gelang es uns, noch Frauen und
Kinder aufzunehmen, bis unser Deck kaum eine Handbreit über Wasser
schwamm. Dann ruderten die Knechte uns aus dem Hafenbecken, das in
die Mauer eingeschlossen war, und draußen erfaßte uns sogleich ein
frischer Wind und trieb uns auf die Berge von Alta Plana
zu.
Noch lag das Wasser in der Morgenkühle, und die Wirbel
zogen auf seinem Spiegel Schlieren wie auf grünem Glas. Doch schob
sich schon die Sonne über die Zacken der Schnee-Gebirge vor, und
blendend tauchten die Marmor-Klippen aus dem Dunste der Niederungen
auf. Wir blickten auf sie zurück und ließen die Hände im Wasser
streifen, das sich im Sonnenlichte ins Blaue wandte, als drängen
Schatten in seine Tiefe ein.
Auch hielten wir die Amphore in guter Hut. Noch kannten
wir nicht das Schicksal dieses Hauptes, das wir mit uns führten,
und das wir den Christen überlieferten, als sie den großen Dom an
der Ma- rina aus seinen Trümmern errichteten. Sie fügten es in
seinem Grundstein ein.
Doch vorher, im Pallas der Stammburg der Sun- myras,
sprach Bruder Otho es im Eburnum an.
30.
Die Männer von Alta Plana waren an den Marken aufgezogen, als
die Feuersbrunst den Himmel zeichnete. So kam es, daß wir den
jungen Ansgar schon vor der Landung am Ufer sahen; und freudig
winkte er uns zu.
Wir rasteten ein wenig bei seinen Leuten, während er
Boten zu seinem Vater sandte, dann stiegen wir langsam zum Talhof
auf. Als wir die Pässe erreich- ten, verweilten wir an dem großen
Heroon, und auch an manchem der kleinen Male, die dort auf dem
Gefilde errichtet sind. Wir kamen dabei auch an die Enge, an der
wir Biedenhorn mit seinen Söldnern herausgehauen hatten — an dieser
Stelle reichte Ansgar uns von neuem die Hand und sagte, alles, was
teilbar sei von seiner Habe, gehöre von nun an uns zur Hälfte
mit.
Am Mittag erblickten wir den Hof im alten Eichen- haine,
der ihn umschloß. Als wir ihn sahen, wurde uns heimatlich zu Mute,
denn wie bei uns im Nor- den fanden wir unter seinem tiefen Dache
die Scheuern, Ställe und die Menschenwohnung, alles in einem, wohl
geschirmt. Auch gleißte vom breiten Giebel der Pferdekopf. Das Tor
war weit geöffnet, und die Tenne blinkte im Sonnenschein. Über die
Raufen schaute das Vieh in sie hinein, das heute an den Hörnern den
goldenen Zierat trug. Die große Halle war feierlich gerichtet, und
aus dem Kreise der Männer und der Frauen, die vor ihr harrten, trat
zum Empfang der alte Ansgar auf uns zu.
Da schritten wir durch die weit offenen Tore wie in den
Frieden des Vaterhauses ein.
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