Am frühen Morgen hatte sie die Durance erreicht, den unsichtbaren Fluss. Das Wasser hatte sich weitgehend zurückgezogen. Es war in der Sommerhitze verdunstet. Was vom Fluss übrig blieb, das strömte unter der Erde, von wo aus es die Quellen versorgte. Der Schiffsverkehr war beinahe eingestellt, die Treidler arbeitslos bis zu den Herbstgewittern, die das Becken wieder auffüllen würden. Friedlich und matt lagen die Flussarme da, die noch im Frühjahr Häuser, Wagen und eine ganze Schafherde verschluckt hatten. Eine Anreihung von harmlosen Pfützen in einer Wüstenei aus schlammgrauen, rundgewaschenen Steinen, dazwischen Inseln von schnell aufgeschossenen Kräutern, Gräsern, Ziest und Blutweiderich. An den Ufern streckte der wilde Fenchel verdorrte Stängel in die Luft mit Kronen von gelblich braunen Samen.
Ein Ziegenhirte war schon da und ließ seine Schützlinge saufen.
Danielle folgte dem Trampelpfad und den Karrenspuren zur Furt. Sie zog ihre Sandalen aus, gürtete den Rock hoch und watete hindurch.
Am anderen Ufer warf sie einen Blick zurück. Pertuis lag auf seinem Hügel mit seinen dicken Mauern und seinen Türmen und warf ihr einen letzten, hochmütigen Blick zu. Das schmerzhafte Ziehen in der Brust, das dumpfe Bohren und Pochen drängte sie zurück, darin hatte sie ja Übung. Die grau ansteigende Felslandschaft der Haute Provence ließ sie hinter sich. Vor ihr lag eine Weite, die den Schmerz besänftigte, ein Meer von Zypressen wogte sanft in einer Brise. Das ockerfarbene Gras war mit Schatten getupft und gestreift. Sie sog tief die harzige Luft ein, schulterte ihren Knappsack und schritt aus.
‹Ich habe noch weniger als das letzte Mal›, dachte sie. ‹Keinen Mantel, keine Decke, nichts zum Feuermachen, keine festen Schuhe, keinen einzigen Sou.› Aber sie fühlte sich leicht dabei. ‹Ja, diesmal ist es wirklich ein neuer Anfang. Letztes Mal dachte ich, es wäre einer, aber es war keiner. Ich hatte noch Stolz und noch immer Wünsche und Träume. Ich war noch voller Bitterkeit gegen diejenigen, die mir unrecht getan hatten. Aber jetzt bin ich ganz und gar reingewaschen. Ich habe meinen Feinden vergeben. Ich will nichts und wünsche nichts mehr. Von der Natur lasse ich mich nun treiben, wohin sie will. Das muss der Zweite Zustand der Seele sein, von der Marguerite Porete geschrieben hat: Die Verachtung von Reichtum, Lustbarkeit und Ehre. Nicht mehr trachten nach Gehorsam und Gefallen. Von nun an will ich nur noch Werke der Liebe vollbringen um der Liebe willen und mich selbst ganz loslassen.›
Da war eine lästige kleine Stimme in ihrem Kopf, die fragte: Aber genügt dir das, diese allgemeine Liebe, so mild und ohne Gestalt? Was ist denn die Liebe zu Gott? Hat er Arme, die dich umfangen können? Spricht er zu dir, wenn du einsam bist? Ist das nicht eine zu große Liebe, zu fern, fremd und unfassbar?
‹Schweig still, Verführer!›, befahl Danielle, und um nicht weiter nachzudenken, schritt sie kräftig aus.
Die Landstraße nach Aix verließ sie schon bei Meyrargues und hielt sich lieber an die Hirtenpfade, mit Steinhügeln markiert und mit braunen Bohnen bestreut. Ein kleines weißes Büschel Wolle hing an einem Dornstrauch, ein Schaf war hier vorbeigekommen. Müßig rebbelte sie die Erdkrümel und Rindenstückchen heraus und verzwirbelte die Haare zu einem dünnen Faden. Sie hatte es nicht eilig. Als sie am ersten Abend auf eine kleine Grotte stieß, an einem namenlosen Bach, da machte sie sich ein Lager aus Zweigen und Gräsern und beschloss zu bleiben. Am zweiten Tage saß sie auf einem Hügel oberhalb der Landstraße und beobachtete das Treiben. Am Nachmittag sah sie einen einzelnen Reiter in großer Hast vom Fluss nach Aix zustreben. Er hielt nicht einmal an, um einem Bauern zu helfen, dessen Karren umgefallen war. Stattdessen gab er seinem Pferd die Fersen und trieb es mitten durch die heruntergefallenen Waren hindurch. ‹Ach, keiner hat Zeit für seinen Mitmenschen›, dachte Danielle milde. ‹Von all dieser Hetze und den nichtigen irdischen Zielen habe ich mich nun endgültig losgesagt.› Damit verließ sie den Hügel und vergrub sich tiefer in der Einsamkeit.
Sie saß vor ihrer Grotte und dachte nach. Sie dachte an Laura, arme Laura. Doch da war nichts, was sie tun oder was sie ändern konnte. Sie dachte darüber nach, was sie mit ihrem Leben anfangen könnte. Aber es drängte sie zu nichts mehr. Die Zikaden lärmten. Von Ferne hörte sie die Glocken der Ziegenherden und die Rufe und Pfiffe der Schäfer. Aber sie suchte sie nicht auf. Noch reichte das Brot, das sie aus der Küche genommen hatte. Sie teilte es sich sorgfältig ein und kaute jeden Bissen sehr langsam und lange, streckte die Mahlzeiten mit wilden Pastinaken, die sie ausgrub, mit wildem Knoblauch, Brombeeren und Fenchelsamen. Sie trank direkt aus dem Bach. Auf den Knien schöpfte sie das klare, kühle Wasser mit den Händen. Es schmeckte besser als das aus dem Brunnen des Engels, frischer, süßer, so wie die Luft um sie her, eine unschuldige Luft, die nicht von Herdfeuern verschmutzt und von den Gerüchen und Lungen unzähliger Menschen und Tiere verbraucht war. Das Alleinsein tat ihr gut nach all dem Übermaß an Nähe, dem Streit und den Ansprüchen, die auf sie eingeprasselt waren.
Als ihr Brot aufgegessen war, erforschte sie ihre Umgebung. Nach einer Weile des Umherstreifens stieß sie auf ein kleines Gehöft und Felder, in denen eine Frau Zwiebeln zog. Ihr Mann drosch Korn auf einem flachen Stück Erde hinter dem Haus. Dort hatte er das wenige, das sie geerntet hatten, auf dem harten Boden ausgestreut und ließ einen angepflockten Esel darüberlaufen, immer im Kreis.
Die Frau hatte sie wahrgenommen und schaute von ihrer Arbeit hoch. Ihre Hände waren aschfarben von der Erde. Ihr Kleid war aschgrau, die Füße waren nackt und aschgrau bis auf den dunkleren Schlamm zwischen ihren Zehen. Ihr Gesicht mochte von der Sonne gebräunt sein, wirkte aber ebenso grau wie der Rest von ihr. So hager war sie, zäh und knollig wie ein alter Weinstock. Sie stand auf und wischte sich die Hände am Rock, stand da und sah Danielle bloß an.
«Grüß dich», sagte Danielle. Ihre Stimme klang ein wenig eingerostet.
Die Frau nickte mit unbewegtem Gesicht, ging fort und holte ihren Mann, der ihr in allem glich, nur dass er einen Kopf größer war als sie, einen Wust schwarzer Haare auf dem Kopf hatte. Sein Oberkörper war entblößt, knotig von Muskeln und glänzend von Schweiß. Als sie zu sprechen begannen, war es in einer Mundart so schwer wie dicke Mayonnaise. Danielle verstand nur jedes dritte Wort.
«Que es aco?», fragte er seine Frau. (Was ist das?)
«Um Papelarda», antwortete sie. (Eine Begine.)
«Bonjour! Guten Tag», sagt Danielle.
«Bonjorn Madamo», antworteten beide.
Dann standen sie wieder schweigend da und warteten.
«Ich bin hungrig. Könnt ihr vielleicht ein Stück Brot erübrigen, ihr guten Leute?»
Sie hatten sie nicht verstanden. Danielle machte das universale Zeichen der Hand, die etwas zum Munde führt.
«Tè!» Die Frau lächelte zahnlos. «Vouei.» Sie winkte Danielle, ihr zu folgen, und ging zum Haus. Ihr Ehemann sah zum Himmel, schätzte rasch den Sonnenstand ab und beschloss dann, dass es auch für ihn Zeit zum Essen war. Danielle trat in einen düsteren Raum ohne Fenster. Nur durch die Tür fiel etwas Licht. Als sich ihre Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, erkannte sie eine kalte Feuerstelle, eine Bank, die nachts wohl als Bett diente, zwei Schemel, eine rohgezimmerte Truhe, einen Tisch. Auf der Erde krochen zwei Kinder herum, eines etwa zwei, eines drei oder vier Jahre alt. Die Frau holte Fladenbrot aus einem Schrank, der in die Wand eingelassen war, und eine Schüssel mit Olivenbrei, stellte beides auf den Tisch und einen Krug Wasser dazu.
«Aco, mangar! Vai!» Sie brach zwei Stücke Brot ab, tauchte sie in die schwarze Paste und gab sie den beiden Kindern. Der Mann stieß Danielle mit dem Ellbogen in die Seite und wies auf das Brot. Sie tat es der Frau nach, brach ein Stück ab und nahm damit etwas Olivenpaste auf. Die Paste war fett und stückig, salzig und sehr wohlschmeckend nach den Tagen karger Kost. Sie aßen schweigend. Wer Durst hatte, wischte sich den Mund und trank aus dem Krug.
Das ältere Kind fing an zu husten. Danielle wies und schaute fragend. Es habe einen lange anhaltenden trockenen Husten, erklärte die Frau, von vielen Gesten begleitet. Danielle hockte sich auf die gestampfte Erde zu dem Kind, lockte es zu sich und horchte seine Brust und seinen Rücken ab. Sie stand wieder auf, fing an zu erklären, brach aber bald ab. Stattdessen ging sie in den Garten, schaute sich um und brach einen Stängel Wermut ab. Den trug sie wieder hinein und zeigte, dass man dieses Kraut in Olivenöl einweichen solle, sieben Tage, dann damit Brust und Rücken des Kindes einreiben. Und man solle ihm gekochte Zwiebeln zu essen geben. Die Frau bedankte sich überschwänglich. ‹Vor allem aber braucht es mehr zu essen und wenigstens eine warme Mahlzeit am Tage›, dachte Danielle bei sich, aber daran konnte man nichts ändern. Nach dem Essen sprach Danielle ein Dankgebet. Der Mann, der die Verhandlungen um das Kind interessiert beobachtet hatte, stand auf und bat sie, ihm zu folgen. Sie gingen hinter die Hütte, wo der Esel an seinem Pflock stand. Soweit der Strick reichte, hatte er alle Kräuter abgefressen. Nun stand er in der Nachmittagssonne, ließ den schweren Kopf hängen und schnaufte in die Spreu unter seinen Füßen. Mit weichen Lippen untersuchte er den Boden auf Körner, die liegen geblieben waren.
«Was ist mit ihm?», fragte Danielle. Das Tier sah dürr und abgearbeitet aus, aber das war nicht ungewöhnlich.
Der Mann gab dem Esel einen Klaps auf das breite Hinterteil. Er lief ein paar Schritte und blieb dann wieder stehen. Jetzt erkannte Danielle, dass er mit einem Hinterbein hinkte. Sie untersuchte den Huf auf einen eingetretenen Kiesel, der Mann schüttelte den Kopf – das hatte er selber schon getan. Sie befühlte den Knöchel des Esels. Da war eine leichte Schwellung, verstaucht, aber nicht gebrochen. Sie sah sich wieder im Hof um und entdeckte ein Büschel Schafgarbe, das an der Stallmauer wucherte.
Von Pantomime begleitet, erklärte sie: «Mache dem Tier damit Umschläge. Du musst die Pflanze kochen und in ein Tuch einwickeln und es dann um den verletzten Knöchel binden, so – verstehst du?»
Bis dahin hatte der Bauer kaum ein Wort gesagt und keine Miene verzogen. Doch nun lächelte er breit und nickte eifrig. Mit einem Schwall von Worten bedankte er sich und machte sich sofort daran, die Kräuter zu pflücken und sein Tier zu versorgen. Danielle betrachtete ihn, wie er da bei seinem Esel hockte, den staubigen Haarschopf, den von der Sonne gegerbten Rücken, an dem die Rippen hervorstanden, die harten Hände, wie sie über das Bein des Esels strichen. Er hatte ihre Gegenwart bereits vergessen.
‹Der Esel ist ihm wichtiger als sein Kind›, dachte Danielle. ‹Nun ja, kein Wunder: Ohne sein Arbeitstier wird es ihm schwerfallen, seine Familie zu ernähren. Einen Esel zu besitzen, das macht den Unterschied zwischen einem hungrigen und einem satten Bauern. Und wenn er ihn hart arbeiten lässt, so wohl nicht härter, als er selber schuftet.›
Sie überließ ihn seiner Aufgabe und ging wieder um die Hütte herum, um sich von seiner Frau zu verabschieden. Sie hob ihren Tragsack vom gestampften Lehmboden auf und wollte schon gehen, da hielt die Frau sie am Arm fest. Sie griff nach dem Tragsack, steckte ein Fladenbrot hinein, lächelte zahnlos und wollte etwas dafür, aber was? «Ich habe kein Geld», sagte Danielle, aber das war es nicht.
Die Bäuerin zog Danielles rechte Hand an sich und legte sie sich auf die Stirn.
«Ich soll dich segnen? Aber ich bin doch kein Priester.»
Schließlich und mit reichlich schlechtem Gewissen ließ Danielle sich darauf ein. Sie machte das Kreuzzeichen auf den Stirnen der Frau und ihrer Kinder und murmelte ein Gebet über den Acker. Sie segnete sogar den Esel. Das war ihnen Bezahlung genug.
Nach drei Tagen hatte Danielle genug vom Einsiedlerleben in der Grotte. In gemächlichem Tempo wanderte sie weiter auf den Hirtenpfaden von einem Gehöft zum anderen. Mit Erstaunen stellte sie fest, dass sie kaum mehr zu betteln brauchte. Wohin sie auch kam, man gab ihr zu essen und Unterkunft und behandelte sie mit Respekt. Nur ein- oder zweimal stieß sie auf finstere Mienen und wurde davongejagt. Aber ja: Sie trug ja immer noch die Gewänder einer Begine! So war aus ihr also eine Bettelbegine geworden. Sie fühlte sich nicht recht wohl dabei, weil sie die Gaben unter falschen Voraussetzungen bekam. Aber sie nahm die Geschenke an.
Je weiter sie gen Aix kam, desto näher beieinander lagen die Höfe, desto mehr Land war unter dem Pflug. Zypressen und Sträucher waren Olivenbäumen und Obstplantagen gewichen. Jedes Joch Ackerfläche war hier unter den Pflug genommen. Nur noch selten sah sie die kleinen Schäferhütten, dafür trotzige Familienburgen, wuchernde Gebilde mit winzigen Fenstern und dickem Mauerwerk aus Feldstein. Man sah ihnen an, dass sie nach Art der Wespennester gewachsen waren: Jede neue Generation hatte ihre Behausung an die erste, an den inneren Kern angebaut, Ställe und Scheuern wurden angefügt, so wie es gerade notwendig erschien. Aix tauchte auf, und sie musste sich entscheiden, ob sie in Marseille oder lieber gleich in Toulon ihr Glück versuchen sollte. Hinein nach Aix wollte sie nicht, obwohl es den Bettlern dort wahrscheinlich gutging, so voller fetter Klöster und reicher Kaufleute, wie es war. Doch von Menschenmengen hatte sie vorerst genug.
Also setzte sie sich ins Gras und betrachtete die Montagne Aventure, deren langgezogene nördliche Flanke sich ihr in den Weg gelegt hatte. Wie die gebleichten Rückenknochen eines gewaltigen Urtieres lag der Berg inmitten der Eichenwälder. Weiße Rippen hoben sich über blaugrauen Abgründen und Falten. Sie würde sich zwischen Aix und dem Berg durchschlagen, dort bei den Mühlen, am Haupt des schlafenden Tieres vorbei und dann weiter nach Süden gehen, nach Toulon.
Die Landschaft wurde merklich trockener, als sie das fruchtbare Tal der Durance verließ. Ein warmer Wind von Süden kam auf und ließ die trockenen gelben Blätter der Mandelbäume rascheln. Die Luft roch nach Kalk.
Zur selben Zeit, als Danielle der Durance den Rücken kehrte und in die fleckigen Schatten der Zypressenwälder eintauchte, da wurden in Pertuis die Wachen vor dem Beginenhof abgezogen.
«Das Kind von Mestre Marius, es hat sich angefunden», hieß es.
«Wie? Angefunden? Ein Kind verlegt man doch nicht wie einen linken Socken.»
«Belota sagt, es hat ein Missverständnis gegeben, und man hat das Kind gleich nach der Geburt zu einer Milchamme gebracht, weil Mestra Laura doch so schwach war.»
«Und zu welcher haben sie es gegeben?»
«Zu Bianca.»
«Zu der? Da will ich glauben, dass es ein Missverständnis war. Die Vidals können sich doch wohl jemand Besseren leisten als diese alte Säuferin!»
«Und die Beginen hatten gar nichts damit zu tun.»
«Das habe ich auch nicht angenommen.»
«Ich auch nicht.»
«Aber warum hat sich die Fremde, diese Italienerin, dann davongemacht?»
«Sie soll ein unanständiges Buch geschrieben haben.»
«Was für ein Buch?»
«Na, so eins über Weibersachen. Mit Bildern drin.»
«So? Das hätt ich gern gesehen.»
«Ich auch.»
So müde war Carolus nach Hause getaumelt, dass seine Mutter ihn schlafen ließ bis zum Mittagsläuten. Er schrak hoch: «Schon Mittag! Um Himmels willen!» Eilig spritzte er sich ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht aus der Schüssel, die eine Magd ihm auf seinen Waschtisch gestellt hatte, putzte sich die Zähne mit einem rauen Tuch und fuhr in die Kleider.
«Wohin so eilig?», rief seine Mutter.
«Zu Catherine», erwiderte er atemlos.
«Das ist recht, mein Sohn. Jetzt, wo die Italienerin fort ist, kommt alles wieder in Ordnung.»
Carolus machte ein finsteres Gesicht und eilte zum Haus von Marius Vidal.
«Mein lieber Freund!», empfing der ihn. «Laura und ich können dir nicht genug danken! Komm, sag Laura guten Tag. Sie freut sich so! Das musst du sehen!»
Carolus war nicht recht bei der Sache. «Ich muss Catherine sprechen. Was wirst du mit ihr tun?»
«Ich hätte sie am liebsten einsperren lassen, aber Laura hat sich so für sie eingesetzt. Wenn sie ihr vergeben kann … ich bin noch nicht darüber hinweg. Sie ist in ihrer Kammer und traut sich nicht daraus hervor.»
Carolus klopfte an Catherines Tür. Sie machte auf und ließ ihn ein, ging zum Fenster und sah hinaus.
«Du brauchst gar nichts zu sagen. Ich schäme mich entsetzlich. Dein Angebot von gestern soll dich nicht binden. Du musst mich auch nicht aus Mitleid heiraten.»
«Catherine, ich habe es dir versprochen und dazu stehe ich.»
«Nein, ich will nicht», entgegnete sie.
Verstehe einer die Weiber! «Ach?! Was willst du denn nun? Es war alles abgemacht, und wir wären auch schon längst verheiratet, aber du hast immer wieder neue Ausreden gefunden, warum wir noch warten sollten. Du warst es, die gezögert hat!»
«Du hattest es auch nicht eilig», sagte sie.
«Nein, das gebe ich zu. Aber ich hätte es getan, weil es so abgemacht war und ich dich auch gut leiden kann.»
«Gut leiden?», fragte sie leise.
«Ja, was erwartest du? Sieh mir ins Gesicht, Catherine, und sag mir, dass du mich liebst. Dann heirate ich dich auf der Stelle!»
Sie wandte sich zu ihm um. «Nein, du hast recht: ich liebe dich nicht. Und eines ist mir endlich klar geworden: Ich will auch nicht heiraten. Dich nicht und auch sonst keinen anderen. Die vorletzte Nacht mit Laura, das war nur der letzte Tropfen. Ich will das nicht. Das, was zwischen Mann und Frau vorgeht, das Kinderkriegen und all das, es ist mir zuwider. Ich habe schon im Frühjahr um einen Platz im Dominikanerkloster von Aix nachgefragt, und sie wollen mich aufnehmen.»
«Aber warum hast du dann so getan, als ob du gekränkt warst? Warum hast du Danielle in Schwierigkeiten gebracht?»
«Ich war ja gekränkt. Ich war in meinem Stolz verletzt und eifersüchtig. Siehst du, ich wäre gern ins Kloster gegangen in einem Akt des heroischen Verzichts.» Sie lächelte über sich selbst. «Ich wollte diejenige sein, die die Entscheidung trifft. Ich wäre so gerne geliebt worden; ich habe mir gewünscht, dass du dich vor Sehnsucht nach mir verzehren solltest. Das war armselig von mir! Die Nachbarn und die Frauen auf der Straße haben mich mitleidig angeschaut und sich das Maul darüber zerrissen, dass ich eine alte Jungfer werden würde. Sie haben über mich gelacht! Und da war ich blind vor Wut. Da kommt so eine Fremde daher, eine Welsche und eine Bettlerin, und du ziehst sie mir vor – mir! Einer Dame aus guter Familie, mit einer guten Mitgift und – nun ja, ich weiß, ich bin nicht so hübsch wie Laura, aber ich habe doch gemeint …»
«Aber du bist sehr ansehnlich …», unterbrach Carolus, doch Catherine winkte ab. «Ansehnlich, ja. Aber nicht hübsch. Ich war wütend auf diese Italienerin, ich habe sie gehasst. Und schlimmer noch: Ich war neidisch auf Laura, auf meine eigene Schwester, die schön ist und die von allen bewundert wird. Solange ich denken kann, war ich unzufrieden, weil ich immer nur die Zweite war, ein Schatten gegen sie. Solange ich auch einen Mann hatte, einen Verlobten, da habe ich mich doch immerhin nicht ganz unbeachtet fühlen müssen. Aber als ich dann hintenherum hören musste, dass du diese Fremde umwirbst, da fühlte ich mich verraten und beiseitegeworfen. Oh, was für ein Durcheinander habe ich nur angerichtet. Verzeih mir!»
«Du musst deshalb nicht in ein Kloster gehen.»
«Aber ich will es so, verstehst du nicht? Das ist für mich das Beste. Im Grunde habe ich es mir immer gewünscht. Und hier kann ich nicht bleiben, nach allem, was geschehen ist. In ein paar Tagen schon werde ich abreisen und nie zurückkehren.»
«Ach, Catherine, ich hatte gehofft, wir könnten Freunde und Kameraden sein.»
«Können Männer und Frauen Freunde sein? Ich glaube es nicht. Ich wünsche mir etwas anderes, eine größere Freundschaft, eine reinere Liebe. Doch ich muss an mir arbeiten, um dessen würdig zu sein. – Und du? Was wirst du nun tun?»
«Ich werde sie suchen.»
«Und ich werde beten, dass du sie findest. Es liegt mir sehr schwer auf dem Gewissen, dass ich sie fortgejagt habe. Geh mit Gott! Finde sie und sag ihr, nein, sprich ihr gar nicht von mir. Werdet so glücklich, wie es Menschen zu sein verstehen.»
So viele Jahre hatten sie sich gekannt, und es gab nichts mehr zu sagen. «Geh, geh fort, ehe ich weinen muss und du mich auch noch mit geschwollenen Augen und einer dicken roten Nase in Erinnerung behältst», sagte sie in komischer Verzweiflung.
Wider Willen musste Carolus lachen.
«Jetzt geh schon!» Catherine lachte ebenfalls und scheuchte ihn hinaus. Sie wollte allein sein.
Carolus suchte Laura auf. Sie lag auf dem Bett auf einem Haufen Rollen und Kissen und sah sehr glücklich aus. «Carolus! Wie kann ich dir nur danken! Und Danielle!»
«Sie ist fort. Sie ist geflohen aus Angst vor den wütenden Leuten oder weil sie ihren Schwestern nicht zur Last werden wollte – vielleicht auch vor mir.»
«Oh, aber du musst unbedingt hinter ihr her! Bring sie zurück!»
«Wenn sie das aber gar nicht will?» Carolus hatte seine Zweifel.
«Aber ganz sicher will sie das. Sie liebt dich! Magdalène hat es mir erzählt», sagte Laura.
«Sie liebt mich?»
«Ja, du dummer Kerl. Sie hat deine Rose unter ihrem Kopfkissen bewahrt, sagt dir das nichts? Mach, dass du fortkommst und beeile dich! Komm nicht ohne sie wieder», mahnte Laura.
«Das habe ich nicht vor.» Carolus sprang auf.
«Ich gebe dir ein Pferd und meinen Leibdiener mit», sagte Marius.
«Behalt deinen Diener, er ist zu alt für solche Abenteuer. Aber wenn du mir ein gutes Pferd leihen willst, so wäre ich dir dankbar!»
Marius stattete Carolus aus, überließ ihm sein bestes Pferd mitsamt Zaumzeug und Sattel, ließ ihm die Satteltaschen mit Vorräten vollstopfen und gab ihm gute Ratschläge. «Nur Mut! Du wirst sie schon einholen. Sie ist zu Fuß und du zu Pferd!»
Carolus verabschiedete sich von seiner Mutter.
«Wie, mein Sohn will einer Frau nachlaufen?», empörte sie sich. «Lass sie gehen! Hier in der Stadt gibt es genügend Mädchen, die dich gerne nehmen würden.»
«Die will ich aber nicht», entgegnete Carolus schroff.
«Aber schau sie dir doch erst einmal an! Ich bestehe ja nicht darauf, dass du Catherine nimmst – obwohl es deinen Vater und mich viel Mühe gekostet hat, die Verbindung zu arrangieren. Aber was willst du denn mit einer Fremden, noch dazu mit einer, die keinen Heller mit in die Ehe bringt», redete sie auf ihn ein.
«Ich kann selbst genug verdienen, Mutter. Ich brauche die Mitgift nicht.»
«Leichtsinnig bist du! Geld kann man immer brauchen. Schönheit geht, Gold bleibt! Überleg es dir nochmal und bleib daheim.»
«Ich will aber diese und keine andere.»
«Na schön, na schön. Es ist aber schon Nachmittag! Bleib wenigstens noch die Nacht hier, iss ordentlich und schlaf dich aus!», sagte sie, aber Carolus wollte nichts davon hören.
Am Hafen Saint Nicolas nutzten die Arbeiter die Trockenheit, um das Hafenbecken zu säubern und zu vergrößern. Die Pfahlmuscheln an den Strebepfeilern der Kaianlage glänzten in der Nachmittagssonne, kantige schwarze Geschwüre. Ein Mann stand bis zur Brust im schlammigen Wasser und schabte die Muscheln mit der Klinge einer kleinen Axt ab. Drei andere mühten sich, einen hölzernen Steg aus der Erde zu hebeln. Ein neuer lag schon bereit, von drei Ochsen an Ketten herangeschleppt, ein Balken, aus einer einzigen hundertjährigen Eiche herausgeschlagen.
«Habt ihr hier eine Begine gesehen?», fragte Carolus einen der schlammbespritzten Männer.
«Ja, hier gibt es einige oben in der Stadt. Aber ich mache immer einen Bogen um diese verrückten Weiber, seit mein Schwager von einer dieser Irren den bacèou auf die Nase gekriegt hat, den Wäscheklopfer!»
«Nein, ich meine, ob ihr hier unten eine gesehen habt, die versucht hat, den Fluss zu überqueren, gestern früh ungefähr.»
«Ah! Ist eine abgehauen? Na, das wundert mich nicht. Immer nur beten und keinen Spaß, das ist doch nichts für eine richtige Frau! Hast du nicht was gesagt, gestern, Antoine?»
Antoine, eine großer, schwerer Mann mit einem Kindergesicht, richtete sich auf und kratzte sich den Schädel.
«Ouais – bèn! Ja, da war eine, jedenfalls hatte sie eins von diesen formlosen Nonnenkleidern an, die diese Weiber tragen.» Er zeigte mit den Händen etwas Weites, Sackartiges an. «Gestern in der Frühe, sagt Ihr? Ja, da war so eine.»
«Wir haben uns schon gewundert – eine Frau, so ganz allein», ergänzte der andere, «… Sie ist da unten durch die Furt gegangen, hast du doch gesagt, nicht wahr, Antoine?»
«Ouais.»
«Ja, na bitte, da habt Ihr’s. Was wollt ihr denn mit der?»
«Ich will sie heiraten!», sagte Carolus.
«Heiraten?!»
Die Männer lachten und sahen ihn mitleidig an.
«Mein Herr, mir scheint, Ihr habt was Falsches gegessen oder zu viel Wein getrunken. Aber wie Ihr meint. Da entlang muss sie gegangen sein, nicht wahr, Antoine?»
«Ouais.»
«Da entlang», sagte Antoine, «die Landstraße nach Aix hat sie genommen.»
Carolus ritt flussabwärts, bis er an die Furt kam. Die Spuren vieler Hufe, Tierkot und Wagenrinnen zeigten ihm, welchen Weg er zu nehmen hatte. Am Fluss stieg er ab und zog seine Stiefel aus; er führte sein Reittier am Halfter über Kiesbänke und knietiefe Wasserlöcher, in denen kleine Fische schwammen.
Am anderen Ufer saß er auf und gab seinem Pferd die Fersen, um die verlorene Zeit aufzuholen.