In Los Alamos

Bereits bei dem ersten politischen Gespräch, das Bohr und Heisenberg miteinander führten und mit dem ihre Freundschaft begann, sprach Bohr von der großen Verbitterung, die die Dänen nach der militärischen Auseinandersetzung um Schleswig-Holstein im Jahr 1864 gegenüber Deutschland empfunden hatten. Angesichts der Besetzung Dänemarks durch die Nationalsozialisten mussten sich diese Gefühle enorm verstärkt haben. Als Heisenberg 1941 in Kopenhagen eintraf, hatten demnach für Bohr andere Probleme Vorrang vor den Atomwaffen, die er außerdem aus technischen Gründen für gar nicht herstellbar hielt. Wie oder wem sollte es auch in kurzer Zeit gelingen, ausreichende Mengen an U-235 zu beschaffen?

Die schwierigste Frage für Bohr betraf seine eigene Zukunft. Als Sohn einer jüdischen Mutter musste er mit Repressalien durch die Nationalsozialisten rechnen, und viele Freunde rieten ihm, seine Heimat zu verlassen. Aus England wurden ihm – etwa durch James Chadwick – im Frühjahr 1943 konkrete Angebote unterbreitet, am britischen Atomwaffenprojekt teilzunehmen, das unter dem Codenamen »Tube Alloy« vorangetrieben wurde. Bohr hielt es zwar für seine Pflicht, in Dänemark auszuharren, aber als im September 1943 die dänische Untergrundbewegung erfuhr, dass die Nationalsozialisten nicht mehr vor einer Verhaftung Bohrs zurückschrecken würden, beschloss der Physiker, sein Land zu verlassen. Am 3. Oktober 1943 flohen Niels und Margrethe Bohr mit einem Boot nach Schweden, von wo aus es mit einem abenteuerlichen Flug im Bombenschacht eines Flugzeugs der britischen Luftwaffe nach England ging. Dabei wurde Bohr ohnmächtig, weil das Atemgerät, das ihn mit Sauerstoff versorgen sollte, zu klein für seinen Schädel war.

Vor seinem Abflug nach England hatte Bohr noch dafür gesorgt, dass die ihm sowie James Franck und Max von Laue beim Nobelpreis verliehenen Goldmedaillen, die am Blegdamsvej aufbewahrt wurden, in Königswasser – einem Gemisch aus Salz- und Salpetersäure – aufgelöst wurden, damit das wertvolle Metall nicht den Deutschen in die Hände fiel. Diese Aufgabe übernahm George de Hevesy. Nach dem Verschwinden der Besatzer – so sicherte der Chemiker Bohr zu – würde man das Gold leicht aus der Lösung zurückgewinnen und die Medaillen neu gießen können. Dies geschah dann tatsächlich Ende 1945 nach Bohrs Rückkehr an sein Institut.

Das Institut wurde kurz nach Bohrs Flucht von der deutschen Besatzungsmacht beschlagnahmt; nur einige Fotoapparate und etwas Silberbesteck wurden von plündernden Soldaten mitgenommen. Im Januar 1944 machte sich Heisenberg erneut nach Kopenhagen auf, um dafür zu sorgen, dass das Institut, das inzwischen auch über den Zyklotron verfügte, nicht vollends ausgeräumt wurde. Aufgrund von Heisenbergs Intervention wurde es bald wieder freigegeben, sodass der Betrieb langsam wieder aufgenommen werden konnte.

Zu dieser Zeit hielt sich Bohr zusammen mit seinem Sohn Aage in den USA auf, wo sie sich an dem amerikanischen Atombombenprogramm, dem Manhattan-Projekt, beteiligen sollten. Sie waren im Dezember 1943 unter den Decknamen Nicholas und James Baker eingereist. Von den zahlreichen Freunden und Kollegen, die sie in Los Alamos trafen, wurde sie jedoch bald nur noch Uncle Nick und Jim genannt. In dieser späten Phase des Kriegs arbeiteten hier britische und amerikanische Physiker längst zusammen an der Entwicklung einer Kernwaffe, wie die Regierungschefs Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt vereinbart hatten. Als Ort für die geheime Operation war das kleine Los Alamos in der Wüstenregion des Bundesstaates New Mexico ausgesucht worden. Seine Abgeschiedenheit erlaubte es nicht nur, Spionageversuche leicht abzuwehren, sondern bot auch Platz für erste Erprobungen der neuen Waffe mit bis dahin unbekannter Sprengkraft.

Die britische Wissenschaftshistorikerin Margaret Gowing hat Bohr und seinen Besuch in Los Alamos eindrücklich beschrieben (in French / Kennedy):

Als Bohr das riesige Manhattan-Projekt sah, zeigte er sich fasziniert durch die ausgewöhnliche Architektur, die so, wie sie war, auf theoretischen Grundlagen basierte, die er selbst gelegt hatte. Noch stärker zeigte er sich allerdings durch die Implikationen beeindruckt, die die neue Waffe für die Zukunft der Welt haben wird. Bohr hatte die Reputation, der weltfremdeste Wissenschaftler zu sein, aber seine Weltfremdheit bestand nur in seinem Verhalten. Seine Kenntnisse von Philosophie, Geschichte und Politik reichten weit und tief, und sie waren durch seine Kontakte mit den Flüchtlingen aus Nazideutschland erweitert worden, die seit den 1930er Jahren und nach der Besetzung Dänemarks in sein Institut gekommen waren. Seine ungewöhnliche Phantasie und Intuition prägten nicht nur seine Wissenschaft, sondern auch seine Ansichten von der Weltpolitik. Als er das Manhattan-Projekt sah, war für ihn unmittelbar klar, dass damit nur ein Anfang gemacht war und die fortgehenden Arbeiten noch weitere und vielleicht noch fürchterlichere Möglichkeiten eröffnen würden. Noch in Los Alamos begannen die Physiker schon damit, ihren Blick auf die Wasserstoffbombe zu richten.

Als Bohr im August 1945 nach Dänemark und in sein Institut zurückkehren konnte, war er entschlossen, sich für eine umfassende Waffenkontrolle in einer offenen Welt einzusetzen und sein ganzes Gewicht dabei in die Waagschale zu werfen.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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