12

Als Emily gesagt hatte, Solitaire sei ein Pferd, das mit Gold kaum aufzuwiegen sei, hatte sie nicht übertrieben. Im alten Orient töteten Könige für Pferde wie dieses oder ließen es auf eine

Waagschale bringen und die andere mit Gold beschweren, bis das Gleichgewicht hergestellt war. Die Beduinen nahmen ihre liebsten Pferde mit in ihr Zelt und ließen ihnen eine Betreuung angedeihen, die sie ihren nächsten Blutsverwandten in Zeiten der Not verweigern mußten: Die Pferde erhielten das letzte Brot, die letzten Körner Hirse, und für sie wurde der letzte Tropfen Wasser aufgespart. »Trinker des Windes« nannten die Beduinen diese Pferde und priesen ihre physisch vollendete Harmonie und Intelligenz, ihre Schnelligkeit, ihren Mut, ihre Ausdauer und Treue in Sagen und Geschichten. Allah rief den Wüstenwind an seine Seite und sprach zu ihm, >Ich befehle dir, Gestalt anzunehmen!< – so wurde nach der Legende das arabische Pferd erschaffen.

Als Solitaire, naß und keuchend, über den nachgiebigen Kies auf das feste Land watete, war sie für Eric das Sinnbild aller dem arabischen Pferd zugesprochenen Eigenschaften. Als sie wieder Boden unter den Hufen hatte, spreizte sie die Beine, schüttelte sich heftig das Wasser aus Fell und Langhaar und wehrte sich nicht, als er zu ihr sprach und sanft ihren Hals streichelte. Ihre großen verständigen Augen richteten sich zum Klang der Stimme. Ihre Ohren spielten, und ihre Nüstern waren weit und fragend. Sie ließ zu, daß er sie erforschte, und er fand die spiegelnden Wände eingestürzt.

Wie Excalibur fragte sie, wer er sei. Und er konnte zu ihr gehen und ihr sehr leise, als sei es ein vertrauliches Bekenntnis, dieselbe Antwort geben, die er Excalibur gegeben hatte.

»Eric!« Turners hohe magere Gestalt näherte sich langsam, um die Stute nicht zu erschrecken. Er mußte sich durch die triefenden Zuchtstuten schieben, aber er kam näher und strahlte über das ganze Gesicht. »Eine Glanzleistung nenne ich das! Wie heißt es doch – Gott hat in diesem Mann ein Wunder gewirkt, oder so ähnlich. – Wie bist du bloß auf diese grandiose Idee gekommen?!«

Solitaire verhielt sich ruhig, als er sich näherte; Eric hatte nicht auf einen solchen Erfolg zu hoffen gewagt. Bestenfalls hatte er mit ihrer Annäherung gerechnet, aber nicht mit dieser Ruhe und Gleichmütigkeit, die sie jetzt an den Tag legte. Und sein feines Gefühl sagte ihm, daß dieses Kapitel noch nicht beendet war.

Aber sie stand still, sie ließ sich von ihm und Turner berühren, scheute nicht, wenn sie sprachen. Eric streifte seine Kleidung über.

Da zeigte sich, daß seine Skepsis begründet war. Als Edward sich den Weg zu ihnen bahnte, und näher kam, zuckten Solitaires Ohren, in ihre weitblickenden Augen trat der enge Ausdruck von Angst – als er sich auf vielleicht dreißig Fuß genähert hatte, bäumte sie sich auf. Es war dieses hohe Aufbäumen, in dem sich ihr graziöser Leib über Eric auf der Stallgasse gespannt hatte. Wie jedes normale Pferd wählte sie nicht den Angriff, sondern die Flucht – der nasse Kies kreischte unter ihren Hufen, und schon war sie davon. Wie ein Keil schob sie sich in die Masse der wartenden Herde und verhielt dort, schwer atmend. Sie wußte nicht, daß der einzigartige Kontrast ihres dunkelgrauen Fells und ihres silbrigen Langhaars sie leicht auffindbar machte. Aber sie wußte, daß Eric auf dem Rücken ihres Gebieters saß, der sie in die Richtung drängte, in der es Hafer und Heu gab. Sie war entkommen; in der warmen Masse anderer Stuten vergaß sie ihre Abwehr.

Eric überwachte die Inbesitznahme des Stalles durch die Stuten; er ließ sie nur einzeln herein, und als Solitaire auf die Stallgasse kam, schloß er die Tür hinter ihr. Halbdunkel war um sie.

Würde sie sich an das grausame ungleiche Gefecht erinnern, das sie einander hier geliefert hatten? Würde sie wieder verrückt spielen wie auf der Landzunge? Wenn sich Dr. Mercurys Befürchtungen jetzt bewahrheiten sollten – er war bereit. Ein rascher Blick hatte ihm versichert, daß die erste Boxentür geöffnet war, so daß er sich notfalls darin in Sicherheit bringen konnte, und außerdem war er heute nicht so wund und steif wie an jenem schwarzen Tag.

»Kleines Mädchen?«

Er fühlte keine Ablehnung. Sie war auf ihre Box zugegangen, unberührt von der Tatsache, daß die Stalltür hinter ihr geschlossen worden war; wäre sie gereizt und angstvoll gewesen, hätte sie dies alarmieren müssen. Aber sie blieb nur stehen und wandte ihm den Kopf zu.

»Solitaire?«
Ein leises Schnauben.
Eric faßte das als Ermunterung auf und ging langsam,

tastend, mit weit vorgestreckten Händen auf sie zu. Ihr Hals dehnte sich, und dann drehte sie sich zu ihm um – und kam ihm einen kleinen Schritt entgegen. Ihr Kopf glitt auf und nieder an ihm, sie untersuchte ihn von den Haarspitzen bis zu den Zehen, und manchmal schnüffelte sie dabei wie ein Hund. »Prinzessin, fällt Euer Urteil über mich.« Eine halb nervöse, halb kribbelige Lachlust begann sich in ihm zu regen und machte ihn albern. »Ist's gestattet, Euch zu berühren?«

Er berührte ihr feines Gesicht, streichelte ihr das silberne Mondhaar zwischen den weit auseinanderstehenden Augen zusammen, verfolgte die zarten Linien ihres Kopfes mit den Fingerkuppen. Sie schien das ebenso gern zu haben wie Excalibur. Was war nur auf der Landzunge geschehen, das sie wieder scheu und angstvoll gemacht hatte? Jetzt war sie friedlich und sehr zugänglich. Vielleicht war sie wie manche menschliche Geistesgestörte – in einem Augenblick völlig normal erscheinend und im nächsten gewalttätig und unerreichbar. Aber er fühlte den ganz und gar ungestörten Einklang zwischen ihnen, diese unerklärliche Annäherung zweier Seelen. Er traute seinem Gefühl. »Du solltest dich jetzt ausruhen, Prinzessin, es war ein harter Tag.« Er drückte gegen ihre Schulter, und sie ging friedlich neben ihm her weiter auf ihre Box zu. Einmal stieß sie ihn auf dem kurzen Weg sogar sacht mit ihrem kleinen, samtigen Maul an, ein bißchen schüchtern. Sie konnte nicht wahnsinnig sein. Er fühlte den verzweifelt brennenden Wunsch, sie sei es nicht, und war sich bewußt, daß die Stärke seines Wunsches seine Gedanken und Empfindungen verbiegen und entstellen konnte
– er mußte achtsam sein. Denn wenn sie wirklich wahnsinnig war, dann würde niemand etwas daran ändern können.

»Ich werde jetzt die anderen holen«, sagte er, und seine Stimme ,war wie ein leiser Gesang in ihren Ohren. Sie ging mit ihm zur Boxentür und blickte ihm dann durch die Gitterstäbe der Futtermulde nach.

»Die anderen« waren nicht nur der Rest der Stuten, sondern auch Turner, Emily und Grandpa Fargus. Louise schlich sich unbemerkt hinter ihnen her, und als sie bemerkt wurde, gab es keinen, der sie auf ihr Zimmer schickte; alle waren viel zu gespannt. »Ich hätte gern, daß wir uns vor Solitaires Box herumtreiben – Sie wissen schon, uns unterhalten, ein bißchen hin und her gehen, sie gelegentlich streicheln, eben so, wie man sich in einem Stall verhält, wenn etwas ansteht ... sagen wir, eine Fuchsjagd.«

Der Klang der Stimmen störte Solitaire nicht. Sie hatte ihren Hafer gefressen und fühlte sich behaglich. Genüßlich kaute sie ihr Heu und schob ab und zu den Kopf über die Tür oder die Krippe, und ein jeder konnte sie berühren.

»Eric!« jubelte Emily schließlich nach mehreren glücklichen Versuchen, »was für ein Wunder haben Sie da vollbracht! Und in nur einem Tag! Ich dachte immer, daß es Ihnen gelingen würde, aber ich glaubte, Sie würden viel, viel, viel mehr Zeit brauchen!«

»Ich hab da so ein Gefühl, daß es nicht ganz so einfach war.« Er rief Edward, den er gebeten hatte, vor dem Stall zu warten, herein. Und sobald Solitaire seiner ansichtig wurde, sprang sie in die äußerste Ecke ihrer weiträumigen Box, und dann gab es wieder das verzweifelte Graben an den weißgetünchten Wänden, wieder die hohen spitzen Schreie, die um Entlassung aus einem zum Gefängnis gewordenen Gebäude flehten.

»Gehen wir. Ich denke, sie wird sich jetzt schneller beruhigen als früher.«
Als die kleine Gruppe den Stall verlassen hatte, kehrte er um, öffnete ohne Zögern oder Vorsicht Solitaires Box und blieb still stehen, den Rücken an die Wand gelehnt. »Prinzessin – kleines Mädchen – liebes kleines Mädchen –«
Sie ging nicht auf ihn los. Für einige Minuten noch schlug sie gegen die Wände, aber dann begann sie, auf ihn zu hören. Er trat zu ihr, und sie ließ sich berühren, ja, sie beschnupperte ihn wiederum äußerst interessiert, sie sog ihn ebenso in sich ein, wie Excalibur es getan hatte, und ließ darauf zu, daß er ihren zarten Kopf einfing und gegen seine Brust zog. Er sah, daß sie die Augen schloß, und es war, als vergieße sie unsichtbare heiße Tränen voll Schmerz und Demütigung, wie ein Mensch sie vergießt, und seine Kehle wurde eng. »Du bist nicht wahnsinnig«, flüsterte er hitzig. »Im Wasser, in der Kälte da draußen, als du in Todesangst warst, da hast du den Unterschied begriffen ... den Unterschied zwischen dem oder denen, die dich so verstört haben, und denen, die nur dein Bestes wollen und dir kein Leid zufügen werden – armes kleines Mädchen. Wenn ich nur herausfinden kann, wer oder was dich so verstört hat, werde ich dir helfen. – Edward kann es doch nicht sein. Du kennst ihn, seit du auf dieses Gestüt kamst. Er ist ein anständiger Bursche, und er hatte dich gern, bevor du so wurdest, wie du heute morgen noch warst.«
Sie schnaufte leise und ließ den Kopf schwerer gegen ihn sinken.

»Ich fühle mich wie ein Wurm.« Edward blickte sie kläglich der Reihe nach an. »Von allen läßt sie sich jetzt anfassen, aber sobald ich in ihre Nähe komme, springt sie in die Luft. Und ich hab ihr doch bestimmt nie was getan! Ich bin sogar zu ihr gegangen, als sie so wild war, und hab' sie aus ihrer Box gelassen, damit sie sich nicht verletzen kann, und dafür hat sie mich beinahe umgebracht!«

»Wir wissen das, Edward. Aber es muß etwas an Ihnen sein, das ihre Erinnerung an ihre schwärzeste Zeit weckt. Es sind nicht Sie. Etwas muß sie erinnern, was immer es ist. Und solange dieses >Etwas< nicht ausfindig gemacht werden kann, wird die Stute nie vollständig zurechnungsfähig sein. Es wird immer diesen unbekannten Faktor geben, der vielleicht gerade dann zum Tragen kommt, wenn ihre Fügsamkeit wirklich wichtig ist.«

»Was schlagen Sie also vor, Eric?« fragte Emily bange. »Ich sagte Ihnen ja schon, wenn ich die Ursache für ihre primäre Störung finden kann, werde ich auch einen Weg finden, ihr zu helfen. Wir sind jetzt nur den halben Weg heraufgekommen. Sie traut uns, aber nicht Edward. Jeder hier weiß, daß Edward ihr nie Schaden zugefügt hat, aber es muß einen gemeinsamen Nenner geben – irgend etwas hat er gemein mit dem oder denen, die sie so verängstigt haben.«
»Schön und gut«, meinte Turner. »Du hast ja so deine Methoden mit Pferden. Was wirst du tun?«
»Ich werde sie beobachten, Sir Simon. Nur so besteht die Möglichkeit, die Lösung zu finden.«
Turners Gesicht wurde grau. Eric wußte, woran er dachte. »Mit Lance kann ich hier weiterarbeiten«, sagte er eilig. »Und die anderen sind nicht so arbeitsintensiv wie er. Auch wenn sie jetzt schon wieder ein wenig verwildert sind, sollte ich sie in drei Wochen, höchstens einem Monat so weit haben, daß sie auf der Herbstauktion glänzen, wenn ich jeden Tag hart mit ihnen arbeite.«
»Was macht es schon, wenn sie noch eine kleine Macke hat? Sie läßt sich von den meisten anfassen.«
Eric wollte schon sagen, es ginge ums Prinzip, weil es ihm widerstrebte, vor anderen seine wahren Gründe zu nennen: wie grausam es ihm erschien, einem Tier, dem er helfen konnte, diese Hilfe zu versagen, und wie sehr er darauf brannte, den oder die ausfindig zu machen, die dem arglosen Wesen dies angetan hatten – denn er zweifelte nicht mehr, daß sie durch Menschenhand verdorben worden war. Die Furcht vor einer menschlichen Stimme sagte genug; doch da sagte Emily leise: »Eric hat in Solitaires Fall auch ein persönliches Interesse.«
»Das hat er immer«, brummte Turner. »Er verliebt sich pausenlos.«
Eric errötete und kam sich kindisch deswegen vor.
»Sir Simon, ich habe ihm Solitaires erstes Fohlen versprochen, wenn es ihm gelingt, sie fügsam zu machen.«
»Oh!« Der kleine Laut war eine Mischung aus dem letzten Pfeifen eines mitten aus dem Flug abgeschossenen Vogels und der blasierten Unterkühltheit eines Berufsspielers, der seinen Einsatz verloren hat. Turner starrte auf den Teppich. »So ist das«, setzte er nach einiger Zeit hinzu. »Tja, scheint so, als wär der Pferdehandel auch nicht mehr das, was er mal war. Früher galt der Handschlag so gut wie ein unterzeichneter und besiegelter Vertrag.« Er hob den Kopf und sah Emily fest in die Augen. Sein Gesicht war sehr weiß. »Ich habe Eric freigegeben, damit er hierherkommen konnte. Er hatte genug mit den sieben Pferden zu tun, von denen sechs jetzt auf ihn warten – und ich habe mein Gestüt geradezu sträflich vernachlässigt, weil ich dabeisein wollte, wenn sie wieder zugänglich ist. Ich wollte ein wenig Vorfreude auf dieses Fohlen. Sie wissen, wieviel mir an dieser Blutlinie liegt. Die Emirate geben diese Schätze nicht leicht her, abgeschottet, wie sie sich halten. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie Everett an dieses Fohlen kommen konnte. Wenn ich den Trick kennen würde, säße ich schon heute im Flugzeug und würde versuchen, auch einen solchen Schatz zu bekommen. – Ein unverfälscht, völlig rein gezogener Saqlawi-Araber!« Für Turners Verhältnisse war dies eine geradezu unanständig lange und offene Rede. Er mußte sehr tief getroffen sein.
»Sir Simon, mein Handschlag gilt! Sie werden das nächste Fohlen bekommen. Doch dieses – verstehen Sie, ich mußte Eric etwas anbieten, von dem ich wußte, daß er es sich mit aller Kraft wünscht, sonst wäre er gegangen, und die Stute wäre immer weiter so wild gewesen und hätte niemandem genützt! Ich wußte, daß Geld keinen so starken Anreiz haben könnte.«
»Da kennen Sie ihn ja ganz gut, scheint's, und ich kann mir jetzt auch denken, woher.«
»Wie meinen Sie das?«
Er lächelte müde. »Ich bin nicht blind, Emily. Ich erinnere mich sehr gut an den Tag, als er Excalibur zum ersten Mal geritten hat, an das darauffolgende Mittagessen, und an das, was Ihre Hand während dieses Essens tat.« Er blickte zu Eric. »Hübscher, strammer Bursche. Ich kanns Ihnen nicht verdenken. – Aber einen Handschlag beim Pferdehandel zu ignorieren ...«
In der klebrig-kalten Stille, die sich darauf im Raum ausbreitete, stand er auf, reckte sich hoch und verließ sehr aufrecht den Raum.

»Sie essen ja nicht, Eric!«

Er war im Cottage der Hickmans und hockte unglücklich vor dem großen Küchentisch. Claire hatte zum Tee herrliche Sandwiches zubereitet: selbstgebackene, noch heiße große Brötchen, dick gebuttert und mit Schinken und Käse und Tomatenscheiben und Salatblättern belegt. »Möchten Sie lieber Huhn? Oder Ei? Oder lieber etwas Süßes? Ich habe da einen –«

»Nein, Claire, vielen Dank. Ich denke, ich werd jetzt mal nach Lance sehen.«
Er schlenderte die staubige kleine Dorfstraße hinunter. Seltsam, daß seine Schritte so schwerfällig waren. Auch seine Schultern wollten sich nicht aufrichten.
Eigentlich war es nicht seltsam. Das Bewußtsein, einen anderen verraten, ihm in den Rücken gefallen zu sein, brennt einem anständigen Menschen die Seele aus.
Nur – bisher hatte er es nicht als Verrat angesehen, sich nach Solitaires Fohlen zu verzehren und noch einmal alles dafür zu wagen. Es hatte erst begonnen, den Geschmack von Verrat zu bekommen, als er den Schmerz in Turners Augen gesehen hatte. Er hätte es sich doch denken können – dieser Feuereifer, mit dem er sich über jede Vernunft hinwegsetzte an jenem Abend, als Eric Emily Fargus zum ersten Mal begegnet war An diesem Abend hatte sie Turner wahrscheinlich Solitaires Fohlen versprochen. Turner mußte dieses Fohlen ebenso begehren wie er; er war mit hierhergekommen, obwohl er von der Großartigkeit der Landschaft nur »jede Menge Hügel und Schafe« im Gedächtnis bewahrt und sich gelangweilt hatte. Und auch sein Verschwinden sprach Bände. Er tat das nur, wenn ihn etwas drückte, das ihm wirklich wichtig war. »Ich bin nicht blind, Emily« ... Eric wollte nicht an die nachfolgenden Worte denken. Aber er konnte es Turner nicht verübeln, daß er seine Schlußfolgerungen gezogen hatte ...

Sir Lancelot segelte mit weiten Tritten auf ihn zu. Seine helle Mähne umwogte ihn wie eine Wolke aus Funken, in den dunklen Augen glomm das Licht der Wiedersehensfreude. Er vollführte einen kleinen Tanz für seinen Freund – mit gewölbtem Hals und hochgereckt wehendem Schweif trabte er in kleinem Kreis, alle paar Schritte die Richtung wechselnd. Die Sonne sprühte über sein Fell und ließ die voller gewordenen Rundungen aufleuchten.

»Eric! Ach, gut daß Sie da sind! Da ist ein Anruf für Sie!« Mrs. MacKinnan winkte ihm vom Küchenfenster aus mit einer buntgewürfelten Schürze.

»Eric?«
Die Stimme klang belegt.
»Sir Simon?« Förmlichkeit schien der einzige Ausweg, um

den Kummer aus seiner Stimme herauszuhalten. Turner würde ihm sagen, daß er ihn nicht mehr beschäftigen konnte, wahrscheinlich irgendwelche fadenscheinigen Gründe herbeizitieren – und er würde Lance verlieren.

»Bin froh, daß ich dich erreicht habe, hab's erst bei den Hickmans versucht, und die sagten, du bist unterwegs. Gaben mir aber die Nummer der MacKinnans.«

»Verstehe.«
»Na ja, ich bin jetzt in einem Gasthof, sehr nett hier.« Schweigen. Er konnte förmlich spüren, wie Turner sich die

Worte zurechtlegte.
»Na, also, weswegen ich anrufe ...« In seiner Vorstellung
sah Eric Lance, wie er in einer Staubwolke davongaloppierte.
Wer würde ihn betreuen, wenn er es nicht mehr tat? Wer
würde die letzten Reste der schwarzen Schatten beseitigen? –
Wohl niemand. Lance würde eines dieser Pferde werden, die
für tückisch gehalten werden und als schwer reitbar gelten.
Es würde die Gerte und Sporen für ihn geben, Roheit, Gewalt
– neue schwarze Schatten, die seine Seele zerstörten. Lance würde zerbrechen. Er würde verkümmern, oder so gewalttätig werden, daß der Schuß des Abdeckers eine Erleichterung für
seine Umwelt und eine Gnade für ihn selbst war.
»Es tut mir entsetzlich leid.«
Eric hielt den Atem an.
»Es tut mir leid, alles. Ich war ... na, ich wußte wohl nicht
mehr so recht, was ich sagte. Entschuldige mich auch für die
... Verurteilung, oder wie man's nennen will. Es ist dein Bier,
wenn du mit Emily –«
»Hab ich nicht.«
»Nicht?«
»Sie ist mir zu schlüpfrig.«
»Schlüpfrig – gutes Wort für sie. Ich muß wohl wirklich
gedacht haben, du wärst mit ihr ins Bett gegangen, um mir
das Fohlen abspenstig zu machen.«
»Nein. Sie bot mir das Fohlen an, als ich im Krankenhaus
war. Sie wußte, daß sie mir wirklich etwas bieten mußte, um
mich dazu zu bringen, es mit einem offenkundigen
Menschenfresser noch mal zu versuchen.«
Schweigen, tief und nachdenklich, dann: »Ich war zuerst
da.«
»Ja. Ich weiß das.«
»Hmmmm – ich bot ihr Geld; ziemlich viel für ein bißchen
Fell und ein paar Hufe.«
»Sie hat so was gesagt.«
»Du hast allerdings die Stute wieder in Ordnung gebracht.« »Nur halbwegs.«
Ȁhm... jedenfalls ist sie besser dran als vorher ... Was ich
sagen will – Gott, ist das alles kompliziert! –, ja, also was
das Fohlen betrifft: der Bessere gewinnt. Das Fohlen gehört
dir. Und, ja ... ich hoffe, du denkst nicht daran, mich zu
verlassen. Die Pferde brauchen dich. Und darum brauche auch
ich dich. Wo sollte ich einen wie dich noch einmal
ausgraben? Zauberer wachsen nicht auf der Heide! Und
außerdem hab ich dich verflucht gern.« Turner mußte etwas
getrunken haben, sonst wäre er nicht so überschwenglich
gewesen.
»Schon recht, Sir Simon.« Eric rang um Beherrschung. Seine Beklommenheit war wie weggewischt, und seine
Stimme klang ruhig wie immer. »Genießen Sie Ihr Weekend.« »Das werd ich, mein Junge, die Angelrute steht schon
bereit. Aber ...«
»Ja, aber?«
»Es wär nicht dasselbe, wenn ich dich verloren hätte.« Es
gab ein kleines Räuspern, und ein beinah noch leiseres
»Bye«.
Eric hängte den Hörer auf und gestattete sich für einen
Moment Ruhe, als er sich an die Wand lehnte. Das Hemd
klebte ihm am Rücken, und ein leises Zittern war in seinen
Muskeln.
»Mr. Gustavson?« Er blickte hinunter und sah Mary Mac
Kinnan vor ihm stehen. Sie war errötet und zerknüllte ihre
Schürze. Eric kam wieder auf den Boden der Realität zurück.
»Was kann ich für Sie tun, Mrs. MacKinnan?«
»Oh, es ist Danny. Er ist draußen. Er braucht Hilfe. Er ist
weit gefahren, da dachte ich, ich sollte ihn wenigstens zu
Ihnen lassen, daß Sie mit ihm sprechen können.«
»Danny?«
»Danny Maclntyre«, sagte sie, als sollte der Name eine
Bedeutung für ihn haben.
»Mr. Maclntyre?«
»Oh, hallo, freut mich, Sie kennenzulernen.« Daniel
Maclntyre war ein schmaler junger Mann mit rötlichem Haar
und hellblauen Augen. Sein Kopf reichte nicht einmal bis zu
Erics Schultern. Er stand ein wenig unbeholfen vor den
Stufen der Küche und hatte einen zerknautschten Hut in der
Hand, an dem er sich festzuhalten schien.
»Sie wollten mich sprechen, Mr. Maclntyre.«
»Ja, wegen Butterbloom – eine von meinen Milchkühen.« Erics rechte Augenbraue hob sich verwundert. Danny
Maclntyre sah eigentlich zu jung und vor allem zu zart aus,
um eine eigene Farm zu bewirtschaften. Ihm kam der
Gedanke, er könnte hier eine in gewisser Weise verwandte
Seele vor sich haben.
»Was fehlt ihr?«
»Sie hat grad ein Kalb gehabt, einen feinen kleinen Bullen,
aber jetzt hängt da was aus ihr raus, und Timmy ist im Krankenhaus, und seine Haushälterin meint, da wird er noch 'ne Weile bleiben müssen, ich wußte mir keinen Rat, und da fielen Sie mir ein. Vor 'ner Weile nämlich traf ich Billy im Pub, und er erzählte mir von Maudie, und daß sie ohne Sie
sicher eingegangen wär, und da dachte ich ...«
»Schon recht, Mr. Maclntyre. Lassen Sie uns gehen.«
Prolabierter Uterus. Nach dem Lehrbuch keine seltene
Angelegenheit bei Kühen.
»Wie lange ist's denn her, daß sie's rausgestoßen hat?« »Das Ding, meinen Sie? Heute nacht wohl. Ich sah's heute
morgen, aber ich dachte, lebensgefährlich kann's nicht sein,
weil sie Heu kaute, und ich mußte mich um die anderen
Viecher kümmern, und dann hängte ich mich ans Telefon, und
schließlich kam ich her. Wußte mir keinen anderen Rat, Sir.« »Das ist okay. Und nennen Sie mich nicht Sir. Ich heiße
Eric.«
»Oh, aye. Aye. Danny. Das ist mein Name.«
»Schön. Danny, wir müssen meine Medikamente holen. Sie
sind oben, auf der anderen Seite des Dorfes.«
»Aye, Guvnor. Bin froh, daß Sie mitkommen. Ich wüßte
nicht, was ich mit diesem Sack bei Butterbloom anfangen
sollte.« Er erzählte, daß ein geplatzter Reifen ihn zusätzlich
aufgehalten hatte, und beim Anblick seines Wagens brauchte
die Wahrheit nicht in Zweifel gezogen zu werden: der
zerbeulte Kombi knirschte auf den abschüssigen Passagen, als
würde er jeden Moment auseinanderbrechen. Eric lauschte
mit halbem Ohr, doch einmal mehr wurde er von der
Schönheit um ihn herum gefesselt. Da waren die Berge des
Hochlandes im Hintergrund; die Weite des Meeres zur
Rechten; grüne weite Flächen, belebt von dicht belaubten
Bäumen; breite klare Flüsse in den Niederungen. Kleine
Gebäude standen weithin sichtbar auf einer Kuppe oder
geborgen zwischen alten Bäumen und einer sommerlichen
Blumenpracht. Uralte Steinbrücken, und hier und da in der
Ferne immer wieder eine Ruine, erinnerten daran, daß die
glorreiche Vergangenheit dieses Landes kein Mythos war. »Stört Sie's, wenn ich das Radio anstelle, Eric?«
»Nicht die Spur.«
Danny kippte den Schalter, er schien so ziemlich das einzige, was an diesem Auto funktionierte, und halb und halb erwartete Eric irisch-schottischen Folk oder das allgegenwärtige Musikprogramm der BBC, aber Dannys Radio war auf einen amerikanischen Sender eingestellt und spielte Countrymusik. Eric hatte nie viel für Country übrig gehabt, er war mehr für Klassik und hörte daher nicht hin, bis ein Lied erklang, das sich von den anderen abhob. Die Melodie war einnehmend, die Stimme des Sängers von beeindruckender Ausdruckskraft; als wisse er, worüber er sang – sein Herz schien in jeder Zeile zu sprechen. Eric hörte zu, und es war eine anrührende Geschichte, die von Sekunde zu Sekunde deutlicher Gestalt in seiner Vorstellungskraft annahm: Der Sänger traf nach vielen Jahren die Frau wieder, in die er einmal bedingungslos verliebt gewesen war, deren Verlust er nie hatte verwinden können. Immer hatte er gezweifelt an der Liebe zu seiner jetzigen Frau – und da war wieder sie, wunderbar schön, so funkelnd und lockend wie ein Diamant – und ebenso kalt, ebenso hart. Schon immer war sie so gewesen, er hatte es nur nicht gesehen; jetzt endlich erkannte er sie, als er sie mit seiner Gefährtin verglich, die nicht diese überwältigende Schönheit besaß, aber Wärme und Aufrichtigkeit und eine Kraft, die bereit war, alles mit ihm durchzustehen. Und er fand endlich Ruhe in der Gewißheit, daß Glanz nichts ist und Wärme alles; daß er die richtige Wahl getroffen hatte. Der Refrain ging Eric nicht mehr aus
dem Kopf:
»Some of God's Greatest Gifts are Unanswered Prayers.«
Nicht alle Gebete zu erhören, gehört zu Gottes größten
Geschenken.

Sechs Milchkühe standen in Dannys kleinem Kuhstall. Erics Patientin war leicht herauszufinden – eine häßliche blaurot verfärbte Masse hing an ihrem Hinterteil, aber unbekümmert darum rupfte sie noch immer an ihrem Heu.

»So schlimm sah's vorhin nicht aus.«
»Sie hat es beschädigt, wahrscheinlich hier an der Wand. Sehen Sie, da sind Mörtelkrümel.« Eric zupfte ein weißes Bröckchen von der klebrigen Uterusschleimhaut. »Ich werde es desinfizieren und die kleinen Risse nähen; könnte ich heißes Wasser und Seife haben, bitte?« Die Worte gingen ihm schon viel leichter von den Lippen als beim ersten Mal. »Und einen leeren Sack und eine starke Lampe.«
Butterblooms Behandlung war ein weiterer Beweis für das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis: sie sagten nichts in den Lehrbüchern darüber, was für eine Knochenarbeit es ist, einen durch Beschädigung und verzögerte Behandlung aufgeschwollenen Uterus wieder in die richtige Lage im Leib der Kuh zurückzuschieben. Es war nicht das Schieben allein, und dabei war es hart genug, diese gewaltige Masse mit beiden Armen zu umfassen und durch die lächerlich klein scheinende Öffnung der Vulva zu schieben. Es war vor allem, daß die Kuh mit mächtigen Stößen gegen ihn arbeitete, als sei sie froh, dieses Teils ihres Körpers ledig zu sein. Eric brauchte mehr als zwei Stunden, bis die Kuh, offenbar gelangweilt durch das Heben und Stoßen und Keuchen und unterdrückte Fluchen an ihrer Rückfront plötzlich nachgab – der Uterus wurde allmählich kleiner, und dann verschwand die glitzernde Masse unter einem letzten einsaugenden Laut in der Öffnung.
Freude erfüllte ihn trotz der Anstrengung – er konnte es! Er hatte das Zeug zu einem richtigen Tierarzt! All die qualvollen Prüfungen hatten letztlich doch ihr Gutes gehabt; sie hatten ihren Zweck erfüllt.
Als das große Organ korrekt eingelagert war, schlüpfte sein Arm zurück, wurde eifrig abgeseift, wanderte wie von selbst zum Instrumentenkasten und wählte die sterile Nadel in der richtigen Stärke, in deren Öhr mit schlafwandlerischer Sicherheit der Faden eingefädelt wurde. Butterblooms Vulva wurde mit einigen Stichen verschlossen, damit der Uterus an seinem Platz blieb.
»Stellen wir ihr Hinterteil auf einen Balken, Danny, bloß um der letzten Sicherheit willen. Geben Sie ihr für eine Woche Leinöl mit ins Futter.«
»Aye, Guvnor.«
Die Arbeit ging zügig vonstatten. Als sie fertig waren, zupfte Butterbloom noch immer an ihrem Heu, und ihr zufriedener Ausdruck hatte sich nicht verändert. Sie war ein umgängliches, nur etwas träges Tier. Eric trug ihr die harte Arbeit nicht nach. Er klopfte ihr die Hinterpartie und erzielte keine andere Reaktion als ein lässiges Wischen des Schwanzes.
»Eric, darf ich Ihnen meine Familie vorstellen: meine Frau Lizzy, und unseren Sohn, Daniel Maclntyre II.« Aus Dannys Stimme klang Stolz. Eric wandte sich um, band sich den leeren Sack von der Hüfte, der seine Hosen halbwegs geschützt hatte, nickte der jungen Frau freundlich zu und wollte sich dem halbleeren Eimer zuwenden, um sich wenigstens notdürftig die Arme und den entblößten Oberkörper zu waschen, bevor er ihr die Hand schüttelte, aber sie hielt ihn auf: »Sie müssen ins Haus kommen, da können Sie sich ordentlich waschen und eine Erfrischung zu sich nehmen. Kommen Sie, kommen Sie nur.«
Eric wusch sich gründlich. Das Wasser, das aus einer Vorrichtung kam, die mit einer Kette bedient wurde, war eiskalt, doch seine erhitzte Haut kümmerte das nicht. Es gab ein neues Stück Seife für ihn, und grobe, frische Leintücher, und in der Küche warteten ein Becher Tee und ein dick mit Schinken belegtes Sandwich auf ihn; aber Eric fand vor allem den kleinen Daniel hochinteressant.
Er war ein eher possierliches als hübsches Kind von vielleicht achtzehn Monaten, weiß und rosig, mit den hellroten Locken seines Vaters und den dunklen Augen seiner Mutter, deren etwas verhärmt aussehendes Gesicht aufstrahlte, als er sagte: »Sie haben da einen wirklich reizenden kleinen Jungen, Mrs. Maclntyre.«
»Ja, wir sind stolz auf ihn. Es lohnt sich, für ein Kind zu arbeiten.«
»Oh, sicher.«
»Wollen Sie ihn mal nehmen?«
»Ja – oh, ja, sehr gern!«
Vorsichtig legte er den Kleinen an seine Brust und betrachtete das Gesichtchen mit den zutraulichen Augen. Zart strich sein Zeigefinger über die seidige Haut der Wange, und ein ihm unbewußtes Lächeln war in seinen Augen. Sein Tee neben ihm wurde kalt.
Für einige Minuten, in denen er ganz in den Anblick des Kleinen versunken blieb, durchströmten ihn neue, ganz unbekannte Gefühle. Durch das Kindergesicht hindurch erschien das Bild Elaine Mercurys vor seinem inneren Auge – bis der Junge sich mit aller Kraft an ihm aufrichtete und nach seiner Nase zu greifen versuchte. Danny lachte.
»Er scheint Sie gern zu haben. Er will mit Ihnen spielen.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit. Aber ich muß gehen. Ich habe noch bei den MacKinnans zu tun.« Er legte Daniel II. in die Arme seiner Mutter zurück. »Viel Glück für die Dynastie, Ma'm.«
»Danke sehr.«
Auf der Fahrt zurück sagte Danny: »Es geht mich weiß Gott nichts an, aber darf ich Sie was fragen?«
»Schießen Sie los, Danny.«
»Haben Sie selbst Kinder?«
»Nein.«
»Verheiratet?«
»Nein.«
»Aber eine Lass haben Sie sicher?«
»Lass
»Aye, so sagen wir hier für ein Liebchen.«
»Oh! Hm, nein.«
»Aber Sie mögen sie doch?« Ein kleiner Seitenblick begleitete die Frage.
»Ob ich –« Plötzlich begriff Eric den Grund der Frage, und er mußte lachen. »Sicher mag ich Mädchen.«
»Sie sind noch nicht lange hier?«
»Nicht sehr lange, nein.«
»Hörte, Sie waren eine Weile im Krankenhaus. Da hatten Sie wohl noch keine rechte Gelegenheit, sich umzusehen?«
»Nein.«
»Warum kommen Sie dann nicht mal mit in unseren Pub? Gutes Bier, und 'ne Menge netter Lasses.«
Eric hätte jetzt wahrheitsgemäß antworten können, daß er viel Arbeit und wenig Zeit hatte, nicht gern in Pubs ging – überhaupt nicht gern in öffentliche Einrichtungen, außer gelegentlich ins Kino, weil er da für sich sein konnte – und daß er überdies nicht das Verlangen verspürte, eine »Lass« kennenzulernen, weil er sicher nicht allzulange in dieser Gegend bleiben würde, aber er sagte nur: »Wo ist es denn?«
»Rufen Sie mich an, wenn Sie Lust auf einen Drink in lustiger Gesellschaft haben. Ich hole Sie dann ab. Es ist nicht so leicht zu finden für einen, der von auswärts kommt.«
»Okay.« Wahrscheinlich würde er diesen Anruf niemals machen.
Tiefe Müdigkeit überkam ihn plötzlich. Das Quietschen und Schnattern des eigenwilligen Chassis wiegte ihn.
»Was ich Ihnen die ganze Zeit schon sagen wollte, Eric, wegen Butterbloom ...« Danny sprach eine Weile begeistert, aber als keine Erwiderung kam, sah er zur Seite. Eric schlief, seitlich an die Wagentür gedrückt, so daß sein Gesicht nicht zu sehen war. Danny drosselte den Motor und fuhr behutsam um die Unebenheiten der Landstraße herum, um ihn nicht zu stören.

Als er ihn auf Billys Farm absetzte, drückte er ihm einen schmuddeligen Zettel in die Hand: »Hier ist unsere Adresse und die Telefonnummer. Ich erwarte Ihre Rechnung. Billy sagte, Sie wollten sich nicht bezahlen lassen und nahmen schließlich nur widerwillig das Futter für Ihr Pferd als Bezahlung an. – So was is' gefährlich. Wenn manche Leute erst glauben, daß sie Ihre Hilfe umsonst kriegen, haben Sie die immerzu auf dem Hals, und auch ein paar von den Anständigen könnten – na ja, sozusagen in Versuchung geführt werden. Sie sind der einzige hier, der helfen kann, aber das ist ja eigentlich nicht Ihr Job. Wenn der alte Timmy noch länger ausfällt und Sie bereit sind, im Notfall einzuspringen, müssen sich die Leute darüber klar sein, daß es sie was kostet. Sonst verlieren Sie Zeit und Energie, und haben nichts davon.«

Wohl hatte er etwas davon – die Genugtuung, einem Tier in Not geholfen zu haben, und in der allgemeinen Praxis seines Berufsstandes um eine lehrreiche Erfahrung reicher geworden zu sein. Aber er sah durchaus, daß Danny recht hatte.

»Okay, Sie kriegen Ihre Rechnung.«

Er würde in der Gebührenverordnung für Tierärzte nachschlagen müssen. Er hatte keine Ahnung, wieviel ihm für die eben durchgeführte Behandlung zustand.

»Fein, Eric. Danke für Ihre Hilfe.«

»Wenn es Schwierigkeiten mit Butterbloom geben sollte, rufen Sie an, Danny. Sie erreichen mich –«
»Weiß schon. Mußte ja vorhin alle antelefonieren. – Da ist Billy.
Aye, Billy, ich versuche gerade den Guvnor zu überreden, heute Abend ein Bier im Swordfish mit uns zu trinken. Was denkst du?« Danny stieg aus, und Eric entging das vielsagende Zwinkern und die kleine Bewegung des Armes, den Danny einer unsichtbaren Person um die Schultern legte, denn er ließ den Blick über Billys Land schweifen. Er wollte jetzt endlich zu Lance.
Billy grinste breit. »Gee, gute Idee das, Danny. Wie ist's, nach Feierabend, Guvnor? Wir können uns da mit Danny treffen. Es wird bestimmt lustig.«
»Oh, ohne Zweifel – was meinen Sie denn?«
»Pub«, soufflierte Danny und hob ein unsichtbares Glas an die Lippen. »Das beste Nutbrown-Ale in der Gegend.«
»Ach ... ja. Ich werd's mir überlegen.«
»Schon recht. Und Danke nochmals für Butterbloom. Wenn nicht heute, dann ein andermal.«
»Sicher. Gern.« Er nickte ihnen geistesabwesend zu und klemmte seine Tasche unter den Arm. Mit schnellen Schritten entfernte er sich, ohne zurückzublicken.
»Feiner Junge, das«, sagte Billy. »Aber ich wollt' schon gern wissen, was ihn treibt; gespannt wie 'n straffes Drahtseil kommt er mir immer vor. Vielleicht liegt's an dem Umgang mit diesen hochgespannten Vollblütern.«
Dannys Blick folgte Erics Gestalt, bis er im Stall verschwunden war, um Lances Ausrüstung zu holen.
»Was ihn treibt, weiß ich nicht. Aber ich bin ziemlich sicher, ich weiß, was ihm fehlt. Na ja, bis ich zurück bin bei Lizzy und dem Kleinen, ist es Zeit zum Melken. Wir sehn uns, Billy. Sieh zu, daß du ihn loseisen kannst. Eine hübsche stramme Lass, das isses, was er braucht.«
Die Konspiratoren zwinkerten einander vergnügt zu, tippten sich an ihre Mützen, und Danny kletterte wieder in sein zerbeultes Vehikel.

»Ein wundervolles Pferd ist das.«

Billy stand mit dem Unterarm auf der obersten Stange an der Außenseite des Koppelzaunes, in sicherer Entfernung von Sir Lancelot, dessen Führstrick mit einem fachkundigen Knoten um einen der Zaunpfosten geschlungen war. »Wundervoll«, wiederholte er, »was der alles kann! Als ob er schwebt – als ob er Flügel hätte! Dieser Sprung da zum Abschluß der Dressur ... beim heiligen Andreas, ich hätte nicht gedacht, daß ein Pferd so was machen kann – vorn und hinten hoch, und dann sicher wie eine Katze auf allen vier Füßen zu landen, Donnerwetter noch mal, das ist 'ne tolle Leistung ... was sag ich, sensationell!«

»Die Kapriole meinen Sie.« Eric ließ Lance mit einer leichten Berührung zur anderen Seite treten und rieb sein Fell mit einem weichen Tuch ab. Billys Bewunderung freute ihn. »Der Sprung stammt aus den Tagen der Schlachtrösser, die mehr zu tun hatten, als ihren Reiter unerschrocken durch ein metzelndes Kampfgetümmel zu tragen; ein solches Pferd war der Gefährte und der Waffenbruder seines Reiters, und es beherrschte Kampftechniken genau wie er. Die Kapriole war eine dieser Techniken – der Sprung nach vorn trieb den Pulk der Feinde auseinander und verlieh Lanze oder Schwert des Reiters eine Kraft, die er allein nicht hätte aufbringen können, während ihm das gleichzeitige wuchtige Ausschlagen den Rücken freihielt.«

Während er sprach, strich er mit dem Tuch bis zu Lances linkem Hinterbein, dann noch einmal über den sorgfältig gekämmten Schweif, trat einen Schritt zurück und begutachtete seine Arbeit. Das goldfarbene Fell Sir Lancelots reflektierte das Licht ohne eine einzige rauhe Stelle, die schmalen Hufe besaßen den gedämpften Schein von Marmor, Mähne und Schweif glänzten wie Fäden aus Sonnenstrahlen. Er hatte Excalibur versprochen, dasselbe auch für ihn zu tun. »Seltsam«, fuhr er fort, »nicht? – Viele Dinge, die wir heute als schön erachten, haben ihren Ursprung in Blut und Kampf und Schmerz. Wir ehren die Tradition, ohne ihre Wurzeln zu kennen.«

Billy war ein heller Kopf, der gründlich nachzudenken und überlegt zu handeln pflegte. Philosophie allerdings war Neuland für ihn, und er fühlte kein großes Verlangen, in dieses neue Gebiet vorzudringen. Er war mehr für Bodenständiges: »Oh, aye. Aye. Hm ... haben Sie sich's überlegt? Kommen Sie heute Abend mit in den Pub? Es ist Samstag, da gibt's immer 'ne besondere Unterhaltung. Letztens war eine lokale Band da, die spielte gälische Volksmusik, und die Sängerin ...«

Eric warf ihm einen kurzen Blick zu, und er verstummte. Der Knoten wurde gelöst, Eric packte sich Sattel und Zaum auf, nahm den Putzeimer in die linke und den Führstrick in die rechte Hand. »Könnten Sie das Tor bitte öffnen, Billy?«

»Sicher, Eric. – Hm – haben Sie?«
»Ja.«
»Geben Sie mir das ganze Zeug. So, gut, besser, oder?« »Ja. Danke schön, Billy.«
»Und?«
»Heute Abend lieber nicht, Billy. Tatsächlich wollte ich

Sie bitten, mir eines Ihrer Ponys zu vermieten. Ich will hoch zu den Fargus' und nach dem Rechten sehen. Hab nicht die richtige Ruhe für einen Pubbesuch.«

Billy wechselte das Thema, um sich von seiner Enttäuschung abzulenken. »Meinen Sie, ich könnte ihm vielleicht nahe kommen?«

»Lance?« Eric blieb stehen, und der Hengst, der so dicht hinter ihm schritt, daß der Führstrick durchhing, tat es ihm nach. »Versuchen Sie's.«

Billy legte seine Last ab, und Eric nahm den Strick kurz. »Kommen Sie, Billy. Reden Sie mit ihm.«
»Was soll ich denn sagen?«
»Wie sprechen Sie denn mit Ihren Pferden?«
»Oh, aye, verstehe, was Sie meinen.«
Sir Lancelot tat einen weiteren Schritt auf seine Heilung zu, als er Billy akzeptierte. Billy strahlte. Eric schob ihm den Führstrick in die Hand: »Wollen Sie ihn führen?«
»Wird er nicht ...?«
»Wir werden sehen. Ich bleibe auf seiner anderen Seite. – Nur keine Angst, Billy.«
»Oh – Angst hab ich nicht. Bloß – er ist so prächtig ... und meine Kleinen ...«
Meine Kleinen. So sprechen Menschen, die ihre Pferde achten und lieben und darum gut für sie sorgen; nicht, weil sie sich einen Profit von ihnen erhoffen.
»Lance ist nicht anders als Ihre Kleinen, Billy. Er braucht ganz dasselbe wie sie: freundliche, ruhige Zuwendung, artgerechte Haltung.«
»Aber er war doch ...«
»Völlig ausgekekst, meinen Sie? Oh ja, das war er. Und davor war er ein lenkbares, zutrauliches Pferd. Er ist auf dem besten Weg, es wieder zu werden. Lassen Sie sich nur nicht von der Tatsache seines Genies einschüchtern; Genies brauchen auch nicht mehr als Nicht-Genies. Sie kippen nur schneller, und benötigen dann mehr Hilfe als andere.«
Billy zwinkerte unruhig, nahm aber doch den Strick und sah zu Lance hoch. »Also, auch wenn du fliegen kannst, bist du eigentlich gar nicht anders als meine kleine Maudie. Aye, mein Junge, dann komm.« Er ging voran. Lance sog noch einmal seinen Geruch ein – und ein guter Geruch war es, von Hafer und Heu und ihm fremden Tieren, und der Geruch der kleinen, zotteligen Artgenossen, mit denen er den ganzen Tag spielerisch gebalgt oder geschäkert oder friedlich an ihrer Seite Gras gerupft hatte. Billys Geruch war für ihn der Inbegriff dieses neuen, urtümlichen Lebens, das er heute entdeckt hatte, und er folgte ihm willig zum Stall, wo Eric die Ausrüstung in die Sattelkammer trug. Als er zurückkam, hörte er, wie Billy mit Lance sprach. Als Billy Eric bemerkte, sagte er: »Wenn Sie eines meiner Ponys wollen, nehmen Sie am besten Gray Beard, der ist der größte und stärkste meiner Wallache. Sie wollen sicher nicht auf einer Stute nach Sunrise?«

Sir Lancelot hatte Gray Beard schon auf der Koppel kennengelernt und folgte ihm, weil Eric auf ihm saß. Dennoch gab es eine unüberbrückbare Disharmonie: wenn Gray Beard drei seiner kurzen, stoßenden Trabschritte tat, brauchte Sir Lancelot nur einen einzigen, segelte demzufolge voraus und wurde unweigerlich vom Führstrick zurückgehalten. Im Galopp war es nicht besser: auf zwei seiner Sprünge kamen vier von Gray Beard. Außerdem war das Pony nicht gewohnt, über lange Distanzen zu galoppieren, und schon gar nicht bergauf.

So sehr der große Hengst sich auch bemühte, seine langen Beine kurz treten zu lassen – wieder und wieder wurde er zurückgezogen, bis er schließlich ärgerlich wurde und mit dem Kopf zu schlagen begann.

Ein anstrengender Ritt. Einmal zog er Eric fast von dem ungesattelten Ponyrücken. Sie hatten nicht den geraden Weg zu den Hickmans über die Dorfstraße genommen, sondern folgten den Trampelpfaden, die das Dorf umgingen; es war zu riskant, dachte Eric, mit dem noch immer schreckhaften Hengst mitten durch das Dorf zu reiten. Alles konnte geschehen: ein abrupt zu laut gestelltes Radio, ein plötzlich schreiendes Kind, ein herankommendes Auto, und – das schlimmste von allem – ein auf sie zustürzender, bellender Hund. Nein, er hatte keine Lust auf einen Teufelstanz mitten im Dorf. Aber zu dieser Art der Fortbewegung hatte er auch keine Lust. Kurz entschlossen löste er den Schnappverschluß an Lances Halfter. Als der Hengst merkte, daß er frei war, blieb er stehen, die Hufe fest in den Boden gestemmt, und schüttelte verdutzt den Kopf: keine Behinderung mehr! Seine Ohren spielten, er schob die Oberlippe hoch und sog dabei tief die Luft ein, wie Hengste es tun, wenn eine rossige Stute in der Nähe ist. Lance aber nahm in diesen Augenblicken die Witterung der verführerischsten aller Geliebten auf – die der Freiheit: Weite und Luft, Himmel und Erde, unbegrenzt von Zäunen, Stricken, Mauern!

Eric war in Gray Beards stuckerndem Trab weitergeritten, den Hengst beständig über die Schulter beobachtend. Jetzt rief er nach ihm. Lance senkte den Kopf mit tief gerolltem Hals, schlug so hoch aus, daß man meinte, er werde sich überschlagen, sprang mit allen vieren hoch wie von einem Katapult geschleudert, segelte ein gutes Stück durch die Luft, kam auf und sprang sofort weiter mit langgestreckten, leicht fließenden Galoppsprüngen – ein Fluß von Gold. Er umkreiste Pony und Reiter. Er neckte Gray Beard, indem er sich halb an seiner Seite aufbäumte, als sei der Wallach eine Stute, die er einem imaginären Rudel zutreiben wollte – wieder und wieder brachte er den geduldigen Grauen aus seinem regelmäßigen Trab und hatte offenbar Vergnügen daran. Eric amüsierte sich über die Eskapaden seines Schützlings, hielt es aber doch für angemessen, sich bei Gray Beard zu entschuldigen: »Er ist sonst nicht so, weißt du. Normalerweise ist er sehr ernst, und manchmal sogar richtig förmlich. Es ist das erste Mal, daß ich ihn so mit dem Schalk im Nacken erlebe.« Er klopfte Gray Beards Hals: »Sieh's ihm nach, mein Junge. Die Freiheit steigt ihm ein bißchen zu Kopf.«

Sir Lancelot war ein einziges Funkeln und Sprühen, als er mehrere Längen vor ihnen in den Hof der Hickmans trabte. Er wußte genau, wohin er gehörte. Am nunmehr unbeachteten Hühnerauslauf vorüber trabte er ausgreifend und zielstrebig auf seinen Zaubergarten zu, kreiste auf dem kurzen, samtigen Rasen, blieb dann beim Springbrunnen stehen und sah Eric und Gray Beard entgegen. Er war durstig nach seinen Eskapaden, aber er trank nicht, denn er wußte, daß Eric zuerst die Temperatur des Wassers prüfen würde, bevor er ihm erlaubte zu trinken.

Der Rausch der Freiheit war eine Sache; Freundschaft und Respekt eine andere. »Das ist mein guter Junge«, murmelte Eric anerkennend. Er rutschte von Gray Beards Rücken und tauchte seine Hand in das Wasser. Gegen Abend stellten die Hickmans die Fontäne ab – ihre aufsprühende Frische wurde vor allem in der warmen Mittagszeit gebraucht. Das im Becken stehende Wasser war eben handwarm. »Okay, Jungens.« Eine goldene und eine dunkelgraue Nase neigten sich einträchtig über das Wasser. Lance ließ spielerisch ein paar Tropfen über Erics Haar laufen, worauf diesem eine nasse dunkle Strähne in die Stirn fiel. Eric zerraufte spielerisch seine Mähne: »Man merkt schon, daß deine Großmutter aus Irland war – die Iren haben alle einen kleinen schalkhaften Teufel auf der Schulter; aber übertreib's nicht. Es heißt auch, derselbe kleine Teufel jagt ihnen einen Stachel in die Kehle, wenn sie zu viel und zu laut lachen.«

Lance verhielt sich darauf wie ein vor Übermut quirlendes Kind, das sich in einem ernsthaften Versuch um Beherrschung auf die Lippe beißt: er stellte die Beine nach außen, streckte den Hals lang und schüttelte sich heftig. Gray Beard hob unberührt davon den Kopf und sah den Hickmans mit mildem Interesse entgegen, als sie über den Rasen auf sie zu kamen.

»Ein Pony? Eines von Billys, nicht?« David sah ihn fragend an.
»Ich will noch mal zu den Fargus' hoch, David, und Lance kann ich nicht nehmen.«
»Ich fahre Sie, das wissen Sie doch.«
»Es könnte aber länger dauern, und ich will mich auch auf dem Gelände umsehen; zu Pferd ist das viel einfacher.«
»Klingt ja beinah nach Unternehmen Mitternacht.«
»Das könnt's werden.«
Claire sagte nichts. Sie sah ihn eindringlich an.
»Ich hab mein Versprechen nicht vergessen, Claire.«
Sie nickte, aber eine kleine Sorgenfalte vertiefte sich auf ihrer Stirn. »Ich will's Ihnen nicht ausreden, aber kommen Sie wenigstens noch ins Haus und essen Sie mit uns, wenn Sie die Pferde versorgt haben.«

Der zunehmende Mond lag ihm im Blut. Selbst wenn er überhaupt nicht auf den Stand des wechselvollen Trabanten achtete, spürte Eric bei zunehmendem Mond eine ansteigende Unruhe, die ihren Zenit erreichte, wenn der Mond sich völlig rundete. Die Wetterlage spielte eine gewisse Rolle: wenn der Himmel bedeckt war oder Regen oder Schnee ausschüttete, war die Unruhe gedämpft, doch unleugbar vorhanden. In klaren Nächten aber verspürte er einen Sog in seinen Adern, der sich von Nacht zu Nacht steigerte und bis zum Vollmond den Charakter eines Fiebers annehmen konnte. In Nächten wie diesen hatte er Lionheart auf die Rennbahn gebracht – seine eigene Wachheit und Intensität hatte sich auf das sensible Tier übertragen.

Als er das Tor zu Sunrise passiert hatte, breitete sich die Auffahrt als silbriges Band vor ihnen, aus dem das bleiche Licht jede Erhöhung scharf und spitz hervorhob und jede kleinste Vertiefung mit Schatten anfüllte. Die alten Bäume zu beiden Seiten schienen ihnen mit ihren lichtüberschimmerten Blättern zuzuraunen, obgleich es nahezu windstill war. Eric fragte sich, welche Kraft sie dennoch bewegte, und mußte an Tolkiens Ents denken. In einer zauberischen Landschaft wie dieser war es leicht, der Einbildungskraft die Zügel schießen zu lassen und kaum wahrnehmbare Fabelwesen unter dem Dunkel der Bäume zu erspähen. Statt davon beunruhigt zu werden, regte es ihn an; schon als Kind hatte er das einzig richtige getan, wenn Schatten von Gegenständen – vermeintliche Gespenster – ihm Todesängste einjagten; er hatte sie als Freunde betrachtet. Die Schatten der hellen Mondnacht fürchtet nur der, der bereit ist, sich zu fürchten.

Auf der Kuppe am Rand des Hügels hielt er sein Pony an, aus dessen warmem Fell Dampfwolken in die klare Nachtluft aufstiegen. Sein Blick schweifte über die weite Grasfläche – unter diesem Licht war sie ein Meer aus Silber, das hier und da kleine Kräusel und Wellen zeigte, unterbrochen von den schroffen Felsformationen, die bei Tage ganz gewöhnlich aussahen, doch jetzt wie Überbleibsel aus den Tagen wirkten, bevor das Christentum auch in dieses Land gekommen war: wie verwitterte Rudimente druidischer Altarsteine waren sie. Durch die Stille drang der ruhelose Laut des Atlantiks zu ihnen; dort hinten erstreckte sich, soweit das Auge reichte, das Wasser, schwarzer Widerschein des hohen nächtlichen Sommerhimmels, mit zahllosen zerbrochenen Reflexionen der Sterne, die die Wellen einander zuwarfen.

Es war erregend, als ungesehener Besucher nachts nach Sunrise zu kommen. Er wußte, er würde nicht bemerkt werden, als er jetzt die Auffahrt hinunter und auf die Ställe zutrabte; in Sunrise-House waren nicht nur die Fenster des Salons gegen die Nacht und ihre Freuden und Schrecken abgeschottet. Aus jedem erleuchteten Fenster drang nur sehr gedämpftes Licht.

Excalibur stand mitten auf der Koppel, ihnen zugewandt; er hatte ihr Kommen wahrscheinlich schon bemerkt, als Eric das Tor zu seinem Territorium geöffnet hatte.

Der Mond bleichte sein Fell und ließ es silbrig glänzen. Als er auf sie zukam, zeichnete das Licht scharfe, wundersame Schatten zwischen die Rundungen seiner Muskeln, so daß er mehr denn je einer erlesenen, überlebensgroßen Statue glich. Doch sein Fell war warm, und das Maul, das begrüßend über Erics Wange strich, war weich wie Samt. Die dunklen Augen glänzten fragend.

»Hallo, mein Junge.« Eric schmiegte sich an ihn und wurde sich eines augenblicklichen Mißbehagens bewußt – natürlich, er roch noch nach Lance. Und außerdem nach Wallach. Gray Beard hatte sich zitternd geweigert, die letzten Meter zur Koppel hin zurückzulegen, abgeschreckt von dieser überwältigenden Kraft, die ihm da entgegenpulste – von seinem Standpunkt aus war das da ein entschieden zu Heißblütiger, einer, der kämpfte um des Vergnügens willen, und der tötete, ohne sich zu besinnen.

Excalibur überging nach einigem Wittern und Stampfen den abstoßenden Geruch seines Freundes und stieß ihn fragend an.

»Ich wollte nachsehen, ob alles ruhig ist hier.« Eric ging dicht neben ihm quer über die Koppel, die Hand unter seine Mähne geschoben. Excaliburs Ohren spielten aufmerksam. »Scheint ja alles in Ordnung zu sein, aber ich will auch noch mal nach deinem Harem sehen, ehe ich rausreite. Ich werde das Gefühl nicht los, daß die Lösung für Solitaires Rätsel irgendwo da draußen liegt. Und ich habe auch eine Ahnung, wo ich suchen muß.« Der Hengst scharrte, als Eric sich anschickte, durch die Bohlen zu klettern, und sein Kopf wandte sich mit einer sprechenden Bewegung zu den Hügeln.

»Du sehnst dich nach der Weite, ich weiß das. Halte noch eine kleine Weile aus, nur noch diese Nacht.« Er kletterte auf die unterste Bohle, damit er sich über den Zaun lehnen und Excaliburs Hals umfangen konnte. Aus der Wärme des Pferdekörpers strömte ihm das Verlangen entgegen, frei von Zäunen zu sein, seine Stuten um sich zu haben, und intuitiv erfaßte er Excaliburs Wunschbild: wäre Eric immer hier, dann würde Excalibur seine Herde stets nahe beim Haus halten, auf den weiten Grünflächen des Tals, allenfalls hinter dem ersten Hügel, so daß er Eric jeden Morgen begrüßen und seinen Anteil an Zärtlichkeit einheimsen konnte. Es war ein lockendes Bild. Es war eine dieser Versuchungen, die einen Menschen von dem Weg abbringen können, der zu seinem Traum führt.

Excalibur spürte sein inneres Zurückweichen und akzeptierte Erics Entscheidung, wie er die unbeugsamen Regeln akzeptierte, die die Natur aufstellt.

Im Stall war alles ruhig. Eric verzichtete auf das künstliche Licht und schritt langsam die Reihen ab. Die meisten Pferde schliefen. Sein leichter, geschmeidiger Schritt störte sie nicht. Da und dort hob sich ein dösender Kopf, verlor aber gleich wieder das Interesse, wenn er weiterging. Solitaire hatte sich hingelegt; als er sie leise ansprach, hob sie den Kopf und wollte aufstehen. Eric schlüpfte in die Box, kniete neben ihr und legte ihr die Hand auf den Hals. Halb und halb erwartete er einen Ausbruch, Schläge mit Beinen und Kopf; aber sie sank ins Stroh zurück und lag ganz still. Ihre Augen glänzten.

»Kleines Mädchen, ich muß etwas mit dir besprechen. Schau, es ist so – der Rote will wieder auf sein Land. Das hier ist nichts für ihn – Zäune, getrennt von euch. Das ist wie Stubenarrest für ein Kind.« Seine Nasenflügel zuckten in einer unangenehmen Erinnerung. Solitaire wollte wieder den Kopf heben. »Nein, laß, Prinzessin, es ist nicht wichtig. Excalibur, der Rote – er würde nicht ohne seine Herde gehen. Sie werden ihm folgen, wenn er morgen wieder hinauszieht. Aber du mußt bleiben. Ich möchte mit dir arbeiten – je mehr du mir traust, desto eher kann ich herausfinden, warum du einen guten Kerl wie Edward nicht leiden kannst. Das ist wichtig. Was ist denn das für ein Leben, über dem ständig ein Schatten hängt?« Er schob seine Hand unter ihr Kinn, und sie hob den Kopf und legte ihn auf seine Oberschenkel. Ihre Zutraulichkeit schnürte ihm die Kehle zu. »Du wirst Gesellschaft haben«, flüsterte er, »die Reitstuten bleiben auf jeden Fall hier. Und –«, ihm kam ein neuer Gedanke, »vielleicht auch die anderen. Aber die Entscheidung darüber liegt bei Excalibur.« Ihr kleines Maul bewegte sich hin und her, auf und nieder, bis sie es geschafft hatte, es unter sein Hemd zu schieben. Er fühlte die samtigen Pferdelippen mit den wenigen, aber langen, kitzelnden Barthaaren an seinem Bauch.

Sie verstanden sich ohne Worte. Eric spürte, wie ihr Vertrauen in ihn wuchs, wie seine Kraft und Ruhe sich auf sie übertrug. Er neigte den Kopf und drückte seine Stirn an ihre.

Ihr feiner Kopf wurde schwer auf seinen Beinen, und Eric hob ihn sanft auf und bettete ihn ins Stroh. Sie erwachte nicht.

Der Mond war zu drei Vierteln voll und strahlte von einem wolkenlosen Himmel, als er sich auf Gray Beard schwang und ihn auf die Hügel zu lenkte.

Eric hatte bald gefunden, wonach er suchte: die Rinderkoppel, und daran angrenzend das Schafgehege mit ihren jeweiligen Scheunen. Die eingezäunten Weiden waren überaus weitläufig; an Steilen, wo noch genug Gras wuchs, erstreckten sich die Zäune über die nächste Hügelkuppe. Es lag auf der Hand, daß eine zu geringe Anzahl von Hütern dieses unübersichtliche Gelände nicht ausreichend kontrollieren konnte, vor allem nicht nachts. Jetzt regte sich nichts auf den mondbeschienenen Wiesen; das Nutzvieh war in die Scheunen getrieben worden.

Als die stetigen Huftritte des Grauen sich der Rinderscheune näherten, schlug ein Hund an. Eric klopfte an die Tür und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Augenblicklich schoß ihm ein massiv gebauter Collie entgegen, mit entblößtem Gebiß und angriffslustigem Nackenfell. Eric blieb stehen, suchte seinen Blick und hielt ihn. Der Hund lief weiter, aber deutlich langsamer. Die dunklen Augen gaben seine nicht frei. Plötzlich blieb er unentschlossen stehen und wechselte verlegen von einer Vorderpfote auf die andere. Dann sank er auf die Hinterkeulen. Die Spitze seiner bauschigen Rute klopfte gleichsam entschuldigend auf den aus Lehm gestampften Boden.

»Was ist das für ein feiner Hund!« Überraschung zeigte sich bei der bewundernd klingenden Stimme auf dem ausdrucksvollen Tiergesicht. Eric hockte sich auf die Fersen und streckte die Hand anbietend, tief aus. »So ein feiner, wachsamer Hund! Guter Junge, guter Junge!« Die Rutenspitze klopfte schneller. »Komm zu mir, Junge, ja, kommst du?« Der Collie schob seinen Körper flach auf ihn zu. »Nicht doch so, Junge, nicht ducken, komm schon!« Eric lachte ihm zu und schnalzte mit den Fingern. »Ich will dich doch in deiner ganzen Pracht bewundern können!« Der Hund wedelte und lief zu ihm, beschnupperte ihn und drängte gegen ihn, daß er beinah umgeworfen wurde. Er ließ sich auf den Hosenboden fallen und legte die Arme um den reichen Nackenpelz. Über den Kopf des Hundes sah er zum ersten Mal die beiden Männer an, die einander an einem kleinen Holztisch gegenübersaßen und vor seinem Eintritt Karten gespielt hatten. Der eine hielt sein Blatt noch in der Hand, dem anderen waren die Karten entglitten, einige lagen verstreut auf dem Boden und zeigten die Vorderseite. Beide betrachteten ihn wie etwas, das vom Himmel ausgerechnet ihnen direkt vor die Füße gefallen war.

Eric rappelte sich auf, schnickte den Schmutz von seinen Hosen und lächelte sie entwaffnend an. »Tut mir leid, daß ich Ihnen Ihr Spiel verdorben habe.«

»Wie haben Sie das denn bloß gemacht?« brachte endlich der eine hervor und zeigte mit seinen Karten nach dem Hund, der sich eng an Eric schmiegte und versuchte, seine Nase in dessen Hand zu schieben. »Der Prince nämlich, der kann Fremde nicht leiden.«

»Er scheint 'ne Ausnahme zu machen.«
»Nay, so einfach is das nich!« warf der andere ein. »Ich hab Sie beobachtet. Sie blieben stehen und haben ihm bloß in die Augen geguckt. Kein Hund hat das gerne, und das wissen auch alle, aber sie vergessen's, wenn 'n fremder Hund wie so'n Deibel auf sie loskommt – denn drehen sie sich um und geben Fersengeld, und dann is' der Hund natürlich erst so richtig heiß.«
»Sie wissen aber eine Menge, Mr ...«
Der Mann, so respektvoll und bewundernd angesprochen, richtete sich auf; kein Wunder bei dem Namen, den er nannte, denn er war in alten Zeiten auf das engste mit dem schottischen Herrscherstuhl verknüpft gewesen: »Douglas. Aber sagen Sie ruhig Will. Das hier is der alte Roddy.«
»Freut mich sehr. Will. Roddy.« Er schüttelte jedem die Hand, nickte freundlich, und stellte sich vor.
»Gee, Sie sind das! – Na, wer 'ne verrückte Frauensperson von Gaul einfangen kann, der kommt auch mit unserm Prince zurecht, nich, Kumpel?« Der Hund wedelte und drückte sich enger an Eric. »Sieht aus, als würd er bei Ihnen bleiben wollen.« Eric neigte sich über Prince und streichelte ihn. Unter der kundigen, kosenden Hand sank der Collie auf die Hinterhand und verdrehte selig die Augen, als Eric ihn sanft kraulte. »Aber nein. Nein, Prince weiß doch über seine Aufgabe genau Bescheid, nicht, Junge?« Die Rute klopfte von unten nach oben auf den Boden. »Ein feiner Hund.« Eric richtete sich auf und ließ seinen Blick über die durch ein Gatter vom Vorraum abgetrennten Rinder schweifen. »Schöne Herde. Herefords, und wie ich sehe, haben Sie auch ein paar Hochländer darunter.« Er hatte in dem schwarzweißen Strom die roten und rotgelben, gedrungeneren, wolligen Gestalten entdeckt, die ihren Ursprung in den schottischen Highlands weit im Norden haben. »War die Nacht ruhig?«
»So ruhig wie der Schlaf meiner Grandma, Gott hab sie selig.«
»Und die Nächte davor?«
»Seit wir nachts in der Scheune sind, ist kein Tier mehr weggekommen. Es ist auch für uns ruhiger geworden; es ist nicht immer ein Vergnügen, draußen zu sein bei Nacht und jedem Wetter.«
»Sicher nicht.«
»Jo, das war wohl wirklich 'n guter Einfall von Mylady. Irgendwas mußte sie ja wohl auch machen, weil sie doch die Hilfen abgezogen hatte.«
»Ja. Bin froh, daß Sie sich wohl fühlen. Gute Nacht dann, Will. Roddy. – Gute Nacht, Prince.« Er kauerte sich nieder und rieb die zarten Ohren des Hundes, bis diesem ein kleines Grollen des Entzückens entschlüpfte.
»Nacht«, kam es von den Männern, und ein kurzes, kehliges Bellen von Prince, als er die Scheune verließ.
»So hätt's schon immer sollen sein«, meinte Will, nachdenklich seine Karten sortierend, »so: daß einer da is, der sich kümmert, und auch nachts mal rausgeht und nach 'm Rechten sieht. Der alte Fargus hat so was nie gemacht, sein Sohn nich, und Mylady is 'ne Dame, die is viel zu zart für so was.«
»Meinste Will, daß die Leute recht haben ...?«
»Was 'n?«
»Meinste«, stieß Roddy eilig heraus, um es schnell hinter sich zu haben, »meinste, da ist was dran? Meinste, die beiden haben was?«
»Miteinander? Mylady und der Junge?« Nachdenklich lutschte Will am Rand einer Spielkarte. »Warum nich«, sagte er langsam. »Wär ja für beide von Vorteil.« Er versank in tiefes, gründliches Nachdenken. »Aber irgendwie ... ich weiß nich, Roddy. Denkste, unser Prince würd' gleich einem so vertrauen und ihn so gern haben, wenn der durchtrieben wär?
– Nay.« Sein Urteil war gefällt. »Nay, Roddy, der Junge ist in Ordnung. Tiere wissen so was.«

Gray Beard trug ihn ohne zu murren in seinem unermüdlichen Trab beinahe quer über das ganze Gelände, bis sie den Drahtzaun erreicht hatten, wo er im spitzen Winkel an den Beginn des Cochan-Landes stieß. Auf diesem Ritt saß Eric entspannt mit nur leichtem Knieschluß. Als der Drahtzaun vor ihnen aufblinkte, richtete er sich aus seiner lässigen Haltung auf und nahm die Zügel fester. Gray Beard spitzte die Ohren.

»Brauchst du eine Pause, Junge?« Der Graue prustete und wandte sich von allein nach Westen, als wisse er, was sein Reiter im Sinn hatte. Eric streichelte seinen Hals, und Gray Beard schien um einige Zoll zu wachsen. Er tänzelte beinahe und setzte sich in Trab, noch bevor sein Reiter ihm das Signal dazu gegeben hatte.

Die Luft war ganz klar, und da kein Wind ging, waren alle Laute besonders deutlich zu hören und bekamen eine eigentümliche Bedeutsamkeit: das stetige Klopfen seiner Hufe auf dem Waldboden, das Zirpen der Grillen, der gelegentliche schlaftrunkene Ruf eines kurz aufgestörten Tagesvogels, der Schrei einer weit entfernten Wildkatze. Der strahlend helle Mond hatte einen Mantel von lichter Tönung um sich gebreitet, der die darin hängenden Sterne nur blaß hindurchschimmern ließ. Sie trabten durch eine Welt atmenden, geheimen Lebens in Schwarz und Silber.

Eric suchte nach Schnittstellen im Zaun. Eine Öffnung würde bedeuten, daß die Cochans auf das Land der Fargus' eingedrungen waren, und es wäre dann möglich, sie auf frischer Tat zu ertappen. Dann würde die Polizei sich nicht mehr blind und taub stellen können, und Emily wäre eine große Belastung los. Aber es war nicht nur das ...

Er blickte zum Mond. Es mußte nach Mitternacht sein. Sie trabten bis zu einem der steilen Küstenausläufer. In der Mitte wurde er von dem schimmernden Zaun gespalten. Der Fels reckte sich hoch über dem Atlantik; sein Rauschen und Strömen, das unaufhörliche Anbranden und Zurücksaugen erreichte ihn wie ein Flüstern. Erics Blick hing gebannt an den wie schwarz getünchten Felsensäulen, die sich vereinzelt aus der unruhigen Oberfläche erhoben und Zeugnis darüber ablegten, daß sie einmal Teil des Festlandes gewesen waren. Er stieg ab, blieb neben Gray Beard stehen und sah über die endlose Fläche des Atlantiks, auf der, gekrönt von unzähligen glitzernden Spitzen, das zerrissene Spiegelbild des Mondes schimmerte.

Als Gray Beard den Kopf senkte, um zu grasen, erwachte Eric aus seiner Träumerei. »Banause«, sagte er sanft und saß wieder auf, »unromantisches Geschöpf.« Er streichelte den kräftigen Hals und wendete das Pony. »Aber ohne dich hätte ich wahrscheinlich die ganze Nacht hier verbracht.«

Auf dem Rückweg, nahe beim Grenzzaun, trafen sie wieder auf den Bach, den sie vorhin schon gekreuzt hatten. Erics Mondfieber stieg. »Ich wüßte schon gern, wo der hinführt«, murmelte er. Willig folgte Gray Beard den Windungen des kleinen Wasserlaufs, rutschte vorsichtig über einige abschüssige Strecken und gelangte in ein kleines ovales Tal, auf dessen Sohle sich ein beinah kreisrunder See gebildet hatte.

Der Graue streckte den Kopf nach dem murmelnden Wasser. »Gute Idee.« Auch Eric war durstig. Er saß ab und ließ das Pony eine feste Stelle am Ufer suchen, wo es bequem stehen und den Kopf zum Trinken neigen konnte. Er streifte das Zaumzeug ab, wusch das Mundstück unterhalb der Stelle, an der Gray Beard trank, und hängte den Zaum an einem Felsvorsprung auf. Dann legte er dem Pony einen Strick um den Hals und verknotete ihn so großzügig, daß er nicht zu eng saß, das Pony aber nicht hinausschlüpfen konnte. Als Gray Beard genug hatte, führte er ihn zu einem Busch und wand das freie Strickende um dessen Stamm. Der Graue hatte jetzt immer noch genug Spielraum, um zum Wasser zu gelangen, wann immer er wollte.

Das Wasser roch eigenartig, ganz frisch, und es schmeckte prickelnd wie ein Hauch vom Meer. Eric trank aus den hohlen Händen und sah zum Mond auf, als sein Durst gelöscht war. Seine Gedanken wanderten zurück zu jenem Abend, an dem er Emily Fargus kennengelernt hatte, und an seine stumme Zwiesprache mit dem Mond. Er lächelte.

Der See zog ihn magisch an. Er wirkte wie ein venezianischer Spiegel – gleich diesem mit dunklem Grund und leuchtender Oberfläche. Er kniete nieder und neigte sich über das Wasser, das sein Spiegelbild ungetrübt und völlig glatt zurückwarf.

Eric gehörte zu den Männern, die nur beim Rasieren in den Spiegel sehen, und so war das Gesicht, das ihm entgegensah, beinahe wie das eines Fremden.

Hugh, geschickt in so vielen Dingen, hatte ihm während seines Krankenhausaufenthaltes die Haare geschnitten, als das Kämmen zu schmerzhaft für seinen wunden Schädel geworden war, aber er hatte Erics üblichem Kurzschopf eine neue Variante verliehen, indem er das Haar über der Stirn nicht angerührt hatte, so daß es ihm jetzt gelegentlich ins Gesicht fiel; und es war nicht glatt, sondern leicht gewellt. Eigenartig, er hatte immer geglaubt, sein Haar sei so gerade wie ein Streichholz, aber wohl nur, weil er ihm nie die Gelegenheit gegeben hatte, länger als ein Streichholz zu werden. Belustigt zog er an einem Büschel Haare, spannte es, wobei er es im Wasserspiegel genau beobachtete, und ließ es los. Elastisch sprang es zurück und fiel ihm in die Stirn – eine weiche Welle. Ganz nett, dachte er, aber insgesamt doch eher störend. Er würde es abschneiden, gleich morgen. Langes Haar war unpraktisch. Für den Augenblick würde es genügen, es mit etwas Wasser zu bändigen. Er tauchte die Hände ein und stellte überrascht fest, daß das Wasser lauwarm war. Wahrscheinlich war dieser See nicht sonderlich tief und hatte während des sonnigen Tages die Wärme aufgesogen. Ein unwiderstehliches Verlangen nach einer Erfrischung überkam ihn. Gray Beard hörte auf, am Gras und den noch zarten Laubspitzen des Busches zu zupfen, und beobachtete mit gespitzten Ohren, wie Eric seine Kleidung abstreifte. Dann wandte er gleichmütig den Kopf und fraß weiter. Eric trug noch die Badehose unter seinen Reitsachen. Er war froh darüber, denn schamhaft wie er war, hätte er sich selbst vor den unbeteiligten Blicken des Wallachs geniert, ganz nackt zu baden. Seine Bewegungen kräuselten die glatte Oberfläche. Etwa in Hüfthöhe verlor er festen Grund, ließ sich vom Wasser umgreifen und tat einige langsame Schwimmzüge. Das Wasser war knapp unterhalb der Oberfläche deutlich kälter durch den ständigen Zustrom des kühlen Baches. Er schwamm schneller, um nicht kalt zu werden, und während er kraulte, wurde ihm warm. Er schwamm die Anstrengungen dieses ereignisreichen Tages weg.

Wie ein Delphin schoß er aus dem Wasser empor und tauchte wieder tief ein; genaugenommen hatte er sich nicht an das Versprechen gegenüber Dr. Mercury gehalten, dabei hatte er es Claire gegenüber am Abend noch wiederholt. Dr. Mercury hatte ihn gebeten, sich nicht zu viel zuzumuten. Aber er fühlte sich großartig. Er hatte sich nicht verausgabt.

Schließlich drehte er sich auf den Rücken und trieb mit kleinen Stößen träge dahin, das Gesicht dem Mond zugewandt, versunken in Erinnerung an diesen übervollen Tag. Er war zufrieden mit sich, ja, er war wirklich zufrieden. Er hatte keine Wunder vollbracht, aber er hatte doch einiges bewegt. Und einiges war für ihn bewegt worden – Turner hätte sich in seinem Zorn leicht von ihm abwenden können, auch wenn er es bald darauf bedauert hätte. Aber er hatte es nicht getan, und Lance konnte aufgrund dieser Entscheidung vielleicht bald wieder ein völlig normales, angstfreies Leben führen.

Abrupt ließ er sich tief ins Wasser fallen, behielt nur Kopf und Schultern über der Oberfläche, Wasser tretend und angespannt in das Dunkel spähend: er fühlte eine Last – schon seit einiger Zeit, aber gerade eben war er sich dessen schlagartig gänzlich bewußt geworden. Ein Augenpaar ruhte auf ihm. Es mußten Augen sein, denn er hatte ohne zu denken den Kopf in eine bestimmte Richtung gewandt, wie man es tut, wenn man angesehen wird. Natürlich war in der schwarzweißen Wildnis um ihn herum nichts auszumachen, aber auch das Pony hielt den Kopf hoch und in die Richtung gewandt, die sein Blick unbewußt gesucht hatte. – Trotzig warf er sich wieder auf den Rücken und schnellte durch die Mitte des Sees. Vielleicht ruhte der scharfe Blick eines Käuzchens auf ihm, oder die Augen einer Wildkatze. Er tauchte unter; fühlte sich von diesen Augen bei allzu großer Selbstzufriedenheit ertappt.