Verdeckte Ermittlungen
Krishna ging mit langen Schritten über den Besucherparkplatz und steuerte auf den kleinen Laden zu, der am linken Rand des Parkplatzes lag. Er sah übernächtigt aus und hätte eine Menge dafür gegeben, einige Stunden friedlich schlummern zu können. Doch daran war im Moment nicht zu denken. Auch die letzte Nacht hatte er fast die ganze Zeit wach gelegen und über Bruder Andreas' Tod nachgedacht und vor allen Dingen darüber, ob er ihn hätte verhindern können. Er musste mit dem Grübeln aufhören, und er musste versuchen, wieder zu schlafen. Vielleicht würden ihn ein, zwei Gläser Rotwein vor dem Schlafengehen in einen sanften Traum geleiten, aber er konnte schließlich schlecht in die Klosterküche gehen und um Rotwein und Korkenzieher bitten. Da musste er sich schon selber helfen. Entschlossen stieß er die Tür des Ladens auf und durchschritt ihn, während er die Blicke links und rechts suchend über die Regale gleiten ließ. Am Ende des kleinen Ladens in einer Nische wurde er fündig. Chianti! Rot, trocken und über zwölf Umdrehungen. Für seine Zwecke genau das Richtige. Und ein Korkenzieher würde sich hier ja wohl auch noch finden … Er zog eine Flasche aus dem Regal und starrte verblüfft auf das Preisschild: 17,49 Euro.
»Ja, sind die denn komplett verrückt geworden hier?«, murmelte er ungehalten. »Das ist Nötigung!«
Wütend sah er sich um und hielt nach einer Verkäuferin Ausschau, an der er seine schlechte Laune auslassen konnte. Der Laden war menschenleer, doch ein Geräusch hinter der Theke mit der Kasse ließ ihn einen Schritt nach vorne gehen. Richtig, da lehnte ein Schrubber an der Wand, und dahinter hockte jemand auf dem Boden und wischte. Er konnte blonde, kurze Haare erkennen, die sich gleichmäßig hin und her bewegten.
»Entschuldigung«, rief er lautstark und immer noch wütend, »könnten Sie mir wohl hier hinten mal behilflich sein? Diese Weinflasche hier muss falsch ausgezeichnet sein.«
Die blonden Haare hinter der Kasse kamen höher. Er konnte ein atemberaubend hübsches, kleines Ohr erkennen, dann wurde die ganze Person, die in einem weißen Kittel steckte, sichtbar und drehte sich zu ihm um.
Krishna ließ die Weinflasche fallen, und der 17,49-Euro-Rotwein ergoss sich über den Boden und über seine helle Leinenhose, die jetzt aussah, als habe er an einer Schlachtung teilgenommen.
»Scheiße«, sagte er und starrte die Verkäuferin an.
Rebecca, die ihn schon beim Hereinkommen erkannt und sich geschäftig am Boden hinter der Kasse versteckt hatte, setzte eine unnahbare Miene auf und entgegnete lapidar: »Erstaunlich, welch verbale Gewalt unser Wiedersehen in dir aufweckt. Hallo, Krishna.«
Sie kam hinter der Kasse hervor, ging zu ihm nach hinten und warf einen Blick auf das Preisschild, das noch auf einer der Scherben am Boden erkennbar war.
»Das macht dann 17,49 Euro – oder 34,98 Euro, falls du noch eine Flasche mitnehmen willst.«
Krishnas entgleiste Gesichtszüge begannen sich wieder zu ordnen, und langsam breitete sich darauf ein Lächeln aus, das beim Mund begann und schließlich bei den Augen ankam, die übermütig Funken sprühten.
»Was, zum Teufel, tust du hier? Hast du mich so sehr vermisst, dass du mir bis ins Kloster folgst?«
Er trat einen Schritt vor, mitten in die Lache aus Rotwein und Glassplittern hinein, schlang heftig die Arme um sie und presste ihren Kopf mit einer Hand an seinen Hals.
»Keine Spur! Ich bin rein dienstlich hier«, beharrte Rebecca mit halb erstickter Stimme, da Krishnas Arme sich um ihren Oberkörper gelegt hatten wie Schraubstöcke.
»Ich glaub dir kein Wort, aber ich verzeihe dir.« Krishna gluckste in ihr Ohr wie ein aufgeregtes Huhn.
»Wie großmütig von dir!« Rebecca bog sich zurück und versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien. »Lernt man so viel Seelengröße im Kloster?«
»Ja, genau«, antwortete er grinsend, während er sie weiterhin umklammert hielt, »und man lernt da auch, was Entbehrung bedeutet. Aber leider hilft es einem nicht dabei, Entbehrungen leichter zu ertragen, im Gegenteil!«
Er drängte sie gegen das Weinregal in der kleinen Nische.
»Man sehnt sich da drin nach allem, was man dort an weltlichen Dingen entbehrt und bisher immer als selbstverständlich angesehen hat. Und eins kannst du mir glauben: Ich habe in den letzten eineinhalb Wochen nichts so sehr vermisst wie dich.«
Er nahm ihren Kopf in die Hände und küsste sie heftig. Einige Sekunden überließ sie sich seinen Lippen und seinen Händen, dann entwand sie sich ihm.
»Nicht hier«, sagte sie, leicht außer Atem, »man könnte uns sehen.«
Krishna ließ die Hände sinken und starrte sie verdattert an.
»Vielleicht kannst du mir mal erklären, warum man uns nicht sehen darf. Aus dem Teenageralter sind wir doch wohl schon eine Weile raus, und mir will einfach kein Grund einfallen, warum ich dich nicht in der Öffentlichkeit küssen darf.«
»Wie ich schon sagte, ich bin dienstlich hier.«
Rebecca war in die Knie gegangen und begann, die Glasscherben auf dem Boden aufzusammeln.
»Niemand hier darf wissen, dass wir uns kennen. Das würde meine Ermittlungsarbeit stark behindern, wenn nicht sogar vereiteln.«
Krishna ging ebenfalls in die Knie und sah sie ernst an.
»Willst du mir damit etwa sagen, dass du dich die nächsten Tage genau vor meiner Nase befinden wirst, und ich muss die ganze Zeit so tun, als ob ich dich nicht kenne?«
Rebecca wich seinem Blick aus und nickte, während sie verbissen winzig kleine Scherben auflas.
»Ja, so ähnlich.«
»Das kannst du nicht von mir verlangen!«
Er packte sie mit einer Hand an der Schulter, bis sie ihn ansah.
»Ich geh vor die Hunde, wenn ich dich nicht bald berühren darf«, sagte er leise, aber eindringlich. »Bitte! Du kannst doch einen Verhungernden nicht vor ein Sahneschnittchen setzen und ihm befehlen, es erst in drei Tagen aufzuessen!«
Rebecca wischte seine Hand von ihrer Schulter und funkelte ihn an.
»Das Sahneschnittchen verpasst dir gleich einen Satz heiße Ohren!«
Krishna schlug bittend die Handflächen gegeneinander und jaulte leise wie ein junger Hund. Rebecca verkniff sich ein Lächeln.
»Also gut«, gab sie schließlich nach, »wir können uns im Paradies treffen.«
»Im Paradies? So lange wollte ich eigentlich nicht warten! Außerdem bin ich mir gar nicht sicher, ob ich da jemals hinkommen werde, und bei dir hab ich auch so meine Zweifel.«
»Paradies nennt man den Bereich vor dem Eingang zur Abteikirche. Er ist umgeben von einem Kreuzgang, und in der Mitte des bewachsenen Innenteils steht der Löwenbrunnen. Wir können uns da heute Abend um neun treffen.«
»Warum da? Wir könnten uns doch auch in deinem momentanen Domizil treffen. Wo immer das auch ist, ein Bett wird es dort wohl geben.«
Rebecca setzte einen strengen Gesichtsausdruck auf.
»Kommt nicht in Frage. Ich bin nicht zum Vergnügen hier. Außerdem liegt das Paradies in der Nähe eines Ortes, den ich heute Abend noch besuchen will.«
Sie erhoben sich beide, als ein groß gewachsener Mann Ende vierzig den Laden von einem Nebenraum aus betrat, und Krishna nickte leicht zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Als er sich umwandte, um zu gehen, hielt Rebecca ihn zurück.
»Entschuldigen Sie …«
Krishna blieb überrascht stehen und drehte sich um.
»Sie haben den Wein noch nicht bezahlt. Das macht 17,49 Euro, bitte.«
Verstohlen grinsend zog er sein Portemonnaie hervor und drückte ihr einen Zwanzig-Euro-Schein in die Hand.
»Stimmt so«, bemerkte er gönnerhaft, »der Rest ist für die gute Beratung!«
Die Nacht war ungewöhnlich mild, trotzdem zog Rebecca fröstelnd die Schultern hoch und zog ihre Jacke enger um den Körper. Es war nahezu dunkel, der Mond war nur als schmale Sichel erkennbar, und die ersten Sterne funkelten noch schwach. Krishna war seit fast zehn Minuten überfällig, und Rebecca begann, sich hier alleine im Dunkeln unwohl zu fühlen. Sie saß im Paradies auf der Steinmauer zwischen zwei Doppelsäulen des Kreuzgangs. Hin und wieder wurde die Nachtluft vom Schrei eines Vogels durchschnitten – jedenfalls hoffte Rebecca, dass es nur Vögel waren. Nervös warf sie einen Blick über die Schulter und konnte aus dem Augenwinkel einen dunklen Schatten erkennen, der sich in dem Bereich zwischen Abteikirche und Konventbau von der Wand löste. Rasch kam die Gestalt zum Paradies gelaufen, und kurz darauf hatte Krishna sie entdeckt und kam zu ihr herüber. Er ließ sich neben ihr auf die Steine nieder, nahm sie wortlos in die Arme und küsste sie lange. Schließlich lösten sich ihre Lippen voneinander, und er betrachtete ihr Gesicht.
»Komm, lass uns hier abhauen«, schlug er leise vor, »wir packen unsere Sachen und fahren nach Hause. Ich hab den ganzen Nachmittag drüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass dies das einzig Vernünftige ist.«
»So einfach ist das nicht«, widersprach Rebecca und strich mit einem Finger vorsichtig die Linie seiner Wangenknochen entlang. »Ich hab hier erst noch einen Job zu erledigen.«
Krishna seufzte und setzte sich aufrecht hin.
»Irgendwie habe ich gewusst, dass du so was in der Art sagen würdest.« Eine Weile betrachtete er seine Fußspitzen, die den Steinboden des Kreuzganges berührten. Dann legte er einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.
»Also gut, dann erzähl mir wenigstens, was du hier machst.«
Seine Hand glitt von Rebeccas Schulter und legte sich auf ihre Hüfte. Missbilligend verzog er das Gesicht.
»Musst du das Ding eigentlich unbedingt bei unserem Rendezvous tragen?«, fragte er, als er ihre Dienstwaffe bemerkte.
»Na, ich kann sie ja wohl schlecht bei Matthias im Arbeitszimmer zurücklassen.«
»Matthias, welcher Matthias?« Krishna klang argwöhnisch.
»Matthias Lehmann, ein ehemaliger Mitarbeiter von Karsten Gottschalck aus seiner Bonner Zeit. Matthias ist jetzt Inhaber des Hofladens, in dem du heute warst. Karsten hat mich als Maulwurf dort eingeschleust, und solange ich hier bin, hat mir Matthias sein Arbeitszimmer als Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt.«
»Na klasse! Ich muss so tun, als ob ich dich nicht kenne, und irgend so ein Matthias teilt Tisch und Bett mit dir. Das fällt dann wohl unter die Kategorie ›dumm gelaufen‹.«
»Jetzt werd aber nicht komisch! Außer dir und Garfield hat in den letzten Jahren niemand mein Bett geteilt. Und davon mal abgesehen ist Matthias verheiratet und hat drei Kinder.«
»Drei Kinder? Wann findest du denn Ruhe genug, um dich mit deinem Fall zu beschäftigen?«
»Die Kids sind gar nicht da. Als Matthias' Frau erfahren hat, dass ich ihn die nächsten Tage im Laden unterstützen werde, hat sie die Gelegenheit ergriffen und ist mit den Kindern zu ihren Eltern gefahren.«
»Ha! Also doch!« Triumph lag in Krishnas Stimme.
»Was also doch?« Rebecca begann, die Geduld zu verlieren. »Soll ich dir jetzt erzählen, was ich hier mache, oder willst du mir weiter die Nerven schmirgeln?«
»Okay, okay!« Krishna hob beschwichtigend die Hände, und Rebecca fing an zu erzählen. Als sie geendet hatte, sah sie ihn erwartungsvoll an, doch er schwieg.
»Verstehst du?«, begann sie. »Ich will herausfinden, wo sich die beiden mit diesen Pilzsporen infiziert haben. Ich glaube, dass die Quelle hier irgendwo im Kloster ist, und ich tippe auf ein Grab. Also muss ich den Friedhof absuchen nach einem Grab, das vielleicht vor kurzem geöffnet worden ist. Außerdem ist da noch dieser Bruder Giordano, dessen Rolle in der ganzen Angelegenheit bisher ziemlich undurchsichtig ist. Ich muss mehr über ihn herausfinden – was er macht, warum er hier ist und was er vorhat.«
»Jedenfalls scheint es irgendwas mit Bruder Andreas zu tun zu haben.« Krishna sah sie direkt an, und sein Blick schrie förmlich nach einer Nachfrage.
»Wie meinst du das?«, tat Rebecca ihm den Gefallen.
»Ich hab ihn gestern dabei überrascht, wie er Bruder Andreas' Zelle durchsuchte. Er hat sogar unter der Matratze gewühlt.«
»Wie hat er das erklärt?«, fragte Rebecca atemlos.
»Damit, dass er seine Bibel sucht. Angeblich hätte er Bruder Andreas daraus vorgelesen, und seither sei sie verschwunden. Aber ich habe ihm kein Wort geglaubt. Selbst ich kann eine Lüge erkennen, wenn sie mich anspringt.«
»Was also hat er da gesucht?«
Krishna zuckte mit den Schultern und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen die Doppelsäule des Kreuzgangs.
»Vielleicht hat es ja was damit zu tun, dass Bruder Andreas seit kurzer Zeit der Verwalter der Klosterschatzkammer war.«
»Du meinst, er war einfach nur hinter dem Gold und Geschmeide aus der Schatzkammer her?«
»Keine Ahnung. Du bist doch die Kriminalistin. Ich werde mich darauf beschränken, den Kerl unauffällig zu beobachten. Wenn mir irgendwas Ungewöhnliches auffällt, sag ich dir Bescheid. Den Rest musst du schon alleine machen.«
»Du bist ein Schatz!« Rebecca beugte sich nach vorne und gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. »Aber sei bitte vorsichtig, wenn du ihm nachspionierst. Ich weiß nicht, was der Kerl im Schilde führt und ob er vielleicht gefährlich ist. Morgen früh ruf ich Thomas an. Er soll noch mal mit diesem Pater Herlinger sprechen und versuchen, möglichst viel über Bruder Giordano herauszufinden.«
»Und was machen wir jetzt mit deiner Lust auf kürzlich geöffnete Gräber?«, fragte Krishna wenig begeistert, während er die Füße auf die Mauer stellte und die Arme um die Knie schlang.
»Weißt du, wo sich der Friedhof des Klosters befindet?«
Krishna nickte.
»Es gibt zwei. Einer liegt neben der Friedhofskapelle St. Nikolaus innerhalb der Klausurmauer. Hier sind die Mönche seit der Wiederbesiedlung des Klosters am Ende des vorletzten Jahrhunderts begraben. Da kommst du nicht unauffällig hin, ohne Aufsehen zu erregen. Also werde ich das übernehmen.«
»Danke«, flüsterte Rebecca und drückte kurz seine Hand. »Sieh einfach nach, ob du frisch aufgeworfene Erde, lockere Grabplatten oder sonst irgendwelche Anzeichen findest, die darauf hindeuten, dass ein Grab erst vor kurzem geöffnet wurde.«
»Na, prima!«, entgegnete Krishna grob. »Ich hoffe nur, dass sie bis dahin Bruder Andreas noch nicht begraben haben, sonst könnte ich auf die falsche Fährte gelockt werden!«
Er senkte den Kopf fast bis auf die Knie und fuhr sich mehrfach mit den Fingern durch die kurzen braunen Haare. Rebecca beobachtete ihn aufmerksam.
»Warst du dabei, als er starb?«, fragte sie schließlich leise.
Krishna hielt in der Bewegung inne. Dann nickte er zögernd.
»Ich habe versucht, ihn zu retten, aber er ist mir unter den Händen weggestorben.« Seine Stimme drohte zu versagen, und er holte tief Luft. Sacht schob Rebecca seine Füße zur Seite und rückte näher an ihn heran. Schweigend nahm sie ihn in die Arme. Es dauerte einige Sekunden, bevor er begann zu erzählen, was in dieser Nacht passiert war. Als er geendet hatte, fühlte er sich besser, aber todmüde. Schließlich löste er sich aus Rebeccas tröstender Umarmung und sah sie an.
»Es gibt noch einen zweiten Friedhof«, setzte er ihre vorangegangene Unterhaltung fort, »den Waldfriedhof.«
»Ich weiß«, sagte Rebecca leise, »das ist der Grund, warum ich mich hier mit dir treffen wollte. Dieser Friedhof ist meine Hausaufgabe für heute Abend.«
Sie deutete mit dem Kopf zur Seite, wo in der Ferne vor der dunklen Kulisse des angrenzenden Waldes ein paar ausgetretene Stufen zu sehen waren. Dahinter erhob sich ein Mauerstück mit einem Torbogen, der durch ein Eisentor verschlossen war.
»Na, dann mal los.«
Rebecca stand auf, und Krishna sah sie entgeistert an.
»Du willst doch wohl nicht jetzt den Waldfriedhof absuchen! Es ist stockdunkel!«
Rebecca klopfte auf die Innentasche ihrer Goretex-Jacke.
»Ich hab eine Taschenlampe mitgebracht. Das dürfte reichen. Was ist jetzt? Kommst du mit, oder muss ich alleine über das Tor klettern und im Dunkeln nach geöffneten Gräbern suchen?«
»Verdammt, Rebecca«, Krishna kam schimpfend auf die Beine, »du bist mit Abstand die anstrengendste Frau, die mir je begegnet ist.«