2. Kapitel
Auf dem Achterdeck drängten sich die Offiziere. Die vier Leutnants waren zur Stelle, außerdem der Obersteuermann Crystal. Simmonds von den Seesoldaten, der Zahlmeister Wood und der Midshipman der Wache. Die Wanten wimmelten von Unteroffizieren und Matrosen. Sämtliche Ferngläser des Schiffes schienen in Gebrauch zu sein. Hornblower sagte sich, daß ein streng auf Manneszucht achtender Vorgesetzter an solchem ganz begreiflichen Verhalten Anstoß nehmen würde, und so tat er desgleichen.
»Was soll denn das heißen?« rief er scharf »Hat hier an Bord kein Mensch etwas zu tun? Mr. Wood, bitte, lassen Sie den Küfer kommen und bereiten Sie mit ihm das Auffüllen der Wasserfässer vor. Lassen Sie die Royals und die Stagsegel festmachen, Mr. Gerard.«
Sofort kam wieder Leben ins Schiff. Die Bootsmannspfeifen trillerten, und Harnson brüllte: »Alle Mann auf, klar zum Segel bergen.« Mit fast schlaffen Segeln rollte die Lydia in der Dünung.
»Jetzt glaube ich den Rauch schon von Deck aus erkennen zu können, Sir«, meinte Gerard schuldbewusst. Er reichte dem Kommandanten sein Glas und deutete nach vorn. Unterhalb eines weißen Wolkenstreifens lag dicht über dem Horizont etwas grau aussehendes, das immerhin Rauch sein konnte.
»Ha... hm«, räusperte sich Hornblower nach seiner Gewohnheit statt einer allgemeinen Redensart. Er begab sich zum Vorschiff und begann in die Unterwanten des Vortopps zu entern. Da er von Natur kein Turner war, empfand er einen leichten Widerwillen gegen diese Tätigkeit, doch mußte sie durchgeführt werden. Dabei war ihm das Bewußtsein unbehaglich, daß sich unzählige Augenpaare auf ihn richteten. Obwohl ihn das mitgenommene Fernglas behinderte, mußte er auf die Benutzung des sogenannten Soldatenloches verzichten und den schwierigeren Weg außen um den Mars herum wählen.
Unterhalb dieser Plattform befanden sich die Puttings, bei deren Passieren er zeitweilig hintenüberhing. Nicht einmal eine Atempause durfte er sich gönnen, um sich vor seinen Midshipmen keine Blöße zu geben, denn diese jungen Burschen pflegten mit unglaublicher Behendigkeit ohne weiteres bis zum Flaggenknopf des Großtopps aufzuentern. Hand über Hand strebte er nach oben Die Arbeit strengte ihn gehörig an. Endlich erreichte er schweratmend die Bramsaling, eine dem Mars ähnliche, aber viel schmalere Plattform. Er suchte dem Fernrohr einen festen Halt zu geben, soweit ihm das die arbeitende Brust und seine plötzlich einsetzende Nervosität gestatteten. Clay saß wenige Meter von ihm entfernt in lässiger Haltung im Reitsitz auf der Rahe, aber Hornblower beachtete ihn nicht. Die leicht rollende Bewegung des Schiffes hob und senkte ihn in korkzieherartigen Windungen, aufwärts ging es, vorwärts, nach der Seite und wieder abwärts. Zunächst konnte er nur selten einen Blick auf die fernen Berge erhaschen, doch gelang es ihm nach einem Weilchen, das Ziel ziemlich gleichmäßig im Auge zu behalten. Eine fremdartige Landschaft sah er vor sich. Dort waren die spitzen Kegel mehrerer Vulkane, zwei sehr große an Backbord und beiderseits eine Menge kleinerer. Noch während er beobachtete, quoll eine graue Dampfwolke aus dem einen Berg hervor, doch geschah das nicht am eigentlichen Krater, sondern an einer seitlichen Spalte. Träge stieg der Dampf aufwärts, um sich mit der darüberhängenden weißen Wolke zu vereinigen. Außer diesen Kegeln befand sich dort drüben eine langgestreckte Bergkette, der die Peaks vorgelagert waren, doch schien auch das Gebirge selbst aus alten verwitterten Vulkanen zu bestehen. Jener Küstenstreifen mußte einer Höllenküche geglichen haben, als sich noch sämtliche Feuerschlunde in Tätigkeit befanden. Die oberen Teile der Berghänge sahen grau aus mit einem ins Rötliche gehenden Schimmer, und weiter unten bemerkte Hornblower etwas wie grüne Wasserfälle.
Offenbar waren es Vegetationsstreifen, die sich in den Schluchten und Spalten der Berge hinaufzogen. Der Kapitän schätzte die unterschiedlichen Höhen der Vulkane und verglich sie mit den ihm geläufigen Angaben der Seekarte. Zweifellos stimmten sie damit überein.
»Ich glaube, soeben Brecher gesehen zu haben, Sir«, meldete Clay, worauf Hornblower seine Aufmerksamkeit dem Fuß der Bergkette zuwandte.
Dort bemerkte er einen zusammenhängenden grünen Streifen, der nur an jenen Stellen unterbrochen wurde wo kleinere Vulkane ihn überragten. Langsam ließ Hornblower das Glas hin-und hergleiten, wobei er es stets in der Höhe der Kimm hielt. Er sah etwas Weißes aufblitzen, spähte genauer hin und erkannte, daß der winzige weiße Fleck in regelmäßigen Zwischenräumen immer wieder erschien.
»Ganz recht; das sind Brecher«, bemerkte er und bedauerte bereits im gleichen Augenblick seine Worte. Es wäre durchaus nicht nötig gewesen, Clay etwas zu erwidern.
Die Lydia behielt ihren Kurs zur Küste bei. Hornblower blickte in die Tiefe. Er konnte unten auf dem zweiundvierzig Meter unter ihm liegenden Vorschiff die seltsam verkürzten Gestalten der Leute und rund um den Vordersteven den Ansatz einer Bugwelle erkennen. Sie verriet ihm, daß das Schiff ungefähr vier Seemeilen Fahrt machte. Man würde also lange vor dem Einbruch der Dunkelheit vor der Küste stehen; zumal dann, wenn die Brise im Verlauf des Tages auffrischte. Der Kapitän setzte sich ein wenig bequemer zurecht und starrte abermals zur Küste hinüber. Allmählich gewahrte er noch mehr Brandungswellen rechts und links der Stelle, wo er den ersten Brecher beobachtet hatte. Demnach mußte die Ozeandünung gerade dort gegen eine senkrechte Felswand donnern, wobei der Gischt hoch emporgeschleudert wurde. Hornblowers Überzeugung, sein Reiseziel tadellos angesteuert zu haben, wurde jetzt bestärkt. Beiderseits der Brecher sah er am Horizont einen Streifen Wasser, und jenseits davon ragte ebenfalls auf beiden Seiten je ein mittelgroßer Vulkan empor. Eine weitgespannte Bucht, eine Insel in der Mitte der Einfahrt und zwei flankierende Vulkane; genauso sah die Bay von Fonseca auf der Karte aus. Allerdings war Hornblower recht besorgt, denn er wußte, daß selbst ein ziemlich geringfügiger Fehler in der Navigation ihn bis zu hundert Meilen abseits seines Ziels hätte bringen können. Er sagte sich, daß an einer Küste, die wie diese mit feuerspeienden Bergen geradezu besät war, ein Abschnitt dem anderen sehr ähnlich sehen konnte. Selbst das Aussehen einer Bucht und einer Insel mochte sein Gegenstück in irgendeiner anderen Formation des Küstenstreifens finden.
Überdies konnte er sich auf die Seekarten nicht verlassen. Sie waren von jenen abgezeichnet worden, die Anson vor sechzig Jahren in diesen gleichen Gewässern erbeutet hatte, und hinsichtlich der Brauchbarkeit solcher Dago-Karten wußte jedermann Bescheid. Dago-Karten aber, die man noch der Revision durch irgend solch einen unnützen Zeichner der Admiralität überlassen hatte, konnten ganz und gar unzuverlässig sein.
Doch während er weiter beobachtete, schwanden die Zweifel nach und nach. Die Bucht, die sich da vor ihm auftat, besaß einen riesigen Umfang. An der ganzen Küste konnte eine zweite ihrer Art nicht einmal der Aufmerksamkeit eines spanischen Kartographen entgangen sein. Hornblower schätzte die Breite der Einfahrt auf über zehn Seemeilen. Tiefer drinnen in der Bay lag eine große Insel, deren Umrisse typisch für die Landschaft waren; unvermittelt erhob sich der steile Kegel aus dem Meer.
Das innere Ende der Bucht war selbst jetzt, da das Schiff ein gutes Stück näher herangekommen war, nicht sichtbar.
»Mr. Clay«, sagte der Kapitän, ohne das Auge vom Kieker zu nehmen, »Sie können niederentern. Sagen Sie Mr. Gerard, er soll alle Mann zum Mittagessen schicken.«
»Aye, aye, Sir.«
Jetzt würde die Besatzung wissen, daß etwas Außergewöhnliches in der Luft lag, denn das Essen wurde eine halbe Stunde vor der üblichen Zeit ausgegeben. Die Offiziere britischer Schiffe legten stets großen Wert darauf, daß die Leute einen vollen Magen bekamen, ehe man Anforderungen an sie stellte, die über das alltägliche Maß hinausgingen.
Hornblower bezog wieder seinen Ausguck. Nun stand es fest, daß die Lydia in den Golf von Fonseca einfuhr. Er hatte also ein navigatorisches Meisterstück geleistet, über das jeder berechtigten Stolz empfinden durfte, denn es war wirklich keine Kleinigkeit, ein Schiff geradewegs seinem Ziel zuzuführen, obwohl man elf Wochen lang in See gewesen war, ohne Land zu sehen. Dennoch versetzte ihn die Erkenntnis nicht in gehobene Stimmung. Es lag nicht in seiner Natur, sich über Dinge zu freuen, die im Bereich seiner Möglichkeiten blieben. Sein Ehrgeiz sehnte sich nach dem Unmöglichen, als verschlossener tüchtiger Mann zu gelten, den nichts aus der Fassung brachte.
Derzeit lag der Golf verödet da; keine Boote waren zu sehen, kein Rauch. Es hätte sich um eine unbewohnte Küste handeln können, der er sich, ein zweiter Kolumbus, näherte. Da er damit rechnen konnte, daß sich im Verlauf der nächsten Stunden nichts Besonderes ereignen würde, so schob er sein Fernrohr zusammen, enterte an Deck nieder und begab sich mit selbstbewußter Gelassenheit nach achtern. Crystal und Gerard standen in angeregtem Gespräch an der Reling. Offensichtlich hatten sie sich außer Hörweite des Mannes am Ruder begeben und den Midshipman möglichst weit fortgeschickt. Aus der Art, wie sie dem sich nähernden Kapitän entgegenblickten, war zudem ersichtlich, daß sie über ihn sprachen. Ihre Aufregung ließ sich begreifen, denn seit Ansons Zeiten war die Lydia das erste britische Kriegsschiff, das bis zu den pazifischen Küsten Mittelamerikas vordrang. Sie befand sich im Gebiet der berühmten Galeone von Acapulco, die auf jeder ihrer Jahresreisen Werte von einer Million Pfund Sterling beförderte.
An diesen Küsten krochen die kleineren Fahrzeuge entlang, die das Silber von Potosi nach Panama schafften. Anscheinend war das Glück jedes einzelnen Besatzungsmitgliedes gemacht, wenn es nur die unbekannten Orders des Kapitäns erlaubten. Daher waren die nächsten seiner Entschlüsse für alle von ungeheurer Wichtigkeit.
»Mr. Gerard, schicken Sie einen zuverlässigen Mann mit einem guten Glas in den Vortopp.« Das war alles, was Hornblower sagte, ehe er unter Deck verschwand.