Missbräuchlicher oder heilender Umgang mit Sexualität

 

Ich sollte nicht zum Ende kommen, ohne eine positive Perspektive aufzuzeigen. Sie ist gar nicht so weit weg. Ich habe gesprochen über eine Sexualität, die entsteht und eingegangen wird aus einer Situation heraus, in dem man sich im Zustand der Bedürftigkeit befindet, in einer Art, in der man jemand anderen benutzt, um diese Bedürftigkeit ersatzweise zu stillen. Wenn Sexualität auf diese Art zustande kommt, ist sie immer eine Art von Missbrauch – ohne schlechten Vorsatz natürlich. In der Regel redet man sich sogar intensivst ein, dass es sich hierbei um tiefste Liebe handele.

Eine zufriedenstellende Sexualität ist eine Sexualität, die durchaus mit Bedürftigkeit beginnen kann, die damit beginnt, dass tatsächliche bestehende Bedürfnisse wie die nach Hautkontakt, dem Lösen feinerer und gröberer Verspannungen im Körper, Gehalten-Werden, Vertiefung der Atmung und anderes wahrgenommen, ausgedrückt und erfüllt werden. Man kann daraus bewusste Rituale gestalten. Tantra-Massagen sind z.B. solche Rituale. Wenn Mann und Frau dann rundum satt, zufrieden in ihrer Körperlichkeit sind und auch keine verleugnete Angst mehr im Raum ist, nicht mehr sein kann, wenn man sich wirklich gegenseitig in der ganzen Verletzlichkeit und Bedürftigkeit gezeigt hat, dann kann etwas von innen heraus entstehen, dass nur geringste Berührungen braucht, um eine ganz eigene innere Erregung entstehen zu lassen. Es kann dabei zu Orgasmen kommen, die nicht einmal der körperlichen Vereinigung bedürfen und die auch viel länger anhalten und nachwirken, weil keine Notwendigkeit besteht, sofort wieder in gewohnte angstbedingte Kontroll-Mechanismen zurückzufallen. Sexualität wird auf diese Weise zu einer intensiven Meditation.

 

Ich möchte ein Beispiel von etwas Ähnlichem geben: Vielleicht kennt ja der eine oder andere die Erfahrung. Man liegt mit dem Gefährten im Bett, liegt nebeneinander, so kurz vor dem Einschlafen, wo man merkt: Irgendwie ist gerade keine Energie für Sexualität da. Man schläft ein, und eine halbe Stunde oder zwei Stunden später wird man wach, und im Halbschlaf nimmt man eine körperliche Erregung wahr, eine körperliche Erregung, die nicht nur auf meiner Seite ist. Sondern ich nehme eine uns umfassende erotische Energie wahr. Ich werde gar nicht richtig wach, sondern unsere Körper finden sich irgendwie. Am nächsten Morgen erinnert man sich an etwas Wunderbares, ohne genau zu wissen, wie es eigentlich geschah.

Jede andere Form ist eigentlich Manipulation bzw. nicht Sexualität in ihrer natürlichen Form. Wenn wir wirkliche Sexualität als heiligen und heilenden Moment erleben wollen, müssen wir uns erst einmal von dem Zustand der Bedürftigkeit, von Anspannung, von innerer Ruhelosigkeit und von Verleugnung befreien.

 

Wenn ein Mann und eine Frau das erste Mal einer Anziehung folgen, sich im Bett oder einem anderen geeigneten Ort befinden, bei diesem ersten Mal ist auf jeden Fall Angst mit im Raum, Angst vor körperlicher oder seelischer Verletzung, Angst, an alte Wunden erinnert zu werden, Angst, nicht wahrgenommen zu werden. Wie damit umgehen? Wenn ich diese Angst aushalten würde, mich so stark öffnen könnte, dass es mein Denken zur Seite schieben würde, nur noch durch Angst gesteigerte Wahrnehmung bliebe, wohin könnte mich das führen?

Es führt mich genau dahin, wo der andere auch ist. Du fühlst seine Ängste und Bedürfnisse, als wären es deine eigenen, und er oder sie fühlt deine Ängste und Bedürfnisse, als wären es seine, bzw. ihre eigenen. Und jede Berührung erfolgt in Achtsamkeit und spontaner Erfüllung von Wünschen und Bedürfnissen.

 

Was ich meine Töchter, die jetzt fünf und sieben Jahre alt sind, lehren werde, wenn sie in die Pubertät kommen, ist: „Lass dich auf keine sexuelle Begegnung mit einem Mann ein, der beim ersten Mal nicht deinen Genitalbereich ganz bewusst willkommen heißt, ihn anschaut und durch seine Berührungen dich spüren lässt, wie sehr er deine Empfindlichkeit, deine Angst und deine Unsicherheit fühlen kann und ehrt!" Meinen Söhnen würde ich es ebenso sagen. Aber auch jedem Erwachsenen rate ich dies für bestehende und für zukünftige Beziehungen. Nehmt eure eigene Angst und Unsicherheit wahr, bringt sie in die Begegnung mit anderen Menschen hinein! Das heilt. Alles was früher gewesen ist, auch an traumatischen Begegnungen, an Missbrauch, kann geheilt werden.

 

Danke für eure Aufmerksamkeit!