1

vigDie Luft flimmerte vor Hitze und Feuchtigkeit. Parogiere krächzten, Brüllaffen schrien. Ganz am Ende der langen, langsamen Schlange von Lastenträgern schleppte sich Liki durch den Nebelwald. Sie selbst trug nur ihren Rucksack, trotzdem machte ihr die Witterung zu schaffen. Ihr Kopf dröhnte bei jedem Schritt. Die Schwüle machte sie mürrisch und müde. Liki hasste jeden einzelnen moosüberzogenen Stein auf ihrem Trampelpfad. Sie hasste Gol Hergo und seine burschikose Assistentin, die mit Axoras an der Spitze des Zuges marschierten – den Professor, weil er sie zu diesem verrückten Abenteuer überredet hatte, und Lona Markan, weil jedes neue Hindernis, das der Nebelwald vor ihnen auftürmte, sie nur noch fröhlicher zu stimmen schien. Die Magistra platzte vor Zuversicht und guter Laune geradezu aus ihrem original Moliat-Wickelkleid, das sie noch an der Küste auf einem traditionellen Wochenmarkt erstanden hatte und seitdem Tag und Nacht an ihrem stämmigen Leib trug.

»Für mich geht ein Traum in Erfüllung«, hatte Hergo anderthalb Jahre vorher in Phora zu Liki gesagt. »Aber sogar wenn mir das zaketumesische Altertum vollkommen gleichgültig wäre, würde mir nichts anderes übrig bleiben, als diese Naxoda-Expedition zu unternehmen. Und vorher alles so sorgfältig wie möglich vorzubereiten, damit dieses Projekt so erfolgreich verläuft, wie man das allerhöchsten Ortes von mir erwartet.«

»Allerhöchsten Ortes«, das war Liki erst mit einiger Verspätung gedämmert – hinter dieser feierlichen Floskel verbarg sich nichts anderes als der Königshof. Aber konnte es dem dunibischen Herrscher oder wem auch immer in seiner Umgebung nicht von Herzen gleichgültig sein, ob im zaketumesischen Nebelwald irgendwelche Ruinen ausgegraben wurden oder für alle Zeiten unter Schlamm und Dickicht verborgen blieben? Aus welchen Gründen man »allerhöchsten Ortes« so lebhaften Anteil an Professor Hergos Forscherträumen nahm, war für Liki im Dunkeln geblieben. Aber natürlich hatte es ihr geschmeichelt, dass der weltberühmte Altertumsforscher sie regelrecht anbettelte, ihm bei der ganzen heiklen Angelegenheit von Anfang an beizustehen.

»Ich brauche dich«, hatte er zu ihr gesagt, »du darfst mich nicht im Stich lassen, Liki, ich flehe dich an! Du musst lange vor unserer eigentlichen Expedition über den Grünen Ozean nach Zaketumesien reisen, um dort einheimische Helfer anzuheuern. Nach meinen Berechnungen benötigen wir rund drei Dutzend Träger – für die Ausgrabungswerkzeuge, die ich aus Phora mitbringen werde, und für die Fundstücke, die wir mit Linglus Hilfe dem Nebelwald entreißen werden. Vor allem aber brauchen wir einen ortskundigen und vertrauenswürdigen Führer.«

Anfangs hatte Liki von diesem Plan nichts wissen wollen. Einen Trupp vertrauenswürdiger Lastenschlepper hätte der Professor notfalls auch allein zusammenstellen können. In den Seehäfen an der zaketumesischen Küste boten unzählige Moliaren ihre Dienste an – Ruinensuche und Tempelführungen, Schlangenpirsch und sogar Nachtparder-Jagdpartien in den entlegensten Gebieten des Nebelwaldes. Doch Hergo hatte natürlich recht: Damit ihre Expedition überhaupt bis nach Naxoda gelangen konnte, mussten sie einen Führer auftreiben, der wirklich wusste, wo in den Weiten des Nebelwaldes die Götterstadt Naxoda versunken war – und der sie auch tatsächlich dorthin führen würde. Und letzten Endes gab es nur einen einzigen Mann, auf den diese Beschreibung zutraf: Axoras.

Einheimische Hochstapler, die angeblich den Weg nach Naxoda kannten, hängten sich arglosen Fremden in jeder zaketumesischen Hafenkneipe an den Hals. Aber Gol Hergo und Velissa Labiano hatten alle historischen Reiseberichte durchforstet und waren zu einem ernüchternden Ergebnis gekommen: In den zurückliegenden fünfhundert Jahren waren zwar Scharen von Abenteurern und Altertumsforschern im Nebelwald umhergeirrt, doch niemand von ihnen hatte jemals Naxoda gefunden – den schier unzähligen Erfolgsberichten zum Trotz. Sie hatten Dutzende von Tempel- und Pyramidenstädten aus dem Schlamm gebuddelt, aber niemals hatte sich auch nur der kümmerlichste Anhaltspunkt dafür gefunden, dass es sich tatsächlich um Überreste von Naxoda handelte, der »Geburtsstätte der alten Moliatkultur«. Manche der angeblichen Naxoda-Entdecker waren für eine gewisse Zeit berühmt geworden, doch über kurz oder lang hatte sich jedes Mal herausgestellt, dass sie die Öffentlichkeit betrogen hatten oder ihrerseits übers Ohr gehauen worden waren.

So war es wahrlich kein Wunder, dass Professor Hergo Liki mit seinen Plänen in den Ohren lag, seit sie ihm anvertraut hatte, dass sie bei dem berühmt-berüchtigten Axoras sozusagen aufgewachsen war. Das war im Frühjahr 710 n.Z. gewesen und Liki hatte damals gerade erst ihr Studium bei Gol Hergo begonnen. »Ich war sieben Jahre alt«, so hatte sie dem Altertumsforscher erzählt, »als meine Eltern mit mir und Rufo, meinem großen Bruder, nach Kaluxa zogen – ein winziges Moliat-Dorf tief im Nebelwald. Mein Vater war ein dunibischer Linglu-Priester und die Missionsstation an der Küste hatte ihn ausgesandt, um die Dschungelbewohner zu Linglu zu bekehren. Wir blieben sechs Jahre lang in Kaluxa – und ich war niemals in meinem Leben glücklicher als damals. Jedenfalls in den ersten drei, vier Jahren.

Axoras war für mich so etwas wie ein zweiter Vater«, hatte sie dem Professor erklärt, der sich vor Begeisterung kaum zu fassen wusste. »Axoras war der mächtigste Magier im ganzen Moliat. Er konnte Baumstämme in Menschen und die dann wieder in kunstvoll geschnitzte Skulpturen verwandeln. Solche Sachen eben. Mein Bruder Rufo und ich sind aus dem Staunen gar nicht mehr herausgekommen.«

Gol Hergo war es nicht anders ergangen. Axoras, der Klein-Liki einst auf seinen Knien gewiegt hatte, wurde damals schon seit mehr als zehn Jahren von der zaketumesischen Polizei gesucht. Er war einer der berüchtigsten Schurken auf dem ganzen Planeten – auch die dunibischen Zeitungen hatten immer wieder in sensationeller Aufmachung von dem »massenmörderischen Moliat-Magier« berichtet. Axoras war im Jahr 699 n.Z. in Abwesenheit zum Tod durch Vierteilen verurteilt worden. Doch in all den Jahren hatte ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen – außer den urtümlich lebenden Nebelwald-Bewohnern, die ihn nach wie vor wie einen Halbgott verehrten. Unzählige Geschichten und Legenden handelten von Axoras’ schamanischer Weisheit und seiner nahezu grenzenlosen lakorischen Macht.

»Du musst Axoras finden und für unsere Expedition gewinnen«, hatte Hergo sie beschworen. »Wenn irgendwer wirklich weiß, wo die Götterstadt Naxoda einst gestanden hat, dann ist das er.«

Anfangs hatte sich Liki gegen Hergos Pläne gesträubt, wenn auch nur halbherzig. Bei dem Gedanken, in das Moliat-Dorf zurückzukehren, in dem ihr Vater und ihr Bruder auf grässliche Weise getötet worden waren, kam sie beinahe um vor Angst. Aber diese Angst verspürte nur ihr dunibischer Teil. Ihre Mutter war eine Zaketumesierin und dieser mütterliche Teil von ihr hatte nie akzeptiert, dass sie aus dem Moliat verjagt worden war – aus einer Welt, in die sie in ihren Träumen regelmäßig zurückkehrte und die ihr noch immer so viel wirklicher und lebendiger schien als das ganze pompöse Phora mit seinen Prachtfassaden und donnernden Dampfmaschinen.

»Kaluxa«, hatte sie dem Professor erzählt, »bestand bloß aus drei Dutzend Rundhütten, die in genauso vielen Kreislinien um den Dorfplatz angeordnet waren – den Platz, auf dem mein Vater und Rufo sechs Jahre später sterben sollten. Aber davon ahnten wir natürlich nicht das Geringste, als wir in Kaluxa eintrafen. Die Moliaren empfingen uns freundlich, wenn auch nicht gerade überschwänglich. Anders als mein Vater fand ich bald schon heraus, was sie von seinem Plan hielten, sie zu seinem Gott Linglu zu bekehren: Sie fanden ihn zum Kichern, den Plan genauso wie den Priester. Sie nahmen das alles einfach nicht ernst und ich verstand auch, warum das so war: Mein Vater besaß keinerlei magische Fähigkeiten und dass er diesen Makel nicht einmal zu verbergen versuchte, machte die Sache nicht gerade besser. Aber die Moliaren verhielten sich freundlich, denn Axoras hatte ihnen erklärt, dass wir in friedlicher Absicht gekommen waren.«

Axoras war damals so etwas wie der König aller Moliaren, die noch nach altem Brauch im Nebelwald lebten, ihr oberster Magier und ihr Hohepriester obendrein. Die Dorfleute verehrten Unmengen von Göttern – oder »Götzen«, laut Likis Vater – in einer eigens errichteten Tempelhütte auf dem höchsten Hügel über Kaluxa. Der Altarschrein war mit kunstvoll geschnitzten und angemalten Idolen überhäuft, die vielerlei darstellten: Dämonenfratzen, gekrönte Schlangen, sprungbereite Parder, aber auch Purpurinen und Sacustauden und sogar Süßkartoffeln. Die Moliaren erhoben alles und jedes, das ihnen irgendwie bedeutungsvoll schien, ohne weiteres in den Rang einer Gottheit.

»Mein Vater war über diese Vielgötterei natürlich sehr empört«, so hatte Liki sich bei ihren Gesprächen mit Gol Hergo erinnert, »und am meisten von allem ärgerte ihn, dass die Moliaren als ihre mächtigste Gottheit ein Schlangenidol namens Chizocca anbeteten. In den ersten Jahren bemühte er sich um ein freundschaftliches Verhältnis zu Axoras, aber mein Vater war ein ungeduldiger Mann, selbstgewiss und von seiner Mission erfüllt. Wenn Axoras uns in dem bescheidenen Anbau neben dem Linglu-Tempel besuchte, den wir mit unseren eigenen Händen auf dem zweithöchsten Hügel über dem Dorf zusammengezimmert hatten, dann tat mein Vater immer so, als ob es eine große Ehre für ihn wäre, den mächtigen Häuptling und Schamanen bewirten zu dürfen. Aber es fiel ihm immer schwerer, sich zu verstellen.«

Axoras hatte von Anfang an eine besondere Vorliebe für Liki gezeigt, und ihr Vater duldete wohl oder übel, dass der Moliare mit seinem Töchterchen kleine Streifzüge in die Wildnis unternahm. »Axoras brachte mir bei, die Fährten von Büffeln und Pardern zu lesen, harmlose Schmucknattern von tödlichen Gittermakubas zu unterscheiden, und bei jedem unserer Treffen überraschte er mich mit einem neuen lakorischen Kunststück. Er konnte Schlangen in Stöcke und Wolken von Stechmücken in Regentropfen verwandeln. Er konnte Melodien summen, die mich, wenn ich meine Augen schloss, an weit entfernte Orte versetzten. Wenn ich über Bauchweh oder eine Schürfwunde jammerte, legte Axoras mir einfach eine Hand auf und stieß ein paar seiner seltsamen Klicker- und Fauchlaute aus – und schon war alles wieder heil.«

Wenn es nach Liki gegangen wäre, hätten sie ruhig bis ans Ende ihrer Tage im Moliat leben können. Aber irgendwann bekam ihr Vater mit, dass die Leute sich über ihn und seinen Linglu lustig machten – und von da an geriet alles ins Rutschen. Axoras war häufig unterwegs – er war schließlich der König aller Nebelwald-Stämme und so reiste er ständig von einem Dorf zum anderen. Und eines Nachts, als Axoras gerade mal wieder nicht im Dorf war, setzte Likis Vater zusammen mit Rufo den Götzentempel in Brand.

Erstaunlicherweise verziehen ihnen die Moliaren diesen ungeheuren Frevel. Die Dorfkrieger umzingelten ihr Haus und hielten sie gefangen, bis Axoras zurückgekehrt war. Aber nachdem er sich mit seinen Ältesten beraten hatte, zogen die Krieger wieder ab. Wie Liki bald herausfand, hatte Axoras seinen Leuten erzählt, dass der dunibische Priester das Feuer auf Befehl seines Gottes gelegt habe – Linglu nämlich sei erzürnt, weil die Schlangengottheit Chizocca so viel mächtiger sei als er.

Die Krieger errichteten einen neuen Tempel und ihre Priester schnitzten neue Idole. Ein ganzes Jahr verging ohne Zwischenfälle und allmählich geriet der Tempelbrand wieder in Vergessenheit. »Doch dann wurde mein Vater aufs Neue von heiligem Zorn übermannt«, so hatte Liki mit tief bekümmerter Miene ihre Erzählung aus der Kindheit beschlossen. »Mit meinem Bruder im Schlepptau drang er in den neu erbauten Vielgöttertempel ein. Sie rafften sämtliche Schlangenidole an sich, liefen mit ihrer Beute zum Dorfplatz hinab und schichteten die Schlangenidole wie Brennholz auf. Von allen Seiten kamen die Moliaren herbeigerannt, und als mein Vater den Scheiterhaufen in Brand setzte, verwandelten sich die Idole zu ihrem Entsetzen in lebendige Schlangen, die vor ihren Augen elend verbrannten.«

Und diesmal verziehen die Moliaren Likis Vater nicht. Sie ergriffen ihn und ihren Bruder Rufo, der gerade fünfzehn geworden war. Sie schnitten ihre Körper in Streifen und legten die blutwarmen Leichenstücke auf dem Dorfplatz zu einer viele Meter langen Schlangenlinie hintereinander, mit den abgehackten Köpfen an der einen und den abgeschnitten Händen und Füßen an der anderen Seite. Offenbar war es eine Bußzeremonie, um ihre geschmähte Gottheit Chizocca zu besänftigen. Die Dorfleute bildeten gleichfalls eine Schlange, indem jeder seine Hände auf die Schultern seines Vordermannes legte. So trampelten sie, aus allen Kehlen schreiend, zischend und stöhnend, die Schlangenlinie aus Leichenstücken auf und ab, bis von Likis Vater und Bruder bloß noch ein schmieriges Rinnsal im Schlamm übrig war. Nur ein paar Trümmerstücke von ihren Schädeln überstanden die Zeremonie und mit diesen makabren Reliquien und den allernötigsten Habseligkeiten flohen Liki und ihre Mutter in der Nacht darauf aus Kaluxa.

Erschöpft und verstört, aber ansonsten unversehrt erreichten sie viele Tage später die kleine Küstenstadt Zaruka, in der sich die Missionsstation befand. Unglücklicherweise war in Zaruka auch eine zaketumesische Infanteriegarnison stationiert und deren Kommandeur meldete seinen Vorgesetzten unverzüglich, dass zwei Dunibier im Nebelwald von Moliaren ermordet worden waren. Und damit kam das Unheil erst richtig in Schwung.

Die zaketumesischen Herrscher waren seit jeher ängstlich darauf bedacht, dem so viel mächtigeren Dunibien keinen Vorwand für kriegerische Übergriffe zu liefern. Auf der anderen Seite war ihnen selbst kein Vorwand zu kümmerlich, um gegen die Nebelwald-Moliaren vorzugehen, deren Zauberbräuche und urtümliche Lebensweise den meisten Zaketumesiern unheimlich war. Und so setzte der Kommandeur von Zaruka ein Heer in Marsch, noch bevor die Kunde von den Greuelmorden im Nebelwald überhaupt bis Phora vorgedrungen war.

Aus niemals völlig geklärten Gründen geriet diese Strafaktion nach kürzester Zeit außer Kontrolle. Die zaketumesischen Soldaten massakrierten jeden Moliaren, der ihnen im Dschungel vor Schwert oder Armbrust geriet. Doch obwohl die Nebelwaldbewohner lediglich mit Speeren und Blasrohren bewaffnet waren, mussten auch die Soldaten schreckliche Verluste hinnehmen. Überlebende berichteten später von monströsen Bestien, die ihr Lager bei Nacht überfallen hätten – Parder so groß wie bakusische Elefanten und greuliche Riesenschlangen, die mit ihren gepanzerten Schweifen alles zu Brei zerpeitschten, was ihnen unterkam. Die überwiegende Mehrheit der Infanteristen, die an dieser Strafaktion teilgenommen hatten, berichtete allerdings überhaupt nichts mehr. Die einen, weil sie niemals aus dem Nebelwald zurückgekehrt waren, und die anderen, weil es mit ihrem Verstand seitdem nicht mehr weit her war.

Der Schuldige zumindest war bald schon ausgemacht: »Axoras, Häuptling der urtümlichen Moliaren«, wurde vor der obersten zaketumesischen Halsgerichtsbarkeit »wegen hundertfachen Mordes, auch durch Zauberei« angeklagt und in Abwesenheit zum Tode verurteilt.

»Niemand außer ihm kann uns nach Naxoda führen«, hatte Hergo wiederholt, wann immer er im Archäologischen Institut in der Lanfastraße mit Liki allein war. »Aber außer uns beiden darf niemand je erfahren, dass wir das Schicksal dieser königlich-dunibischen Expedition in die Hände eines verurteilten hundertfachen Mörders gelegt haben.« Deshalb waren sie schließlich übereingekommen, dass Liki ihr Studium ein ganzes Jahr vor Beginn der Expedition offiziell abbrechen sollte. Niemand durfte sie mit dieser Angelegenheit in Verbindung bringen. Niemand durfte jemals herausbekommen, dass sie in Zaketumesien alles Nötige heimlich vorbereitete und in Zaruka wieder zu Hergo stoßen würde.

Sie hatte sich von ihren Kommilitonen verabschiedet und jedem, der sie danach fragte, erklärt, dass sie sich mit Professor Hergo überworfen habe – höchstwahrscheinlich werde sie nach Bakus auswandern, um an der Universität von Gublaj ihr Altertumsstudium fortzusetzen. Tatsächlich aber war sie im Frühjahr 711 n.Z. an Bord der Königin Koa über den Grünen Ozean gefahren und hatte sich in Zaruka in einer Hafenpension einquartiert.

Hergo hatte ihr wochenlang mit seiner Sorge in den Ohren gelegen, dass es ihr vielleicht gar nicht gelingen würde, Axoras wiederzufinden. Dagegen hatte sie selbst sich noch während der Überfahrt auf größtenteils stürmischer See mit dem Gedanken geplagt, dass Axoras sich hohnlachend weigern würde, eine Expedition dunibischer Forscher zur heiligsten Stätte seiner Vorfahren zu führen.

Doch beide Sorgen hatten sich als grundlos erwiesen. Mit Hilfe eines Zaubers, den er ihr vor einem halben Leben beigebracht hatte, war es Liki bereits wenige Tage nach ihrer Ankunft gelungen, mit Axoras Kontakt aufzunehmen. Nur ein paar Wochen später hatten sie sich an einer stillgelegten Hafenmole getroffen, und zu Likis Erstaunen war der großmächtige Magier auf der Stelle bereit gewesen, der dunibischen Expedition den Weg nach Naxoda zu zeigen.

2

vigEs war gar nicht die Schwüle, die Liki derart niederdrückte. Es waren auch nicht die Stechmückenwolken, die wie nervöse Dämonen über den Köpfen der Lastenträger tanzten. Auch nicht der Schweiß, der jede Pore ihres Körpers verklebte, oder das unaufhörliche Gelärme der Affen, die sich wie schwerhörige Greise von Baum zu Baum irgendwelche Botschaften zubrüllten.

Seit beinahe zwei Wochen waren sie jetzt im Nebelwald unterwegs. Über Trampelpfade, durch Schluchten, glitschige Schrägen hinauf und halsbrecherisch steile Abhänge wieder hinunter. Aber all das hatte ihr früher nichts ausgemacht, wenn sie mit Axoras durch den Wald gestreift war, und es störte sie auch jetzt nicht – ganz im Gegenteil. Jener Teil von ihr, der ihre Vertreibung aus dem Moliat niemals verwunden hatte, stimmte sogar leise Jubelgesänge an. Sie würde für immer hierbleiben! Sie hätte niemals von hier weggehen dürfen – auch wenn die Moliaren damals ihren Vater und den armen Rufo massakriert hatten. Gegenüber ihr selbst und ihrer Mutter, einer reinblütigen Zaketumesierin, hatten sie sich niemals feindselig verhalten. Ohnehin hatten sie den hellhäutigen Linglu-Priester nicht aus Hass oder Zorn getötet, sondern weil Chizocca es von ihnen verlangt hatte. Und Axoras war wie ein zweiter Vater für sie gewesen – er hätte niemals erlaubt, dass seine Krieger ihr oder ihrer Mutter auch nur eine Wimper ausgerupft hätten. Geschweige denn, ihre Körper zu blutigen Streifen zerschnitten.

Doch Liki spürte, dass diesmal nichts von alldem eine Rolle spielte. Gut möglich, dass sie für immer hier im Moliat bleiben würde – dann nämlich, wenn sie hier lebendig nicht mehr herauskommen würde. Sie hatte es sich bisher nicht eingestehen wollen, aber in Wahrheit spürte sie schon die ganze Zeit über diese mehr als üble Vorahnung. Die Vorahnung einer Katastrophe – eigentlich schon seit vorletzter Woche, als Hergo mit seiner Assistentin an Bord der Königin Lanfa in Zaruka eingetroffen war.

Mit seiner neuen Assistentin, genauer gesagt, und das war für Liki die erste hässliche Überraschung gewesen. So lange schon hatte sie sich darauf gefreut, die beiden wiederzusehen – Professor Hergo und beinahe mehr noch Velissa Labiano. In dem knappen Jahr, das Liki am Archäologischen Institut in Phora verbracht hatte, war Velissa für sie zu so etwas wie einer älteren Freundin geworden. Die Wissenschaftlerin kannte sich mit den entlegensten Details sämtlicher altzaketumesischen Kulturen aus und sie hatte sich Liki gegenüber immer freundlich und hilfsbereit verhalten. Und nicht zuletzt war sie eine gutaussehende junge Frau, der sogar der eitle Gol Hergo schnurrend wie ein Stubenkater aus der Hand fraß. Nie und nimmer hatte Liki damit gerechnet, dass er seine Assistentin und langjährige Geliebte im letzten Moment von der Expeditionsliste streichen und durch diese burschikose Weibsperson ersetzen würde – Lona Markan. Von ihrem ersten Zusammentreffen an hatte die Magistra sie herablassend behandelt (»Ah, das kleine Halbblut, das uns die gröbsten Vorarbeiten abgenommen hat!«).

Hergo hatte Liki beiseitegenommen und beteuert, wie leid ihm das alles tue, doch ihm sei keine andere Wahl geblieben. »Velissa kennt dich ja von früher und sie weiß auch, um wen es sich bei unserem hochgestellten Gönner handelt – dummerweise habe ich ihr gegenüber den Namen einmal erwähnt. Aus diesen Gründen konnte ich sie auf keinen Fall mitnehmen. Lona Markan weiß nichts von deiner Vergangenheit in Phora und das muss auch unbedingt so bleiben, Liki – schon zu deiner eigenen Sicherheit. Du hast für uns einen Trupp einheimischer Helfer zusammengestellt und begleitest uns in den Dschungel, um bei Bedarf zu dolmetschen. Das ist alles.« Er hatte ihr knapp zugenickt und sich mit Lona Markan in das gemeinsame Hotelzimmer zurückgezogen, das Liki für Velissa und ihn reserviert hatte.

Auch wenn es nicht besonders logisch klang, auch für sie selbst nicht – seit diesem ersten Zusammentreffen in Zaruka ahnte sie, dass die Expedition in einer Katastrophe enden würde. Und diese üble Vorahnung verstärkte sich in ihr mit jedem Tag noch ein wenig mehr. Dabei war bisher überhaupt nichts Schlimmes passiert. Axoras schien ganz und gar in seiner Rolle aufzugehen. Hingebungsvoll spielte er einen weisen Moliaren namens Chalóxo, dem von seinen Vorvätern das geheime Wissen vermacht worden war, wo die Götterstadt Naxoda unter Schlamm und Dickicht begraben lag. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, hinter diesem gutmütigen Alten den »massenmörderischen Moliat-Magier« Axoras zu vermuten. Wortreich hatte Chalóxo ihnen auseinandergesetzt, dass er sich nur aus einem einzigen Grund entschlossen habe, die dunibischen Wissenschaftler zu der heiligsten Stätte seiner Vorfahren zu bringen: damit alle Welt erfahren würde, was für eine großartige Kultur die Moliaren einst besessen hätten.

Zu Likis Verwunderung schien Lona Markan diese geradezu lachhafte Lüge für bare Münze zu nehmen. Offenbar hatte sie eine hohe Meinung von der dunibischen Archäologie und dem Ruf, den dieser Forschungszweig im Moliat genoss. Aber noch sehr viel mehr erstaunte Liki nach wie vor, dass sich Axoras überhaupt und ohne jedes Zögern bereiterklärt hatte, sie mitsamt ihren dunibischen Wissenschaftlern und drei Dutzend einheimischen Trägern nach Naxoda zu bringen. Was versprach er sich wirklich davon? Doch nicht nur Axoras gab ihr Rätsel auf – genauso wenig wurde sie aus Gol Hergo schlau.

Der Professor schien sich nicht im Mindesten zu sorgen, dass dieses Abenteuer für ihn übel enden könnte. Allem Anschein nach brachte er ihrem Führer unbegrenztes Vertrauen entgegen – dabei konnte er ja schwerlich vergessen haben, um wen es sich bei diesem Chalóxo in Wahrheit handelte.

Liki brütete endlos über diesen Rätseln, während sie sich am Schluss ihres Trosses dahinschleppte. Wieder und wieder fragte sie sich, ob die beiden so unterschiedlichen Männer eine heimliche, niemals ausgesprochene Absicht verband. Aber was für eine Absicht sollte das denn sein? Natürlich, sie konnte sich mühelos vorstellen, dass Axoras nach Rache für alles Unrecht gierte, das ihm selbst und seinen Moliaren angetan worden war. Und nach allem, was sie über die Götterstadt Naxoda bisher in Erfahrung gebracht hatte, war es sogar sehr wahrscheinlich, dass über dieser Ruinenstadt irgendein grauenvoller Zauber lag, den Axoras nutzen wollte, um der ganzen Welt zu zeigen, wie mächtig die Moliat-Magie war.

Doch aus welchem Grund konnte Hergo daran interessiert sein, einen solchen, höchstwahrscheinlich verheerenden Schadenszauber zu entfesseln und womöglich noch über das Grüne Meer nach Phora zu tragen? Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, wie sehr er darauf brannte, selbst magische Kräfte zu erlangen. Schließlich hatte sie letztes Jahr in Phora halbe Nächte mit ihm gerade über diesen Punkt gestritten. Sie hatten sich die Köpfe heiß geredet, über Magie und Logik, dunkle und lichte Kräfte – und ein paarmal auch mehr als nur ihre Köpfe dabei erhitzt. O ja, sie kannte Hergo gut genug, um zu wissen, dass er für seinen Traum, ein Magier zu werden, mancherlei opfern würde. Aber er würde sich niemals dazu hergeben, anderen Menschen absichtlich zu schaden, ob durch Magie oder wie auch immer.

Es sei denn, jene Persönlichkeit »allerhöchsten Ortes«, sein »hochgestellter Gönner« hätte ihm befohlen, alle Bedenken hintanzustellen – zum höheren Wohl des Königreichs. Neben allem anderen war Gol Hergo ein glühender Verehrer des dunibischen Herrscherhauses. Aber auch das, sagte sich Liki schließlich, ergab ja keinerlei Sinn: Warum sollte irgendein Angehöriger der phoräischen Königsdynastie eine Intrige spinnen, um das eigene Land mit einem Moliat-Zauber zu schädigen?

Liki verbot sich, noch länger über Rätseln zu grübeln, die offenbar über ihren Verstand gingen. In seiner Rolle als weiser Chalóxo vermochte Axoras ein wenig auf Dunibisch zu radebrechen und sowieso ließ Lona Markan keine Gelegenheit aus, sich als wahre Kennerin sämtlicher Moliat-Dialekte aufzuspielen. Ihr Akzent war so grauenvoll, dass die einheimischen Träger sie nur mit schreckensweiten Augen anstarrten, wenn sie den Mund aufmachte, aber sie schien es überhaupt nicht zu bemerken – und wenn doch, so war es ihr egal. Liki jedenfalls wurde als Dolmetscherin nur selten gebraucht, und um sich von allen Grübeleien abzuhalten, ließ sie sich von den beiden jungen Moliaren, die vor ihr in der Schlange der Lastenschlepper dahintrotteten, in Gespräche über dies und das verwickeln.

Die beiden hießen Sico und Maki und waren heftig ineinander verliebt. Er war neunzehn Jahre alt, sie gerade mal sechzehn. Sie hatten ihr ganzes bisheriges Leben im Nebelwald verbracht und manchmal, wenn sie mit unbekümmertem Lachen vom Alltag und den kleinen Festen in ihrem Dorf erzählten, begann es in Likis Kehle vor Sehnsucht zu brennen. Wie seit Anbeginn der Schöpfung gingen die Krieger ihres Dorfes an den Tagen, die die Götter für günstig erklärt hatten, auf die Jagd und die Mädchen und Frauen kümmerten sich währenddessen um die kleinen Pflanzäcker zwischen ihren Hütten. Von außen betrachtet mochte es eintönig erscheinen, aber es war ein Leben, in dem alles und jedes mit Sinn und Bedeutung erfüllt war. Auf jede Frage gab es eine Antwort, die von den Göttern selbst durch die Münder der Priester verkündet wurde. Liki beneidete Maki, weil die junge Moliarin so vollständig mit sich im Reinen schien – während sie selbst immer mit sich im Streit lag, in zwei Teile zerrissen war, die niemals Frieden schließen würden – ihre Moliat-Seite und ihr dunibisches Erbteil.

Nachts lag Liki in ihrer Hängematte oft stundenlang wach. Sie lauschte dem Knacken zerbrechender Zweige unter den Tatzen der Parder, dem panischen Pfotentrommeln fliehender Beutetiere und dem kläglichen Fiepen, mit dem ihre Flucht im Allgemeinen endete. In den letzten Nächten, bevor sie in Naxoda eintrafen, kam Axoras immer in der Stunde vor dem Morgengrauen zu ihr und im Erwachen fragte sich Liki jedes Mal, ob es ein Traum gewesen war. Bei Tag, als weiser Chalóxo, war Axoras ein alter Mann mit grauen Haaren und einem Gesicht wie gegerbtes Büffelleder. Nachts aber verwandelte er sich für sie in einen jungen Krieger, der ihr mit leidenschaftlichen Liebesspielen jeden trüben Gedanken austrieb. Er flüsterte ihr sonderbare Schnalz- und Trillerlaute ins Ohr, wie er es schon damals gemacht hatte, als sie ein kleines Mädchen und er ihr väterlicher Beschützer gewesen war. Und jedes Mal, wenn er seine Zauberlaute in ihr Ohr summte, kam es ihr vor, als ob Hunderte und Tausende Glühwürmchen in ihrem Rücken zu flattern begännen, die Wirbelsäule hinauf bis in den Nacken und sogar bis in ihren Hinterkopf hinein.

Ihre trübe Stimmung verflog. Mit jedem Tag wurde sie heiterer und bald schon verstand Liki gar nicht mehr, wieso sie sich mit düsteren Vorahnungen herumgeplagt hatte. Alles war bestens vorbereitet und alles würde gut ausgehen. Weder Hergo noch Axoras konnten irgendein Interesse daran haben, dass bei dieser Expedition etwas schiefging.

So erreichten sie schließlich Naxoda. Oder jedenfalls den Ort, den Chalóxo ihnen als »Naxoda, heilige Stadt der Schöpfungsgötter und Geburtsstätte der Moliatkultur« pries.

3

vigFür Likis ungeschulte Augen war es einfach eine Art Felsplateau mitten im Wald. Ein gigantischer Quader, der wie die unterste Stufe einer ansonsten abhandengekommenen Titanentreppe vor ihnen aufragte, gut zehn Meter hoch und nach beiden Seiten unabsehbar lang. Das ganze ungeheure Steintrumm war von Schlingpflanzen mit fleischigen Blättern und tiefgründigen Blüten (schorfroten, mitternachtsblauen) überwuchert, und Syrassen, Würgefeigen und sonstige Baumarten wuchsen oben darauf genauso wie überall ringsumher. Aber Axoras brauchte nur ein paar Augenblicke, um Hergo und Lona Markan davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich an ihrem Ziel angelangt waren. Er trat vor die Vorderfront der gewaltigen Steinformation, zückte sein Messer und kratzte damit eine ungefähr ein mal einen Meter große Stelle frei.

Zum Vorschein kam eine Art Wappen mit ovalem Schmuckrahmen und einem geflügelten Drachenwesen darin, das in seinen Klauen eine gewaltige Schlange hielt.

Der Professor schnellte geradezu nach vorn. Mit andächtiger Miene musterte er das von Alter und Nässe zernagte Relief. »Das Zeichen der Könige von Naxoda«, murmelte er.

Hergo und Lona Markan fielen einander in die Arme. Doch fürs Erste blieb wenig Zeit, um Freudentänze aufzuführen – der Tag war weit fortgeschritten und im Moliat brach die Nacht übergangslos herein. Sie mussten sich sputen, damit ihr Lager rechtzeitig fertig wurde.

»Achtung, Dunibier«, kauderwelschte Chalóxo, »in diesem Ort jagen größte und hungrigste Nachtparder von ganz Moliat.«

Die Träger übersetzten einander diese Worte und brachen in Geschrei aus.

»Warum hast du das nicht früher gesagt?«, blaffte Lona Markan.

»Wenn früher – lange vor hier keiner mehr da.« Chalóxo deutete auf ihre Lastenschlepper, die wild durcheinanderrannten, sich die Haare rauften und mit den Fäusten gegenseitig auf die Oberarme schlugen, was im Moliat so viel bedeutete wie: »Aus und vorbei!«

»Wir schlagen das Lager oben auf der Plattform auf«, verkündete der Professor nach einer kurzen Beratung mit der Magistra. »Und wir brauchen mengenweise Brennholz – an jeder Seite des Lagers wird ein Feuer entfacht, das die ganze Nacht nicht ausgehen darf. Los, Leute!«

Chalóxo brummte etwas Unverständliches. Doch als Hergo von ihm wissen wollte, was er gegen diese Maßnahmen einzuwenden habe, zuckte der Moliare nur die Schultern.

Es war eine mühselige und langwierige Arbeit, die unzähligen Kisten und Bündel auf die Plattform zu hieven. Die Steinwände waren schroff und glitschig und falls es irgendwo eine Treppe gab, die auf die künstliche Anhöhe hinaufführte, so war sie wie alles andere vor Jahrtausenden unter Schlamm und Dickicht verschwunden.

Liki sammelte mit Maki und den anderen Trägerinnen Feuerholz. Dabei hielt sie Ausschau nach überdimensionierten Nachtpardern, aber eigentlich glaubte sie nicht an diese Gefahr. Schließlich kannte sie Axoras gut genug, um einige seiner Schliche zu durchschauen. Wenn man seine Herde zusammenhalten wollte, war es immer nützlich, ihr gehörig Angst einzujagen. Aber was sie selbst betraf – sie hatte vor gar nichts Angst.

Bei Tag und Nacht spürte Liki mittlerweile jenes Summen und Pulsieren in ihrem Rückgrat. Axoras hatte mit seinem nächtlichen Trillern und Klickern irgendetwas in ihr aufgeweckt und es fühlte sich einfach großartig an. Vielleicht mochte sie auch deshalb an keine bedrohlichen Raubkatzen glauben – weil sie sich seit ein paar Tagen so stark, so bis in ihr Innerstes mit Energien aufgeladen fühlte, dass ihr nicht einmal ein Nachtparder von den Ausmaßen eines Sumpfbüffels Angst machen konnte.

Mit einem Armvoll klammem Reisig kam sie zurück zum Lager und entdeckte Hergo und Lona Markan einige Schritte entfernt zwischen zwei riesenhaft aufragenden Bäumen – einer üppig blühenden Syrasse und einem Purpurinenbaum. Chalóxo stand bei ihnen und unter dem Vorwand, dass sie vielleicht ihrer Dolmetscherkenntnisse bedürften, gesellte sich Liki dazu.

Hergo kauerte vor einem Loch im Boden. Er hatte eine Lampe angezündet, hielt sie in den Krater hinein und funzelte da unten im Dunkeln herum. Liki beugte sich über seinen ergrauten Schädel. Allem Anschein nach war der Raum unterhalb dieser Plattform zumindest teilweise hohl. Sie konnte die nebelhaften Umrisse eines kolossalen Bauwerks ausmachen – einer Pyramide mit einem würfelförmigen kleinen Tempel auf dem flachen Dachfirst.

»Das alles hier kommt mir noch ganz unwirklich vor«, sagte Hergo, »fast wie ein Traum.«

»Ein Albtraum« hätte es besser getroffen, aber das kam in diesem Augenblick weder dem Professor und seiner Assistentin noch Liki in den Sinn. Ganz im Gegenteil – sie hatten Naxoda entdeckt, die geheimnisvolle Götterstadt, nach der unzählige Generationen von Abenteurern und Forschern gesucht hatten. Und mit diesem Loch in der Hunderte Meter langen Plattform hatten sie auch gleich einen unschätzbar wertvollen Fund gemacht. Um den Riesensockel herum erhoben sich unzählige Hügelformationen, die allesamt ähnliche Umrisse aufwiesen – gleichmäßig ansteigende Flanken, die in zwanzig bis dreißig Meter Höhe in spitzem Winkel zusammentrafen. Höchstwahrscheinlich enthielt jeder einzelne dieser Hügel eine Pyramide aus den Zeiten, als Naxoda die allerheiligste Stätte des Moliat gewesen war. Aber Liki hatte lange genug am Archäologischen Institut in Phora studiert, um zu wissen, wie langwierig Ausgrabungsarbeiten im Dschungel sein konnten. Oftmals stellte sich nach Monaten mühseligen Grabens heraus, dass das Bauwerk, das man freigelegt hatte, bereits vor Jahrhunderten geplündert worden war. Um in derart unübersichtlichem Gelände einen Treffer zu erzielen, brauchte man entweder eine gehörige Portion Glück oder einen kundigen Führer.

Hergo und Lona Markan berieten sich aufs Neue. »Ich muss sofort da runter!«, rief der Professor aus. Weder er noch seine Assistentin schienen auch nur die geringsten Zweifel zu hegen, dass sie auf eine archäologische Goldader gestoßen waren.

»Tag zu alt«, gab Chalóxo zurück, »morgen neu Sonne.«

Hergo schien ganz und gar vergessen zu haben, wen er vor sich hatte. Als wäre Chalóxo ein begriffsstutziger Student, setzte er ihm des Langen und Breiten auseinander, warum er unbedingt so schnell wie möglich in dieses Loch hinabklettern musste. In den vorflutlichen Moliatkulturen sei es üblich gewesen, dass ein Herrscher nach seiner Thronbesteigung neue Tempel und Pyramiden errichten ließ, die die Bauwerke seines Vorgängers an Größe und Pracht übertrafen. Aber aus Ehrfurcht vor Göttern und Ahnen hätten sie die älteren Heiligtümer nicht einfach abgerissen, sondern mit neuen, noch prächtigeren Steinkonstrukten umbaut.

Axoras alias Chalóxo hörte sich das alles mit unterwürfiger Miene an und nur Liki bemerkte sein höhnisches Lächeln. »Morgen Loch«, kauderwelschte er. »Alte Steine hier seit weiß nicht tausend Jahren. Morgen bestimmt auch da. Jetzt schlafen und Achtung hungriger Parder.«

Schließlich fügte sich Hergo. Erschöpft von den hinter ihnen liegenden Strapazen, legten sich an diesem Abend alle Expeditionsteilnehmer frühzeitig in ihre Hängematten. Die Kisten mit den Werkzeugen und sonstigen Ausrüstungsgegenständen hatten sie unweit dem Einstiegsloch auf der Plattform aufgestapelt. An allen vier Seiten des Lagers brannten Feuer, wie Hergo es angeordnet hatte. Jeweils zwei Mann sollten dort Wache halten.

Der Mond segelte hinter dünnen Wolkenbändern dahin, die wie Schlangengeister über den Nachthimmel wehten. Liki wartete auf Axoras. In ihrem Rücken war dieses Pulsieren und Kribbeln – sie würde keinen Schlaf finden in dieser Nacht, das wusste sie im Voraus.

So bekam sie haargenau mit, wie alles anfing. Der Albtraum, das Grauen, der grässliche Zauber. Es begann mit einem heftigen Windstoß, der von allen Seiten gleichzeitig zu kommen schien. Die Feuer gingen mit einem Schlag aus und die Wachen an allen vier Enden des Lagers fingen genauso gleichzeitig an zu schreien. Aber ihre Alarmrufe gingen in dem markerschütternden Brüllen unter, das im nächsten Moment den Dschungel, die Ruinenstätte und jeden einzelnen Expeditionsteilnehmer in seiner Hängematte erzittern ließ.

Ein Brüllen, das beinahe wie Donner klang. In der ersten Verwirrung glaubte Liki, über ihnen bräche ein Gewitter los. Aber es war das Brüllen einer zornigen Raubkatze, nur so viel lauter und mächtiger, als sie es jemals für möglich gehalten hatte.

Mittlerweile war das ganze Lager auf den Beinen. Alle liefen durcheinander, alles heulte um Hilfe. Hergo und Lona Markan rannten herum und schrien: »Wächter, hierher!« – und niemand kam. »Chalóxo!«, schrie Hergo und diesmal bekam er eine Antwort, die das Lager in noch hellere Aufregung versetzte: Die riesenhafte Raubkatze brüllte aufs Neue und diesmal ganz nah. Niemand hatte sie bisher zu sehen bekommen, auch Liki nicht, aber im Stockfinstern konnte man eine schwarze Bestie ohnehin erst dann bemerken, wenn es zu spät war.

Liki wollte sich eben aus ihrer Hängematte schwingen, als sie Axoras’ Stimme in ihrem Kopf vernahm. Rühr dich nicht – sonst bist du tot. Es war eindeutig seine Stimme, aber gleichzeitig klang sie überhaupt nicht nach ihm, ja sie klang nicht einmal wie eine menschliche Stimme. Sie hörte sich so an, wie Axoras sich anhören würde, wenn er eine riesenhafte Raubkatze wäre. Zu keinem ein Wort – sonst bist du tot.

Das Brüllen des Parders war jetzt überall auf einmal. So als ob sein Kopf, größer als der Mond dort oben (der in Zaketumesien sowieso immer viel größer und mächtiger wirkte als von der anderen Seite des Grünen Meeres aus), über der kolossalen Plattform schwebte und unablässig auf sie herunterbrüllte und -fauchte.

Die einheimischen Träger waren unterdessen auf ihre Knien gefallen. Von überallher im Dunkeln hörte Liki die Männer und Frauen um Gnade winseln. »Xapadocha, Xapadocha!« So hieß die kriegerische Gottheit, die sich in einem Nachtparder verkörperte, wenn sie die sterblichen Kreaturen mit ihrer Gegenwart beehrte.

Aber Liki wusste, dass diese monströse Raubkatze keine Verkörperung des zornigen Xapadocha war. Es war Axoras, der mächtigste Magier im ganzen Moliat, der einzige Sterbliche, der zu einer so ungeheuren Lakori imstande war.

In das Brüllen des Nachtparders und das Gewinsel der zu Tode verängstigten Menschen mischten sich mit einem Mal dumpfe Trommelklänge. Der ganze Dschungel begann zu wummern wie das Herz einer riesenhaften Bestie und dazu hob es aus unzähligen Flöten markerschütternd zu pfeifen an – es klang, als ob alle Tiere im gesamten Nebelwald gleichzeitig in Angst- und Schmerzens- und Todesschreie ausbrechen würden. Und gerade als Liki in ihrer Hängematte dachte, dass es ärger nun gewiss nicht mehr kommen könne, da begann die Erde zu beben.

Zumindest fühlte es sich für sie und wohl auch für alle anderen auf der Plattform so an. Zumal gleichzeitig ein Malmen und Knirschen und Poltern ertönte, wie wenn Mauern einstürzen und Felslawinen zu Tale donnern, und währenddessen brüllte der Parder unaufhörlich und die Trommeln wummerten, die Knochenflöten schrien, die Moliaren wimmerten: »Xapadocha – hab Erbarmen!«, aber mit diesem Inferno hatte der große Xapadocha nichts zu tun.

Rühr dich nicht – sonst bist du tot. Liki lag wie eine Skulptur so starr in ihrer Hängematte. Zu keinem ein Wort – sonst bist du tot. Irgendwann hörte der Boden unter ihr auf zu beben. Über den Wipfeln der Syrassen und Yasnas und Purpurinenbäume wurde der Himmel erst rußfarben, dann ganz allmählich aschegrau.

Das Getöse der Trommeln und Flöten erstarb. Es verstummte nicht gänzlich und jeder einzelne Expeditionsteilnehmer würde es bis zum Ende seines Lebens in sich tragen. Aber es wurde fast unmerklich immer leiser, so wie auch das Brüllen und Fauchen des Nachtparders in der Morgendämmerung nur noch wie aus großer Ferne zu hören war.

Liki richtete sich in ihrer Hängematte auf. Sie erhielt keine weiteren Gedankenbefehle und so rieb sie ihre steifgewordenen Gliedmaßen und sprang vorsichtig auf den steinernen Untergrund hinab.

Sie war darauf gefasst, sich in einem verheerten Lager voll verstörter Menschen wiederzufinden. Doch es war weitaus ärger. Der größte Teil der Plattform, auf dem sie gestern Abend ihr Lager errichtet hatten, war ganz einfach nicht mehr da. Stattdessen klaffte dort ein gigantischer Krater.

4

vigLiki machte sich so leicht wie möglich. Auf Zehenspitzen, um keine unnötigen Erschütterungen hervorzurufen, ging sie zu Hergo und seiner Assistentin hinüber. Die beiden kauerten am Rand des ungeheuren Abgrunds, zu dem sich ihr Einstiegsloch über Nacht vergrößert hatte. Auch sie wirkten reichlich mitgenommen, aber anscheinend hatten sie keine größeren Verletzungen abbekommen.

»Wo warst du, Halbblut«, fuhr Lona Markan sie an. »Und wo versteckt sich dieser Schurke Chalóxo?«

»Lass sie, Lona«, beschwichtigte Hergo. »Mehr als die Hälfte unserer Leute ist verschwunden«, fügte er an Liki gewandt hinzu. »Einige von ihnen sind zu Tode gestürzt.« Er wirkte verunsichert. Vage deutete er in den Abgrund hinunter und Liki folgte ihm mit den Augen: Die gewaltige Pyramide da unten mit dem quaderförmigen Tempel auf dem Dachfirst sah erstaunlich unversehrt aus. Unmengen von Steintrümmern türmten sich um den Pyramidensockel herum am Boden des Abgrunds, doch das Bauwerk selbst hatte bis auf ein paar zermalmte Reliefs keine sichtbaren Schäden davongetragen. »Aber die meisten von unseren Leuten«, fuhr der Professor fort, »sind heute Nacht wohl einfach davongerannt.« Das sei allerdings längst nicht so schlimm, wie es sich vielleicht anhöre, fügte er hinzu – schließlich hätten sie durch das Beben auch mindestens die Hälfte ihrer Ausrüstungsgegenstände verloren.

Er hatte ein paar Schrammen im Gesicht, wirkte aber ansonsten eigentümlich munter. Ab und an schien er in sich hineinzuhorchen und Liki fragte sich, ob auch er, so wie sie selbst letzte Nacht, Gedankenbefehle von Axoras erhielt. Die Moliaren, die weder umgekommen waren noch die Flucht ergriffen hatten, schienen vor Angst noch immer mehr tot als lebendig. Dennoch ordnete Hergo an, dass sie unverzüglich durch den Krater zur Pyramide hinabsteigen würden.

Doch die einheimischen Träger weigerten sich, diesen Befehl auszuführen. »Xapadocha«, flüsterten sie nur immer wieder und sahen sich mit scheuen Blicken um. Ihrer Ansicht nach hatte der große Kriegsgott letzte Nacht unmissverständlich klargemacht, dass sie alle von hier verschwinden sollten.

»Um uns zur Pyramide abzuseilen, brauchen wir mindestens drei Helfer«, beharrte Lona Markan. »Dich, Halbblut«, blaffte sie Liki an, »und noch zwei – wähle sie aus.«

Likis Blick fiel auf Sico und Maki. Die beiden sahen einander fragend an und willigten dann ohne weiteres ein.

Kurz darauf begannen sie bereits mit dem Abstieg. Hergo und Lona Markan, Sico und Maki sowie Liki als Nachhut. Ohne irgendwelche Zwischenfälle erreichten sie den Dachfirst der Pyramide. Die Türöffnung des würfelförmigen kleinen Tempels war zugemauert und Hergo legte den Eingang mit wenigen wuchtigen Hammerschlägen frei.

Hergo und Lona Markan drangen in den Tempel ein, mit Fackeln und Hämmern ausgerüstet. Doch schon im nächsten Moment stieß die Magistra einen Schrei aus. »Ein Parder«, heulte sie auf, »wie kommt der hier rein?«

Sie rannte die beiden Moliaren beinahe um, so eilig hatte sie es mit einem Mal, aus dem Tempel wieder herauszukommen. Aber dann erstarrte sie auf der Türschwelle.

Der Tempel dröhnte von Hergos Gelächter. »Renn schneller, Lona«, schrie er, »sonst beißt das Kätzchen dir sonst wohin!«

Zögernd drehte sich die Assistentin wieder zu ihm rum. Über ihre Schulter hinweg sah Liki, was den Professor so sehr belustigte. Mitten in dem quadratischen Tempelraum saß ein lebensgroßer Nachtparder. Die Bestie war kunstvoll aus dem Stamm eines Steinholzbaums geschnitzt und ihre funkelnd grünen Augen waren ebenso wie das glänzend schwarze Fell auf die Holzskulptur aufgemalt. Der Parder saß überdies in einem Steinholzkäfig fest und diese bizarre Einzelheit schien Hergo besonders zu amüsieren – er hieb mit der flachen Hand auf den Käfig und rief dabei ein ums andere Mal aus: »Zum Glück ist er gefangen! Zum Glück ist er gefangen! Den nehmen wir mit«, sagte er schließlich, noch außer Atem von seinem Lachanfall. »Du lieber Linglu, war das ein Spaß.«

Die Magistra schien weit weniger erheitert. Misstrauisch betrachtete sie die geschnitzte Bestie hinter den Gitterstangen. Als Hergo den Käfig beiseiteschob, machte der Parder darin einen kleinen Satz und Lona Markan zuckte erneut zurück. Wo der Käfig gestanden hatte, kam ein kreisrundes Bodenloch zum Vorschein.

Im Fackelschein begutachtete Liki unterdessen die Tempelwände. Das Bauwerk hatte den nächtlichen Trümmerregen keineswegs so gut überstanden, wie es von der Plattform aus den Anschein gehabt hatte. Jedes einzelne Mauerstück war mit einem Spinnennetz aus Rissen überzogen.

Kein Wort – sonst bist du tot.

Auch Liki warf dem hölzernen Parder nun einen argwöhnischen Blick zu. Sie war sich keineswegs sicher, ob dieser Gedankenbefehl gerade jetzt in ihrem Kopf ertönte – oder ob es ein Nachhall von letzter Nacht war.

Sie beschloss zu schweigen. Schließlich hatten der Professor und die Magistra genauso Augen im Kopf wie sie, doch sie schienen den Rissen im Mauerwerk keine Bedeutung beizumessen.

Das Allerheiligste eines Moliattempels befand sich nicht im Bauwerk selbst, sondern darunter, das wusste auch Liki und so wunderte sie sich nicht, als sich Hergo neben dem Bodenloch niederkauerte. Es war kreisrund und mit einem Steinpfropf verschlossen, den der Professor und Sico mit vereinten Kräften hervorzerrten und zur Seite wälzten. Sie zurrten ihre Seile fest und stiegen einer nach dem anderen hinab. Die beiden Forscher vorneweg, dann das Moliarenpärchen und Liki im Nachtrab. Auch die Wände des Schachts, der in das Allerheiligste hinunterführte, waren mit Rissen überzogen. Sie meinte nun bereits so etwas wie leises Knirschen im Mauerwerk zu hören.

Unten angekommen, folgten Hergo und Lona Markan einem schmalen Gang, der nach wenigen Metern wiederum vor einer vermauerten Türöffnung endete. Abermals schwang der Professor seinen Hammer und legte den Zugang frei.

Der Professor und die Magistra traten in das Allerheiligste. »Seit mindestens zehntausend Jahren«, sagte Hergo, »hat kein Fuß diese Stätte betreten.« Die Kammer war eng bemessen, aber Liki blieb ohnehin lieber in der Nähe des Ausgangs. Über Sicos und Makis Schultern hinweg sah sie zu, wie die beiden Forscher mit großen Augen die Wandzeichnungen musterten.

Was diese Bildtafeln zeigten, konnte Liki nicht erkennen und sie war auch entschlossen, es dabei zu belassen. In den Mauern um sie herum knirschte und ächzte es mittlerweile so vernehmlich, dass eigentlich auch Hergo und Lona Markan es nicht mehr überhören konnten. Doch die beiden machten keinerlei Anstalten, den Rückzug anzutreten. Sie kramten Wachspapierbögen und Stifte aus ihren Rucksäcken und begannen, in fiebriger Eile die Bildtafeln von den Wänden abzupausen.

»Hörst du die Trommeln und Flöten auch immer noch?«, fragte Lona Markan. Hergo nickte ihr mit gehetzter Miene zu und kritzelte hastig weiter.

»Wir müssen von hier verschwinden«, rief Liki. »Gleich kracht hier alles zusammen – dann werden wir unter den Tempeltrümmern begraben.«

Hergos einzige Antwort war ein weiterer gehetzter Blick.

Während sie von einer Bildtafel zur nächsten eilte, fand Lona Markan immerhin noch Zeit für eine herablassende Bemerkung. »Hier drin ist es sogar noch gefährlicher, als du dir vorstellen kannst, Halbblut«, sagte sie. »Auch die Pyramide wird größtenteils hohl sein und dieses Allerheiligste hier klebt also praktisch unter ihrem Dach im Leeren.«

Sie hatte ihren Satz noch nicht beendet, als die Wände um sie herum zusammensackten. Hergo und Lona Markan schrien auf vor Verzweiflung und Wut – sie hatten die Bildtafeln noch nicht vollständig kopiert. Der Boden unter ihren Füßen bebte, Steinbrocken lösten sich aus der Decke und prasselten auf sie herab. Wenn sie auch nur einen einzigen Augenblick länger in diesem allerheiligsten Schutthaufen blieben, würden sie mitsamt ihrer archäologischen Sensation darin begraben werden. »Raus hier!«, schrie Hergo. »Träger – den Parder mitnehmen!«

Buchstäblich im letzten Moment schafften sie es aus dem Allerheiligsten in den Tempel und von dort auf der Strickleiter in rasender Eile wieder auf die Plattform hinauf. Hergo und Lona Markan kletterten als Letzte empor, während unter ihnen die Pyramide mit dem Tempel darauf zu einer ungeheuren Steinlawine in sich zusammenstürzte. Eine gewaltige Staubwolke stieg empor und für einige qualvolle Augenblicke konnten anscheinend weder Hergo noch Lona Markan auch nur ihre eigenen, um das Seil geklammerten Hände vor Augen sehen.

Was genau in diesen Augenblicken passierte, hatte Liki niemals herausgefunden. Später jedenfalls, auf dem gesamten mühseligen Rückweg bis zur Grünmeerküste, beschuldigten sich die beiden Forscher gegenseitig des hinterhältigen Mordversuchs. Die Magistra bezichtigte Hergo immer wieder, er habe an ihren Fußknöcheln gezerrt, damit sie zu Tode stürzen und er allein als Entdecker der Bildtafeln von Naxoda gefeiert würde. Dagegen beharrte der Professor darauf, sie hätte ihm mit aller Kraft auf Kopf und Hände getreten, weil sie ihn tot sehen und als alleinige Naxoda-Entdeckerin unsterblich werden wollte.

So beschimpften und belauerten sie sich mehr als zwei Wochen lang und währenddessen wetteiferten sie darin, ihre lückenhaften Kopien der Bildtafeln aus dem Gedächtnis zu vervollständigen. Der Professor sollte ebenso wie seine Assistentin unversehrt die Küste erreichen, doch auch ihr Rückmarsch stand unter keinem guten Stern. Von den dreizehn Helfern, die ihnen nach jener Nacht geblieben waren, kamen bis Zaruka weitere drei ums Leben. Ein Bursche brach sich bei einem Sturz das Genick, zwei ältere Moliaren wurden bei Nacht von Raubtieren zerfleischt – ob von Nachtpardern, blieb im Dunkeln. Als sie am siebzehnten Tag den Hafen von Zaruka erreichten, machten sich weitere sieben Moliaren im Schutz der Abenddämmerung aus dem Staub, ohne auch nur ihren Trägerlohn zu fordern. So blieben lediglich Sico und Maki übrig. Hergo wies sie an, ihre Habseligkeiten zu bewachen, bis sie am folgenden Morgen in den Ozeandampfer Königin Lanfa verladen würden.

Hergo und Lona Markan verbrachten die Nacht in derselben Hafenpension wie bei ihrer Ankunft in Zaketumesien, doch diesmal in getrennten Zimmern. Als sie sich morgens wieder am Überseekai einfanden, war auch das einheimische Wächterpärchen verschwunden. Stattdessen lagen neben dem Käfig mit dem hölzernen Parder zwei weitere kunstvoll gefertigte Yasnaskulpturen: ein Bursche und eine junge Frau, beide mit den unverkennbaren Zügen und der eher kleinwüchsigen Gestalt der Nebelwald-Moliaren. Hergo konnte sich nicht erinnern, wie sie in den Besitz dieser lebensgroßen Statuen gelangt waren, und Lona Markan antwortete auf alle seine Fragen nur mit einem zwischen den Zähnen hervorgezischten »Verbrecher!«.

Als die Schiffsbesatzung bereits begonnen hatte, das Gepäck der Überseepassagiere zu verladen, erschien schließlich auch noch Liki Meida am Kai. Sie war übernächtigt, doch allerbester Stimmung – in der Nacht war Axoras wieder bei ihr gewesen, in der Gestalt jenes jungen Moliatkriegers, und hatte ihr seine sonderbaren Schnalz- und Klickerlaute ins Ohr geflüstert. In ihrem Rücken pulsierte und kribbelte es seitdem, als ob sich dort Hunderte winziger Schlangen kringelten.

Auf Likis Rat hin nahm Hergo die beiden Yasnaskulpturen mit nach Phora. Als einzige von allen Expeditionsteilnehmern, die der Professor angeheuert hatte, bekam Liki ihren vereinbarten Lohn ausgezahlt: siebzig dunibische Gulden mit dem weltberühmten phoräischen Panorama auf der Vorder- und dem Porträt von König Sorno auf der Rückseite.

»Hat er dich nach Naxoda geschickt?« Sie klopfte mit der Spitze ihres Zeigefingernagels auf Sornos goldenes Antlitz.

»Knapp daneben.« Gol Hergo schüttelte den Kopf – dann erst schien ihm klar zu werden, dass Liki ihn übertölpelt hatte. »Halte dich da raus«, sagte er. »Frag nie mehr danach – mich nicht und auch sonst niemanden.«

Er beschwor sie, nochmals ein Jahr verstreichen zu lassen, bevor sie nach Dunibien zurückkehrte. Anstelle einer Antwort küsste sie ihn hingebungsvoll – nicht aus Liebe oder Zärtlichkeit, oder das möglicherweise auch. Aber hauptsächlich küsste Liki ihn, weil sie die Blicke der Markan hinter dem Kajütfenster auf ihnen beiden spürte.

Und gerade in diesem Moment, als Rabov mit Likis Sinnen diese ergreifende Abschiedsszene nacherlebte – gerade da geriet der Schlamm um ihn und Liki herum in eine wirbelnde Bewegung.

5

vigAls wenn irgendwo unter ihnen der Pfropf aus einem Ausguss gezogen worden wäre, so begann der Schlamm um sie herum gurgelnd zu kreisen und saugte sie beide in rasenden Spiraldrehungen mit sich hinab. Im selben Moment wurde Likis innere Welt für Rabov dunkel und leer.

Zu früh, dachte er, mehr erbost als erschrocken – ein paar Augenblicke noch, dann wäre er bis ans Ende von Likis Geschichte gekommen, so aber blieben immer noch einige wichtige Fragen ungeklärt.

Mit den Füßen voran schoss Rabov in einem Schacht voller Schlamm hinab. Seine Ohren waren noch immer mit den Kugeln verklebt, die er sich aus Schlangenschleim modelliert hatte, und die Röhre um ihn herum war so eng, dass er weder die eine noch die andere Hand zu seinen Ohren hochbekam. Aber Liki gab sowieso keinen Laut von sich und allem Anschein nach würde sich daran auch so bald nichts ändern.

Ihre Arme und Beine, die sie um seine Schultern und seine Mitte geschlungen hatte, fühlten sich eisenhart an. Genauso wie ihre Stirn, die gegen seine linke Wange gepresst war. Aber Liki Meida war nicht plötzlich zu einem Apparat aus Eisen geworden. Sie hatte ihm gesagt, dass Axoras sie in dem Schlammloch nicht sehen könne. Doch offenbar hatte sie nicht gewusst (oder jedenfalls nicht erwähnt), dass er sie trotzdem mit einem Zauber belegen konnte – mit der gleichen Lakori, durch die Velissa Labiano verwandelt worden war.

Rabov fühlte die rauhe Rinde auf seiner Wange und seinem Nacken. Auch wenn er sie in diesem dunklen Schacht nicht sehen konnte, spürte er doch mit untrüglicher Gewissheit, dass Liki in seinen Armen in einen Yasnabaum verwandelt worden war. Ein Geruch nach Baumrinde und frischem Laub ging von ihr aus. Ihre Gliedmaßen umschlossen ihn so eng und unnachgiebig hart, dass er nur noch mühsam Luft bekam. Selbst wenn er die rasende Fahrt durch diesen Schacht voller Schlamm mit halbwegs heilen Knochen überstehen sollte – in dieser Fesselung wäre er hilf- und wehrlos.

Nicht, dass es einen nennenswerten Unterschied machen würde – gegen einen so übermächtigen Widersacher hatte er so oder so keine Chance. Trotzdem erbitterte es ihn, dass sich sein Gegner nicht mit dem Sieg zufriedengab, sondern ihn überdies zu verspotten schien.

Selbst wenn er es irgendwie schaffte, eine Hand zwischen Liki und seinen eigenen Körper zu zwängen und die Kampfaxt aus seinem Gürtel zu ziehen – er könnte sich niemals überwinden, sich aus Likis Umschlingung freizuhacken. Denn Liki lebte, er spürte es klar und deutlich – sie lebte, so wie Velissa Labiano im Innern des Yasnabaums weitergelebt hatte. Ihn graute vor dem Augenblick, in dem es um sie herum wieder hell werden würde und er in Likis verwandeltes Gesicht schauen müsste – mit Rinde überzogen und in unsagbarem Entsetzen verzerrt.

Und doch würde er eher in ihren Armen sterben, als ihr die Gliedmaßen vom Rumpf zu hacken. Denn das hieße ja, wie die widerwärtig weißen Würmer zu werden, diese greulichen Ungeheuer, die Arme und Beine von ihren Opfern herunterfraßen. Aber dafür hatte er sich nicht aus der Naxoda-Bestie wieder hervorgekämpft, sagte sich Rabov – um nun selbst zu einem solchen Monstrum zu werden. Und dafür hatte er nicht damals in Raginor den Fresspriester gezwungen, ihn wieder freizulassen – um nun ein halbes Leben später Likis Gliedmaßen anstelle seiner eigenen Arme und Beine zu opfern.

»Liebste Liki«, flüsterte Rabov in ihr Ohr, während der Schlamm sie den nachtschwarzen Schacht hinabriss. »Eher komme ich mit dir um, als …«

Doch es war kein guter Moment für Liebesschwüre. Offenbar waren sie ans Ende ihrer rasenden Fahrt gelangt: Rabov wurde rücklings auf einen schmalen Wiesenstreifen geworfen, unmittelbar neben einer kümmerlichen Hütte, die ihm von irgendwoher bekannt vorkam. Der Himmel war schwarz, es musste tief in der Nacht sein. Glücklicherweise war er einigermaßen weich aufgekommen, in einem gewaltigen Schlammhaufen, in dem er gleich wieder bis über Schultern und Schläfen versank. Liki lag nun auf ihm. Drückend schwer lastete sie auf seiner Brust und er musste sie mit jedem einzelnen Atemzug mühevoll emporstemmen.

Allmählich dämmerte ihm, an welchen Ort es sie verschlagen hatte. Sie waren zurück in Phora, in der Olchostraße. In der halb zusammengekrachten Hütte linker Hand hatte er heute früher am Tag nach Liki und ihrem Schlangenklub gesucht. Wenn er sich ein wenig längermachte, könnte er mit seinen Fußspitzen wahrscheinlich die Türschwelle berühren und die Tür stand sogar noch offen von seinem Besuch. Und von der Schlammwoge, mit der sie wieder hinausgeschwemmt worden waren.

Die Uferwiese war zum Fluss hin ein wenig abschüssig und Rabov spürte, wie der Schlamm ihn träge umfloss, an seinen Armen und Schultern zog und ganz langsam unter ihm davonrann. Irgendwo da hinten gurgelte die Rote Nibra vorüber, nur ein paar Schritte hinter seinem Kopf, und aller Schlamm, der mit ihnen beiden zusammen aus dem heißen Fleck geschwappt war, floss nun mit träger Zähigkeit die Uferwiese hinab. Doch so wie sich Liki an ihn geklammert hatte, konnte Rabov seinen Kopf nicht weit genug nach hinten verdrehen, um die Nibra mit eigenen Augen zu sehen. Der volle Mond segelte über den Nachthimmel und obwohl er auf dieser Seite des Grünen Meers viel kleiner und ferner schien, reichte sein Lichtschein aus, um einen monströsen Schatten an die Hüttenwand zu malen.

Den Schatten eines riesenhaften Nachtparders, der Rabov unbewegt ansah. Aus schrägen Katzenaugen, die eindeutig einen grünen Schimmer aufwiesen, auch wenn das bei einem gewöhnlichen nachtgrauen Schemen eigentlich nicht möglich war.

Befrei dich und kämpfe – oder du bist tot.

Rabov war auf diese Gedankenstimme gefasst gewesen, trotzdem fuhr er zusammen – es klang wirklich kaum wie eine menschliche Stimme, eher wie tierisches Grollen und Fauchen. Du hast gewonnen, Axoras, gab er so ruhig zurück, wie das mit der Last auf seiner Brust möglich war (und das war allerdings nicht im Geringsten ruhig). Reicht dir das nicht? Warum willst du dich auch noch an unseren Qualen weiden?

Die Schnurrhaare des riesenhaften Parders zuckten. Nur deshalb bin ich ja nach Phora gekommen, Dunibier – um mich an euren Schmerzen, eurer Qual und eurem Grauen zu laben. Also befreie dich endlich und kämpfe!

Mühevoll atmete Rabov aus und ein. Was hat Dunibien dir angetan – warum willst du gerade uns Phoräer leiden sehen?

Der Parder stieß ein zorniges Fauchen aus. Das fragst du, Agent eines Königreichs, dessen Macht und Reichtum seit ältesten Zeiten auf Blut und Schmerzen aller anderen Völker gegründet ist?

Darauf fiel Rabov nicht sofort eine Antwort ein. Aber die riesenhafte Raubkatze schien auch nicht damit gerechnet zu haben. Dunibische Eroberer, fuhr Axoras fort, haben die Moliaren-Städte geplündert, meine Vorfahren getötet, versklavt, zur Anbetung eures Götzen Linglu gezwungen – und du fragst mich, warum ich euch Dunibier leiden sehen will?

Aber das, wandte Rabov ein, ist fast zweitausend Jahre her!

Der Parder riss sein Maul auf und ließ ihn seine dolchspitzen Reißzähne sehen. Vergangen und vergessen, höhnte Axoras, ich kenne sie alle, eure hohlen Lügenformeln – als ob irgendetwas je wirklich vergangen und vorbei wäre! Dunibier haben unser Kultur zerstört – und seit damals sind wir Gefangene im eigenen Land! Dunibier haben ihre Städte auf unserem Boden errichtet, haben unsere Wälder abgeholzt, unsere Goldminen geplündert – und bis heute sind es ihre Nachkommen, die über Zaketumesien herrschen: hellhäutig wie ihr, nur allenfalls mit ein paar Tropfen Moliatblut in ihren kostbaren Adern! Und waren es nicht auch Dunibier, die ihren Linglu so erzürnten, dass er die große Strafflut geschickt hat? Aber Linglu ist ja ein dunibischer Götze und Dunibier haben nun einmal die Gewohnheit, den ganzen Planeten als ihre Bühne und ihr Besitztum anzusehen – also hat euer Linglu als Strafe für eure Sünden auch gleich alle anderen Länder dieser Erde in der Großen Flut ersäuft.

Diese Zornpredigt blieb nicht ohne Wirkung auf Rabov, doch vor allem gingen ihm nun langsam die Kräfte aus. Du hast recht, erwiderte er mühsam, wir Dunibier haben die anderen Völker nicht immer gerecht behandelt. Er rang um Atem. Mittlerweile war in ihm ein Entschluss gereift, doch es war fraglich, ob ihm genügend Zeit bliebe, ihn in die Tat umzusetzen. Aber wie kannst du uns deshalb anklagen, fuhr er fort, wenn du selbst es doch nicht anders machst? Du benutzt Liki, um mich zu quälen – Liki, die dich wie einen zweiten Vater liebt und verehrt!

Das ist etwas anderes. Der Parder hob ruckartig eine Vordertatze, so als wollte er Rabov einen Schlag versetzen. Liki hätte sich niemals mit dir einlassen dürfen. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie hätte so oder so sterben müssen – wie ihr alle hier in Phora.

Rabov begannen die Sinne zu schwinden. Gleißende Lichtpunkte wirbelten vor seinen Augen. Selbst das Kribbeln und Pulsieren in seinem Rücken wurde schwächer – ein kleiner Trost, dachte Rabov, wenn er sterben müsste, bevor die Schlange aus ihm schlüpfen könnte, dann wäre es auch mit dem Biest vorbei. Unendlich mühevoll stemmte er Liki ein weiteres Mal mit seinem Brustkorb empor und sog ein wenig Atemluft ein. Wenn Dunibier, wie du sagst, andere um ihrer Ziele willen leiden lassen und wenn Moliaren so etwas nicht machen würden … Er unterbrach sich und diesmal dauerte es lange, bis er wieder genug Atem beisammen hatte, um seinen Satz zu Ende zu bringen. … dann scheinst du ein Dunibier zu sein, Axoras – und ich ein Moliare. Ich liebe Liki und ich würde sie niemals töten oder auch nur verletzen – um keinen … Preis … auf gar keinen …

Weiter kam er nicht – es wurde stockfinster um ihn. Rabov bewegte lautlos seine Lippen. »Allmächtiger Linglu, in Deine Hände …« Und auch dieses Stoßgebet blieb unvollendet.

Gerade eben wollte er seinen allerletzten Seufzer hervorröcheln, als sich die eisenharte Spange um seinen Brustkorb ein wenig lockerte – nur eine Ahnung, einen halben Hauch weit. Aus dem Seufzer wurde ein pfeifender Atemzug. Liki hat mich erhört, dachte Rabov, oder Linglu, oder wer auch immer – jedenfalls lebte er und er bekam Luft, wenn auch nur gerade so viel, dass er halbwegs bei Sinnen blieb.

Abermals stieß der Schattenparder ein zorniges Fauchen aus. Der große Schlangengott Chizocca selbst, der höchste und mächtigste unserer Götter, hat mich dazu auserwählt, alles Unrecht, das ihr Dunibier jemals verübt habt, an euch zu rächen. Also befreie dich und kämpfe!

Rabov überkam ein heftiger Schwindel – nicht allein aus Atemnot, sondern mehr noch, weil er mit einem Mal verstand. Weil in einem einzigen Augenblick alle Bruch- und Splitterstücke in seinem Kopf zu einem schwindelerregenden Ganzen zusammengeschossen waren. Weil auf einmal alles, was er in letzter Zeit erlebt hatte und was an größtenteils grauenvollen Dingen um ihn herum passiert war, einen Sinn ergab.

Axoras war auserwählt, um Dunibien zu vernichten? Wohlan, sagte sich Rabov – wenn er Calins Erzählung von der Tiefseefahrt jenes Lidor und seine eigenen Traumgesichte nicht ganz und gar missverstanden hatte, dann war er selbst gleichfalls auserwählt, und zwar, um sein geliebtes Dunibien und (so wie Linglu die Dinge nun einmal im Allgemeinen anging) die ganze Welt vor dem Untergang zu bewahren.

Sorgsam achtete er darauf, dass die riesenhafte Schattenkatze von den Gedanken, die nun hinter seiner Stirn umherwirbelten, nichts mitbekam. Behutsam atmete er aus und ein und ermahnte sich, bei jedem Atemzug so vernehmlich zu röcheln, als ob er weiterhin gegen das Ersticken ankämpfen müsste.

In dem allerdings ungewissen Licht, das der Mond über die nächtliche Nibrawiese ergoss, sah er, dass ein Lächeln Likis Yasna-Antlitz erhellte – ein sehr schwaches, Schmerz und Entsetzen abgetrotztes Lächeln, aber es war ein Lächeln und das gab ihm weitere Kraft.

Kraft für einen so ungeheuren wie unumgänglichen Verrat.

Warum Velissa Labiano?, fragte er. Was hat sie dir angetan – wofür hast du sie so grauenvoll gestraft?

Die Schnurrhaare des Schattenparders zuckten. Sie hat Hergo erpresst – er sollte sie in die Geheimnisse von Naxoda einweihen oder sie würde den Zeitungen verraten, wer ihn nach Naxoda geschickt hat.

Du meinst Prinz Lugo? Rabov spürte, dass sich Axoras nicht mehr lange hinhalten lassen würde. Aber noch war seine Wissbegierde nicht gänzlich gestillt und vor allem fühlte er sich noch nicht stark genug für den Verrat, den er gleich verüben müsste. Aber warum nur hat der Prinz das getan?

Er wusste gar nicht, was er da machte, so wenig wie Hergo. Das Fauchen des Parders klang verachtungsvoll. Lugo wollte einfach ein bisschen Schlangenzauber, um die Flutangst der Phoräer anzustacheln. Und Hergo hat allen Ernstes geglaubt, dass er die mächtige Schlangen-Lakori von Naxoda beherrschen und im Handumdrehen wieder beenden könnte, sobald Lugo auf dem Königsthron sitzt. Was für Idioten ihr Dunibier doch seid. Wieder hob der Parder eine Pfote. Eigentlich bin ich nur deshalb mit Hergo hierhergekommen, um mich am Schauspiel des dunibischen Untergangs zu weiden. Aber der großartige Altertumsforscher und seine Assistentin waren nicht einmal imstande, die Lakori von Naxoda richtig zu entfesseln, und Liki … Er unterbrach sich und versetzte der Luft vor sich einen heftigen Tatzenhieb. Also werde ich die Sache jetzt selbst zu Ende bringen. Rette dein Land vor Chizoccas Zorn, wenn du es vermagst, fauchte der Parder, oder ich werde noch diese Nacht in jedem einzelnen Phoräer die Schlange erwecken und ihr alle werdet in einem blutigen Gemetzel verrecken.

Keine Sorge, Axoras, ich werde dir Dunibien nicht überlassen. In rasender Hast überdachte Rabov noch einmal seine Entscheidung. Alles lief darauf hinaus, dass er den König und sein Reich verraten musste, um Sorno vor dem Sturz und Dunibien vor dem Untergang zu retten. Denn hinter der Persönlichkeit »allerhöchsten Ortes« verbarg sich niemand anderer als Prinz Lugo, der so lange Zeit namenlose Reichssekretär im Innenministerium. Der Prinz war dafür verantwortlich, dass Hergo und Lona Markan die Bildtafeln von Naxoda entdeckt und die Kopien nach Phora geschafft hatten, zusammen mit der hölzernen Nachtparder-Statue, in die Axoras sich selbst verwandelt hatte. Prinz Lugo wusste und wollte, dass der Naxoda-Zauber Schlangenfieber und Flutangst in Phora entfachen und ihm so den gewünschten Vorwand liefern würde, um seinen Bruder vom Thron zu stürzen. Lugo war also ein Hochverräter und seinen Plan konnte Rabov nur auf eine einzige Weise noch zunichtemachen oder jedenfalls blockieren – indem er selber Hochverrat beging. Indem er den einzigen Magier um Hilfe rief, der Axoras die Stirn bieten konnte. Und indem er als Gegenleistung versprach, was immer der Angerufene für seine Hilfe verlangte.

Noch einmal hielt Rabov inne. War ihm das alles womöglich nur von seinem Dunkeldu eingeflüstert worden? Gab es in Wahrheit vielleicht gar keinen hochverräterischen Prinzen und demnach auch für ihn keinen Grund, zum Hochverräter zu werden?

Zweimal nein.

Rabov atmete so tief ein, wie Liki ihm das seit kurzem erlaubte. Dann rief er mit aller Gedankenkraft, die er noch zusammenraffen konnte, den Namen des Mannes, mit dem dieser ganze Ärger für ihn begonnen hatte.

6

vigGroßmächtiger Magier Radschi Varusa, rief Rabov, Hohepriester der Ragadhani, hören Sie mich?

Der Schatten des Parders erstarrte.

Anscheinend brauchte auch Varusa einen Augenblick, um seiner Verwunderung Herr zu werden. Der Herr königliche Ordnungsbeamte Rabov?, vergewisserte er sich. Was verschafft mir die Ehre?

Ehrwürdiger Radschi Varusa, sagte Rabov, lassen wir das Geplänkel – ich flehe Sie an. Ich bin königlicher Spezialagent und ich bitte Sie hiermit um Hilfe. Dunibien ist in großer Gefahr. König Sorno gewährt Ihrer verkörperten Gottheit Ragadhani und Ihnen selbst Gastrecht und Religionsfreiheit. Im Namen des Königs bitte ich Sie – stehen Sie Dunibien bei in dieser Stunde höchster Not. Der moliarische Magier Axoras will einen Schlangenzauber entfesseln, an dem alle Dunibier zugrunde gehen sollen – allein Sie, ehrwürdiger Radschi Varusa, und Ihre Gottheit Ragadhani sind mächtig genug, seine Pläne zu durchkreuzen.

Nach diesem flehentlichen Appell waren Rabovs allerletzte Kräfte erschöpft. Er wartete angespannt, doch Radschi Varusa blieb still.

Aus Sekunden wurden Minuten.

Ehrwürdiger Radschi Varusa …

Keine Antwort. In den Parderschatten an der Hüttenwand kam allmählich wieder Bewegung – er richtete sich auf alle vier Beine auf und streckte sich, als würde es für ihn nun Zeit, ans Werk zu gehen.

Ehrwürdiger Radschi Varusa …

Der Bakusier schwieg noch immer. Aus und vorbei, dachte Rabov – er hatte versucht, was in seinen Kräften stand. Doch es hatte nicht gereicht.

Wie würde Axoras es anstellen, die Würmer in allen Phoräern auf einen Schlag zu erwecken? Bestimmt würde er dafür keine Trommeln und Flöten und auch kein Dampfmelodophon brauchen. Er war einer der mächtigsten Magier des Planeten und höchstwahrscheinlich war er imstande, die grauenvollen Zauberlaute ohne jeden Umweg in die Köpfe sämtlicher Dunibier zu senden. Jenes Trillern und Schnalzen und Keckern, das Rabov mit Likis Sinnen nacherlebt hatte, so wie alles andere, was damals im Moliat passiert war.

Der Parderschatten an der Hüttenwand hockte sich auf seine Hinterbeine und richtete sich gerade auf. Gleich würde es losgehen: »das Ende«, hatte Liki gesagt. »Was sonst.«

Rabovs Gedanken schweiften in das Allerheiligste unter Hergos Tempelnachbildung zurück – dort hatte er mit Milar darüber diskutiert, ob das Geschehen auf den Bildtafeln zyklisch aufzufassen sei. Ob auf den Untergang der Welt von Naxoda die neuerliche Versklavung der Schlangenwesen folge, und wenn er sich richtig erinnerte, hatten sie beide, Milar und er selbst, dieser Sicht der Dinge zugeneigt.

Aber auch das spielte jetzt wohl keine Rolle mehr. So wie es gleichgültig war, dass seine Ohren noch immer mit Wurmschleim versiegelt waren – wenn Axoras den Zauber direkt in allen Köpfen entfesselte, half ihm auch das nichts mehr. Zumindest aber konnte Axoras in Liki, solange sie in einen Yasnabaum verwandelt war, keine Schlange erwecken.

Doch auch das war alles andere als ein tröstlicher Gedanke – Liki, in ihrem Baum gefangen, während sich ringsumher Menschen und Tiere im Todeskampf krümmten, Schlangen aus zerfetzten Leibern hervorschnellten, sich über die Sterbenden hermachten, ihnen Arme und Beine von den Rümpfen herunterfraßen.

Der Parder an der Hüttenwand legte seinen Kopf zurück und schloss die Augen.

Liki, dachte Rabov beschwörend, halte mich fest, so wie auch ich dich festhalten will, solange wie irgend möglich. Er hörte Axoras’ Gedankenstimme, die eine Folge grollender Donnerlaute hervorbrachte. Doch dieses Getöse wurde mit einem Mal von einer mächtigen Stimme übertönt.

Rabov! Ich habe Ragadhani befragt – und weil der dunibische König selbst sie durch deinen Mund darum gebeten hat, ist die Gottheit bereit, ihren Schutzfächer über Phora zu spannen.

Die riesenhafte Raubkatze erstarrte aufs Neue. Das Donnern und Grollen erstarb.

Nur ganz allmählich sickerte der Sinn dieser Worte in Rabov ein. Sie will … uns schützen?, stammelte er. Ganz Dunibien wird der großen Ragadhani und Ihnen, ehrwürdiger Varusa, für alle Zeiten dankbar sein.

Damit allein ist es nicht getan.

Nun war es an Rabov zu erstarren. Was verlangen Sie?

Eine angemessene Gegengabenichts, was unbillig wäre. Ein Opfer für jeden Tag, an dem die mächtige Ragadhani euch beschützt. Zum Zeichen der Ehrfurcht vor dem dunibischen König soll euch der Schutz für den Rest des heutigen Tages ohne Gegenleistung gewährt werden. Wir erwarten also die erste Gabe morgen zur Opferstunde, wenn sich die Sonne neigt.

Rabov presste die Kiefer aufeinander. Menschenopfer?, erkundigte er sich so beiläufig wie möglich (und das war allerdings nicht sehr beiläufig).

Menschen, bestätigte der Hohepriester, was sonst, Agent? Und als erstes Opfer verlangen wir den Jungen, den Sie vom Altar der Gottheit gestohlen haben.

Nein, auf gar keinen Fall! Rabov schrie es mit überkippender Gedankenstimme. Das können Sie nicht verlangen, Varusa. Sie waren es, Ihre Tempelwächter, die den Jungen geraubt und verschleppt haben – ich habe dieses Unrecht nur wiedergutgemacht und ihn befreit.

Er hatte es befürchtet, natürlich hatte er die ganze Zeit über befürchtet, dass Varusa genau das von ihm verlangen würde. Aber er würde es nicht zulassen, das schwor sich Rabov – sowenig wie er bereit war, mit der Axt auf Liki loszugehen, sowenig würde er sich dazu hergeben, Zoran zu opfern.

Noch während er das dachte, erschien an der Hüttenwand ein zweiter gewaltiger Schatten – die gigantische Lyrissa, in der sich die Gottheit Ragadhani verkörperte. Neben dieser Riesenschlange nahm sich sogar der übergroße Parder kläglich aus. Sie hatte ihren ungeheuren Leib zusammengeringelt und zu einem halben Dutzend baumstammdicker Wülste übereinandergelagert. Darüber schwebte ihr Halsfächer und je länger Rabov hinsah, desto gewaltiger dehnte sich dieser Fächer aus und desto höher schwebte er in den Nachthimmel empor. Ein goldgelbes Strahlen ging von der göttlichen Ragadhani aus. Schon nach kürzester Zeit hatte ihr Schutzfächer eine solche Höhe und Ausdehnung erreicht, dass er ganz Phora zu überwölben schien.

Ragadhanis unbezwingbaren Schutz – im Tausch gegen den Jungen. Entscheiden Sie sich – jetzt!

Aber das kann ich nicht!, schrie Rabov. In Linglus – oder auch in Ragadhanis Namen, das kann ich einfach nicht tun! Wir werden Freiwillige finden, ich bin sicher, dass viele Dunibier bereit sind, ihr Leben hinzugeben – aber sie selbst müssen sich dazu bereiterklären.

Unaufhörlich rann unter seinem Rücken, seinem Nacken und Hinterkopf der zähe Schlamm zur Nibra hinunter – und genauso verrannen seine und ihrer aller letzte Augenblicke.

Ihr Zögern erzürnt die mächtige Ragadhani, warnte der bakusische Hohepriester. Sie müssen sich auf der Stelle entscheiden – Schutz für Dunibien oder Untergang.

Rabov wurde bewusst, dass das Pulsieren in seinem Rückgrat nahezu aufgehört hatte – zum ersten Mal seit vielen Tagen war von der Schlange in ihm so gut wie nichts mehr zu spüren. Der Schutzfächer der Ragadhani wirkte also tatsächlich, er hinderte Axoras, die Schlangen in den Dunibiern zu erwecken – und trotzdem, dachte Rabov, konnte er Varusas Forderung nicht erfüllen. Ich habe geschworen, dich zu beschützen, Zoran, dachte er. Dafür habe ich dich nicht aus dem Rachen der Ragadhani herausgerissen – um dich jetzt doch noch dieser gierigen Gottheit zu opfern!

Und eine Stimme in ihm erwiderte: Doch, Sam, gerade deshalb hast du es getan. Es ist uns beiden nur jetzt erst klargeworden. Vor Schreck setzte Rabovs Herz für einen halben Schlag aus. Hörst du mich, Sam?, fragte Zoran, denn niemand anderes war es, der sich in Rabovs Gedanken und sein erbittertes Zwiegespräch mit Radschi Varusa eingemischt hatte. Du hast mich damals befreit, Sam, weil die Zeit für mich noch nicht gekommen war – jetzt aber ist es genau der richtige Zeitpunkt. Und ich will es so – hörst du mich, ehrwürdiger Radschi Varusa?, fügte Zoran mit erhobener Gedankenstimme hinzu. Ich will es so, ich schwöre, dass ich morgen aus freiem Willen kommen werde, um mich auf dem Altar der Ragadhani zu opfern.

Der Junge schwieg einen Moment lang und als er seine Gedankenstimme aufs Neue erhob, klang er leicht und unbeschwert. Es hört sich vielleicht ein bisschen blöd an, Sam, aber mir kommt das alles hier wie gerufen. Seit du mich in den Sarissentempel gebracht hast, denke ich ununterbrochen darüber nach, wie ich hier wieder rauskommen und mich den Tempelwächtern der Ragadhani ausliefern kann, die da draußen auf der Lauer liegen.

Dann ist es also entschieden. Das war wiederum Radschi Varusa und auch er klang nun ausgesprochen zufrieden. Schwören Sie, dass Sie den Jungen morgen zur Opferstunde in den Tempel bringen werden? Geben Sie Ihr Wort – dann steht Phora ab sofort unter Ragadhanis Schutz – zu den ausgehandelten Bedingungen, die wir hier nicht eigens wiederholen müssen. Aber seien Sie gewarnt, Agent – sagen Sie unverzüglich zu, sonst wird Ragadhani ihren Zorn gegen Dunibien wenden.

Der Schattenparder beobachtete Rabov mit lauerndem Blick. Solange die mächtige Ragadhani da oben am Himmel schwebte und mit ihrem goldenen Fächer ganz Phora beschirmte, würde Axoras ganz bestimmt nicht wagen, ihn anzugreifen. Aber wenn Varusa und seine Schlangengottheit Rabov fallenließen, würde die Raubkatze ihn im nächsten Moment mit einem einzigen Tatzenhieb zerschmettern.

Ich schwöre, antwortete Rabov und wog jedes seiner Worte. Ich schwöre, dass Zoran morgen zur vereinbarten Abendstunde zum Tempelzelt der Ragadhani kommen wird – unter meinem Schutz oder in Begleitung einer anderen dunibischen Amtsperson. Dann werden wir ja sehen, ob der Junge sich wirklich in den Rachen dieser gefräßigen Gottheit stürzen will, fügte er im Stillen hinzu und achtete sorgsamer als jemals zuvor darauf, dass weder Varusa noch Axoras seine Gedanken mitlesen konnten.

Und der Junge schon gar nicht.

Bis dahin nämlich, bis zur bakusischen Opferstunde morgen Abend hatte Rabov noch etwas Wichtiges zu erledigen, und wenn Zoran mitbekäme, dass er ohne ihn zum Meeresgrund hinabfahren wollte, gäbe es doch wieder nur Gezeter und Gezänk. Wenn er aber von dort erst wieder zurückgekehrt wäre, dann könnte er den mächtigsten Magiern der Welt die Stirn bieten – Axoras ebenso wie Radschi Varusa.

Majestätisch schwebte der Fächer der Riesenschlange über dem Nachthimmel von Phora. Von dem Schattenparder dagegen war kein grünes Augenfunkeln und kein Schnurrhaar mehr zu sehen.

Unter Rabovs Rücken rannen die letzten Überreste jenes Schlamms aus dem heißen Fleck dahin – nun hieß es wieder einmal, sich zu sputen. Rabov drehte sich einmal um seine Längsachse, sodass Liki unter ihm zu liegen kam. Verzeih mir, flüsterte er ihr zu, aber du bist für diese Rutschpartie besser gerüstet – jedenfalls im Moment.

Er stieß sich mit Händen und Füßen ab, wie er es als kleiner Junge gemacht hatte, wenn er mit seiner Mutter während der Winterferien in den verschneiten Bergen des Nordens war und auf dem Bauch liegend mit seinem Holzschlitten einen haarsträubend steilen Abhang hinabsauste. Nun, das hier war nur eine mäßig abfallende Uferwiese, aber Liki war allerdings auch kein Schlitten, wenn auch gegenwärtig in Holz gebannt.

Eng umschlungen glitten Rabov und Liki zur Nibra hinab und tauchten in die lehmigen Fluten ein. Die Strömung ergriff sie, schaukelte und wiegte sie und trug sie dem Grünen Meer entgegen. Sie trieben am Alten Schiffstor vorbei, unter der baufälligen Holzbrücke hindurch und niemals vorher hatte sich Rabov so leicht gefühlt, so frei.

Die trägen Nibrafluten mäanderten in den Ozean und Rabov bedauerte, dass er von dem weltberühmten Farbendrama wenig mitbekam, das tagsüber immer Scharen von Schaulustigen anlockte: Wie mit roten Riesenklauen schien sich die Nibra in die strahlend grüne Bucht zu bohren – »ein schmutziges Ungeheuer«, hatte Rabov einmal im Nachtboten gelesen, »das Phoras makellosen Smaragdbusen beschmiert.« (Was Nachtboten eben so schreiben.)

Die Strömung der Nibra trieb sie noch ein paar Dutzend Meter weit in die Bucht hinaus, dann wurden sie von den Wogen des Grünen Meeres ergriffen und schaukelten in weitem Bogen gemächlich zurück in Richtung Strand. Wohlig räkelte sich Rabov hin und her. Liki hielt ihn nur noch ganz luftig umklammert – vielleicht, weil ihre Gliedmaßen im warmen Fluss- und dann im Meerwasser aufgequollen waren, vielleicht aber auch, weil sie mit jedem Augenblick, den sie so dahintrieben, seine Liebe noch inniger fühlte.

Sie landeten sanft am Smaragdstrand, nicht weit von der Stelle, an der Rabov vor Jahren einmal mit Calin gewesen war. Er erinnerte sich klar und deutlich an jenen Abend, an das Gewisper der Liebespärchen im Dunkeln und an Calin, die starr und wortkarg neben ihm im Sand gesessen hatte. Er horchte in sich hinein und es schmerzte ihn nicht mehr.

»Ich bin ganz weit offen für dich«, hatte Liki in jenem Schlammloch zu ihm gesagt. Und es war die reine Wahrheit, noch immer – er schlängelte sich aus ihrer Umarmung heraus und kauerte sich neben ihr in den Sand.

Sie lag auf dem Rücken und lächelte zu ihm herauf. Es war ein echtes Lächeln, liebe- und vertrauensvoll, und er schwor ihr und sich selbst, dass er einen Weg finden würde, sie in die Liki zurückzuverwandeln, die sie unter dem Purpurinenbaum gewesen war.

7

vigDoch alles sollte ganz anders kommen. Unglaublich viel ungeheuerlicher, als Rabov es sich jemals vorgestellt hatte.

Wahrscheinlich war es schon sein erster Fehler, dass er Port Sola vom Strand aus mit seiner Lakori herbeirief und ihm befahl, ihn abzuholen. Es war weit nach Mitternacht, aber Rabov kannte kein Mitleid.

Eine halbe Stunde später erschien Port Sola schlafzerzaust am dunklen Strand und konnte sich gar nicht wieder beruhigen vor Erstaunen über seinen Vorgesetzten, der sich gerade die letzten Fasern zähen Wurmschleims aus den Ohren kratzte. »Wo waren Sie nur die ganze Zeit, Sam? Calin hat Sie gesucht, Oberrat Milar auch – von mir gar nicht zu reden!«

»Dann reden Sie aber auch nicht von sich«, brummte Rabov und wrang seinen Überwurf aus – von allem Schlamm und Schlangendreck gereinigt, stattdessen nun glitzernd vor Meersalz. Doch die Ära der Überwürfe war in seinem Leben ohnehin vorbei.

Er wies Sola an, den Yasnabaum vorsichtig am Fußende anzuheben und mit ihm zusammen zum Dampfmobil zu tragen. Der Stamm war mit Wasser vollgesogen und so schwer, dass sie um die Wette keuchten.

»Wozu soll das gut sein?« Der Assistent war außer Atem und allem Anschein nach kurz davor, den Gehorsam zu verweigern. »Was wollen Sie mit diesem Treibholz, Sam?«

Im Dunkel der Nacht war Likis Lächeln in der Yasnarinde nicht zu sehen.

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, gab Rabov zurück. »Auf den Rücksitz damit – aber Obacht!«

Ohne weitere Erklärung wies er Sola an, ihn in die Flötenmachergasse zu fahren. Dampfend und polternd, ansonsten aber schweigsam fuhren sie durch die schlafende Stadt.

»Wollen Sie denn gar nicht wissen«, fragte schließlich Sola, »was heute so alles passiert ist – ich meine, in der ganzen Zeit, in der Sie verschwunden waren?«

Rabov wandte sich zu ihm und fuhr sich dabei mit einer Hand über den Nacken. Unter seinen tastenden Fingern fühlte sich alles glatt und ebenmäßig an – Ragadhani sei Dank. »Ich war in Zaketumesien«, sagte er im Tonfall allergrößter Selbstverständlichkeit. »Und ich vermute stark, dass es unterdessen hier in Phora noch weitere Todesfälle nach Naxoda-Muster gegeben hat.«

»Siebenundzwanzig«, vermeldete der Assistent mit Bestatterstimme. »Nochmals einundzwanzig Personen wurden im gleichen Zeitraum von Schlangen angegriffen und an Armen oder Beinen verstümmelt. Siebzehn von ihnen sind ebenfalls tot.«

»Von Schlangen angegriffen?«, wiederholte Rabov. Er klappte das Fenster in der Beifahrertür auf, steckte seinen Kopf durch die Öffnung und sah zum nächtlichen Himmel hinauf. In der Dunkelheit fiel nicht weiter auf, was mit dem Himmel passiert war. Aber spätestens, wenn der Morgen zu dämmern begann, würden die Leute den Unterschied merken.

»Naxoda-Würmer«, sagte Sola. »Fangen Sie nur nicht wieder damit an. Ja, Sie hatten recht, Chef – dieses Wurmzeug ist tausendmal gefährlicher, als ich anfangs glauben wollte. Aber lassen Sie uns doch endlich zusammenarbeiten, wie es in einer solchen Notsituation geboten ist – Linglu noch mal!«

»Was für eine Notsituation meinen Sie?« Rabov zog seinen Kopf ins Innere des Dampfmobils zurück. »Seit ungefähr einer Stunde müsste der Naxoda-Schrecken vorbei sein. Sie haben doch bestimmt noch mal mit Ralla telefoniert, bevor Sie eben losgefahren sind?«

Sola sah trotzig nach vorn. »Habe ich. Und ja, es stimmt, was Sie sagen – seit Mitternacht scheint alles ruhig zu sein. Die Polizisten haben den ganzen Tag über Jagd auf die Schlangenbiester gemacht. Allerdings haben sie noch längst nicht alle erwischt.«

»Von denen geht keine Gefahr mehr aus«, sagte Rabov. »Es ist vorbei – richten Sie das Ihren Horchs oder wem auch immer aus.«

»Was soll das heißen, Sam?« Der Assistent hieb mit seiner kleinen Faust auf das Lenkrad und verzog anschließend das Gesicht. »Reden Sie mit mir! Geben Sie mir Antwort, ich flehe Sie an, Chef: Was soll das heißen – ›es ist vorbei‹?«

Mittlerweile fuhren sie den Donarberg hinauf und Rabov sah sich nach allen Seiten um, ob nicht vielleicht irgendwo noch eine Bar oder Künstlerkneipe geöffnet hatte. Aber ausgerechnet heute war alles dunkel, die Straßen menschenleer. »Schade«, sagte er. »Heute hätte ich wirklich einmal Lust gehabt, noch ein paar Noïli-Schnäpse oder so etwas zu kippen – notfalls sogar mit Ihnen zusammen. Aber wie es aussieht, ist alles zu.«

»Nächtliche Ausgangssperre«, gab Sola zurück. »Ralla hat außerdem angeordnet, dass die Schankstätten geschlossen bleiben, bis der ›irrsinnige Schlangenmagier‹ hinter Gittern sitzt.«

Rabov bekam einen Lachanfall. »Hinter Gittern!«, prustete er. »Da war er wochen- oder wahrscheinlich sogar monatelang, Port, stellen Sie sich das nur mal vor. Die einheimischen Lastenschlepper haben ihn in seinem Käfig von Naxoda bis nach Zaruka geschleppt – das ist so eine kleine Hafenstadt, in der die Überseedampfer aus Phora anlegen.«

Sola lenkte das Dienstmobil an den Straßenrand und bremste so ruppig ab, dass Liki fast von der Rückbank gekollert wäre.

»Passen Sie doch auf!«, blaffte Rabov. Er drehte sich nach hinten und streichelte über Likis rauhe Yasnahaut.

»Nein, jetzt passen Sie mal auf. Ich weiß, wo und was Zaruka ist, weil ich nämlich letzten Sommer wochenlang in Zaketumesien herumgereist bin. Und ich weiß genauso, dass Sie noch nie da drüben gewesen sind, Sam – warum also erzählen Sie so etwas? Und wieso müssen wir dieses triefnasse Treibholz um zwei Uhr nachts durch die Gegend fahren? Ich will Ihnen sagen, was meiner Meinung nach mit Ihnen los ist.« Sola ballte abermals seine Rechte zur Faust. »Meiner Meinung nach«, sagte er so langsam, als ob ihm die richtige Anordnung der Silben plötzlich Mühe machte, »sind Sie ein Fall für die Harmonika. Sie haben leichtfertig mit Ihrer Lakori rumgespielt und Ihr Dunkeldu in unverantwortlicher Weise gestärkt. Und deshalb, Sam …« Er sprach mittlerweile so langsam, dass Rabov die Buchstaben hätte mitzählen können, wenn er gewollt hätte. »Und deshalb rate ich Ihnen dringend, dass Sie sich gleich morgen früh krankmelden und mich diese Sache hier allein zu Ende bringen lassen. Sie müssen sich erst mal auskurieren, Chef.«

»Sehr fürsorglich.« Rabov kämpfte eine weitere Heiterkeitswelle nieder. »Was also unseren Schlangenmagier in seinem Käfig angeht – nachdem ihn die Moliat-Träger bis nach Zaruka geschleppt haben, lassen Gol Hergo und Lona Markan das Ding mit ihrem sonstigen Gepäck an Bord der Königin Lanfa verfrachten. Sie erinnern sich doch, Port – an den leeren Steinholzkäfig in dem Schuppen am alten Ostkai? Na, er war nicht immer so leer, ganz im Gegenteil: Die längste Zeit saß ein Nachtparder drin – und während Hergo zweifellos glaubte, dass es sich um eine kunstvoll geschnitzte Holzskulptur handelte, war es tatsächlich unser ›irrsinniger Schlangenmagier‹, der sich zwischenzeitlich in diese Steinholz-Skulptur verwandelt hatte. Wie gut er solche Lakori beherrscht, hat er uns ja anhand der bedauernswerten Velissa Labiano vorgeführt. Und als Sie ihm gestern auf einem der Schiffswracks bei den Sandbänken begegnet sind, Port – da sah er doch bereits wieder wie eine ziemlich lebendige Raubkatze aus, oder?«

Darauf sagte Sola erst einmal gar nichts mehr. Er starrte vor sich hin, dann sah er Rabov an, schließlich warf er einen scheuen Blick nach hinten. Er schien eine Bemerkung zu erwägen und schluckte sie wieder herunter. »Was glauben Sie, wer es ist«, fragte er schließlich in neutralem Tonfall, »der Parder, meine ich?«

»Sagt Ihnen der Name Axoras etwas?«

Der Assistent fuhr so heftig zusammen, dass Rabov selbst einen Schreck bekam. »Der massenmörderische Moliat-Magier? Sie meinen – der ist hier in … und er hat all das …?«

»Ja, Port.« Rabov hob seine Linke und klopfte Sola zwischen die Schulterblätter. »Haben Sie öfter Schwierigkeiten, Ihre Sätze zu Ende zu kriegen? Dann sollten Sie sich bald einmal von einer Harmonika Ihres Vertrauens durchtesten lassen. Aber vorher fahren Sie mich nach Hause.«

Sola wütete im Tentakelgestänge und brachte das Dampfmobil wieder in Gang.

»Axoras hat den Professor und die Magistra letztes Jahr nach Naxoda geführt«, fuhr Rabov fort. »Damals nannte er sich Chalóxo und trat in der unauffälligen Gestalt eines alten Nebelwaldläufers auf. Hergo scheint gewusst zu haben, auf wen er sich da in Wahrheit eingelassen hatte – er hätte alles getan, um sich eine so mächtige Lakori wie den Naxoda-Zauber anzueignen. Aber Sie und ich wissen, dass Professor Hergo als Wissenschaftler eigentlich längst erledigt war. Niemand hat ihn mehr ernst genommen und er allein hätte nie das nötige Geld auftreiben können, um eine solche Expedition auf die Beine zu stellen – ganz zu schweigen von den Ausgrabungsgenehmigungen, ohne die er nicht mal in die Nähe der Fundstelle gekommen wäre.«

Er rieb sich mit der flachen Hand über Stirn und Augen. Nicht mehr lange, dann würde er in sein Bett fallen und zumindest noch ein paar Stunden Schlaf nachholen.

»Dann hat ihm also jemand geholfen?«, fragte Sola. »Wollen Sie das andeuten, Sam?«

»Mehr als nur andeuten.«

Solas Kopf schnellte regelrecht zu Rabov herum. Der Assistent starrte ihn an, so als ob Rabov ein Packen Sprengstoff wäre, der im nächsten Moment hochgehen könnte. Durch alle Müdigkeit hindurch spürte Rabov, dass er es vorerst bei dieser Andeutung belassen sollte.

»Aber das braucht Sie nicht zu scheren«, fuhr er fort, »denn wie gesagt, Port – für Sie ist die Sache vorbei.«

Sie bogen in die Flötenmachergasse ein. Vor seiner Tür stieg Rabov aus und hörte schon von der Straße her, wie die Pendeluhr in seinem Hinterraum lärmend die Stunde schlug – drei Uhr früh.

»Gute Nacht«, sagte Sola und machte Anstalten, gleich weiterzufahren – zu Calin oder vielleicht auch zu Horch Barott? Es war Rabov egal. Aber vorher musste der Assistent noch mit anpacken.

Mit einigem Gepolter schleppten sie den Yasnabaum die Stufen hinunter zu Rabovs »Laden« und durch den »Verkaufsraum« ins Hinterzimmer. Ein Blinder hätte aus Solas Gesicht ablesen können, dass der Assistent an den Geisteskräften seines Vorgesetzten keineswegs nur zweifelte. Er schien sie vielmehr verloren zu geben, aber auch das war Rabov von Herzen egal.

Er befahl Sola den Baum festzuhalten, während er selbst die Tür zu seinem Hinterhof aufriegelte. In dem Beet neben seiner Zisternenbrause wuchs lediglich eine kümmerliche Syrasse, die er vor zwei Jahren dort eingepflanzt hatte. »Graben Sie daneben ein Loch«, befahl er, »und pflanzen Sie sie ein.«

»Sie?«, wiederholte Sola stirnrunzelnd. »Haben Sie gerade ›sie‹ gesagt?« Rabov sah ihn wortlos an und der Zorn kochte in ihm hoch. Doch Sola schien nicht zu bemerken, dass er seinen Vorgesetzten jetzt besser nicht mit weiterem Widerspruch reizen sollte. »Sie glauben doch nicht im Ernst«, plusterte er sich auf, »dass ich hier mitten in der Nacht für dieses Stück Treibholz die Schaufel schwinge?«

»O doch, das glaube ich«, sagte Rabov. »Im Graben haben Sie doch Übung, oder etwa nicht?« Er schrie es dem um einen Kopf Kleineren ins Gesicht. »Sie und Ihre Hintermänner sind doch sowieso nichts anderes als die Totengräber unseres Königreichs!«

Der Assistent machte einen Satz nach hinten. Der Yasnabaum fiel Rabov entgegen und er umfing ihn mit seinen Armen und hielt ihn fest. Mit aschfarbenen Wangen starrte ihn Sola von der Schwelle zu seinem »Verkaufsraum« aus an. Rabov hatte es weder gewusst noch gar gewollt und er selbst begriff auch erst mit einiger Verspätung, was da gerade mit ihm passiert war.

Ohnehin war es nur eine Transformation ersten Grades gewesen, eine flüchtige Illusion. Aber es war passiert und nun war es nicht mehr zurückzunehmen. Für den Bruchteil eines Wimpernschlags hatte Port Sola denjenigen vor sich gesehen, der nach allem, was Rabov wusste, der oberste Totengräber Dunibiens war.

Eine schlaksige Gestalt, scheu und düster – Prinz Lugo.

8

vigNachdem er Sola auf diese Weise vertrieben hatte, grub Rabov eigenhändig ein knietiefes Loch in seinem Hinterhofbeet und stellte Liki hinein. Der Yasnastamm hatte unter ihren Füßen bereits Wurzeln ausgetrieben – Liki würde prächtig neben der Syrasse gedeihen und sowieso würde er sie sehr bald wieder aus ihrer Baumgestalt befreien.

Er begoss sie hingebungsvoll mit Wasser aus seiner Zisterne, dann stellte er sich selbst unter die Brause, um sich von Meersalz und Erdkrumen und allerletzten Wurmschleimresten zu reinigen.

Träume schön, Liki. Er warf einen Blick zum Himmel hinauf – der Morgen dämmerte. Allerhöchste Zeit, dass er sich ein wenig hinlegte. Wenn die Leute erst einmal mitbekommen hatten, dass der Himmel über Phora neuerdings mit durchscheinenden goldgelben Schuppen überzogen war, war an Schlaf bestimmt nicht mehr zu denken.

Rabov sank auf sein Bett. Er hatte seine Wange noch nicht richtig ins Kissen gebettet, als das Wandtelefon zu gongen begann. Er drückte sich ein zweites Kissen auf seine andere Kopfseite, doch das half nicht sehr viel. Das Telefon gongte und gongte.

Es war ein Fehler gewesen, dass er Sola herbeigerufen hatte, das wurde ihm nun klar. Vor allem, weil er am Ende ihres Zusammentreffens auch noch ganz kurz wie Prinz Lugo ausgesehen hatte, aber nicht nur deshalb.

Er setzte sich auf und nahm Hörrohr und Sprechmuschel ab. »Mysto – Kostüme & Kulissen. Geschäftsführer Rabov am Apparat.«

»Hier spricht Oberrat Milar.« Der alte Herr klang wie immer hundertprozentig beherrscht. »Halten Sie sich bereit, Agent – die Gardisten Kurb und Mirschek holen Sie in fünf Minuten ab.«

»In fünf Stunden wäre mir lieber«, antwortete Rabov. »Ich bin gerade erst heimgekommen …«

»Hüten Sie Ihre Zunge, Rabov. Die Gardisten haben Befehl, Sie direkt ins Innenministerium zu bringen. Sie werden uns Rechenschaft ablegen.«

»Rechenschaft?«, wiederholte Rabov. »Worüber denn?« Aber da hatte der Oberrat bereits eingehängt.

Rabov folgte seinem Beispiel. Eilends warf er sich die froschgrünen Kleidungsstücke über, die er in dem Schutzraum am Smaragdtorplatz angezogen hatte, nachdem er mit Zoran zum subphoräischen Meer hinabgefahren war. Er durfte sich keinen weiteren Fehler erlauben, das wurde ihm mit jedem lärmenden Pendelschlag klarer. Er steckte seine Silbersichel und die anderen Habseligkeiten ein – abgesehen von seiner Kladde, die zu einem Klumpen aufgequollen war. Doch auch die Ära geflissentlicher Notizen war in seinem Leben vorbei.

Als Kurb (oder Mirschek) das innenministerielle Dienstmobil vor seiner Haustür stoppte, stand Rabov bereits auf dem Bürgersteig, seinen Zopf frisch gezurrt und im Mund einen letzten Happen von der Räucherzignelle, die er rasch noch gegessen hatte.

Erneut sah er zum Morgenhimmel hinauf. Die geschuppte Fächerstruktur war gut zu erkennen, jedenfalls dann, wenn man wusste, worauf man zu achten hatte. Darüber schwebten Wolken und der verblassende Mond wie eh und je. Doch in weniger als einer Stunde, wenn es richtig taghell wäre, konnten nicht einmal mehr die achtlosesten Passanten übersehen, dass sich zwischen Phora und das Firmament ein Schlangenhalsfächer von unabsehbarer Ausdehnung geschoben hatte. Und es würde nicht ganz leicht werden, den Leuten zu erklären, dass diese Entwicklung zu ihrer aller Bestem war.

Rabov zwängte sich in den Fond des Dienstmobils und Mirschek (oder Kurb) fuhr im selben Moment wieder an. Keiner der beiden Gardisten hatte ihn begrüßt oder sich auch nur anmerken lassen, dass ihres Wissens eine dritte Person zugestiegen war. Über dieses rüpelhafte Gebaren hätte Rabov vielleicht sogar hinweggesehen, wenn nicht einer der beiden Gardisten neben ihm auf der Rückbank gethront hätte – den Blick starr nach vorn gerichtet und seinen Schlagstock einsatzbereit in der Hand. Es konnte Zufall oder eine bizarre Angewohnheit sein, aber an derlei glaubte Rabov grundsätzlich nicht. Und nach dem Totengräber-Zwischenfall mit Sola schon gar nicht mehr.

Doch er hatte eigentlich überhaupt keine Lust, sich von den beiden Muskelprotzen die Stimmung verderben zu lassen. Er hatte praktisch im Alleingang die zweitgrößte vorstellbare Katastrophe von Dunibien abgewendet und darauf allein kam es letzten Endes an. Außerdem hatten Calin und Milar schon im PLATINPARDER nicht unbedingt den Eindruck gemacht, als würden die Umsturzgelüste von Prinz Lugo sie glücklich stimmen.

Aber warum nur hatten sie ausgerechnet Port Sola zum Mysto-Assistenten ernannt? Dieser offenkundige – oder eben nur scheinbare – Fehlgriff gab Rabov noch immer Rätsel auf. Sollte Sola die »Maschinenbrüder« innerhalb der Horch-Loge besänftigen – die Befürworter der königlichen Dampfmaschinenpolitik, nach deren Ansicht Rabovs Ermittlungsmethoden den Schlangen-und-Flut-Aberglauben der Dunibier nur unnötig schürten? Aber Sola konnte auch aus dem genau entgegengesetzten Beweggrund ins Rennen geschickt worden sein: damit er sicherstellte, dass der »irrsinnige Schlangenmagier« so lange sein Unwesen treiben konnte, bis Prinz Lugo von der anschwellenden Flutangst auf den Königsthron geschwemmt worden war.

Nun, das alles würde sich jetzt hoffentlich klären, sagte sich Rabov, während ihr Dampfmobil vor einem zweistöckigen Gebäude anhielt, das ganz und gar unscheinbar aussah. Mit seinem an den Seiten übermäßig heruntergezogenen Dach und der im Verhältnis zur Fassade zu klein geratenen Eingangstür erinnerte es Rabov immer an ein ältliches Mütterchen aus der dunibischen Provinz, das sich sein bestes Kopftuch umgebunden hatte und mit erwartungsvoll gespitztem Mund durch Phoras Prachtstraßen schlurfte. Doch dieses steinerne Mütterchen beherbergte das Ministerium für Innere Angelegenheiten des Dunibischen Königreichs und der weitaus größte Teil seiner Verwaltungs- und Verhörräume befand sich unter der Erde.

In den letzten drei Jahren war Rabov nur drei- oder viermal hier gewesen und jedes Mal hatte er sich unbehaglich gefühlt. Hinter der Eingangstür gab es eine Kontrollschleuse, in der man bis auf die Haut nach Waffen und sonstigen unerwünschten Mitbringseln durchsucht wurde. Rabov hob ergeben seine Hände und ließ die Prozedur über sich ergehen. Kurb und Mirschek sahen mit leeren Gesichtern zu und die beiden Kontrolleure, die ruppig an ihm herumrupften, glichen Calins Leibgardisten mehr oder weniger aufs Haar.

Vielleicht war man in den Manufakturen der Handelsherren Hagdiff und Seelbitt ja schon viel weiter fortgeschritten, als irgendein Phoräer sich träumen ließ? In diesem Augenblick, während er zwischen den beiden Gardisten aus der Schleuse marschierte, kam es Rabov jedenfalls nicht ganz und gar unwahrscheinlich vor, dass all diese ununterscheidbaren Muskelmänner, die im Innenministerium ihren Dienst verrichteten, hinter ihrer Haut- und Fleischfassade aus Rädern und Federn bestanden, konstruiert nach ausgebuddelten Bauplänen aus dem Alten Reich.

Der Gedanke heiterte ihn ein wenig auf und das hatte Rabov auch dringend nötig: Je länger er hinter Kurb (oder Mirschek) hermarschierte, Treppen hinab und Gänge entlang, mit Mirschek (oder Kurb) im Schlepptau, desto tiefer sank seine Zuversicht. Dies war ganz entschieden nicht der Weg zu Calins Diensträumen. Die Geheime Rätin hatte ein sonnenhelles Dienstzimmer im ersten Obergeschoss, während sie sich mittlerweile mindestens in der dritten unterirdischen Etage befanden.

Zum ersten Mal kam Rabov der Gedanke, dass er vielleicht bereits verhaftet worden war und die Gardisten es lediglich versäumt (oder absichtlich unterlassen) hatten, diese im Grunde unübersehbare Tatsache eigens auszusprechen. Doch immerhin hatten ihm die Kontrollwächter am Eingang nicht seine Silbersichel abgenommen und das hieß doch wohl, dass man ihn zumindest erst noch anhören würde.

Fragte sich nur, was Oberrat Milar und die Geheime Rätin Stingard eigentlich von ihm hören wollten. Dass er handeln musste, wie er gehandelt hatte, um den geplanten Hochverrat ihres gemeinsamen prinzlichen Vorgesetzten zu vereiteln? Das war, je länger er es sich durch den Kopf gehen ließ, eher nicht die Version, mit der man sich in diesem Haus Freunde machen konnte.

Aber es war eben die Wahrheit – die einzige jedenfalls, die er anzubieten hatte.

Der Gardist vor ihm blieb unvermittelt stehen und stieß eine Tür zu ihrer Linken auf. Von dem zweiten Wächter in seinem Rücken mehr gerempelt als geleitet, trat Rabov ein. »Hier soll die Freudenfeier stattfinden?« Ein schummrig beleuchteter Raum, die Decke zu niedrig, die Möblierung schmucklos – ein einfacher Holztisch, ein paar ebenso zweckmäßige Stühle drum herum.

Er ließ sich auf den erstbesten Stuhl fallen. Das hier war ein Verhörzimmer, eindeutig, und die Gardisten hatten ganz offensichtlich nicht den Auftrag bekommen, irgendetwas schönzureden.

Eine erkleckliche Weile saß er einfach nur herum, sah den Flämmchen in den Gaslampen beim Tanzen zu und versuchte zu erraten, was Calin und Milar ihm vorwerfen würden. Aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab – zu Liki und zu Zoran und zu der großen Reise, die er heute unbedingt noch antreten musste. Er konnte nur hoffen, dass sie ihn hier nicht noch stundenlang festhalten würden.

Aber eigentlich hatte er doch nach wie vor allen Grund zur Zuversicht. Schließlich hatte er die schrecklichste Gefahr, in der Phora und ganz Dunibien seit den Zeiten der Großen Flut jemals geschwebt hatten, praktisch im Alleingang abgewendet. Und mit einem vertrauenswürdigen Assistenten hätte er auch liebend gerne zusammen gegen die Naxoda-Würmer und ihren verrückten Meister gekämpft – aber Sola hatte ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit hintergangen und folglich war Rabov gar keine andere Wahl geblieben, als allein in die Schlacht zu ziehen.

Jedenfalls legte er es sich so zurecht, und zwar kurz bevor ihm sein Kopf vornüber auf die Brust fiel.

9

vigRabov schreckte hoch, als jemand ihn an der Schulter rempelte. Er hob seinen Kopf von der Tischplatte: Ihm gegenüber saß nicht mehr Calins Gardist, sondern die Geheime Rätin selbst. Bleich vor Übernächtigung, mit einem Gesichtsausdruck, als würde sie nun gleich in Tränen ausbrechen. Stocksteif aufgerichtet stand Oberrat Milar hinter ihr, im königsgrünen Umhang, und seine zarten Greisenhände lagen libellenleicht auf Calins Schultern.

»Wir kommen gerade eben von einer Unterredung mit Varusa«, sagte der Oberrat und sah weniger Rabov an als durch ihn hindurch. Selbst Milar schien am Rand seiner Kräfte und Selbstbeherrschung angelangt. »Er behauptet, Sie hätten ihn aufgefordert – im Namen des Königs aufgefordert –, die Kontrolle über Phora und ganz Dunibien zu übernehmen. Ist das wahr?«

Rabov sah von Milar zu Calin. »Die Kontrolle über Phora? Das ist eine seltsame Interpretation, Herr Oberrat.«

»Antworten Sie mit ja oder nein, Rabov: Haben Sie Varusa aufgefordert, einen magischen Fächer zu errichten, der Phora und ganz Dunibien von Linglus Sieben Himmeln abschirmt?«

»Von Linglus …?« Rabov riss die Augen auf. Diese Unterredung bewegte sich entschieden in die falsche Richtung.

»Haben Sie Varusa gebeten, diesen magischen Schlangenfächer über unserem Königreich zu errichten – ja oder nein?« Milar deutete mit seinem Kopf zur Zimmerdecke, die nur eine Handbreit von seinem schütteren schneeweißen Scheitel entfernt war.

»Ja.« Rabov breitete die Arme aus. »Aber lassen Sie mich das erklären!«

»Ihre Erklärungen haben wir uns lange genug angehört. Nächste Frage – antworten Sie mit ja oder nein. Willst du, Cali?« Milar drückte Calins Schultern sacht mit seinen Libellenfingern und sie gab sich einen sichtbaren Ruck.

»Samu.« Sie sah Rabov beschwörend an. »Bitte sage uns die Wahrheit – hast du Varusa im Namen des Königs versprochen, ihm täglich einen Dunibier als Opfergabe für seine Schlangengottheit Ragadhani auszuliefern – Tag für Tag, solange sie diesen Fächer über unserem Land aufgespannt halten?«

»Ja oder nein«, erinnerte Milar in warnendem Tonfall.

Rabov dachte erst einmal über diese Frage nach. Er fühlte sich angespannt bis in seine Finger- und Zehenspitzen, doch sein Verstand arbeitete ruhig und klar. Er hatte es Varusa nicht ausdrücklich versprochen, aber er hatte sich auch nicht unmissverständlich dagegen gesträubt. »Ja«, sagte er. »Wenn die Antwort nur ja oder nein heißen darf, dann ist sie ja.«

»Und was hat Sie zu diesem ungeheuerlichen Hochverrat veranlasst?« Das war wiederum Milar. »Warum haben Sie die Macht über Dunibien in die Hände unserer bakusischen Feinde gegeben – was hat Varusa Ihnen dafür versprochen?«

Rabov schüttelte ungläubig den Kopf. Er durfte sich zu keinen unbedachten Antworten oder gar Wutausbrüchen hinreißen lassen, das war ihm nur allzu klar. Auch wenn er ansonsten überhaupt nichts mehr verstand. Aber zumindest hatten sie ihm nun eine Frage gestellt, auf die man nicht einfach mit Ja oder Nein antworten konnte. »Ich konnte nicht anders handeln, Herr Oberrat, zum Besten Dunibiens und des Königs«, sagte er und sah zu Milar auf. »Ich bin dem Magier auf die Spur gekommen, der den Naxoda-Zauber nach Dunibien gebracht hat. Er ist einer der mächtigsten Lakoris auf diesem Planeten und er hat gedroht, die Naxoda-Schlangen in allen Phoräern zu erwecken – aus Hass auf Dunibien. Er hat nicht einmal irgendeine Forderung gestellt, über die man mit ihm hätte verhandeln können.«

Er unterbrach sich und versuchte in Milars und Calins Gesichtern zu lesen, ob sie vielleicht anfingen, ihm ein wenig Glauben zu schenken, aber er konnte keinerlei Anzeichen dafür entdecken. »Wenn Sie den Namen dieses Mannes hören«, fuhr er fort, »werden Sie verstehen, dass ich so und nicht anders handeln musste: Es ist Axoras, der berüchtigte Magier und seit vielen Jahren weltweit gesuchte Massenmörder aus dem Moliat. Mir ist gar keine Wahl geblieben, als Varusa um Hilfe zu bitten: Niemand außer ihm wäre imstande gewesen, Axoras an der Ausführung seines Plans zu hindern. Verstehen Sie, was ich sage, Milar?«, warf er ein, da ihn der Oberrat nach wie vor ausdruckslos ansah. »Axoras wollte umgehend in allen Dunibiern die Naxoda-Schlange erwecken. Wenn ich nicht gleichfalls auf der Stelle gehandelt hätte, wären Hunderttausende dieser greulichen Schlangen ausgeschlüpft und mittlerweile wäre höchstwahrscheinlich in ganz Dunibien niemand mehr am Leben.«

Calin legte ihren Kopf zurück und sah zu Milar empor. Der Oberrat nickte ihr zu und für einen Moment schien ein zärtliches Lächeln über sein Gesicht zu fliegen. Calins Gesicht dagegen, als sie wieder zu Rabov schaute, war von Schmerz und Zorn verdüstert und noch ehe sie den Mund aufmachte, wusste er, was jetzt kommen würde.

»Das alles haben wir so ähnlich auch von Varusa gehört«, sagte sie mit dieser kalten Stimme, die Rabov so lange Zeit an ihr gefürchtet hatte. Und die ihm auch diesmal Angst machte, wenn auch aus gänzlich anderen Gründen. »Aber der Bakusier«, fuhr sie fort, »an den du unser Land verraten hast, Samu – Varusa hat noch ein paar weitere Einzelheiten erwähnt und die lassen deine angebliche Heldentat in einem ganz anderen Licht erscheinen.«

»Was für Einzelheiten?«, fragte Rabov, obwohl er sich die Antwort mehr oder weniger schon zusammenreimen konnte.

»Willst du das wirklich alles hören?«, gab Calin zurück. »Und gerade aus meinem Mund?« Ihre Stimme drohte zu versagen. »Von Varusa wissen wir, in welcher eindeutigen Situation du warst, als du ihn um Hilfe angefleht hast. Gefangen in den Armen einer Frau, die Axoras in einen Yasnabaum verwandelt hatte, so dass du von ihrer Umschlingung beinahe erdrosselt wurdest.« Sie unterbrach sich kurz und atmete stoßweise ein und aus. »Mittlerweile wissen wir auch«, fuhr sie fort, »um wen es sich bei dieser Frau handelte. Ihr Name ist Liki Meida und sie ist praktisch als Ziehtochter dieses Axoras im Moliat aufgewachsen. Und du hast dich von ihr einwickeln lassen – du Verräter!«, brach es aus ihr heraus und Rabov las von ihrem hassverzerrten Gesicht ab, welchen speziellen Verrat sie meinte.

»Leugnen hat keinen Sinn«, fuhr sie mit mühsam beherrschter Stimme fort, »die Hellseherin Selda hat Port offenbart, dass du sie wegen der Meida unter Druck gesetzt hast. Du wusstest, dass diese Liki es war, die sich bei Selda wegen Velissa Labiano erkundigt hat – also war dir auch klar, dass sie bis zum Hals in dem Naxoda-Sumpf drinsteckt. Oder willst du uns wirklich erzählen, du hättest dir nichts weiter dabei gedacht, als sie sich dir vor diesem Studentenhaus auf dem Forschungsgelände an den Hals geworfen hat?«

Rabov wollte aufspringen, doch die Pranke, die sich auf seine Schulter legte, überzeugte ihn davon, dass er besser sitzen blieb. Allem Anschein nach hatte sich Mirschek (oder Kurb) mittlerweile hinter seinem Rücken postiert. Und genauso offensichtlich hatte Sola die Hellseherin Selda dazu gebracht, nochmals einen Blick in Likis Vergangenheit zu werfen.

»Calin, um Linglus willen«, sagte er, »du siehst das falsch! Oder nicht gänzlich falsch«, lenkte er ein, denn Calins Gesicht hatte sich bei seinen ersten Worten schon wieder in einer Mischung aus Zorn und Schmerz verzerrt. »Du hast recht, sie hat mir da vor dem Waldhaus wahrscheinlich aufgelauert, um mich … zu umgarnen. Aber ich habe erst viel später – erst letzte Nacht – erfahren, dass sie als kleines Mädchen bei Axoras im Nebelwald gelebt hat und dass dieser verfluchte Moliat-Magier hinter der ganzen Sache steckt. Und ich habe es von ihr erfahren, von Liki selbst, verstehst du, Calin: Axoras wollte sie gegen mich einsetzen, aber Liki hat sich wirklich in mich verliebt, so wie ich mich in sie verliebt habe – gerade darum hat er sie ja mit diesem grausamen Transformationszauber bestraft. Ohne Liki wäre ich niemals auf Axoras gekommen und auf all das, was letztes Jahr in Naxoda passiert ist. Und auf den Drahtzieher im Hintergrund«, fügte er hinzu, »willst du übrigens nicht wissen, wer das ist?«

Er hatte Calin gefragt, doch an ihrer Stelle schüttelte Milar fast unmerklich den Kopf. Calin dagegen schien seine Frage überhaupt nicht mitbekommen zu haben und Rabov fragte sich, ob er sich Milars Kopfschütteln vielleicht nur eingebildet hatte. Doch so oder so kam er nicht dazu, sein Wissen über den hochgestellten Hintermann auszubreiten – draußen auf dem Gang kamen Schritte näher, begleitet von zwei männlichen Stimmen in emsigem Gespräch.

»Also kurz und gut«, sagte Milar. »Es wird Zeit, dass wir hier zu einem Ende kommen.« Er nahm seine Hände von Calins Schultern und setzte sich neben sie auf einen Stuhl. »Sie geben also zu, Agent Rabov, dass Sie hinsichtlich der sogenannten Naxoda-Verbrechen Kenntnis von der Existenz und Identität einer tatverdächtigen Person namens Liki Meida hatten und dieses Wissen vor Ihren Vorgesetzten und Ihrem Assistenten geheim hielten. Ihr Beweggrund hierfür war ein heimliches Liebesverhältnis mit besagter Meida. Gestern Abend erfuhren Sie von ihr, dass sie die Ziehtochter eines gewissen Axoras ist, eines verurteilten und auf allen Kontinenten gesuchten Massenmörders, und dass dieser Axoras auch für die Serie Mysteriöser Morde verantwortlich ist, die sich in jüngster Zeit in Phora ereignet haben. Ist das so weit richtig, Rabov – ja oder nein?«

Angespannt horchte Rabov nach draußen. Die jüngere der beiden Stimmen klang ungut vertraut – Port Sola. Die andere hörte sich an, als ob der Sprecher Staub geschluckt hätte und alle drei oder vier Worte versuchte, sich freizuhusten. »Ja«, sagte er.

Milar hatte unterdessen ein königsgrün gebundenes Heft und einen goldenen Füllfederhalter aus seinem Umhang gezogen. Er schlug das Heft auf und begann mit einer klaren, vorandrängenden Handschrift zu schreiben, die Rabov mühelos lesen konnte, auch wenn die Worte für ihn auf dem Kopf standen.

»Des Weiteren haben Sie bereits eingeräumt«, fuhr er fort, ohne im Schreiben innezuhalten, »dass Sie gestern Abend, als Ihnen klargeworden war, dass Sie Axoras in die Falle gegangen waren, den bakusischen Magier Radschi Varusa gegen besagten Axoras zu Hilfe riefen. Sie erklärten sich im Namen des dunibischen Königs bereit, Varusa die Macht über Phora und ganz Dunibien zu übertragen, und Sie versprachen ihm außerdem ein Menschenopfer pro Tag, damit er im Gegenzug einen lakorischen Schutzfächer errichtete, um die massenmörderischen Pläne des besagten Axoras zu vereiteln. Trifft auch dieser Sachverhalt zu, Agent Rabov – ja oder nein?«

Rabov lauschte abermals nach draußen. Die beiden Männer – Sola und der ältere mit dem Staub in der Kehle – waren anscheinend vor der Tür stehen geblieben und unterhielten sich so gedämpft, dass nichts zu verstehen war. »Nein.«

»Nein?«, wiederholte Milar und sein Füllfederhalter schwebte reglos über dem halb vollgeschriebenen Blatt.

»Ja, ich habe Varusa um Hilfe gerufen«, sagte Rabov, »weil es keine andere Möglichkeit gab, um Dunibien zu retten. Und nein, ich habe ihm nicht die Macht übertragen, sondern ihn lediglich gebeten, Phora durch den Fächer der Ragadhani vor Axoras zu beschützen.«

Milar hatte eifrig mitgeschrieben und nachdem er diesen Absatz durch einen kräftigen Tintenpunkt abgeschlossen hatte, blies er mit gespitzten Lippen ein paarmal auf das Blatt. »Nun gut, Agent«, sagte er dann, »Ihre Fähigkeit, Ursachen und Folgen abzuschätzen, scheint erheblich beeinträchtigt zu sein. Das haben Sie bei Ihrer Affäre mit besagter Liki bewiesen und das gilt erst recht für Ihre Vereinbarung mit Varusa. Wenn der König von Dunibien eine bakusische Schlangengottheit und ihren Hohepriester zu Hilfe rufen muss, weil er selbst und der große Linglu dieses Reich aus eigener Kraft nicht verteidigen können – wer übt dann Ihrer Ansicht nach die Macht über Phora aus?«

Er sah Rabov erwartungsvoll an, so als ob er selbst sich über die richtige Antwort noch nicht im Klaren wäre. Dann beugte er sich wieder über sein Heft und las murmelnd mit, was er gleichzeitig so rasch wie akkurat niederschrieb: »Agent Rabov wird hiermit von seinen dienstlichen Verpflichtungen bis auf weiteres entbunden. Er hat sich erhebliche Verstöße gegen die Dienstvorschriften zuschulden kommen lassen und er hat das Königreich in ernsthafte Gefahr gebracht. Aber wir erkennen an, dass er in gutem Glauben gehandelt hat, auf diese Weise ein noch größeres Übel von Dunibien abzuwenden. – Unterschreiben Sie hier.«

Während der Oberrat ihm das Heft mitsamt seinem goldenen Füller über den Tisch schob, ging die Tür auf und ein hochgewachsener Mann trat ein. Calin und Milar sprangen von ihren Sitzen auf und dieselbe Pranke, die Rabov vorhin so nachdrücklich auf seinem Stuhl zurückgehalten hatte, zerrte ihn nun ebenso entschieden wieder hoch.

Der Eingetretene war von ausgedörrter Gestalt und beinahe so hohlwangig wie Lasse Duban, der halbverhungerte Archäologiestudent. Obwohl er kaum älter als Rabov sein mochte, Ende dreißig oder allenfalls ein paar Jahre darüber, wirkte alles an ihm schwach und kränklich – seine Haltung, seine Bewegungen, sein düsterer Gesichtsausdruck.

»Wir sind fast so weit, Hoheit«, vermeldete Milar, seine Rechte, zur Faust geballt, auf dem Herzen. »Agent Rabov hat eingeräumt, dass ihm einige Fehler unterlaufen sind, auch wenn er stets nur Dunibiens Wohl im Auge hatte.«

Der Prinz – denn nur er konnte es sein – musterte Rabov aus entzündet zwinkernden Augen. Unter seinem königsgrünen Umhang bauschten sich goldfarbene Rüschen. »Sie nennen es Schutzfächer«, sagte er und unterbrach sich, um zu husten. »Ich dagegen nenne es Kriegserklärung, heimtückische Invasion!«

Prinz Lugo hustete wieder. Rabov sah ihm dabei zu und versuchte, zu einem Entschluss zu gelangen. Hinter dem Prinzen war Sola in den Verhörraum geschlüpft. Er lehnte neben einem der beiden Gardisten an der Wand und Rabov ignorierte ihn nach Kräften. Er musste sich endlich entscheiden. Milar hatte ihn durch sein verborgenes Kopfschütteln ermahnt, den hochgestellten Hintermann nicht noch einmal zu erwähnen. Aber Rabov war sich ganz und gar nicht sicher, ob dies ein uneigennütziger Ratschlag war. In einem allerdings hatte Milar recht, wie sich Rabov reumütig sagte: Seine Fähigkeit, Ursachen und Folgen abzuschätzen, oder, rundheraus gesagt, sein Lichtich hatte in jüngster Zeit stark gelitten. Er konnte nur hoffen, dass Selda nicht recht behalten würde mit ihrer Vorhersage, dass er wie Tarek und seinesgleichen enden würde – außerstande, auch nur ein paar Augenblicke lang ein und derselbe zu sein.

»Warum nur hast du Dunibien an den bakusischen Feind verraten, Rabov?«, fragte der Prinz und hustete.

Entschlossen rang Rabov die trübselige Stimmung nieder, die auf einmal wie Nebelschwaden in ihm aufgestiegen war. Die mächtige Schlange am Meeresgrund, die Urschlange der Urmeere, dachte er, sie wird mich stärken, mein Lichtich genauso wie mein Dunkeldu. »Mit Verlaub, Hoheit«, antwortete er, »ich habe Dunibien nicht verraten. Mir blieb nur die Wahl, Varusa um Hilfe zu bitten – oder aber das gesamte dunibische Volk dem blutgierigen Moliat-Magier Axoras auszuliefern.«

Es kam Rabov so vor, als sei der Prinz bei dem Namen Axoras zusammengezuckt. Aber bevor er sich darüber halbwegs klargeworden war, trat der hochwohlgeborene Reichssekretär so nahe vor ihn, dass Rabov jede einzelne Pore in seinem Antlitz erforschen konnte. »Die Wahl also«, sagte Lugo und blies ihm seinen Staubatem ins Gesicht, »zwischen einem zaketumesischen Schlangenmagier, der alle Dunibier auf einmal umbringen will, und einem bakusischen Schlangenmagier, der sie einen nach dem anderen opfern wird. Und da hast du Bakus den Vorzug gegeben – im Namen des Königs?«

Auch diese Zusammenfassung seiner Taten und Beweggründe wollte Rabov überhaupt nicht gefallen. »Dazu wird es nicht kommen, Hoheit«, versicherte er dem Prinzen, dessen Augen sich auf genau derselben Höhe wie seine eigenen befanden. »Ich selbst werde dafür sorgen, dass Axoras noch heute unschädlich gemacht wird – bevor auch nur ein einziger Dunibier geopfert wurde.« Ganz kurz sah er Zoran vor sich, wie er ihn vertrauensvoll anlächelte, und Rabov schwor sich erneut, dass er die Opferung des Jungen niemals zulassen würde.

»Lügen und Widersprüche – das ist alles, was du zu deiner Verteidigung vorzubringen weißt.« Lugo hustete ihm ins Gesicht und Rabov biss die Zähne zusammen. »Den Moliat-Magier willst du heute noch unschädlich machen? Wie wirst du das anstellen? Gestern noch hattest du angeblich keine andere Wahl, als Bakus um Phoras Schändung anzuflehen.«

Rabov schüttelte den Kopf. Der Prinz mochte ihn beschuldigen, soviel er wollte, er würde sich zu keinen hitzigen Reaktionen hinreißen lassen. Und vor allem würde er, solange er keine handfesten Beweise besaß, Lugo nicht bezichtigen, jener Drahtzieher »allerhöchsten Ortes« zu sein. »Mit Verlaub, Hoheit«, sagt er, »Oberrat Milar hat mich gerade eben meines Postens enthoben. Ich vermute, dass mein bisheriger Assistent als mein Nachfolger vorgesehen ist.« Er deutete in Solas Richtung und wandte sich wieder Milar zu – es wurde allerhöchste Zeit, dass er sich auf den Weg machte.

Aber der Prinz war noch nicht fertig mit ihm. »Fehler, Agent?«, rief er aus und hustete und schrie hustend weiter auf ihn ein. »Verbrechen! Du bist ein Verbrecher, Rabov, du selbst bist der Massenmörder, vor dem du Dunibien angeblich gerettet hast! Heute Abend wird die bakusische Bestie das erste dunibische Opfer verschlingen – ganz egal, ob der zaketumesische Magier bis dahin überwältigt wurde oder nicht! Der bakusische Hohepriester hat uns durchaus nicht im Unklaren gelassen – die einmal versprochenen Opfer müssen wir seiner Schlangengottheit nun auch pünktlich in den Rachen werfen, damit das Ungeheuer nicht in Zorn gegen Phora entbrennt. Hörst du, Rabov – Tag für Tag sollen wir fortan die bakusische Riesenschlange mit Dunibiern mästen! Wie lange wird unser Volk dieser Erniedrigung tatenlos zusehen? Zwei Tage – oder drei? Spätestens dann wird Phora einen Aufruhr erleben wie seit den Zeiten von König Lugo VI. nicht mehr. Die Straßen und Plätze werden schwarz sein vor Phoräern, die aus der Mästung des Schlangengötzen und aus den furchtbaren Zeichen am Himmel immer nur eines herauslesen werden: dass Linglu uns für unsere Sünden mit einer neuen Flut strafen wird. Und jedes einzelne Opfer, Rabov, das die bakusische Bestie verschlingt, wird dir als blutiger Verrat an deinem eigenen Volk angerechnet werden und jedes Mal wird Dunibien noch verzweifelter nach einem Retter rufen – so lange, bis ein unerschrockener Recke es wagt, alle Verräter und Ungeheuer aus unserem heiligen Phora zu verjagen. Im Namen des allmächtigen Linglu!«

Nach diesem Ausruf hörte der Prinz urplötzlich auf zu schreien und zu husten und wandte sich ab. Mehr noch verblüfft als erschrocken sah Rabov hinter ihm her – Lugo ging auf den Assistenten zu, der ihm mit bubenhaftem Lächeln und parodistisch übertriebenen Verneigungen entgegensah. So lächerlich Rabov der Gedanke auch vorkam, dass Prinz Lugo mit dem unerschrockenen Recken sich selbst gemeint hatte – seine Drohungen waren kaum misszuverstehen. Wenn der Fächer über Phora nicht schleunigst wieder verschwinden würde, dann würde er sich selbst zum »Retter« ausrufen lassen, und der erste »Verräter«, den er aus Phora verjagen würde, wäre König Sorno. Der Prinz hatte nicht einmal so getan, als ob er im Namen des Königs sprechen würde oder ihm Sornos Wohl zumindest am Herzen läge – er hatte sich allein auf Linglu berufen, von dessen Sieben Himmeln Phora nun durch den Schlangenfächer abgeschnitten war.

Rabov schüttelte die Pranke unter seiner Achsel ab. Noch etwas war ihm gerade eben klargeworden: Port Solas lächelnde Unterwürfigkeit galt weder den »Maschinenbrüdern« noch den »Schlangenmännern« im Besonderen, weder Horch Barott und seinesgleichen noch Prinz Lugo – oder vielmehr ihnen allen zugleich. Der Fluch oder eben die Gabe des Assistenten bestand gerade darin, es jederzeit jedem recht zu machen, der auch nur ein wenig Macht besaß. Ob Milar und Calin sich dessen bewusst waren oder nicht, sagte sich Rabov – gerade deshalb hatten sie Sola zum Mysto-Agenten gemacht. Den Zwiespalt, in dem sie von Amts wegen gefangen waren – zwischen Schlangenfieber und Maschinenwahn –, konnte der Assistent so wenig wie irgendwer lösen, aber durch immerwährendes Charmieren immerhin ein wenig mildern. Er war so geschmeidig wie eine Schlange und so ungreifbar wie Dampf und so gefiel er allen, weil ein jeder sich in ihm schmeichelhaft gespiegelt fand. Nur er selbst (so sagte sich Rabov im Stillen) war für Solas Versöhnungszauber unempfänglich geblieben – weil er im Grunde seines Herzens nichts so sehr verabscheute wie Harmonie. Alles in ihm hatte immer schon ins Dunkel hinabgedrängt, in die lakorische Tiefe – zu Liki.

Er beugte sich über den Tisch und unterschrieb mit Milars goldenem Füller, ohne noch einmal zu überfliegen, was er da angeblich alles gestand. Es wurde jetzt wirklich allerhöchste Zeit.

»Herr Oberrat, ich bin Ihnen sehr dankbar …«, begann er und unterbrach sich mitten im Satz. Wieder hatte Milar ihm ein verstohlenes Zeichen gemacht – diesmal hatte er seine Augenbrauen mehrfach auf seiner Stirn emporschnellen lassen und Rabov fragte sich, was diese neue Botschaft besagen sollte.

»Danken Sie mir lieber nicht zu früh«, sagte Milar mit erhobener Stimme. »Die Gardisten Kurb und Mirschek werden Sie jetzt zum Zolltor bringen – Sie stehen bis auf weiteres unter Arrest.« Noch einmal jagten seine Brauen auf der tief zerfurchten Stirn umher wie Rettungsboote bei schwerer See.

Rabov deutete eine Verneigung an. Die Gardistenpranke kehrte unter seine Achsel zurück und zerrte ihn, vorbei an dem hustenden Prinzen und dem liebedienerischen Assistenten, aus der Tür.

Wenn er Oberrat Milar nicht völlig missverstanden hatte, sagte sich Rabov, während er zwischen Kurb und Mirschek Gänge entlang- und Treppen aufwärtsmarschierte – wenn er die Botschaft der gischtfarbenen Brauen richtig aufgefasst hatte, dann riet ihm Oberrat Milar, genau das zu tun, was er ohnehin im Sinn hatte.

10

vigDie beiden Gardisten verfrachteten ihn abermals in ihr Dienstmobil und Mirschek (gegebenenfalls) ließ die Dampfsirene ertönen, bevor er schwungvoll losfuhr. Sie hatten den Auftrag, ihn ins Gefängnis zu bringen, und Gardist Nummer zwei, der wiederum neben Rabov auf dem Rücksitz thronte, beobachtete ihn unentwegt, eine Pratze auf seinem Schlagstock.

Rabov klappte das Fenster in der oberen Hälfte seiner Tür auf und schob seinen Kopf ins Freie. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und der durchscheinende Schlangenfächer ließ sich jetzt wirklich nicht mehr übersehen.

»Riesenschlange über Phora!«, hörte er im Vorüberdonnern einen Zeitungsjungen schreien. Doch die Passanten schienen sich um die Sonderausgabe des Phoräischen Nachtboten, die der Junge wie eine Kriegsfahne schwenkte, nicht eben zu reißen. Sie schauten zum geschuppten Himmel empor oder zeigten einander die rätselhaften Veränderungen, die sich da oben abzuspielen schienen, aber Rabov kamen sie nicht allzu bekümmert oder gar verstört vor. Im Gegenteil – nachdem das Schlangenfieber zumindest fürs Erste abgeklungen war, schien sich eine Stimmung träger Ergebenheit über die Stadt zu senken. Ein gelassener Fatalismus, wie er für Bakus charakteristisch war – im Gegensatz zu Zaketumesien und vor allem zum Moliat-Gebiet, das immerwährend von Fieberschauern geschüttelt schien. Moliat, das Land der erweckten Schlange, dachte Rabov – und Bakus, das Reich der Schicksalsergebenheit, dessen Priester weltberühmt waren für ihre Kunst, die Schlange mit ihren Flötenklängen in Trance zu wiegen. Und Dunibien – ein halbherziges Dazwischen.

Rabov zog seinen Kopf ins Innere des Dampfmobils zurück. Anscheinend war es für ihn ein Tag der Erleuchtungen, der kleineren und größeren.

»Durch die Fenster passt du nicht durch«, sagte Kurb (falls er es war), »und die Türen sind verriegelt. Also mach dir besser keine Hoffnungen, Kerl.«

Einige Augenblicke lang spürte Rabov noch den Gefühlen hinterher, die diese Worte in ihm hervorriefen. Kränkung, Schmerz über sein Scheitern als Spezialagent, aber das alles waren nur Kratzer auf der Oberfläche. Darunter empfand er etwas anderes, ungleich Mächtigeres: Er war frei. Frei, endlich dorthin zu gehen, wohin es ihn seit so vielen Jahren zog.

Es wurde Zeit, dass er aufhörte, sich dagegen zu wehren.

Rabov hatte es kaum gedacht, als er sich mit rasender Hast zu verwandeln begann. Und diesmal, das spürte er, war es weit mehr als eine flüchtige Täuschung im Auge des Betrachters. Unbändige Kraft durchpulste seinen Körper bis in die Spitzen seiner Schnurrhaare und Krallen hinein.

Der Schlagstock fiel aus der Pratze des Gardisten neben ihm. Er riss seinen Mund auf, doch nur ein klägliches Wimmern kam heraus. Im Rückspiegel sah Rabov die Augen des anderen Gardisten, der erschrocken nach hinten blickte und anstelle eines Hilfeschreis gleichfalls nur ein Winseln zuwege brachte. Im Spiegel konnte Rabov ganz kurz noch betrachten, was die beiden so sehr verstörte – seine verheerenden Reißzähne, die funkelnd grünen Augen und alles andere. Dann warf er sich auf dem Rücksitz des Dampfmobils herum und sprang mit einem Satz durch das Seitenfenster auf die Straße hinaus.

Er war noch kilometerweit von seinem Ziel entfernt, aber in seiner gegenwärtigen Gestalt machte es ihm überhaupt nichts aus, große Strecken zu Fuß zurückzulegen. Ganz im Gegenteil – es war ein wundervolles Gefühl, auf vier Beinen voranzueilen, mit mühelosen Sprüngen, rascher und geschmeidiger als jede Dampfmaschine und jedes Federwerk.

Es würde nicht lange dauern, bis Kurb und Mirschek im Innenministerium Alarm geschlagen hätten. Auch Calin würde sich daraufhin zusammenreimen, was Oberrat Milar nach Rabovs Ansicht bereits wusste und ihm sogar selbst ans Herz gelegt hatte – dass er versuchen würde, sich bis zu jener Seekreatur durchzuschlagen, die ihn zum Grund des subphoräischen Meeres bringen würde.

Calin selbst hatte ihm schließlich die Geschichte von der Tauchfahrt jenes Lidor (oder Ludor) erzählt und ihn darauf aufmerksam gemacht, wie sehr sie mit seiner eigenen Vision übereinstimmte. Sie hatte sogar angedeutet, was aus dieser Übereinstimmung ihrer Ansicht nach zu folgern war – dass er, Rabov, auserwählt sei, Dunibien vor einer neuen Strafflut zu bewahren, so wie Lidor damals durch seine wagemutige Tat die Große Flut beendet hatte.

Allerdings hatte Calin in jener Nacht im Platinparder nicht erwähnt, wo genau sich die Balustrade befand, von deren Geländer Ludor (oder Lidor) in die Nackenblase seines lebenden Unterseeschiffs hinabgesprungen war. Und zweifellos hatte sie der Vorstellung, dass ausgerechnet Rabov zur Rettung Dunibiens ausersehen sein könnte, mittlerweile wieder abgeschworen, da er in ihren Augen nur noch ein Verräter war.

O ja, Li, dachte Rabov, während er mit kräftigen Sprüngen durch stille Seitenstraßen rannte, über Mauern und Zäune setzte, durch Parks und Gärten parderte, nun schon nahe der prachtvollen Dämmerungsallee – o ja, Li, ich weiß sehr gut, wie weh ein solcher Verrat tut. Aber er selbst hatte seine Liebe zu Calin noch jahrelang lebendig gehalten, obwohl sie ihn ein ums andere Mal betrogen und verraten hatte, mit immer neuen Liebhabern und vielleicht mehr noch mit den erlogenen Hoffnungsbrocken, die sie ihm ab und zu hingeworfen hatte wie einem Kettenhund, der ansonsten nur Prügel bekam. Sammo! Was für ein Narr er doch gewesen war – sie hatte nur seinen Kosenamen aus alten Zeiten gurren müssen und schon war er gekrochen gekommen und hatte ihr aus der Hand gefressen, was immer sie ihm an fragwürdigen Happen hinhielt.

Jetzt allerdings war sie zu seiner Feindin geworden, das hatte er von ihrem Gesicht, ihren Augen ablesen können – einer Feindin, die ihn aus tiefstem Herzen hasste. Nicht wegen seines angeblichen Hochverrats, wie sie sich selbst einzureden versuchte, sondern weil er Liki liebte, wie er sie niemals geliebt hatte.

Bestimmt glaubte sie, dass er versuchen würde, durch einen der wohlbekannten Schutzräume in die subphoräische Anlage vorzudringen. Folglich brauchte sie nur an den großen Innenstadtplätzen die Bauwerke mit der Hausnummer Sieben überwachen lassen – und früher oder später musste er ihr am Rossmarkt oder am Smaragdtorplatz in die Falle gehen, am Platz der Sieben Tempel oder (falls er dreist genug wäre, sich dorthin zu wagen) sogar am Zolltor.

Aber diesen Gefallen würde er Calin nicht tun. Sie hatte ihm während ihrer nostalgischen Nacht im Platinparder absichtlich verschwiegen, von wo genau jener Lidor damals zu seiner Tiefseereise aufgebrochen war. Umgekehrt hatte Rabov mit Vorbedacht niemals erwähnt, dass er selbst einen weiteren derartigen Schutzraum entdeckt hatte, ein »Ei« oder eine »Membran« oder einen »Donnertropfen«, wie sich der Palastkommandeur gegenüber Lidor ausgedrückt hatte.

Mit jedem Sprung, der ihn der Lanfastraße näher brachte, war sich Rabov noch sicherer, dass er gerade dort jene Balustrade finden würde. Möglicherweise hätte er auch von irgendeiner anderen subphoräischen Station aus in See stechen können und vielleicht wäre es sogar erheblich bequemer, vom Waggon der Drahtseilbahn unter dem Schiffstorplatz geradewegs in die Nackenblase seines lebenden Tauchboots umzusteigen.

Aber da war dieser eine Satz aus der Geschichte von Lidors Reise zum Meeresgrund, der Rabov nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. »Alles, was im Leben wirklich wichtig ist«, hatte Lidor dem Palastkommandeur erklärt, »wird am besten mit einem Kopfsprung erledigt.« Und dann war er vom Geländer der Balustrade kopfüber in die Nackenblase hinabgetaucht.

Noch vor ein paar Stunden hätte Rabov zumindest gezaudert, ob er sich selbst einen solchen Kopfsprung zutrauen durfte. Immerhin war er kein gelernter Klippenspringer wie jener Lidor. Aber seit er sich in einen Nachtparder verwandelt hatte, schien ihm ein solcher Satz von der Balustrade geradezu lachhaft leicht.

In der Lanfastraße setzte er mit einem mühelosen Sprung über den Zaun hinweg, der den verwilderten Garten gegenüber dem Archäologischen Institut säumte. Er rechnete die Tage zusammen, seit sie Velissa Labiano in ihrer Wohnung gefunden hatten. Seitdem war gerade mal eine Woche vergangen, doch es kam ihm wie ein halbes Leben vor.

Er konzentrierte sich darauf, wieder er selbst zu werden. Es kostete ihn viel mehr Mühe und Kraft als bei den Malen davor, als er sich nur ganz äußerlich und für kurze Zeit transformiert hatte. Etwas in ihm hatte schon begonnen, wie eine Raubkatze zu denken und zu fühlen. In den Lehrbüchern war er während seiner Ausbildung mehrmals auf einen Warnhinweis gestoßen, der ihm damals stark übertrieben erschienen war: Sich in ein anderes Lebewesen zu verwandeln, hieß es dort, sei leichter, als in seine ursprüngliche Gestalt zurückzukehren. Man müsse während der Verwandlung fortwährend eine gewisse »Sammlung und Spannung auf das nächste Ziel hin« bewahren, sonst laufe man Gefahr, in der einmal angenommenen Gestalt gebannt zu bleiben.

Nun wusste Rabov, dass die Lehrbücher keineswegs übertrieben hatten – in seinem Innern spürte er ein wildes Bedauern, weil er die Pardergestalt wieder gegen seine Menschengestalt eingetauscht hatte, unbekümmerte Grausamkeit gegen unaufhörlich kreisende Zweifel, kraftvolle Raubkatzenbeine gegen Gliedmaßen, die wie künstlich angesetzt an seinem Rumpf schlackerten. Doch an Spannung und Sammlung auf das nächste Ziel hin fehlte es ihm keineswegs.

Rabov trat zwischen den verwilderten Büschen vor Velissa Labianos Fenster hervor und ihm war bewusst, dass ihm in den nächsten Minuten kein einziger Fehler unterlaufen durfte. Er spähte nach links und rechts – menschenleer lag die Lanfastraße im Schatten des Archäologischen Instituts. Die Mittagshitze schien ihm heute noch drückender als in den letzten Tagen, das Sonnenlicht fast ein wenig gelbstichig – sicher lag das an dem Schlangenhalsfächer, den die Gottheit Ragadhani hoch über Phora aufgespannt hatte.

Während Rabov über die Straße eilte, achtete er darauf, dass er von Horch Barotts Fenster aus nicht zu sehen war. Die Syrassen an den Straßenrändern, so verkümmert sie auch sein mochten, gaben ihm Deckung und vielleicht hatte er von dem Parder ein wenig mit hinübergerettet – im nächsten Augenblick stand er vor dem riesenhaften schwarzen Tor.

Anstatt den eisernen Klopfer gegen die Stahlplatte krachen zu lassen, hob sich Rabov auf seine Zehenspitzen und brachte seinen Mund nah an die Torwächterluke, die allerdings verrammelt war. »Lasse Duban!«, rief er mit gedämpfter Stimme. »Lasse Duban!«

Nur einen halben Herzschlag später ging der kleine Holzladen im rechten Torflügel auf. Dahinter erschien das wohlbekannte Gesicht des jungen Archäologiestudenten – noch immer hohlwangig und bleich, aber dem Hungertod offenbar nicht mehr ganz so nah wie beim letzten Mal.

Anscheinend erkannte Lasse Duban, wen er vor sich hatte – sein Lächeln wirkte freudig und gleichzeitig besorgt. »Sie, Herr«, begrüßte er Rabov, »ich darf Sie nicht einlassen, der Herr Direktor hat mich gerade erst unlängst wieder ermahnt.«

Rabov lächelte zurück. »Öffne das Tor, Lasse Duban«, sagte er, »und zu niemandem ein Wort. Über deinen Lohn wirst du noch weniger als bisher zu klagen haben: Ich gebe dir alles, was ich an Münzen bei mir habe – und wenn ich zurückgekehrt bin, werde ich dich überall rühmen, weil du mir beigestanden hast.«

Lasse Duban sah ihn unschlüssig an. »Zurückgekehrt, Herr – von wo?«

»Das wirst du gleich sehen – aber jetzt spute dich!« Er wühlte in seinen Hosentaschen herum und brachte eine Handvoll Goldmünzen zum Vorschein.

Der Student leckte sich die Lippen. Seine letzte Mahlzeit schien schon wieder einige Zeit zurückzuliegen und die Aussicht auf Töpfe voll dampfendem Ammerfleisch verlieh ihm Flügel. Im Nu hatte er das Tor aufgeriegelt und kurz darauf folgte Rabov ihm bereits durch die riesenhafte Säulenhalle, die glücklicherweise gänzlich verlassen dalag. »Der Herr Direktor und der größte Teil der Studenten befinden sich auf einer Exkursion in den Sümpfen«, erklärte Lasse Duban. »Aber mit wem wollen Sie denn eigentlich heute sprechen, Herr?«

»Geredet habe ich genug.« Rabov legte ihm eine Hand auf die knochige Schulter und dirigierte ihn zu der Mauernische unter der Wendeltreppe, die er letzte Woche mit Port Sola erklommen hatte. »Jetzt will ich tauchen gehen«, fuhr er fort, »bis zum Grund des Ozeans hinab. Und du sollst Wache halten, bis ich in See gestochen bin – nur für alle Fälle, verstehst du?«

Lasse Duban riss die Augen auf und kratzte sich den Kopf unter den schwarzen Locken. »Nein, Herr«, sagte er.

»Das kommt schon noch«, tröstete ihn Rabov. »Kannst du mit einer Armbrust schießen?«

Der Student bejahte zögernd. »Ich komme aus dem Nibratal, da lernt jeder Junge auf Sumpfwild zu schießen.«

»Du bist aus dem Nibratal?«, wiederholte Rabov. »Das ist gut, das ist sehr gut!« Ohne sich mit irgendwelchen weiteren Erklärungen aufzuhalten, stopfte er Lasse Duban sämtliche Münzen links und rechts in die Taschen seines lumpigen Umhangs. Dann nahm er den Studenten bei der Hand, versetzte sich in Agosch-Trance und glitt mit ihm in die Membran hinüber.

»Falls das Telefon gongt – geh auf keinen Fall dran«, wies er den Studenten an, der sich mit großen Augen umsah. »Such dir schon mal eine Armbrust aus«, fuhr er fort und riss sich dabei mit rücksichtslosem Ritsch und Ratsch die Kleidungsstücke herunter. »Na, mach schon!«, fuhr er den Burschen an, denn Lasse Duban stand einfach nur da und man konnte förmlich dabei zusehen, wie die Angst in ihm hochkroch.

»Und – und Sie, Herr?«, fragte er.

»Ich ziehe jetzt einen solchen Anzug hier an, siehst du? Der stammt aus der Zeit der Großen Flut – genauso wie das eigentümliche Ei, in dem wir uns gerade befinden.« Geschickt wand er sich in den Schutzanzug hinein, der ihn wie eine zweite, glänzend schwarze Haut umschloss. Er verschnürte die Stiefel und gerade als er damit fertig geworden war, begann das Telefon zu gongen. Lasse Duban zuckte zusammen.

»Was hältst du von dieser Armbrust?«, fragte Rabov. Er nahm mehr oder weniger wahllos eine der ölig schimmernden Waffen aus dem Schrank und drückte sie dem Studenten gegen die Brust. Das kalte Metall in seinen Händen schien ihn ein wenig zu beleben – Lasse trat nun auch seinerseits zu der Waffensammlung und wählte einen Köcher aus, der eine Sammlung metallisch glänzender Pfeile von furchterregender Länge und Dicke enthielt.

Das Telefon gongte unablässig weiter. Bevor der Student doch noch auf dumme Gedanken kommen konnte, fasste Rabov ihn abermals bei der Hand und zog ihn zu der Stelle, wo im Boden des Donnertropfens eine Sichel abgebildet war.

»Einen Augenblick noch, Herr.« Mit geübten Bewegungen spannte Lasse Duban die Armbrust und legte einen Pfeil ein.

Dann zog Rabov ihn mit sich in die subphoräische Anlage hinab.

Sie fanden sich vor einer Eisentür wieder und ohne auch nur einen Augenblick lang zu zögern, drückte Rabov die Klinke herunter. Hinter der Tür kam eine Treppe mit rostigen Stahlgitterstufen zum Vorschein. Es roch nach nassem Stein, nach Salzwasser und Eisen. Rabov trat auf die oberste Stufe hinaus und die Stahlbeschläge seiner Stiefel erzeugten ein schepperndes Geräusch. Unter ihm zog sich die Balustrade an der nassen Felswand entlang, mit den Gaslampen in unregelmäßigen Abständen darunter. Es war alles noch da und es sah alles genauso aus, wie bereits Lidor es vor mehr als siebenhundert Jahren vorgefunden hatte, nur eben reichlich verrostet und verwahrlost.

Außerdem lag der Wasserspiegel natürlich um einiges tiefer, als Lidor und der Palastkommandeur ihn zu Zeiten der Großen Flut vorgefunden hatten. Für einen Moment wurde Rabov nun doch noch einmal Angst und Bange. Er beugte sich über das Geländer der Balustrade: Bis zur Wasseroberfläche mussten es mindestens fünfzig Meter sein. Wenn er von hier oben aus mit einem Kopfsprung sein lebendes Unterseeschiff entern würde, würde das ihnen beiden höchstwahrscheinlich schlecht bekommen.

Aber das würde er selbstverständlich nicht machen. Von dieser obersten Galerie führte eine Treppe zur nächsttieferen Balustrade und so immer weiter bis zur untersten Galerie, die lediglich ein paar Meter über dem Meer gelegen war. Von dort aus würde er seine Reise beginnen.

»Hören Sie das, Herr?« Lasse Duban deutete mit der Spitze des eingelegten Pfeils in Richtung Eisentür. Tatsächlich waren undeutliche Geräusche von dort zu hören – ein Trappeln wie von Schritten, dazu ein Durcheinander von Stimmen.

Doch gleichzeitig hörte Rabov noch eine ganz andere Art von Geräuschen, ein langgezogenes Grunzen und Keuchen und Stöhnen, in ansteigender Tonfolge von der Tiefe des Meeres her. Die Seekreatur war auf dem Weg zu ihm herauf.

»Verteidige diesen Zugang.« Rabov schlängelte seine Finger tiefer in die Handschuhe hinein. »Nur so lange, bis ich mein Schiff bestiegen habe. Dann lässt du die Waffe fallen und ergibst dich.«

Lasse Duban hatte sich kurz über das Geländer gebeugt. Er richtete sich wieder auf und sah Rabov mit geweiteten Augen an. »Ihr Schiff, Herr?«

Rabov nickte ihm zu. »Alles Gute, Lasse. Sage den Polizisten einfach, dass ich dich gezwungen hätte, mir zu helfen. Sie werden dir glauben, denn sie wurden ausgeschickt, den Verräter zu ergreifen, der an Dunibiens Untergang schuld ist.«

Er klopfte dem Studenten zum Abschied auf die knochenspitze Schulter und lief gleich darauf zur nächsten Galerie hinab, so leise wie irgend möglich, um die Seekreatur nicht mit Stiefelgeklapper zu vertreiben.

»Aber Sie sind doch kein Verräter, Herr?«, rief ihm Lasse Duban hinterher.

Rabov lief und lief, bis er auf der untersten Balustrade angekommen war. Außer Atem lehnte er sich mit dem Rücken gegen das Geländer und sah zu dem Studenten hinauf. »Nein, ich glaube nicht«, rief er zurück, »auf jeden Fall hatte ich nie etwas anderes im Sinn, als Dunibien zu dienen.«

Er wandte sich um und sprang mit einem wagemutigen Satz auf das Geländer der Galerie. Es war glitschig feucht wie alles hier unten, die Felswand hinter ihm und jede einzelne Gitterstrebe in den Treppenstufen und der Balustrade. Nur ein paar Meter unter ihm brach gerade eben die Seekreatur durch den Wasserspiegel, ein ungeheurer, unförmiger grauer Leib, mit hunderttausend Silbersicheln gepanzert. Die gewaltig großen Augen, schwarz wie erloschene Monde, sahen starr zu ihm empor, und aus der Nackenblase stieg eine schüttere Fontäne auf, der letzte Überrest der Wassermassen, mit denen das Seewesen seine Auftriebskräfte regulierte.

Von hier oben sah es kolossal groß aus, es füllte mehr als die Hälfte des Wasserbeckens. Doch umso winziger kam Rabov das Austrittsloch oben in der Nackenblase vor, durch das mittlerweile bloß noch ein dünner Gischtstrahl emporflog.

Alles, was wirklich wichtig ist, wird am besten mit einem Kopfsprung erledigt, sagte sich Rabov. Er würde mit seinem lebenden Tauchboot zum Grund des subphoräischen Meeres hinabfahren und obwohl er eigentlich keine Ahnung hatte, was ihn dort unten erwartete, spürte er mit unerschütterlicher Gewissheit, dass er die einzig richtige Entscheidung getroffen hatte. Er war ausersehen, um zu der erdumgürtenden Urschlange in ihrem Felsspalt am Boden des Ozeans hinabzutauchen und auf diese Weise Dunibien vor dem Untergang zu bewahren, und das konnte einzig und allein bedeuten, dass er als mächtiger Magier nach Phora zurückkehren würde – mit so viel hochgradiger Lakori ausgestattet, dass er Axoras bezwingen und Liki befreien und Zoran retten und Radschi Varusa dazu bringen konnte, sich mitsamt seiner Schlangengottheit nach Bakus zurückzuziehen. Jedenfalls legte sich Rabov das alles so zurecht und für ausschweifendes Grübeln war dies sowieso der allerungünstigste Zeitpunkt.

Von der obersten Galerie schallten aufgeregte Rufe zu ihm herunter, mit stählernem Sirren schnellte ein Pfeil von der Sehne und gerade in diesem Moment drückte Rabov seine Beine durch, beugte seinen Oberkörper nach vorn und sprang. Wie so häufig kamen ihm seine Gliedmaßen in die Quere – seine Arme hingen unter ihm herab, anstatt seinen Kopf zu flankieren, und seine Unterschenkel hatte er froschhaft angewinkelt, anstatt sie auszustrecken. Beinahe wäre er im Flug hintenübergekippt und mit seinem Rücken auf dem gepanzerten Leib des Ungeheuers aufgeschlagen, doch im allerletzten Moment korrigierte er seinen Fehler.

Rabov streckte Beine und Arme aus und tauchte pfeilgerade in die Nackenblase ein. Triumphale Trompetentöne hießen ihn willkommen und ihre absteigende Klangfolge kündigte an, dass die Tauchpartie im nächsten Augenblick beginnen würde.

Er spaziert mit seiner Liebsten am Nibra-Ufer entlang. Im Schatten einer üppig blühenden Syrasse bleibt sie stehen und schlingt ihre Arme um seinen Nacken und zieht seinen Kopf zu sich hinab. Mit einem Lächeln hebt sie ihm ihre Lippen entgegen und er küsst sie und weiß, dass er niemals mehr jenen Schmerz in seinem Nacken verspüren wird, nicht im Traum und nicht in Wirklichkeit.

»Endlich, Sam«, sagt Odea, »endlich bist du heimgekehrt.«