Drei
Mit einem tiefen Seufzer schaute Susanne Braun auf die Uhr. Dann schlug sie den vor ihr liegenden Ordner zu. "Halb sechs! Jetzt hab ich die Faxen dicke!“
Heinz Hellwein blinzelte vom gegenüberliegenden Schreibtisch herüber. Um sich herum hatte er sein übliches Chaos ausgebreitet. Die drei Ablagekörbe auf der zerkratzten Schreibtischplatte quollen über, drum herum stapelten sich die grünen und roten Aktendeckel der Staatsanwaltschaft, und der Computerbildschirm war bedeckt mit Dutzenden winzig kleiner Notizzettel. Mehrere aufgeschlagene Ordner lagen auf dem grauen Linoleumboden, dazwischen Briefe, Tatortfotos und zwei Polizeihandbücher.
„Wochenende, Chef?“, fragte der Oberkommissar hoffnungsvoll und rollte mit seinem Stuhl rückwärts. Knisternd fuhr er über ein Rundschreiben des Bundeskriminalamts.
„Worauf du einen lassen kannst!“, schnaubte Susanne. Wochenende! Sie konnte sich dunkel erinnern, wie man dieses Wort schrieb. Wie es sich anfühlte, frei zu haben, ausgeschlafen zu sein und zu tun, was einem gerade so in den Sinn kam, wusste sie nicht mehr. Dafür war in den letzten Monaten zu viel passiert in dieser verdammten Stadt. Messerstechereien in der Türsteherszene, ein ermordeter Taxifahrer, eine missbrauchte und erdrosselte Siebzehnjährige und zuletzt dieser Raubmord in Godorf. Den konnten sie zwar mit Hilfe einer aufmerksamen Zeugin schnell aufklären, aber jetzt fochten sie den ewigen Kampf mit dem Papier aus. Ermittlungsunterlagen komplettieren, Berichte schreiben, die Beweislage so hieb-und stichfest machen, dass der Staatsanwalt damit vor Gericht bestehen konnte.
Resigniert schaute die Hauptkommissarin auf die Aktenberge, die sich vor ihr stapelten und dann auf den überdimensionalen Stadtplan an der gegenüberliegenden Wand, als könnte der ihr sagen, wie sie das alles bewältigen sollte. Sie forschte unter einem meterlangen Fax, das sich über ihren Schreibtisch schlängelte, nach ihren Zigaretten und sagte gedankenverloren: „Es gibt zu viele Kunden in dieser Stadt, Heinz.“
„Kunde“ war im Jargon des Dezernats für Todesermittlungen der etwas makabre Ausdruck für Menschen, die auf gewaltsame Weise ihr Leben gelassen hatten.
„Statistisch gesehen nicht mehr als in jeder anderen Großstadt“, gab Hellwein zu bedenken. „Letztes Jahr hatten wir elf Morde und dreiundzwanzig Mal Totschlag. Elf Tote mehr als im Jahr davor, zugegeben. Gemessen an der Bevölkerungszahl aber immer noch guter Durchschnitt.“
Hellwein, der im ganzen Haus nur als „Statistik-Heinz“ bekannt war, weil er sämtliche Zahlenreihen, die auf seinen Tisch flatterten, im Kopf behielt, versuchte, sich seine plötzliche Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. Er arbeitete jetzt seit fünf Jahren mit Susanne zusammen. Er mochte sie, und er mochte seinen Job. Was er nicht mochte, war Resignation. Sie war unproduktiv und führte zu nichts. Aber gelegentlich fragte er sich, ob er auch dazu neigen würde, wenn er erst mal so lange dabei wäre wie die Kommissarin.
„Und warum komme ich mir dann manchmal vor wie dieser alte Grieche mit dem Stein?“, unterbrach sie seine Gedanken und sah ihn über den Rand ihrer Lesebrille hinweg an. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass sein dunkles Haar an den Schläfen grau wurde und sich zur Mitte des Schädels hin lichtete.
„Sisyphus? — Da würd´ ich eher auf Personalmangel tippen.“
Seine Vorgesetzte warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Die angespannte Personalsituation war ein Punkt, der sie immer wieder grimmig stimmte. Alle Augenblicke erhöhten sich die Abgeordneten selbst die Diäten oder Pensionszuschüsse, aber das Geld, mehr Polizisten einzustellen, war nicht da. Sie mochte gar nicht daran denken, wie viele Ermittlungen sich dadurch gefährlich lange hinschleppten. Bei dem ermordeten Taxifahrer zum Beispiel, waren die entscheidenden Hinweise aus der Bevölkerung schon ganz am Anfang eingegangen. Sie hatten nur keine Beamten, die sich darum kümmern konnten. Und so war der Täter — ein Mensch mit hohem Gewaltpotential — noch drei Monate frei herumgelaufen.
Entschlossen stand Hellwein auf und machte einen großen Schritt über die Ordner am Boden. Aufräumen konnte er auch Montag noch. „Komm, lass uns hier verschwinden“, sagte er und schnappte sich sein Sakko vom Garderobenständer.
„Bevor einer auf die Idee kommt, zum Wochenende einem anderen den Schädel einzuschlagen, meinst du?“ Susanne nahm die Brille ab, steckte sich achtlos in die linke Tasche ihres zerknitterten Blazers und kramte in der rechten nach den Autoschlüsseln. „Nichts wie raus hier!“
„Wann fährst du?“, fragte Hellwein auf dem Weg nach unten. Seine Stimme hallte in dem weitläufigen Treppenhaus wider.
„Morgen früh“, gab Susanne so strahlend zurück, als hätte sie einen vierwöchigen Urlaub in der Karibik vor sich. Dabei wollte sie nur nach Unna, zu ihrem Bruder. Monatelang aufgeschoben und nun endlich in Angriff genommen. Bis Sonntagabend so etwas wie Familie genießen. Einen quirligen Haufen von sechs Kindern, von denen die zwei ältesten ihre Patenkinder waren.
Mein Gott, sechs!, überlegte Susanne auf der Heimfahrt. Und es würde sie nicht wundern, wenn ihre Schwägerin morgen verkündete, das siebte sei im Anmarsch. Für sich selbst hatte sie sich nie Kinder vorstellen können. Ihr Job war aufreibend, geprägt von Überstunden und Nachtarbeit. Wie hätte das mit Kindern funktionieren sollen? Und ihren Beruf, den sie gleichzeitig liebte und hasste, aufzugeben, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Obwohl — wenn Peter noch lebte, wenn sie mehr Zeit miteinander gehabt hätten …
Susanne fuhr sich müde mit der Hand über die Stirn und würgte die Überlegung ab. Wie immer, wenn Peter Braun es wagte, sich in ihre Gedanken zu schleichen.