Ein Probe: Die Längste Nacht...
von Colleen Gleason schreibt als Joss Ware....
Dunkelheit brach über sie herein.
Die Gruppe junger Leute merkte es erst, als die Sonne plötzlich hinter dem zerklüfteten Horizont verschwand und nur noch ein grauer Hauch ihre starren Gesichter beleuchtete. Langsam verstummte ihr Gelächter und ihre Gespräche, und sie schauten sich still und unsicher um.
Ihr Auto stand, wo sie es zurückgelassen hatten, etwa eine halbe Meile weit entfernt. Das dumme Ding war schon vor zwei Stunden ausgegangen und wollte nicht mehr starten. Angetrieben durch den Mut und Optimismus ihrer Jugend, und nicht zuletzt durch die fieberhafte Energie des verbotenen Kristallpulvers, hatten sie beschlossen zu Fuß zum Treffpunkt weiter zu gehen. Sie hatten dabei gar nicht bemerkt, dass die Sonne unterging. Als sie aus ihrem kaputten Kombi gestiegen waren, schien noch alles möglich zu sein.
Aber jetzt ...
Die Gebäude − vermoderte, mit Moos überwachsene Ruinen, die bei Tageslicht vielleicht noch Obdach hätten bieten können, ragten jetzt bedrohlich über ihnen. Sie sahen unheimlich aus mit ihren schiefen, herausragenden Balken und den Baumwurzeln und Schlingpflanzen, die sie überwucherten. Wo einst Straßen waren, wuchsen jetzt riesige Bäume, und nah am Boden hörte man Pfoten im Laub rascheln und sah Tieraugen glitzern.
Auch ohne den Einfluss von Kristallpulver wäre ihnen dieser Ort düster und unheimlich erschienen… aber das körnige, bewusstseinsverändernde Pulver verstärkte diesen Eindruck noch.
Verbeulte und verrostete Fahrzeuge ohne Fenster, mit Sitzpolstern aus grünem Moos, säumten die Straße und erschienen im Dunkeln viel größer und furchterregender, als sie eigentlich waren. Nicht eines dieser alten Autos unter den verbogenen Schildern und Parkuhren war in den letzten paar Jahrzehnten angelassen worden oder konnte ihnen in irgendeiner Weise hilfreich sein.
Was einst ein zehn-oder zwanzigstöckiges Gebäude war, hatte sich in einen bedrohlichen Berg aus Ziegeln und Balken, zerbrochenem Glas und Metall verwandelt; und eine dichte Schicht von Flechten und Moos bedeckte das so entstandene, unnatürliche Gelände. Ehemals glatte, gepflegte Wege und breite Straßen zerfielen unter ihren Füßen, so dass jeder Schritt in der Dunkelheit furchterregend wirkte.
Sie hatten diese Welt niemals so erlebt, wie sie einst gewesen war: Mit großen, glitzernden Gebäuden, so hell erleuchtet, dass die Nächte nicht mehr Geheimnisse hatten, als die Tage, mit Menschenscharen, Autos und Lärm; geschäftig; glatt und hart und im Überfluss.
»Sind wir bald da, Geoff?«, fragte eines der Mädchen. Die Wirkung des Pulvers hatte mehr und mehr nachgelassen, als ihnen die Realität ihrer Situation langsam klar wurde. Was hatten sie getan?
Seit ihrer Kindheit hatte man sie gewarnt: Die Sonne könne innerhalb eines Augenblicks untergehen, und ihr bisschen Licht und Wärme mit sich nehmen.
Und furchterregende Dinge freisetzen.
»Es kann nicht mehr weit sein«, sagte er aufmunternd und verschwieg dabei, dass er die Landkarte im Kombi gelassen hatte. Aber er kannte den Weg ohnehin gut genug. »Außerdem wird Nurmikko da sein. Er wartet auf uns und wird uns nach Hemps Point bringen.« In die Sicherheit, in die Freiheit ... und zu mehr Pulver.
Deshalb waren sie doch gekommen.
Linda, eine der Jugendlichen, schrie plötzlich auf, als sie ein orangefarbenes Glitzern entdeckte. Es blitzte um eine zerbrochene, überwachsene Mauer herum, bevor sein anderes Auge in Sicht kam. Ein zweites Paar orangefarbener Augen kam dazu… und noch eins, und noch eins. Sie kamen aus den Schatten, aus dem Untergrund, wo sie im Dunkeln hausten. Sie bewegten sich von allen Seiten auf die Straße, als hätte die untergehende Sonne sie freigesetzt.
Langsam und stetig kamen sie näher. Viel größer als ein Mann, und mit massiven Beinen und muskulösen Armen. Graue Haut, straff und kalkweiß im Mondlicht, orange Augen, und dort, wo eine Nase hätte sein sollen, ein schwarzes Loch. Aufgerissene Mäuler und mächtige, krallenartige Hände bewegten sich, wie in einer grauenhaften Parodie auf die Menschen zu, die sie einmal gewesen waren. Die Ganga.
Vor Angst wie gelähmt kauerten sich die Jugendlichen zusammen. Die letzten Reste ihrer aufgeputschten Stimmung waren längst verebbt, und sie froren und fürchteten sich. Sie drückten sich gegen ein großes Fahrzeug, dessen Dach zu einem V zerquetscht worden war, und unter dessen Haube Gräser sprossen.
Eine der Kreaturen knurrte ruuuth ... ruuuth.
Geoff riss sich zusammen, bückte sich und suchte blind nach einem Stein oder einem anderen Gegenstand, der sich zum Werfen eignete. Einen kräftigen Stein in der Hand erhob er sich und warf ihn auf die nächstbeste Kreatur. Im gleichen Moment schubste er seine Freunde nach vorne. »Los!«, schrie er. Sein Kopf dröhnte.
Der Stein prallte gegen die Brust einer der Kreaturen, aber es schien keine Wirkung zu haben.
Die Kreaturen waren mittlerweile so nah, dass ihr fauliger Geruch die Luft erfüllte. Die jungen Leute starrten auf die riesigen Hände, die nach ihnen griffen. In ihrer Hast ihnen zu entgehen, stolperten sie übereinander.
Benji schrie und taumelte weg, während sie mit weit aufgerissenen Augen zurückstarrte und ihre Hand ausgestreckt hielt, als wolle sie die Kreatur abwehren. Marcus nahm einen Stein und schmiss ihn auf eines der Monster. Er traf es an der Schulter, aber es knurrte lediglich lauter und stürzte sich auf seinen Angreifer.
Die Kreaturen schwärmten weiter aus; Zac fiel hin und wurde von zwei knochigen Händen gepackt, die so groß wie Teller waren. Geoff sah mit Entsetzen, wie sein Freund von Zähnen und Händen zerrissen wurde, wie in einer grausigen Parodie auf alte Horrorfilme. Nur war es keine Parodie. Der scharfe Blutgeruch und der dumpfe Gestank freigelegter menschlicher Eingeweide durchdrangen die Nachtluft, und Geoff wurde speiübel.
Als Nächstes fiel Benji einer der Kreaturen zum Opfer, aber statt sie mit ihren Klauen und Zähnen zu zerreißen, warf sie das blonde Mädchen wie eine Stoffpuppe über ihre Schulter. Sie schrie und hämmerte auf ihr graues, kaltes Fleisch, das nur spärlich mit zerlumpter Kleidung bedeckt war. Vor Angst erstickten ihre Schreie, als die Kreatur wie ein Frankensteinmonster von einst mit ihr losstapfte. Entsetzt griff Geoff einen neuen Stein aus den Trümmern und warf ihn, während mehr und mehr Kreaturen auf ihn zustürmten.
Und dann hörten sie einen Schrei begleitet von trommelnden Hufen, als plötzlich ein wilder Mustang auf sie zu galoppierte. Eine Frau klammerte sich an der Mähne des Pferdes fest. Sie ritt ohne Sattel, und ihr langes Haar flatterte hinter ihr her, als das durchgehende Pferd mit ihr mitten zwischen die Monster rannte, so dass sie wild auseinander stoben.
»Lauft weg!«, schrie sie und, obwohl es dunkel war, erkannte Geoff sie wieder. Sie riss ihr Pferd herum und ritt zurück, mitten in die Gruppe der orangeäugigen Kreaturen, die erneut vordrangen.
Eine von ihnen griff nach ihr, und sie musste wohl ihr Pferd angetrieben haben, denn es bäumte sich auf und traf die Kreatur mit einem seiner Hufe voll im Gesicht. Aber die Untoten stürmten zurück und drängten auf sie zu, unerbittlich und stark. »Lauft weg, verdammt noch mal!«, rief sie nochmals, als die fassungslosen Jugendlichen sich immer noch nicht in Bewegung gesetzt hatten.
Plötzlich rief eine Männerstimme: »Hierher! Schnell!»
Geoff schaute sich um, deutete in die Dunkelheit und stolperte der körperlosen Stimme nach − die aus einer ganz anderen Richtung als die Reiterin gekommen war. Die anderen folgten so schnell sie konnten.
Benji schrie und kämpfte währenddessen gegen ihren Entführer. Aber ihre Freunde konnten nichts für sie tun, als sie von einer der Kreaturen in die entgegengesetzte Richtung geschleppt wurde, und auch der Reiterin konnten sie nicht helfen, als die Kreaturen weiter auf ihr Pferd zukamen.
Und dann schoss aus der Richtung der Stimme, etwas aus der Dunkelheit. Etwas das glühte und einen Lichtstreifen in der Luft hinterließ. Es landete genau zwischen den Nachzüglern und den Kreaturen und explodierte mit einer solchen Gewalt, dass der hinterste Mann vornüber fiel. Das Pferd bäumte sich verschreckt auf und wieherte, aber die Frau hielt sich sicher auf seinem Rücken, als rundherum Flammen aufblitzten.
Durch die Explosion stürzten einige der Kreaturen wie eine Steinlawine zusammen. Ihre versengte Kleidung und ihre Haut brannten; die Flammen tanzten gespenstisch in der Dunkelheit. Mit einem Sprung rettete sich der Mustang aus dem Feuerkreis, gerade als ein weiterer Lichtstreifen durch die Luft schoss und mit tödlicher Gewalt mitten in die zweite Welle der Angreifer krachte.
Die Schreie des entführten Mädchens hallten durch die Nacht, gerade als eine dritte Rakete losging und mit einem Krach abstürzte. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Gruppe der Menschen schon längst aus Sichtweite gebracht, und man hörte nur noch das Knurren der Monster in der Dunkelheit.
Ruuuth ... ruuuth.
***
»Verdammt, die ist ihnen gefolgt«, sagte Elliott Drake, und sprang über eine niedrige Mauer, um sich zwei seiner vier Begleiter anzuschließen. Die anderen verfolgten den Entführer und die Frau zu Fuß.
»Wo zum Teufel kam sie her?«, fragte sein Freund Quent und blickte durch ein Efeu-verhangenes Fenster, das schon vor langer Zeit sein Glas verloren hatte.
»Keine Ahnung. Aber, mein Gott, sie ritt wie eine verdammte Rodeo Queen.« Elliott schaute in die Richtung, in die sie verschwunden war, mit ihrem langen, flatternden Haar, und ihrem Körper dicht über den Hals des Mustangs gebeugt. Die Reiterin war in der Dunkelheit verschwunden wie eine namenlose, gesichtslose Heldin. Allerdings hatte er im Mondlicht noch kurz einen Blick auf ein Stückchen Haut erhascht, dort wo das Hemd aus ihrer Jeans gerutscht war.
Der Rest der zombieähnlichen Gangas hatte sich auch in die Nacht zurückgezogen. Die sechs Jugendlichen, die ihnen beinahe zum Opfer gefallen wären, hockten zitternd beisammen. Als Elliott kein weiteres Zeichen von Bewegung sah, wandte er sich vom Fenster im zweiten Stock des dunklen, verwahrlosten Gebäudes ab und machte sich auf den Weg zu den verängstigten Jugendlichen. Niemand schien verletzt zu sein, obwohl sie zweifellos einen Mordsschrecken davon getragen hatten.
Eigentlich wollte er ihnen eine Standpauke halten; warum zum Teufel sie nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen waren, ohne jeglichen Schutz − und ohne Sinn und Verstand − aber Elliott lächelte sie lediglich mit dem gleichen beruhigenden Lächeln an, das er sonst als Arzt oft einsetzte. Arme Kinder. Egal welche Fehler sie mit ihrer Nachtwanderung gemacht hatten, sie hatten ihre Lektion gelernt: einer ihrer Gefährten war bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden, während ein anderer weggeschleppt wurde.
Und wenn Elliott und seine Mitstreiter − zusammen mit dem überraschenden Eintreffen von ‚Annie Oakley' − nicht eingegriffen hätten, wäre es noch viel schlimmer gekommen.
Er hatte die Überreste von Gangaangriffen bereits früher gesehen, und es war kein schöner Anblick
»Ist niemand verletzt?«, fragte er die Jugendlichen in seinem beruhigenden und lockeren Ton. Ihre Augen waren weit aufgerissen vor Schreck, aber er stellte schnell fest, dass sie alle sechs aufrecht standen, dass es keine Anzeichen von Blut gab und niemand verletzt zu sein schien. Eindeutig ein gutes Zeichen.
Als er näher kam, schienen sie sich noch dichter zusammenzudrängen. Darum blieb er stehen und erhob die Hände in einer einladenden Geste. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Elliott und sah dabei das Mädchen an, das etwas gefasster als ihre unglücklichen Begleiter aussah. So wie schon unzählige Male auf der Unfallstation − Gott, eine Ewigkeit her − ließ er seine Stimme absichtlich tief und ruhig klingen. Trotzdem verlieh er ihr genug Autorität, um den Schock des Mädchens zu durchdringen.
Sie schaute ihn mit großen, dunklen Augen an, und nickte mit einem Schluckauf. Für einen Moment erinnerte ihn ihr junges, tränenüberströmtes Gesicht an seine Lieblingsnichte, Josie, mit ihren hübschen, runden Wangen. Ein Gefühl der Trauer schnürte ihm plötzlich die Kehle zu. Alle waren längst tot. Alles war zunichte.
Seine Familie, seine Arbeit, seine Hoffnungen, seine Träume.
Ach, und der Rest der verdammten Welt dazu. Er hatte nichts weiter als diesen bunten Haufen Männer, die er Freunde nannte.
Er schluckte und verdrängte die Welle von Zweifeln, die ihn gelegentlich überkam. »Ist einer von euch verletzt?«, fragte er wieder und sah sie an, und blickte dann in die Augen der anderen, der Reihe nach. Sie schüttelten den Kopf und er merkte erleichtert, dass ihre Gesichter langsam etwas weniger verschreckt aussahen. »Ist euch kalt? Seid ihr hungrig? Durstig?«
Natürlich waren sie hungrig. Sie waren Jugendliche. Es mochte kein YouTube mehr geben, keine Handys, Rockkonzerte oder Einkaufszentren, aber manche Dinge änderten sich halt nie.
Elliott zog getrocknetes Hirschfleisch und Äpfel aus seinem Rucksack, sowie ein paar Flaschen Wasser. Beim Anblick des Essens schien sich ihre Angst und ihr Misstrauen etwas zu legen.
Der Größte in der Gruppe, derjenige, der Verstand genug gezeigt hatte, einen Stein aufzuheben und ihn auf die Gangas zu werfen, ergriff schließlich das Wort. »Also, wer sind Sie? Und wo kommen Sie her?«
Wer sind Sie? Verdammt gute Frage.
Wo kommen Sie her? Eine noch bessere Frage.
Elliott hatte sich das die letzten sechs Monate selbst gefragt − seit er und seine Freunde aus einer Höhle in Sedona geklettert waren, nur um die Welt radikal verändert vorzufinden ... und es waren fünfzig Jahre vergangen.
Es war immer noch schwer zu begreifen.
Er rieb sich die Stirn und strich sich eine Haarsträhne aus seinen Augen. Sein Haar hatte immer noch die gleiche Länge wie vor fünfzig Jahren und sechs Monaten, als er, Quent und Wyatt fürs Wochenende auf eine Höhlenforschungsfahrt gegangen waren. Ein einheimischer Führer mit dem Spitznamen Fence und sein Kollege hatten sie geführt.
Elliott hatte Quent und Wyatt im Jahr 2004, kurz nach Beendigung seines Medizinstudiums kennengelernt, als er auf einer humanitären Mission auf Haiti war. Beide waren Elliotts Team zugewiesen worden: Wyatt, ein Rettungssanitäter bei der Feuerwehr, der auch in der Nationalgarde in Colorado gedient hatte, und Quent, ein gelangweilter und reicher Playboy, der es darauf angelegt hatte, sich ständig dem Willen seiner Eltern zu widersetzen.
Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft wurden sie gute Freunde und fühlten sich besonders durch die Umstände, die ihr Leben verändert hatten, verbunden. Ihre Aufgabe, nach dem Hurrikan Jeanne den Menschen in dem verarmten, zerstörten Inselstaat zu helfen, war so eine lebensverändernde Erfahrung. Wegen der Schrecken, die sie gesehen hatten, und der Menschen in Haiti, denen sie helfen konnten, war ihre Bindung stark, und sie blieben über Jahre hinaus eng befreundet.
Die Reise nach Sedona, Arizona, war nur eines der vielen Abenteuer, das die drei seither unternommen hatten. Quent, der als Erbe der Firma Brummell über unbegrenzte Mittel verfügte und eine Indiana-Jones-artige Faszination für Antiquitäten und Schätze hatte, organisierte normalerweise ihre Reisen. Er begründete sie meistens mit einer seiner absonderlichen Theorien über den Standort eines verlorenen Kunstgegenstandes. Elliott und Wyatt waren mehr als begeistert, ihn zu begleiten, weil diese Ausflüge immer spannend und exotisch waren ... und gefährlich.
Die Reise nach Sedona sollte eigentlich ihr kürzestes und langweiligstes Abenteuer sein…aber es entwickelte sich total anders und es wurde das längste.
Fünfzig lange Jahre.
»Ich bin Elliott Drake«, sagte er schließlich zu den Jugendlichen. »Das ist mein Freund Wyatt da drüben, der mit den dunklen Haaren. Und Quent ist der Blonde mit dem Halstuch. Unsere anderen beiden Freunde sind dem Ganga gefolgt, das eure Freundin entführt hat.«
Das war der einfache Teil. Aber zu erklären, was sie hier machten, das war nicht so einfach. Dass sie dabei gewesen waren eine Höhle zu erforschen, als das totale Chaos ausbrach. Die Erde hatte gebebt und sich gespalten, Felsen und Steine waren auf sie hinunter gerollt, es gab merkwürdige Gerüche und Geräusche, scharfe, zischende Schläge ... und dann war alles dunkel geworden.
Und ein halbes Jahrhundert später waren sie, die drei Freunde und die zwei Führer, die sie tief in die Höhlen geführt hatten, erwacht. Unversehrt und unverändert.
Naja, nicht völlig unverändert.
Sie hatten − zusammen mit ihrem Führer, Fence, seinem Kollegen Lenny, und einem sechsten Mann, Simon, den sie in den Höhlen gefunden hatten − die letzten sechs Monate in einer Mischung aus Ungläubigkeit, Wut und Trauer verbracht und hatten versucht zu verstehen, was passiert war. »Wie heißt du?«, fragte Elliott den Jungen, der gesprochen hatte.
»Geoff.«
»Weißt du, wo die sie hingebracht haben, Geoff? Die Ganga?« Es war sicher eine vergebliche Frage. In den letzten sechs Monaten hatte keiner der wenigen Leute, die sie getroffen hatten, etwas über die Gangas gewusst ... außer dass man sie meiden sollte, wenn sie nachts erschienen.
Geoff zuckte bedrückt mit den Schultern und rieb sich den Arm. »Ich weiß es nicht. Werden sie sie finden?«
»Sie werden es versuchen.« Elliott sah hinüber zu Quent, der durch eines der Fenster spähte. Das verschmutzte Glas hatte Sprünge und Schimmelflecken und war fast undurchsichtig. Aber er kratzte etwas vom Dreck ab und sah hinunter auf das, was früher einmal eine Allee oder Hauptverkehrsstraße gewesen war.
»Siehst du was?«, frage Elliott und fühlte plötzlich, wie ihn eine Welle von Erschöpfung überkam, die er nicht mehr abschütteln konnte. Das passierte halt, wenn man sechs Monate lang kaum schlief ... und wenn man einnickte und dann verschwitzt und außer Atem von seinen Alpträumen erwachte.
»Nichts. Es ist alles ruhig.« Quent veränderte seine Haltung, so dass er senkrecht nach unten sehen konnte. »Nichts außer ein paar Ratten.«
In einem andern Leben, in einer anderen Welt, war Quent als Quentin Brummell Fielding, III bekannt gewesen. Er war nicht nur mit einem silbernen Löffel, sondern mit dem ganzen verdammten Besteck geboren worden. Aber jetzt war er einfach nur Quent.
Obwohl nichts an ihm einfach war.
Oder an keinem von ihnen; jedenfalls nicht mehr.
»Sie sollten eigentlich längst zurück sein, es sei denn, sie sind in Schwierigkeiten geraten. Sie ritt wie der Teufel, und die Gangas können nicht weit gekommen sein. Die sind ziemlich schnell, aber nicht besonders gewandt«, sagte Elliott. Verdammt. Seine Finger schlossen sich zu einer Faust, und er würde ihnen am liebsten selber nachgehen.
Wo war sie hergekommen? Kannte sie diese Kinder? Und was machte sie überhaupt mitten in der Nacht draußen, wenn die Gangas kamen?
Er wollte sie kennenlernen, diese kühne Frau, die durch die überwucherte Stadt geritten war und die Gangas zertrampelt hatte. Und als sie davon preschte, zeigte sie ein extrem verlockendes bisschen Haut über ihrer Jeans. Diese kleine, sexy Kurve knapp über dem Hintern.
Herrgott, El, reiß dich zusammen. Es war ein bisschen Haut. Als hättest du noch nie eine ganze Reihe nackter Ärsche in Krankenhausnachthemden gesehen.
Da er dringend eine Ablenkung brauchte, sah Elliott sich im Raum nach Übernachtungsmöglichkeiten um. Er und die andern hatten nicht geplant, die Nacht hier zu verbringen, aber jetzt sah es ganz so aus, als würden sie mit den Kindern in einem alten Bürogebäude schlafen, in diesem ... was auch immer es mal war. Sicher irgendeine Stadt mitten in irgendeinem Landkreis, in einem Gebiet, das aller Wahrscheinlichkeit nach einmal Nord-Arizona gewesen war; nur wusste kein Schwein mehr, wie es hieß. Ein überwachsenes, dschungelartiges Ödland.
»Wie heißt du?«, fragte Elliott das Mädchen, das ihn an Josie erinnerte.
»Linda«, antwortete sie mit einem scheuen Lächeln.
»Hübscher Name.« Obwohl er ziemlich benommen und müde war, lächelte Elliott bewusst freundlich zurück. »Wie weit seid ihr von zu Hause weg? Lebt ihr alle zusammen?«
»Ja. Unsere Eltern sind inzwischen sicher fuchsteufelswild.« Tränen füllten ihre großen Augen. »Wir sind weggeschlichen, ohne es ihnen zu sagen und jetzt sind wir so weit weg von zu Hause.« Ihre Stimme klang dem Weinen nahe.
Elliott tätschelte ihren Arm. »Wir bringen euch schon wieder heil und gesund nach Hause«, sagte er. »Ihr müsst uns nur sagen, wie man dahin kommt.«
In den letzten paar Tagen hatte er keinerlei Anzeichen menschlicher Zivilisation im Süden gesehen. Also mussten die Kinder wirklich weit von zu Hause weg sein, und sie lebten in einer Siedlung, die groß genug war, mindestens sieben Jugendliche gleichen Alters hervorzubringen.
»Kommt ihr aus Envy?«, fragte Elliott, so wie er alle fragte, die sie trafen.
Linda nickte.
Seine innere Anspannung stieg. »Und ihr könnt uns dort hinbringen?«
Sie nickte noch einmal.
Elliott lächelte und der Nebel der Müdigkeit lichtete sich langsam. Endlich. Sie hatten Envy gefunden.
Nachdem sie aus der Höhle kamen, waren Elliott und seine Freunde zu Fuß gegangen, entsetzt über die Veränderung der Landschaft. Eine Woche lang hatten sie nach Unterkunft und Nahrungsmitteln gesucht, ehe sie überhaupt auf andere Menschen trafen. Als sie erfuhren, dass fünfzig Jahre vergangen waren − eine absurde Vorstellung − fühlten sie sich für eine Weile wie gelähmt.
Wie konnte man es auch begreifen, dass die ganze Welt zerstört war? Der Großteil der menschlichen Rasse und ihre Infrastruktur − alles weg? Die Zivilisation ausgelöscht?
Es war unfassbar.
Am Ende konnten Elliott und seine Kameraden niemanden finden, der die eigentliche Zerstörung überlebt hatte und der ihre dringenden Fragen über das, was vor fünfzig Jahren passiert war, beantworten konnte. Während ihrer monatelangen Reise, die von Sedona in langsamen, konzentrischen Kreisen ausgegangen war, waren sie immer wieder auf kleine Siedlungen von Menschen gestoßen. Vor drei Wochen hatten sie schließlich jemanden gefunden, der vorschlug, dass sie nach Envy gehen sollten, der größten menschlichen Ansiedlung, von der sie gehört hatten. Sie sei in der Tat fast so groß wie eine Stadt, und sie würden dort vielleicht sogar Überlebende finden.
Als sie hörten, dass die Stadt im Norden lag, wussten sie zumindest in welcher Richtung sie reisen mussten. Und nun waren sie ihrem Ziel näher als je zuvor.
Wyatt meldete sich von seiner Position am Fenster. »Dred, sie sind wieder da«, sagte er. Dred war Elliotts Spitzname.
Von unten hörte er das leise Quietschen der Strickleiter und ein schnüffelndes Schluchzen. Sofort verwarf er den Gedanken, dass es die Frau sein könnte. Die würde nicht weinen. Nicht jemand wie sie, die wie ein verdammter John Wayne herumritt.
Seine Vermutung bestätigte sich, als der junge, blonde Teenager schniefend und schluchzend oben an der Leiter auftauchte. Beim Anblick ihrer Freunde, stürzte sie ihnen jammernd entgegen.
»Dred!» rief Fence, der ehemalige Höhlenführer, der hinter dem Mädchen hervorkam. In seinen Armen trug der muskulöse Schwarze die Frau, als wäre sie nicht viel schwerer als ein kleines Kätzchen. Sie rührte sich nicht, und beim ersten Anblick sah sie mit ihren blutenden Wunden und blauen Flecken so aus, als hätte sie jemand brutal zusammengeschlagen.
Aber Gangas prügelten oder schlugen nicht. Sie rissen und fraßen.
»Leg sie hierher«, sagte Elliott. Sein Spitzname, 'Dred', war am Anfang seines Medizinstudiums entstanden, als ihn seine Freunde in Texten und Mails als 'Dr. E. D.' anschrieben. Obwohl er herumwitzelte, dass 'Dred' sich wie ein Name aus den X-Men-Comics anhörte, störte es ihn nicht…auch wenn die meisten Leute stutzten, wenn sie seinen Namen zum ersten Mal hörten.
»Was ist passiert?«, fragte er und blickte hinunter auf die sattellose Reiterin. Er verdrängte dabei jegliche Gedanken an herausrutschende Hemden.
»Sieht aus, als ob sie beim Kampf gegen die Scheißkerle vom Pferd gefallen war. Das Pferd war weg, und sie lag neben einem Haufen Ganga, die wie Verkehrstote aussahen. Oder wie Huftote?«
Elliott konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er an ihrem warmen Hals nach einem Puls fühlte. Es gab wenig zu lachen, aber das hinderte Fence nicht daran, wenn möglich ein bisschen humorvoll zu sein.
»Blondie − sie heißt Benji, verflucht − war dabei wegzurennen. Wir fanden sie nicht allzu weit entfernt von der Frau. Ich nehme an, sie versuchte Hilfe zu holen, weil sie sie nicht tragen konnte.« Fence wies auf die bewusstlose Frau. »Benji hat's nicht weit geschafft, bevor wir sie fanden und sie hat uns dann gezeigt, wo die Frau war. Am Boden neben einem Haufen Gangascheiße«, sagte Fence und schien das Wort besonders zu genießen. »Die Sache war bereits erledigt, und wir mussten nicht einmal eine von unsern Flaschenbomben einsetzen.«
Und das war gut so, da sie nicht einfach in eine Drogerie gehen und mehr Alkohol kaufen konnten.
»Benji scheint in Ordnung zu sein.« Elliott hatte an ihrem schmalen Handgelenk den Puls der Reiterin gefunden, der kontinuierlich und kräftig schlug.
Ihre Haut fühlte sich warm, jedoch nicht zu heiß an. Und in Kürze würde er genau wissen, was ihr fehlte, auf Grund dessen, was ihm vor fünfzig Jahren passiert war − was zum Teufel auch immer geschehen war.
Und dann bemerkte er einen ledernen Rucksack, der unter ihrem T-Shirt angegurtet war. Er zog ihn sanft weg, und während er ihn beiseitelegte, hörte er, dass in seinem Inneren etwas schweres Metallisches klirrte. Als er den breiten Gurt entfernt hatte, konnte man sehr bemerkenswerte Kurven unter dem dünnen weißen T-Shirt sehen. Eine sportliche Patientin, offensichtlich Ende zwanzig, wie der Arzt, Elliott, beobachtete. Mit einem verdammt heißen Körper, wie der Mann, Elliott, bemerkte. Den unterdrückte er zwar normalerweise, wenn Elliott, der Arzt, im Dienst war, aber immerhin hatte er seit fünfzig Jahren keinen Sex gehabt. Oder zumindest seit sechs Monaten nicht.
»Das Mädchen macht sich vor Schrecken fast in die Hose«, bemerkte Fence. Er grinste, und sein Lächeln stand klar und weiß in seinem dunklen Gesicht. »Aber wenn du sie untersuchen willst, lass dich nicht abhalten. Die hat sicher nichts dagegen, wenn ein gutaussehender Arzt wie du sich um sie kümmert.«
»Sie ist etwas jung«, sagte Elliott. Was allerdings nicht für die Frau, die vor ihm lag, zutraf. Soweit er sehen konnte, war sie nicht zu jung. Eigentlich war sie genau richtig.
»Ja, für einen Kerl, der 80 Jahre alt ist«, fügte Wyatt, der gerade dazugekommen war, trocken hinzu.
»Ich bin jung für einen Achtzigjährigen, und dazu noch zwei Jahre jünger als du«, antwortete Elliott mit einem Lächeln. »Nun lasst mich mal sehen, was ich herausfinden kann.«
Er holte tief Luft und machte die Augen zu, damit er sich konzentrieren konnte, denn das Ganze war immer noch neu für ihn. Und dann, während er seine Hände knapp über ihrem Körper hielt, wie ein menschliches MRT-Gerät, wartete er auf die Bilder, die jeden Moment in seinem Kopf erscheinen würden. Wie vollfarbige Röntgenbilder.
Er fand seine erstaunliche Fähigkeit immer noch verdammt unglaublich. Er hatte sie auf völlig unerklärliche Weise erworben, während er fünfzig Jahre tiefgefroren war, oder im Winterschlaf war oder eine Zeitreise unternommen hatte − oder was auch immer es gewesen sein mochte. Es war verdammt bescheuert, dass er diese Gabe nicht vorher gehabt hatte. Wenn er an all die Leben dachte, die er hätte retten können.
Vorher.
Er verlor seine Konzentration für einen Moment, und die inneren Bilder verwandelten sich in einen grauen Brei.
Mit fest zusammengepressten Lippen schob er die Gedanken von sich und fühlte die seltsame Energie, die ihn durchströmte. Er konzentrierte sich auf das innerliche Summen und untersuchte die Bilder, die in seinen Kopf zurückkehrten.
Keine Kopfverletzung. Keine inneren Blutungen ... nur ein Bruch der Elle und eine Fraktur der fünften Rippe. Ihre letzte Mahlzeit bestand aus irgendeiner Art Fleisch und etwas Gemüse. Sie war in der Mitte ihres Menstruationszyklusses.
Verlegen riss er die Augen auf.
Herrgott. Das hatte er gerade noch wissen wollen.
Und dann merkte er, dass die Jugendlichen ihn alle anstarrten.
»Kennt ihr sie?«, fragte er und fühlte sich plötzlich unwohl, obwohl er nicht recht wusste, warum. Vielleicht dachten sie, er betete für die Frau. Sein Verhalten war unmöglich zu verstehen − er verstand es ja kaum selber.
Niemand antwortete auf seine Frage, obwohl sie sich ein paar verstohlene Blicke zuwarfen. Na super. Sie wirkten noch nervöser als nach dem Gangaangriff.
Er wandte sich zurück zu seinem Patienten. »Was zum Teufel hat sie da draußen allein gesucht?«, murmelte er. Sie hatte Prellungen und Platzwunden auf dem ganzen Gesicht, stellte der Arzt, Elliott, fest. Dichtes Haar in einer unbestimmten dunklen Farbe, das sich durch den wilden Ritt verfilzt und verwuschelt hatte. Und wohlgeformte, lange Beine, die verdammt kräftig sein mussten, da sie ohne Sattel reiten konnte. Der Mann, Elliott, spürte, wie ihm der Mund beim Gedanken an ihr sattelloses Reiten trocken wurde.
Okay. Reiß dich zusammen, Elliott.
Also es war jetzt fünfzig Jahre und sieben Monate her, seit er eine Frau angefasst hatte. Allerdings hatte er die meiste Zeit davon verpennt.
Verhalte dich verdammt noch mal wie ein Profi. Sie ist deine Patientin.
Mit diesen aufmunternden Worten im Ohr, griff er nach ihrem linken Arm, dessen Ellenbruch man unter dem kurzen Ärmel ihres T-Shirts ausmachen konnte.
Er spürte die Wärme ihrer Haut, konzentrierte sich aber auf die Untersuchung der Knochen und blieb dabei distanziert. Sie versteifte sich mit Unbehagen unter dem leichten Druck seiner Finger, und er fühlte und sah die gebrochene Elle. Er würde sie schienen müssen, und das würde das Reiten erschweren. Verdammt schade, wo sie das doch so gut konnte.
Er hielt seine Gedanken schnell zurück, ehe sie wieder abschweifen konnten, wo er seine Patientin in seiner Vorstellung beim sattellosen Reiten sah.
Gut. Sehr gut. Rasende Hormone wieder unter Kontrolle.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Bruch, und sah die Knochen wieder in seinem Bewusstsein; ein schlanker, gezackter Bruch, die Knochen leicht verschoben ... und er fühlte, wie ihn plötzlich eine überraschende Energie durchfloss.
Elliott widerstand dem Drang, die Augen zu öffnen und konzentrierte sich stattdessen auf die heiße Kraft, die ihn durchströmte. Das war neu, diese Flut von Energie. War das eine Folge von stärkerer Konzentration?
Natürlich war allein die Tatsache, dass er jemanden ›scannen‹ und dessen Inneres lesen konnte, neu, aber dies war etwas gänzlich anderes, das er noch nie zuvor erlebt hatte. Seine Brauen zogen sich zusammen, er ignorierte das Flüstern der Jugendlichen und konzentrierte sich voll auf seine Gedankenbilder.
Plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz in seinem eigenen Arm. Er rang nach Luft und riss die Augen auf, aber er ließ sie nicht los. Sein Arm tat ihm weh. Sein linker Arm. Es schmerzte nicht nur ein bisschen, es tat verdammt weh. Als hätte ihn jemand mit einem Messer in den Arm gestochen.
Er blickte hinunter auf die Frau, die sich nicht bewegt hatte. Wenn überhaupt, hatte sich ihr Gesicht etwas entspannt. Elliott konzentrierte sich erneut auf ihren gebrochenen Arm und suchte nach dem Bild in seinem Hirn, obwohl der Schmerz noch immer in seinem Arm hämmerte.
Ihm wurde klar, dass er auf mysteriöse Weise ihre Schmerzen auf seinen eigenen Körper übertrug. Wow. Er war sogar noch talentierter als er gedacht hatte.
Vielleicht würde sie jetzt leichter ruhen können. Er konnte die Schmerzen eine Weile ertragen, so lange es ihr etwas Linderung verschaffte.
Und dann konzentrierte er sich auf das Bild in seinem Kopf und stellte fest, dass er den Bruch nicht mehr sehen konnte. Ihre Elle war plötzlich ein makelloser, weißer Knochen.
Was zum Teufel?
Hatte er sie geheilt?
Elliott starrte auf seine Hände, die sich noch um ihren Arm schlossen, und merkte, dass die Schmerzen noch immer durch seinen eigenen Leib strömten. Hatte er sie geheilt und den Schmerz in seinen eigenen Körper übernommen? Unglaublich. Absolut erstaunlich.
Was zum Teufel wäre passiert, wenn sie einen Herzinfarkt gehabt hätte? Oder wenn sie Krebs hätte? Konnte er ihre restlichen Schmerzen in sich aufnehmen, indem er sich auf andere Bereiche ihres Körpers konzentrierte?
Dies war fantastisch. Herauszufinden, dass er die Fähigkeit besaß den internen Zustand einer Person zu ›lesen‹, war ein purer Zufall gewesen. Und jetzt noch dies? Gefühle von Aufregung und Ungläubigkeit überfluteten ihn. Er konnte nicht nur Verletzungen oder Krankheiten diagnostizieren, sondern scheinbar konnte er sie auch heilen.
Die Folgen waren enorm.
»Sie ist ein Läufer«, sagte Linda plötzlich und unterbrach damit Elliotts wilde Gedanken.
Er drehte sich zu ihr. Obwohl seine Gedanken immer noch um die Unmöglichkeit und die Folgen des soeben Geschehenen kreisten, konzentrierte er sich zugleich auf das Mädchen, das plötzlich ganz verängstigt aussah.
Ein Läufer. Klar ausgesprochen wie ein Eigenname. Er hatte diesen Begriff hier noch nie gehört. Man hatte über Kopfgeldjäger gesprochen. Und von den Fremden geflüstert. Aber er hatte noch nie von Läufern gehört.
Natürlich gab es massenhaft viel in dieser Welt, von dem er nichts wusste.
Es war jetzt sechs Monate her, seit er in dieser postapokalyptischen Hölle aufgewacht war, und Elliott hatte aufgegeben, sie zu verstehen. Er hatte fast aufgehört darüber zu grübeln, warum er und Quent mit außergewöhnlichen Fähigkeiten erwacht waren − er als menschliches MRT-Gerät und Quent mit der Fähigkeit, durch Berühren von Dingen deren Erinnerungen ›lesen‹ zu können. Dagegen hatten Fence, Wyatt und Simon, die während der Katastrophe auch in der Höhle waren, keine neuen Fähigkeiten.
Falls sie je jemanden finden könnten, der diese Zeit durchlebt hatte, dann würden sie vielleicht − so Gott will − endlich ein paar Antworten bekommen.
Oder vielleicht mussten sie den Rest dieses verdammten Lebens verbringen, ohne es je herauszufinden. Warum? Wie?
Und warum, zum Teufel, er?
Linda schüttelte stumm ihren Kopf, als hätte sie jemand mit dem Ellbogen gestoßen. Oder getreten. Dicke Tränen traten ihr in die Augen, und Elliott spürte eine Welle von Antipathie von den anderen Jugendlichen. Es war offensichtlich etwas im Gange.
Stille.
Obwohl sein Arm immer noch höllisch wehtat, musterte Elliot die Gruppe Jugendlicher. Er hockte sich hin, wobei seine Lenden in sehr viel besserer Verfassung waren als noch vor sechs Monaten. Nonstop körperliche Aktivität und meilenweites Wandern, ganz zu schweigen von den Kämpfen mit Gangas und der ständigen Lebensgefahr − hatten aus dem ehemals fitten Jogger einen schlanken, muskulösen Kandidaten für die Special Forces gemacht. Nicht, dass es die noch gab, soweit er wusste.
Eines der Kinder ergriff das Wort. »Das bedeutet nichts weiter. Habe nur schon mal das Wort ›Läufer‹ gehört.«
»Sie ist aber nicht gelaufen«, sagte Elliot vorsichtig. Er griff nach Lindas Hand, sah ihr fest in die Augen und versuchte den Schock, den man in ihrem Blick immer noch sehen konnte, zu durchdringen. »Wer ist sie? Woher kennst du sie?«
Aber das Mädchen schüttelte nur den Kopf, biss sich auf die Lippen und sah zum Boden.
Was zum Teufel war das große Geheimnis?
Ohne sich seinen Frust anmerken zu lassen, sah Elliott wieder auf seine Patientin hinunter und bemerkte dabei die mandelförmige Form ihrer Augenlider und die winzigen, kaum sichtbaren Fältchen in den Augenwinkeln. Keine Falten − er würde sich hüten an das Wort in der Nähe einer Frau überhaupt zu denken, aber … Lachfältchen vielleicht, oder Anzeichen dafür, dass sie Zeit in der Sonne verbracht hatte. Eine schöne Frau, selbst unter all den Wunden und dem Schmutz. Schön und mutig.
Was hatte sie da draußen allein gemacht?
Schließlich fragte einer der Jugendlichen, der Junge, der der Anführer zu sein schien, »Wird sie überleben?«
Also wussten sie doch, wer sie war. Und es war anscheinend Elliott, dem sie nicht trauten.
Er nickte und merkte, dass der Schmerz in seinem Arm verflogen war. Das war schon sehr erstaunlich. Nur ein bisschen Schmerz erleiden, und schon konnte er Knochenbrüche heilen. Cool. »Ja, sie wird wieder gesund werden. Aber ihr müsst uns den Weg nach Envy zeigen, damit ich sie dort pflegen kann.«
Der Führer, der Linda mit einem Stoß zum Schweigen gebracht hatte, sah ihn mit unverhülltem Verdacht an. »Ich weiß nicht, ob wir Ihnen vertrauen können«, sagte er mit einem aufmüpfigen Gesichtsausdruck.
»Sagt mir wenigstens ihren Namen«, sagte Elliott.
In dem Moment spürte er eine Veränderung. Er blickte hinunter, gerade als sie ihre Augen öffnete. Sie bewegte sich und stöhnte dabei ein wenig. Sie sah zu ihm auf, und sogar in der Dunkelheit konnte er sehen, dass ihre Augen trübe und benommen aussahen.
»Ich heiße ... Jade«, hauchte sie. »Mein Name ist Jade.« Ihre aufgesprungenen, blutverkrusteten Lippen bewegten sich entweder in einer Grimasse oder in einem Lächeln.
Elliott sah wie ihr Blick unsicher von seinem Gesicht zu den Gesichtern der Jugendlichen schweifte, dort für einen Moment verweilte und dann zu ihm zurückkehrte.
»Wer sind Sie?«, fragte sie, und ihre Lippen dehnten sich wieder, und ein bisschen von ihrer Benommenheit schien sich zu legen. Ihre Blicke trafen sich und er spürte ein Rauschen von ... etwas. Heiß, und heftig und intensiv.
Mann!
»Sind Sie ... ein Engel? Raphael vielleicht?« Ihre Stimme klang tief und heiser, was nicht ungewöhnlich war für jemanden, der gerade aus einer Bewusstlosigkeit erwachte.
Elliott erwiderte ihr Lächeln und überlegte, wie viel von seinem Gesichtsausdruck sie in dem dämmrigen Licht wahrnehmen konnte. »Tut mir leid, Sie zu enttäuschen, aber ich bin nur ein Arzt.« Ja, richtig. Ihr Arzt.
»Mmm«, antwortete sie, als ihr Blick auf einem der Kinder hinter ihm landete. Ihre Stimme war immer noch etwas rau und tief, und ihr Atem war wegen der schmerzenden fünften Rippe unregelmäßig, aber sie fuhr fort: »Kein Engel ... Mist.«
Ihre Augen flatterten, aber das kleine Anzeichen eines Lächelns blieb. Blut sickerte aus einer Wunde, die sie mit der Zungenspitze berührte, als ob sie versuche den Schmerz zu lindern. Und dann bewegte sie sich erneut, und öffnete ihre Augen weit mit plötzlicher Klarheit. »Ein Arzt? Es gibt keine Ärzte mehr.«
Das sinnliche Behagen − echt oder eingebildet − war aus ihrer Stimme verschwunden, und der neue Ton war entschieden unzufrieden. Er sah, wie sie versuchte, sich auf ihn zu konzentrieren, konnte sogar spüren, wie sie sich sammelte, als ob sie Widerstand leisten wollte.
»Wer sind Sie?«, fragte sie mit lauter werdender Stimme. »Ziehen Sie Ihr Hemd aus.«
Wie bitte? Er runzelte die Stirn und fragte sich, ob sie Wahnvorstellungen hatte, aber sie sah ihn mit klaren Augen an. Keine Einladung, sondern hochgradiger Verdacht. Ihre Herzfrequenz hatte sich erhöht, und ihre Atmung auch.
»Autsch!«, schrie jemand.
Elliott drehte sich um und sah, dass Linda ihren Arm so hielt, als hätte sie Schmerzen. Der Junge neben ihr schaute überrascht. Damit war es ziemlich klar, dass er sie nicht mit dem Ellenbogen gestoßen hatte.
»Was ist los?«, fragte Elliott und sah an ihrem Gesichtsausdruck, dass es mehr als nur ein bisschen Unbehagen war.
»Ich weiß nicht. Mein Arm«, sagte sie, und fing an zu schluchzen. »Am Anfang hat es nur ein bisschen wehgetan. Jetzt tut es plötzlich echt weh!»
Elliott runzelte die Stirn und griff nach dem Arm des Mädchens, um ihn leicht abzutasten. Ihre linke Elle.
Eine seltsame Erregung kroch seine Wirbelsäule entlang. Unruhig schloss Elliott seine Augen, um sich auf das geistige Scannen zu konzentrieren.
Das konnte doch nicht wahr sein.
Aber er sah es genau, in dem Vollfarb-Bild in seinem Kopf: die gebrochene Elle.
Der Bruch, den Elliott irgendwie von Jade zu Linda übertragen hatte, einfach durch die Berührung.
*
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