Kapitel 19

Heute haben wir schon Dienstag. Noch viermal schlafen, und ich habe mein langersehntes Treffen mit Dirk.

Was soll ich bloß anziehen? Schon jetzt stehe ich vor meinem gut gefüllten Kleiderschrank und bin ratlos. Welche Frau kennt dieses Problem nicht?

Die wirklich schicken Teile, die was hermachen, passen mir momentan nicht, denn ich habe in den letzten Monaten gut fünf Kilo zugenommen. Fest nehme ich mir vor, mich endlich wieder im Fitnessstudio anzumelden. Aber das nützt mir im Moment herzlich wenig.

Bevor ich ein wichtiges Date habe, mache ich immer ein paar Tage vorher Anpassprobe. Damit es am besagten Tag keine bösen Überraschungen gibt.

Ich greife zu der hellblauen Jeans, die den Knackhintern zaubert. Ich presse mich mitsamt meiner überschüssigen Kilos hinein. Doch das, was ich da im Spiegel sehe, erinnert mich nicht an die Mädels aus Rio de Janeiro. Das hier ist dann eher so Samba in Mettmann. Ich bekomme nicht mal den Reißverschluss zu. Der Knopf ist ca. 10 cm vom Knopfloch entfernt, dazwischen sucht sich mein Bauchspeck seinen Weg. Dieser Weg wird kein leichter sein…, fällt mir bei der Gelegenheit Xavier wieder ein. Und dabei jetzt ein bauchfreies Top, und ich würde bei Dirk einen bleibenden Eindruck hinterlassen, denke ich und muss fast selber über diesen traurigen Anblick lachen.

Die Reichen und Schönen dieser Welt, die kurz nach Schwangerschaft und Geburt schlanker sind als vorher, lassen uns Normalo-Frauen aber auch ganz schön blöd dastehen.

Man nehme Heidi Klum. Die wird nach jeder Geburt schöner und schlanker. Vielleicht liegt’s daran, dass sie immer bei Mc Doof schlemmt. Oder Giselle Bündchen… sieht nach ihrer ersten Geburt selbstredend 1a aus und erzählt dann auch noch, sie habe während der Schwangerschaft kaum zugenommen, und die Geburt war bei ihr natürlich auch völlig schmerzfrei, wie 'ne Geburt das nun mal so an sich hat.

Sind solche Frauen nicht hassenswert? So ein Gesülze glauben doch höchstens die Männer.

Und dass die Realität ganz anders aussieht, davon durfte ich mich vorhin noch überzeugen, als mir auf dem Nachhauseweg zwei junge Mädchen entgegenkamen mit Mörderplauzen. Gab's früher eigentlich auch schon so viele fette Mädchen und keiner hat's gemerkt, weil die damals keine Hüfthosen mit bauchfreien Tops trugen?

All das geht mir durch den Kopf, als ich das Elend in meinem Spiegel nochmals eingehend betrachte.

Ich nehme mir feste vor, bis Samstag nichts mehr zu essen. Vielleicht krieg ich die Jeans dann ja doch noch zu. Denn abgesehen vom Bauchbereich, sehe ich darin rattenscharf aus.

Heute habe ich auch endlich den Termin bei dem Sozialdienst. Ich musste jetzt drei Monate warten und bin auch nur „so schnell“ an die Reihe gekommen, weil jemand anders abgesprungen ist. Na, da bin ich ja mal ordentlich gespannt, ob die einem weiterhelfen können. Irgendeine Erklärung muss es ja schließlich dafür geben, dass mein Sohn trotz überdurchschnittlicher Intelligenz nur mittelmäßige Leistungen in der Schule erbringt. Vielleicht hat er ja tatsächlich eine Konzentrationsschwäche oder vielleicht hat er auch von mir die intellektuelle Hochbegabung geerbt. Man hat ja schließlich schon oft genug von solchen Fällen gehört, in denen Kinder total unterfordert waren, es niemand erkannt hat und sie später zu Schulversagern wurden.

Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn meine Eltern früher mal erkannt hätten, wie begabt ich bin. Dann wäre ich heute sicher keine Rechtsanwaltsgehilfin. Aber mein Vater war wahrscheinlich früher schon mit seinen Damenbekanntschaften beschäftigt und meine Mutter damit, davor die Augen zu verschließen. Tja, so kann es gehen. Da kann Tom ja froh sein, dass das heutzutage etwas anders läuft, und man bei Kindern spezielle Testverfahren anwendet. Zu meiner Schulzeit war von sowas ja noch keine Rede. Wenn du da in der Schule nicht mitkamst, warste eben blöd und hattest Pech gehabt. Wie gut, dass die heutige Generation da ganz andere Chancen hat, denke ich, während ich auf das Zimmer der für mich zuständigen Beraterin zusteuere.

„Barth, Diplom-Sozialpädagogin“, steht auf dem Türschild. Ich klopfe an und werde hereingerufen. Da sitzt sie nun, die Frau Barth, hinter ihrem Schreibtisch und macht ihrem Namen alle Ehre, denn um ihren Mund herum sehe ich einen dunklen Flaum.

„Guten Tag, Frau Fischer. So setzen Sie sich doch und erzählen mir mal, was Sie zu mir führt.“

„Guten Tag, Frau Barth. Die Lehrerin meines Sohnes Tom schickt mich her. Sie meinte, mein Sohn würde trotz überdurchschnittlicher Intelligenz in der Schule nur mäßige Leistungen erzielen. Es sollte mal ein Konzentrationstest und ein Test auf Hochbegabung gemacht werden.“ (Das mit der Hochbegabung habe ich mir selbst dazu gedichtet, aber kann ja schließlich nicht schaden.)

„So schnell geht das nicht, Frau Fischer. Ob überhaupt Tests durchgeführt werden, das entscheide ich“, sagt sie wichtigtuerisch. „Erzählen Sie mir erst einmal etwas über ihre häusliche Situation.“

Als ich ihr dann erzähle, dass ich alleinerziehend bin, scheint für sie der Fall geklärt zu sein und sie sagt:

„Ja, wenn das so ist, Frau Fischer, dann sollten wir wohl am besten gleich einen erneuten Termin machen für eine Erziehungsberatung. Da sollte ihr Exmann dann auch dabei sein.“

„Wieso Erziehungsberatung? Ich bin hier, weil bei meinem Sohn Tests gemacht werden sollen.“

„Wissen Sie, in den meisten Fällen stellt sich bei der Beratung heraus, dass die Probleme gar nicht beim Kind liegen.“

„Was soll das denn heißen? Dass ich hier, weil ich alleinerziehend bin, mal wieder den schwarzen Peter zugeschoben bekomme, weil ja in so einem Fall von vornherein feststeht, woran es liegt?“

„Frau Fischer, so beruhigen Sie sich doch. Ich halte nun mal nicht viel von vorschnellen Tests, bei denen Kinder in Schubladen gesteckt werden.“

„Wieso Schubladen?“

„Also, wenn bei Ihrem Sohn herauskommen sollte, dass er beispielsweise eine Konzentrationsschwäche hat, dann wird er doch in die Schublade „Kind mit Konzentrationsschwäche“ gesteckt, aus der er nicht mehr herauskommt.“

„Wo ist dabei das Problem, Frau Barth? Wenn ich meinem Sohn helfen möchte, muss ich ihn ja wohl in eine bestimmte Schublade stecken, oder?“

„Nein, das sehe ich vollkommen anders. Sie wollen also keinen Termin für die Erziehungsberatung?“

„Nein, ich habe keine Erziehungsprobleme. Ich möchte lediglich, dass sie zwei Tests bei meinem Sohn durchführen.“

„Ohne vorherige Beratung lehne ich das ab.“

„Schönen Tag noch, Frau Barth und vielen Dank für Ihre Hilfe“, sage ich ironisch und verlasse wütend ihr Büro.

Drei Monate habe ich gewartet, um von der Bärtigen so blöd abgekanzelt zu werden. Ich bin es leid, als Alleinerziehende ständig diskriminiert zu werden. Aber was mache ich jetzt mit Tom? Ich denke, ich werde gleich mal ein wenig im Internet recherchieren, wäre ja gelacht, wenn ich nicht irgendwo einen Termin für zwei dusselige Tests kriege.

Zu Hause angekommen setze ich mich dann auch sofort vor den PC. Nach längerem Suchen stoße ich auf die Adresse eines Psychologen, der derartige Tests durchführt, allerdings gegen Bezahlung. Aber anders geht es ja wohl auch nicht. Ich habe keinen Bock, irgendwelchen Sozialtussen in den Arsch zu kriechen, damit sie mir einen Termin für kostenlose Tests geben.

Also wähle ich die Nummer des Psychologen. Ich habe Glück, er geht gleich an den Apparat und in einem kurzen Gespräch erklärt er mir die Vorgehensweise, und wir vereinbaren sofort einen Termin für nächste Woche. Für beide Tests berechnet er ca. 150,00 Euro. Das ist zwar wieder mal 'ne Stange Geld, aber das ist es mir jetzt wert. Ich werde das Geld von meinem Sparbuch nehmen und dann habe ich nächste Woche schon das Ergebnis. Da sieht man mal wieder, wie schnell alles gehen kann, wenn man dafür ordentlich löhnt.