7. KAPITEL
Als Rosie erwachte, kam ihr das Zimmer vage vertraut vor. Sie hob den Kopf von dem Kissen, das sie im Schlaf umarmt hatte, und erkannte Constantin. Er stand angezogen neben dem Bett, seine Batterien schienen wieder voll aufgeladen, er barst vor Energie. Und er sah umwerfend aus.
“Wie spät ist es?” murmelte Rosie verwirrt. Helles Tageslicht erfüllte den Raum. Sie war tatsächlich in seinen Armen eingeschlafen. Sicher, sie hatte in den letzten Tagen auch nicht viel Schlaf bekommen, aber das war keine Entschuldigung.
“Drei Uhr nachmittags. Du solltest langsam aufstehen. Der Lunch wartet.”
“Wer hat gekocht – Carmina?” fragte Rosie, noch ganz verschlafen.
“Wir wollen die alte Dame nicht zu sehr belasten”, erwiderte Constantin kühl. “Ich habe selbst Personal mitgebracht. Aber da es hier kaum bewohnbare Räume gibt, sind sie in den Bungalows weiter hinten untergebracht.”
Rosie setzte sich auf und zog das Laken bis an die Schultern. Constantin starrte sie unverhohlen an. Zwischen ihren Brüsten und bis hinauf zum Hals wurde ihre Haut rot. “Wie hast du mich überhaupt gefunden?” brach es aus ihr heraus.
“Fluggesellschaften führen Passagierlisten”, erklärte er trocken. “Was sollte dieser Romantik-Trip?” erkundigte er sich seinerseits.
“Ich dachte, hier würdest du mich zuallerletzt suchen.” Rosie senkte den Kopf. Romantik-Trip! Wenn er wüsste … Aber Constantin wusste nicht, wer sie war, und als sie es ihm sagen wollte, hatte er ihr das Wort abgeschnitten. Er würde sie niemals als Antons Tochter anerkennen.
“Wo ist dein Ehering?” fragte Constantin unvermittelt.
“Ich habe ihn abgenommen.”
“Dann steck ihn wieder an”, befahl er barsch.
“Das geht nicht. Ich habe ihn in Palma in einen Müllkorb geworfen.”
Constantin atmete langsam ein und langsam aus. Rosie ahnte, dass er innerlich bis zehn zählte. Die Haut über seinen Wangenknochen wurde dunkelrot, sein Blick zeigte, dass er sich eisern beherrschte.
“Ich dachte, ich bräuchte das blöde Ding nie mehr zu tragen”, verteidigte sie sich trotzig.
“Wir unterhalten uns unten, sobald du angezogen bist.” Constantin ging zur Tür und warf ihr einen drohenden Blick zu. “Du wirst dich entschuldigen für die Art und Weise, wie du mir davongelaufen bist.”
“Da kannst du lange warten.” Rosie hob das Kinn. “Ich entschuldige mich nicht gern.”
“Du wirst es lernen”, gab Constantin grimmig zurück.
Und er? Hatte er etwa nichts zu lernen? Er war noch viel dickköpfiger als sie. Verärgert stand Rosie auf. An das Schlafzimmer grenzte ein altmodisches Bad. Die Armaturen waren wuchtig, die Wanne groß genug für eine ganze Familie – Maurice wäre in helles Entzücken geraten. Leider schien es kein warmes Wasser zu geben.
Als Rosie mit Duschen fertig war, klapperten ihre Zähne. Die beiden verschlissenen Handtücher hatte Constantin benutzt und als Häufchen auf dem Boden zurückgelassen. Wahrscheinlich war er auch für das verbrauchte Warmwasser verantwortlich. Als Wohngenosse war sogar Maurice besser erzogen als er. Sie musste sich frische Sachen aus ihrem Rucksack holen.
In eins der dünnen, feuchten und lächerlich kleinen Handtücher gewickelt, riss Rosie die Zimmertür auf und rief laut nach Constantin. Von der Treppe her näherten sich Schritte. Rosie verschränkte kriegerisch die Arme. Doch es war nicht Constantin. Er hatte DimitriS vorgeschickt. Wütend trat Rosie ins Zimmer zurück, um ihren peinlichen Aufzug zu verbergen.
“Mr. Voulos ist es nicht gewohnt, sich herbeirufen zu lassen”, sagte er entschuldigend und in fließendem Englisch. “Dann wird er sogar ziemlich ungnädig.”
“Ich kenne ihn gar nicht anders”, gab Rosie zurück.
“Mr. Estradas Tod ist ihm sehr nahe gegangen.”
Die schlichte Bemerkung traf. Sie hatte überhaupt nicht in Erwägung gezogen, dass Constantins üble Laune etwas mit seiner Trauer zu tun haben könnte.
“Wünschen Sie etwas?” erkundigte sich DimitriS.
“Danke, es ist nicht wichtig.” Rosie schloss die Tür und ließ sich auf die Bettkante sinken.
Seit dem Tod ihres Vaters war sie ebenfalls gereizt und schlief schlecht. Sie hätte Anton noch so viel zu sagen gehabt, aber er war nicht mehr da, um sich ihre kleinen oder großen Sorgen anzuhören. Wie viel schwerer musste der Verlust für Constantin wiegen … Vielleicht würden sie doch noch lernen, wie zivilisierte Menschen miteinander umzugehen.
Ein Hausmädchen klopfte an die Tür und schleppte mehrere Taschen herein. Sie setzte alles ab und verschwand. Im nächsten Moment trat Constantin mit zwei Lederkoffern ein.
“Du ziehst also hier ein”, stellte Rosie fest. “Wann bekomme ich meine Sachen zurück, damit ich ausziehen kann?” Ihr Ton war nicht mehr so patzig wie sonst.
“Dies sind deine Sachen”, erwiderte Constantin. “Ich habe sie zwischen den Flügen gekauft.”
Rosie fuhr auf. “Warum solltest du mir Kleider kaufen?
“Weil du kaum etwas anzuziehen hast. Nimm es als Geschenk von mir.”
Rosies grüne Augen blitzten. “Das ist großzügig von dir, Constantin, aber ich möchte meine eigenen Sachen wiederhaben.”
“Nein. Was glaubst du, warum ich sie weggetan habe?”
“Weggetan? Du hast sie mir regelrecht vom Leib gerissen!”
Constantin sah sie mit einem merkwürdigen Blick an und presste die Lippen zusammen. “Ich finde es geschmacklos, dass du Kleider trägst, die dir ein anderer Mann geschenkt hat.”
“Unsinn, ich habe sie billig in Palma gekauft.”
Constantins dunkle Augen wurden schmal. “Du weißt, was ich meine. Das Kleid, das du im Hotel anhattest – das war doch von Anton, oder?”
Verwirrt nickte Rosie.
“Na, bitte. Also habe ich nicht lange gefackelt. Ich will nicht ständig daran erinnert werden, dass du sein Mädchen warst”, knurrte er.
“Ganz abgesehen davon, dass ich nie einem Mann gehört habe …”
“Jetzt gehörst du zu mir.”
“Wie bitte?” fauchte Rosie.
“Anton hat dich mir übergeben.”
“Sag das noch mal.” Wie redete dieser Mann mit ihr?
“Und wenn ich die Verantwortung auf mich nehme, erwarte ich, dass du dich von nun an nach meinen Wünschen richtest.”
“Damit bin ich nicht einverstanden, Constantin.”
“Du wirst deine Meinung ändern.”
“Gib mir meine Sachen zurück!” Rosie sprang auf. Sie ertrug es nicht mehr, dass er sie so demonstrativ überragte.
Constantin streckte die Hand nach ihr aus.
“Ich hasse dich! Rühr mich nicht an!”
Trotz ihres Protests berührte Constantin ihre heißen Wangen. Sein Blick war herausfordernd. “Du hast dich an mich geklammert wie eine Kletterpflanze, als ich vorhin aufwachte. Ich musste dir mein Kopfkissen als Ersatz geben, sonst hättest du mich nicht losgelassen.”
“Wenn du nicht so ein Brocken wärst, würde ich dir jetzt einen Kinnhaken verpassen!”
“Siehst du, du wirst schon vernünftiger. Vor kurzem bist du wirklich tätlich geworden”, stellte Constantin befriedigt fest.
Rosie zitterte vor Wut. Constantin fasste mit den Händen in ihr schimmerndes rotes Haar und massierte sanft ihre Kopfhaut. Sie bebte. Er ließ sie los und lächelte. Sein intensiver Blick ging ihr durch und durch. “Heute Nacht kannst du mich beißen, soviel du willst, kleine Hexe. Im Bett bin ich für jede neue Erfahrung zu haben.”
Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, warf Rosie sich aufs Bett. Das war doch wohl nicht sein Ernst? Constantin konnte nicht verlangen, dass sie mit ihm schlief. Sie brauchte nur nein zu sagen, wenn er versuchte, sie zu verführen. Hastig verdrängte sie den Gedanken, dass es ihr womöglich sehr schwer fallen würde, nein zu sagen.
Was war aus ihrer ansatzweisen Bereitschaft zum Einlenken geworden? Innerhalb von Sekunden hatte Constantin sie wieder in Rage gebracht. Und was sollte die neue Garderobe? So viele Kleider konnte nicht einmal eine reiche, verwöhnte Party-Löwin in zwei Monaten tragen. Bei ihrer Hochzeit hatte Constantin sich beklagt, dass Rosie keins der eleganten Teile angezogen hatte, die Anton ihr gekauft hatte – und jetzt?
Jetzt warf er ihr vor, auch nur einen Pulli von Anton angenommen zu haben. Rosie verstand überhaupt nichts mehr. Ihr Kopf schmerzte, und sie war völlig durcheinander.
Kleine Schweißtropfen standen auf Rosies Oberlippe, als sie durch das dunkle Speisezimmer mit den schweren, geschnitzten Möbeln ging. Auf dem ganzen Weg spürte sie Constantins kühl bewundernden Blick. Bildete sie es sich ein, oder lag sogar ein Hauch Besitzerstolz darin? Und was würde passieren, wenn sie ihm über den Tisch hinweg für diese unverschämten Blicke eine Ohrfeige gab?
“Ich wusste, dass die Farbe wunderbar zu deinem Haar passen würde”, bemerkte er.
Rosie sah zu Boden. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr angriffslustig, sondern nur noch verlegen. Das schlichte grüne Sommerkleid war garantiert sündhaft teuer gewesen. Sie hatte es ungefähr einem halben Dutzend weit aufregenderer Sachen vorgezogen. Doch als sie dann das Kleid am Leib trug, musste sie feststellen, dass es jede Linie ihres Körpers deutlich nachzeichnete.
“Warum hast du dein Personal kommen lassen?” begann sie, als sie Constantin gegenüber am Tisch Platz genommen hatte. “Du hast sicher nicht vor, länger in diesem Haus zu bleiben, das du als Ruine bezeichnest?”
“Der andere Flügel ist tatsächlich nicht bewohnbar. Aber ich denke, wir können es ohne Not ein paar Wochen hier aushalten.”
“Ein paar Wochen?” fuhr Rosie auf.
“Warum nicht? Es ist doch verständlich, dass ein frisch verheiratetes Paar die Einsamkeit einer Villa in den Bergen sucht?” Constantin beobachtete sie mit der Gelassenheit eines Katers, der in der Sonne döste.
“Musst du mich denn ständig an diese dumme Hochzeit erinnern?” zischte Rosie.
Ungerührt lächelte Constantin. “Ich finde, wir sollten allmählich Waffenstillstand schließen.”
“Waffenstillstand?” wiederholte sie verunsichert. “Was bedeutet das konkret?”
Er ignorierte die Frage, stöhnte nur ungeduldig. “Es war durchaus normal, wenn ich mich über Antons Testament aufgeregt habe. Vielleicht habe ich auch überreagiert, aber Anton bedeutete mir mehr als mein leiblicher Vater. Es war ein unglaublicher Schock, als ich erfuhr, dass er eine andere Frau hatte.”
“Hatte er nicht. Wie oft soll ich das noch sagen? Ich war nicht seine Geliebte”, stieß Rosie verzweifelt hervor. “Du warst in dem Londoner Haus. Du hast sicher bemerkt, wir hatten getrennte Schlafzimmer.”
Constantin zuckte abfällig die breiten Schultern, doch seine Züge wurden hart. “Eure Bettgewohnheiten interessieren mich nicht.”
“Aber …”
Er warf Rosie einen eisigen Blick zu. “Ich zum Beispiel habe nie eine ganze Nacht im Bett einer Frau verbracht. Heißt das, ich mag keinen Sex?” warf er ihr überheblich hin.
Die Information tat ihr merkwürdig weh. Sie wich seinem Blick aus. Im Geist sah sie ein flüchtiges Bild von Constantin, wie er sich nach einer Liebesnacht im Morgengrauen aus Louises Armen wand und nach Haus fuhr. “Dann bist du gefühlskalt”, sagte sie leise. “Sobald du bekommen hast, was du wolltest, verabschiedest du dich. Und dass du das auch noch offen zugibst …” Hilflos brach sie ab.
Auf Constantins Wangen breitete sich eine leichte Röte aus. Er kniff den Mund zusammen. “Sex ist ein Geben und Nehmen von körperlicher Lust …”
“Ja, ja, ruck-zuck, das war’s, vielen Dank und auf Wiedersehen.” Rosies Kampfgeist kehrte langsam zurück. “Keine Zärtlichkeit, keine Wärme, keine Gefühle. Kein Wunder, dass Anton sich um deine Beziehungen zu Frauen Sorgen machte.”
Constantin wurde blass. “Du … du …”, keuchte er. Er hatte sichtlich Mühe, seinen Zorn zu zügeln.
Rosie senkte den Kopf. Warum hatte sie ihn schon wieder angegriffen? Aber wenn sie sich vorstellte, in so einen Mann verliebt zu sein – das wäre die Hölle. Ein kalter, unsensibler Klotz, der sich über körperliche Lust ausließ und keine tiefere Bindung kannte. Sie konnte solche Reden nicht vertragen.
Constantin hatte sich wieder gefangen. “Ich sehe nicht, was an meiner Einstellung verkehrt sein soll”, stellte er ruhig fest.
“Und was ist mit Liebe?”
“Ich habe noch nie eine Frau geliebt. Ich glaube nicht an die große Liebe”, erwiderte er ungehalten. “Aber wenn wir von Verliebtheit oder Leidenschaft sprechen wollen …!
“Nein, danke. Ich finde, für heute hast du dich genügend bloßgestellt.” Rosie griff zu Messer und Gabel und konzentrierte sich auf ihre Vorspeise. Auf einmal hatte sie keine Lust mehr, das Gespräch fortzusetzen.
Constantin hatte nie eine Frau geliebt? Nicht einmal Cinzia Borzone? Aber dann würde er das Gefühl vielleicht gar nicht erkennen, wenn es eines Tages auf ihn zukam.
Abwesend blickte sie über den Tisch. Auf dem weißen Leintuch vor ihrem Teller lag ein Ring. Geräuschvoll ließ Rosie das Besteck fallen und nahm den Estrada-Smaragd in die Hand.
“Warum gibst du ihn mir zurück?” flüsterte sie.
“Du überschätzt mich, ich spiele nur den Boten. Du hattest den Ring in England vergessen.”
“Als ich ihn das letzte Mal sah, war er in meinem Schmuckkästchen”, widersprach Rosie.
“Ich fürchte, du irrst dich. Maurice fand ihn auf dem Fensterbrett in der Küche.”
Beschämt schob Rosie den liebevoll gearbeiteten Ring auf den Finger. “Ich weiß gar nicht mehr, dass ich ihn da hingelegt hatte. Entschuldige”, sagte sie leise.
“Maurice gab übrigens voll und ganz zu, dass er für den üblen Zeitungsartikel verantwortlich war”, setzte Constantin hinzu.
Rosie hob ruckartig den Kopf. Ihre Pupillen waren geweitet. “Nein!”
Constantin beobachtete mit kühler Aufmerksamkeit ihre schockierte Reaktion. “Manchmal bist du unbeschreiblich naiv”, meinte er nachdenklich. “Du hast Maurice eine Story geliefert, die eine Menge Geld wert war. Klar, dass er das mitnehmen musste.”
“Ich kann’s nicht glauben! Nein, das ist nicht wahr!”
“Er hat es selbst zugegeben.” Constantin hielt ihren bekümmerten Blick fest. “Ich muss mich bei dir entschuldigen, dass ich dir diesen Verrat zugeschrieben habe.”
Rosie senkte wieder den Kopf. “Schon gut.”
“Es ist nicht gut”, beharrte Constantin. “Ich habe dir Unrecht getan. Aber warum hast du es so dargestellt, als hättest du das angezettelt?”
Rosie schluckte. “Ich … ich …”
“Dir scheint sehr daran gelegen, diesen Mann zu schützen, der dich ohne Zögern verraten hat”, fuhr Constantin höhnisch fort.
Rosie stand auf. “Ich habe keinen Hunger”, erklärte sie und verließ hastig den Raum.
Der Gedanke, Maurice könnte ihre Freundschaft aus Gewinnsucht aufs Spiel gesetzt haben, tat schrecklich weh. Sicher, Geld war ihm wichtig, er wollte im Leben vorwärts kommen. Aber seine Geschäfte liefen bestens, finanziell litt er wahrlich keine Not.
Mit Tränen in den Augen stolperte Rosie in einen Raum, in dem lauter fremde Menschen offenbar ein Büro einrichteten. Sie war so mit sich beschäftigt, dass sie sich nicht einmal darüber wunderte. Sie machte kehrt und rannte blindlings aus dem Haus. Aber auch im Hof vor der Tür wimmelte es vor Leuten. Rosie lief an einem Lieferwagen vorbei, der mit viel Wirbel ausgeladen wurde, in den Garten. Sie kam sich vor wie ein verletztes Tier, das Dunkelheit und Einsamkeit suchte.
Dann brach das Schluchzen aus ihr heraus. Sie schlug die Hände vors Gesicht, ihre Schultern zuckten krampfhaft. Plötzlich fühlte sie sich von hinten umarmt, feste Hände drehten sie herum. Sie stemmte sich dagegen, doch es half nichts.
“Hab keine Angst, paidi mou, ich bin’s nur”, sagte Constantin leise, als wäre es das Normalste von der Welt, dass er sie tröstend in die Arme nahm. “Ich weiß, es tut weh, wenn man enttäuscht wird.”
“Maurice ist der einzige Mensch, dem ich je vertraut habe … außer Anton.” Vergeblich kämpfte Rosie gegen die Tränen, die ihr über die Wangen liefen.
Constantin zog ihre Hände herunter, aber sie stieß ihn heftig weg und wandte ihm trotzig den Rücken zu.
“Wie lange kennst du Maurice eigentlich?” fragte er sanft.
“Seit ich dreizehn war … Und merkwürdig …”, murmelte Rosie gedankenverloren. “Bevor wir Freunde wurden, hatte ich mehr Angst vor ihm als vor den anderen Jungen im Heim.”
“In welchem Heim?”
Rosie lachte bitter. “Nachdem meine Mutter gestorben war, steckte mein Stiefvater mich in ein Fürsorgeheim.”
“Warum das?”
“Weil ich nicht sein eigenes Kind war. Erst nach der Heirat mit meiner Mutter erfuhr er, dass sie in anderen Umständen war.”
“Aber er blieb bei deiner Mutter. Warum hat er sich nicht scheiden lassen?” forschte Constantin.
Rosie presste die Lippen zusammen. Es war eine komplizierte Geschichte. Tony Waring war die erste Liebe ihrer Mutter gewesen. Er hatte sie angefleht, ihn zu heiraten, bevor sie nach London ging, um dort einen Job als Sekretärin anzunehmen. Als sie zurückkehrte und ihm ihr Jawort gab, war Tony überglücklich und hinterfragte ihren Sinneswandel nicht lange. Rosies Mutter hatte versucht, ihrer Tochter das Ganze zu erklären. Tony Waring war zu Recht erbittert, er war hintergangen worden. Man konnte nicht von ihm erwarten, dass er Rosie genauso annahm wie seine eigenen zwei Söhne.
“Er konnte es nicht verwinden, dass sie ihm das angetan hatte”, sagte sie leise. “Sie hatten noch zwei Kinder miteinander, doch er verzieh meiner Mutter den Fehltritt nie. Als sie tot war, wollte er mich nicht mehr um sich haben.”
“Wie alt warst du da?”
“Neun. Ich kam in ein Kinderheim und dann zu verschiedenen Pflegeeltern. Ich riss dauernd aus, also hatte ich bald den Ruf eines schwierigen Kindes. Da, wo ich schließlich landete, hatte ich ein paar ziemlich raue Kameraden.”
“Und Maurice war einer von denen?”
“Er war dort, weil die Behörden ihn in der Nähe des Krankenhauses unterbringen wollten, in dem seine Mutter lag. Seine Schwester war bei Pflegeeltern, aber halbwüchsige Knaben wollte niemand haben. Ich möchte jetzt eigentlich nicht mehr darüber sprechen.” Rosie wollte weggehen. Sie fragte sich, warum sie Constantin von diesen höchst persönlichen, schmerzlichen Dingen erzählte, die ihn absolut nichts angingen.
“Du liebst diesen geldgierigen Kerl also wirklich”, schnaubte Constantin wütend. “Diesen Bastard, der dich bei der nächstbesten Gelegenheit fallen lässt, sofern er auf der sicheren Seite ist!”
Rosie fuhr herum. Ihr Gesicht war tränennass und blass. “Wie kannst du so etwas sagen?”
“Er hat dich mir quasi in die Arme getrieben. Hat er überhaupt nachgefragt, was für ein Mensch ich bin? Hat er sich Gedanken gemacht, wie ich mit dir nach diesem Zeitungsartikel verfahren würde?”
“Er konnte nicht ahnen … er wusste ja nicht …”, wandte Rosie hilflos ein.
“Wenn du den Kerl noch länger verteidigst, fliege ich auf der Stelle nach England und nehme ihn nach Strich und Faden auseinander”, schnaubte Constantin. Seine Wut kam so überraschend, dass Rosie erschrocken die Augen aufriss. “Und wenn du wissen willst, warum ich das vorgestern nicht gleich getan habe, dann erinnere dich daran, dass er unsere ganze Geschichte kennt, nicht nur das bisschen, was in der Zeitung stand. Ich habe keine Lust, eines Tages am Frühstückstisch alles über deine schäbige Affäre mit Anton zu lesen.”
Damit ging Constantin davon, kehrte aber nach ein paar Schritten plötzlich um und kam durch das ungemähte Gras wieder auf Rosie zu. Er nahm ihre Hand. “Komm mit ins Haus und lass uns zu Ende essen.”
“Nein.”
“Meine Frau drückt sich nicht irgendwo im Garten herum und schmollt zum Amüsement des Personals.”
Rosie schluckte. Er hatte ja Recht. “Warum bist du eigentlich so wütend?”
“Was für eine dumme Frage.” Constantin zog ein blütenweißes Taschentuch hervor und trocknete ihr erstaunlich sanft die Wangen.
Rosie sah ihn nachdenklich an. “Ja, richtig”, sagte sie. “Es wäre dir peinlich, wenn diese komische Ehe allzu schnell auseinander ginge.” Natürlich, das war die Erklärung für sein unbegreifliches Verhalten.
Statt einer Antwort beugte Constantin sich herunter und nahm ihren Mund mit einem harten, wilden Kuss. Rosie öffnete unwillkürlich die Lippen, Hitze durchströmte ihren ganzen Körper. Von der Heftigkeit ihrer Reaktion wurde ihr fast schwindlig.
Als Constantin schließlich den Kopf hob, war sein Blick unergründlich. Überraschend ruhig sagte er: “Wir essen heute Abend im Formentor. So haben meine Leute Zeit, das Haus einigermaßen in Schuss zu bringen.”
Rosie trug ein hinreißend elegantes Abendkleid in schimmerndem Perlgrau, und sie musste zugeben, sie fühlte sich prächtig. Das Hotel war traumhaft, sie erkannte sogar den einen oder anderen Prominenten unter den Gästen im Restaurant. Doch der attraktivste Mann im Raum war ohne Zweifel Constantin. Sein klassischer Körperbau, das klar geschnittene Gesicht, die goldbraune Haut und diese unglaublichen dichten, dunklen Wimpern …
Es gab keine Frau in der Runde, die nicht ein zweites Mal zu ihm hingesehen hätte. Und irgendwie war es unfassbar, dass er nur Rosie sah, ihr Champagner einschenkte, ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete. Er hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt, als ein minimal bekleidetes blondes Gift hereinkam, das die Augen aller männlichen Gäste auf sich zog.
“Du bist sehr schweigsam, paidi mou”, sagte Constantin leise.
Es kostete sie enorme Willenskraft, sich von seinem intensiven Blick loszureißen. Versonnen betrachtete sie den schmalen Platinring an ihrem Finger, der im Kerzenlicht glänzte. Am frühen Abend war ein Juwelier mit einer beeindruckenden Kollektion auf Son Fontanal eingetroffen, und ein neuer Ehering war ausgewählt worden. Constantin hatte tatsächlich darüber gelacht, dass Rosie den ersten Ring in den Papierkorb geworfen hatte. Warum war er auf einmal so nett?
“An was denkst du, Rosie?” Sie konnte sich nicht erinnern, dass er sie jemals bei ihrem Kosenamen genannt hatte, es klang ganz neu. Und seine samtige Stimme brachte ihr unvernünftiges Herz heftig zum Schlagen.
Rosie betrachtete ihr Champagnerglas und holte tief Luft. “Ich denke an Maurice”, log sie. Sie fühlte sich durchaus schuldig, dass sie so schnell vergessen hatte, was noch vor wenigen Stunden höllisch geschmerzt hatte.
“Meine Güte, dieser Mensch verfolgt uns sogar bis hierher”, stieß Constantin ungehalten hervor.
Rosie warf den Kopf in den Nacken. Ihre Augen blitzten vor Zorn. “Maurice ist sicher nicht so gebildet und so wichtig wie du, aber immer, wenn ich ihn brauchte, war er da.”
“Nur wenn deine Bedürfnisse nicht mit seiner Geldgier in Konflikt gerieten.” Indem Constantin sie höhnisch an den peinlichen Zeitungsartikel erinnerte, lehnte er sich gemächlich zurück.
“Man kann nicht von allen Menschen erwarten, dass sie Freunde jederzeit an die erste Stelle setzen. Das war nicht einmal bei Anton so”, gab Rosie zaghaft zu bedenken. “Jedenfalls hat Maurice mich nicht sitzen gelassen, wenn ich ihn dringend brauchte.” Ihre Stimme begann zu schwanken. Vor Nervosität trank sie ihr Champagnerglas in einem Zug aus.
“Nenne mir ein Beispiel”, verlangte Constantin ungerührt.
Rosie schluckte verspannt. “Als ich dreizehn war, drangen zwei Jungen in mein Zimmer ein und versuchten, mich zu vergewaltigen. Maurice kam mir zu Hilfe und verhinderte es. Aber da die anderen zu zweit waren, wurde er ziemlich übel zusammengeschlagen.”
Constantin war blass geworden. Sein Blick verriet nichts, aber sein Mund zuckte. “Soll ich ihn deshalb jetzt als Helden verehren, anstatt ihn einen Dummkopf zu nennen? Vielleicht willst du mir eine Frage beantworten, bevor ich meine endgültige Meinung bilde – wie lange hat es gedauert, bis er mit deiner Zustimmung das bekam, was sich die anderen mit Gewalt nehmen wollten?”
Rosie zuckte zusammen wie von einem Schlag getroffen. “Ist das deine Art zu denken? Hättest du dich denn so verhalten?”
Constantin sah ihre Bestürzung. Er zögerte einen Moment, dann streckte er die Hand aus, um ihre krampfhaft gefalteten Hände zu berühren. “Rosie, ich …”
Sie entwand ihre Finger seinem Griff und fuhr nüchtern fort: “Ich erinnerte Maurice an seine kleine Schwester. Als Junge hatte er sich um Lorna kümmern müssen, weil ihre Mutter Alkoholikerin war. Aber nachdem sie in Fürsorge kamen, wurde Lorna von ihren Pflegeeltern adoptiert, Maurice stand allein da. Natürlich hatte er Kontakt mit seiner Schwester, aber das war recht wenig. Wenn du also verstehen willst, warum er an jenem Abend seinen Kopf für mich hinhielt, musst du in anderen Bahnen denken – oder ist das von dir zu viel verlangt?”
Tränen schimmerten in Rosies Augen. Ohne Constantin anzusehen, schob sie ihren Stuhl zurück und verließ den Raum. Im Foyer holte er sie ein. Mit seiner starken Hand umfasste er ihre schmale Taille und hielt sie zurück. “Rosie, bitte …”
“Constantin! Nein, so was!”
Beim Klang der schrillen weiblichen Stimme erstarrte er. Rosie fuhr herum. Das blonde Gift in dem kurzen, engen schwarzen Kleid stürmte auf sie zu. Der Busen der Frau schien die Nähte sprengen zu wollen, ihre stechenden blauen Augen blitzten triumphierend.
“Seit wann bist du denn hier?” wollte sie wissen. Sie riss Constantin regelrecht an sich und küsste ihn ausgiebig auf den Mund. “Erinnert dich das nicht an Monte Carlo, Darling?” hauchte sie, während sie mit beiden Händen über seinen Körper fuhr und dabei in Regionen geriet, die eine anständige Frau in der Öffentlichkeit besser nicht kontaktierte.
Constantin machte sich gelassen, doch entschlossen los. Sein Gesicht war kaum wahrnehmbar gerötet. Aus dem Augenwinkel warf er Rosie einen gespannten Blick zu.
“Justine, das ist meine Frau Rosalie”, sagte er ein wenig von oben herab.
“Oh, tu dir meinetwegen keinen Zwang an”, flötete Rosie. “Besitzdenken ist mir fremd.”
“Was, du bist verheiratet – du?” Justine schien wie vom Donner gerührt und geruhte nun, Rosie wahrzunehmen. “Mit ihr?” Sie beäugte Rosie von oben bis unten und konnte es offenbar nicht fassen. “Warum das denn?”
“Wenn ich mal in der richtigen Laune bin, leihe ich Ihnen meinen Mann gern aus.” Rosie lächelte strahlend. Dann drehte sie sich um und ging mit hoch erhobenem Haupt aus dem Hotel. Draußen war es dunkel, ihr Kopf schwirrte, sie hatte zu viel Champagner getrunken.
Kein Wunder, dass Constantin nicht nach dem attraktiven Mädchen geschaut hatte. Monte Carlo, Nizza, Partys … Und dieser Kerl hatte den Nerv, Rosie ein Flittchen zu nennen! Sie lief nicht halb nackt in Restaurants herum, und sie würde eher im Boden versinken, als sich einem Mann in aller Öffentlichkeit derartig an den Hals zu werfen.
Sie hatte nur ein paar Schritte getan, als Constantin neben ihr war. Er ergriff ihren Unterarm. “Sag mal, wie kannst du so abfällig über unsere Beziehung sprechen?” schnaubte er.
“Lass uns eins klarstellen, Constantin”, begann Rosie. Vor Zorn war ihr Gesicht fast so dunkel wie seins. “Ich betrachte mich nicht als verheiratet. Hast du das begriffen? Sollte ich jemals heiraten, dann einen Mann, den ich zumindest mag und achte. Und das wird mit Sicherheit kein eingebildeter, gefühlloser Klotz sein, der mit zweierlei Maß misst und dabei nicht fähig ist, über puren Sex hinauszudenken.”
“Sprich nicht so mit mir!” stieß Constantin hervor.
“Und dein Geschmack, was Frauen betrifft, ist unter aller Kritik!” zischte Rosie. Sie konnte nicht anders, das musste sie loswerden. “Warum verschwendest du deine Zeit überhaupt mit mir? In Monte Carlo ist es garantiert lustiger, Darling. Du bist ein oberflächlicher Frauenheld, einen wie dich würde ich nicht mal mit der Kneifzange anfassen!”
“Rosie … Ist das dein Ernst?” keuchte Constantin.
“Und ob es das ist, Darling!” Sie hatte sich in Rage geredet, sie bebte vor Wut.
Plötzlich zuckte ein Blitz auf. Einen Augenblick lang war Rosie geblendet. Dann machte sie einen Mann im weißen Hemd aus, der im Dunkel davonrannte. Constantin nutzte ihre Verblüffung, riss sie in die Arme und küsste sie heiß.
Und im nächsten Moment hatte Rosie das Gefühl zu fliegen. Ich habe dich angelogen, dachte sie noch, bevor sie beide Hände in sein dichtes schwarzes Haar grub und ihn an sich zog. Sie brauchte ihn, sie hasste ihn, sie begehrte ihn mit einer Leidenschaft, die völlig außerhalb ihrer Kontrolle lag.