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»In ihrer Vorstellung ist er zu einem Monster von mythischen Dimensionen angewachsen«, sagte Maura. »Seit sechs Jahren ist sie von ihm besessen. Da ist es nur natürlich, dass sie glaubt, er sei einzig und allein hinter ihr her.«
Vom Wohnzimmer aus konnte Jane das Geräusch der Dusche im Gästebad hören. Solange Millie außer Hörweite war, konnten sie sich ungestört über sie unterhalten, und Maura nutzte gleich die Gelegenheit, ihre Meinung zu äußern.
»Überleg doch mal, was für eine absurde Vorstellung das ist, Jane. Sie glaubt, dass dieser mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestattete Johnny Elliots Vater und Elliots Freundin getötet hat und noch so erstaunlich vorausschauend war, vor fünf Jahren mit einem silbernen Feuerzeug eine Spur zu legen, nur um sie aus ihrem Versteck zu locken.« Maura schüttelte den Kopf. »Ein so ausgeklügelter Plan würde selbst einen Schachgroßmeister überfordern.«
»Aber es ist doch möglich, dass es um sie geht.«
»Wo ist dein Beweis, dass Jodi Underwood und Leon Godt vom selben Täter ermordet wurden? Er wurde aufgehängt und ausgeweidet. Sie wurde bei einem Blitzüberfall kurzerhand erdrosselt. Solange der DNS-Abgleich dieser Katzenhaare nicht …«
»Das Tigerhaar ist ziemlich überzeugend.«
»Was für ein Tigerhaar?«
»Das Labor hat mich angerufen, kurz bevor wir zu dir aufgebrochen sind. Du erinnerst dich doch an dieses nicht identifizierte dritte Haar von Jodis blauem Bademantel? Es stammt von einem Königstiger.« Jane zog den transparenten Beweismittelbeutel aus der Tasche. »Leon Godt hat rein zufällig einen ausgestopften Tigerkopf an der Wand. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei verschiedene Mörder in Boston herumlaufen, die beide mit einem Tiger Kontakt hatten?«
Maura betrachtete stirnrunzelnd die Haare in dem Beutel. »Also, das macht deine Theorie schon wesentlich überzeugender. Außerhalb eines Zoos wird man nicht allzu viele …« Sie hielt inne und sah Jane an. »Der Zoo hat einen Königstiger. Was ist, wenn das Haar von einem lebenden Tier stammt?«
Der Zoo.
Eine Erinnerung schoss Jane durch den Kopf. Der Leopardenkäfig. Debra Lopez, zerfleischt und blutend zu ihren Füßen. Und der Tierarzt, Dr. Oberlin, der sich über Debra beugte und beide Hände auf ihren Brustkorb presste, um das Herz wieder in Gang zu bringen. Groß, blond und blauäugig. Genau wie Johnny Posthumus.
Jane zog ihr Telefon aus der Tasche.
Eine halbe Stunde später rief Dr. Alan Rhodes zurück. »Ich bin mir nicht sicher, wieso Sie das brauchen, aber ich habe ein Foto von Greg Oberlin auftreiben können. Es wurde vor ein paar Wochen bei unserer Spendengala aufgenommen. Worum geht es hier eigentlich?«
»Sie haben doch Dr. Oberlin nichts davon gesagt, oder?«, fragte Jane.
»Sie hatten mich gebeten, ihm nichts zu sagen. Mir ist offen gestanden nicht wohl dabei, das hinter seinem Rücken zu machen. Verdächtigen Sie ihn etwa irgendwie?«
»Ich kann Ihnen keine Details verraten, Dr. Rhodes. Es muss alles vertraulich behandelt werden. Können Sie mir das Foto mailen?«
»Jetzt gleich, meinen Sie?«
»Ja, jetzt gleich. – Maura«, rief Jane. »Ich muss mal an deinen Computer. Er schickt das Foto.«
»In meinem Arbeitszimmer.«
Als Jane an Mauras Schreibtisch Platz genommen und sich in ihren E-Mail-Account eingeloggt hatte, befand sich das Foto bereits im Posteingang. Rhodes hatte gesagt, es sei bei einer Spendengala des Zoos aufgenommen worden, und es war offenbar eine sehr formelle Angelegenheit gewesen. Sie sah ein halbes Dutzend lächelnde Gäste in Smoking und Abendkleid, die mit Weingläsern in der Hand in einem Ballsaal posierten. Dr. Oberlin war am Bildrand zu sehen, er hatte sich halb abgewandt, um nach einem Tablett mit Häppchen zu greifen.
»Okay, ich habe es jetzt vor mir«, sagte sie am Telefon zu Rhodes. »Aber das ist nicht gerade die beste Aufnahme von ihm. Haben Sie keine anderen?«
»Da müsste ich erst suchen. Oder ich könnte ihn einfach fragen.«
»Nein. Fragen Sie ihn nicht.«
»Könnten Sie mir bitte sagen, was das alles soll? Sie ermitteln doch hoffentlich nicht gegen Greg, denn ich kenne kaum einen anständigeren Menschen als ihn.«
»Wissen Sie, ob er je in Afrika war?«
»Was hat das denn damit zu tun?«
»Wissen Sie, ob er schon einmal in Afrika war?«
»Da bin ich mir ziemlich sicher. Seine Mutter stammt ursprünglich aus Johannesburg. Hören Sie, Sie müssen mit Greg selbst sprechen. Das wird mir allmählich unangenehm.«
Jane hörte Schritte hinter sich. Sie schwenkte ihren Stuhl herum und erblickte Millie. »Was meinen Sie?«, fragte Jane sie. »Ist er das?«
Millie gab keine Antwort. Sie stand da und fixierte das Foto, während sie sich mit beiden Händen an der Lehne von Janes Stuhl festhielt. Ihr Schweigen zog sich so lange hin, dass der Computerbildschirm schwarz wurde und Jane ihn wieder aktivieren musste.
»Ist das Johnny?«, fragte sie.
»Es … Er könnte es sein«, flüsterte Millie. »Ich bin mir nicht sicher.«
»Mr. Rhodes«, sagte Jane ins Telefon, »ich brauche ein besseres Foto.«
Sie hörte ihn seufzen. »Ich frage Dr. Mikovitz. Oder vielleicht hat seine Sekretärin eines im Pressebüro.«
»Nein, es dürfen nicht so viele Personen eingeweiht werden.«
»Aber ich wüsste nicht, wie Sie sonst noch an Fotos von ihm herankommen wollen. Es sei denn, Sie kommen mit Ihrer eigenen Kamera vorbei.«
Jane sah Millie an, deren Blick noch immer starr auf das Bild von Dr. Gregory Oberlin auf dem Monitor gerichtet war. Und sie sagte: »Genau das habe ich vor.«