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Brockmüller krallte die Finger in das Laken und schrie: «Mein Bein, mein Bein!»

Er war eben über die granitgrauen Platten gegangen, die – in den Rasen gebettet – von der Straße zum Haus hinaufführten und dabei auf etwas getreten, das wie ein Teebeutel aussah: eine winzige Mine. Sie hatte ihm das rechte Bein weggerissen.

Ohne auf Annelie zu achten, die sich steil aufgerichtet hatte, fuhr seine Hand von den Schenkeln an nach unten, bis die Finger die Zehen ertasten konnten. Dann erst begriff er, daß auch dies nur ein Traum gewesen war, und bemerkte, daß ihm Annelie über die Stirn strich.

«Diese Gravels!» stieß er hervor. «Immer wieder.»

Annelie hatte ihm gestern abend – war es nur gedankenlos oder war es Absicht? – eine Illustrierte lesen lassen, in der von diesen Kleinstminen die Rede war, die beim amerikanischen Militär unter der Bezeichnung XM-41 E liefen und in Vietnam verwendet wurden. Sie sollten etwa zwanzig Quadratzentimeter groß und durch ihre Tarnfarben kaum am Boden auszumachen sein. Behalten hatte er auch ihr vermutliches Aussehen: wie ein Teebeutel.

Das war der Stoff, aus dem die Träume waren, wenn man als Todeskandidat zu gelten hatte.

Jemand hämmerte gegen die Schlafzimmertür. «Ist was?»

Erneute Schrecksekunde, ehe er begriff, daß dies kein gefährlicher Eindringling war, sondern Kriminalmeister Olscha, der auf Mannhardts Geheiß gestern abend zu ihnen gekommen war und drüben im Wohnzimmer seine Zeit abgesessen hatte.

«Nur ein blöder Traum!» rief Brockmüller.

«Okay.»

«Ist sowieso gleich Zeit zum Aufstehen», sagte Annelie.

Brockmüller dachte an die anderen drei, die wie er bedroht waren. Owi war durchaus in der Lage, wie Olscha gestern angedeutet hatte, Sprengstoff nach Art der Gravels zuzubereiten. Er hatte viel experimentiert und wohl, so Mannhardt, in den fünfziger Jahren auch mal erwogen, über den zweiten Bildungsweg das Abitur zu machen und Chemie zu studieren. Aber dann war da ja jetzt auch noch die neue Möglichkeit, daß er einen Killer geheuert haben könnte. Daher die Leibwache. Die anderen drei hatten auch eine… Was für ein Aufwand!

Eigentlich…

Eigentlich war das ziemlich unvorstellbar: ein geheuerter Killer. Das gab’s doch nicht. Das gab’s doch nur im Krimi. Im Chicago der dreißiger Jahre, schön. Aber hier? Na ja – in politischen Emigrantenkreisen vielleicht, oder bei Waffenhändlern, im Einzelfall.

Aber die ganze Geschichte war im Grunde unvorstellbar…

Wie mochten die anderen drei die Nacht überstanden haben?

Ob Kuhring, der Mann mit der Potenz eines preisgekrönten Zuchtbullen, auch gestern abend mit einem seiner Riesenweiber ins Bett gestiegen war? Ging so was unter den Augen der Kripo? Oder hatte er sich wieder sinnlos besoffen, um den ganzen Scheiß zu vergessen?

Komisch, auch Annelie schien an Ähnliches zu denken. Die Hände unter dem Kopf verschränkt, mit ihrem dicken Bauch komisch anzusehen, sagte sie: «Hoffentlich ist Karl-Heinz besser über die Runden gekommen als wir.»

Karl-Heinz! Dieses Arschloch! Wenn Owi den ins Jenseits beförderte, war’s wahrlich kein großer Verlust für die Menschheit.

Brockmüller dachte an Zumpe. Wie’s dem wohl ging mit seiner Gallenkolik und seinem Magengeschwür und einer Frau, mit der es nichts anderes mehr gab als täglich Krieg… Er liebte sie und das Kind, sie aber ekelte sich vor ihm und wollte die Kleine für sich allein. Acht Jahre alt war Sigrid und überaus niedlich; ein Jahrzehnt lang waren sie verheiratet. Und nun das noch!

Und die Lux? Die wirkte nur so dickfellig; tatsächlich war sie ziemlich sensibel. Sie lebte ganz allein und hatte niemanden, der sie trösten konnte.

Aber ging’s ihm denn besser? Annelie regte das Ganze viel weniger auf als etwa ‘ne Mieterhöhung um 15 Prozent. Sie war so ruhig und gefaßt, daß er jedesmal vor Wut kochte, wenn er sie ansah. Mein Gott, hatte sie denn überhaupt keine Angst, daß er bei dieser Geschichte hier draufging? Owi war schließlich ein intelligenter Irrer, der nichts mehr zu verlieren hatte, weil er schon alles verloren hatte.

«Ist dir eigentlich scheißegal, was mit mir passiert?» Brockmüllers Stimme klang gepreßt, ein bißchen weinerlich.

«Begreif doch endlich, daß ich so tun muß, als sei nichts passiert. Ich hab ‘ne furchtbare Angst vor ‘ner Frühgeburt. Du weißt doch selber, daß sie Carsten nicht durchgekriegt haben – und da waren’s auch bloß fünf Wochen.»

Carsten war der Sohn ihrer Schwester. Ja, aber das war eine Verkettung von unglücklichen Umständen, das wiederholte sich nicht.

«Ich bin dafür, daß wir die Geburt einleiten lassen», sagte Brockmüller. «Die Angst jetzt ist doch viel schlimmer, das gibt womöglich bleibende Schäden, und…»

«Ich hab keine Angst. Das ist doch alles Theater – da steckt doch nichts dahinter! Ihr laßt euch doch alle von diesem Blödmann ins Bockshorn jagen. Der Owi – daß ich nicht lache!»

Brockmüller schwieg und starrte an die Decke. Seit das Kind unterwegs war, kümmerte sich Annelie herzlich wenig um ihn. Nur noch das Kind! Er hatte seine Schuldigkeit getan, er konnte gehen. Andere Frauen kamen um vor Angst, daß ihnen der Vater ihres Kindes starb, aber sie… Na ja, vielleicht hatte sie recht. Wenn sie wirklich so ‘ne neurotische Angst vor ‘ner Frühgeburt hatte… Bei schwangeren Frauen wußte man nie.

Es klopfte. Olscha:

«Ich darf mir doch mal ‘ne Tasse Kaffee kochen?»

«Sie können mit uns zusammen frühstücken.»

«Okay.»

An diesem Morgen geriet seine altbewährte Ordnung völlig durcheinander. Erst blockierte Olscha die Toilette, dann Annelie. Das Brot lag im Kühlschrank und die Butter noch im Einkaufsnetz, seine Aktentasche stand umgekippt auf dem Korridor und seine Schuhe fand er in der Besenkammer; der Heißwasserbereiter platzte fast vor Dampf und abgewaschene Tassen gab es auch keine.

Das hältst du nicht mehr lange aus!

Brockmüller, seit Jahren auf Bewegungsrationalisierung und optimale Organisierung menschlichen Handelns ausgerichtet, litt unter diesem Tohuwabohu, als würde man ihn foltern.

Endlich saßen sie am Frühstückstisch, alle drei übernächtigt, Annelie noch im Morgenmantel. Das Radio dröhnte. Es stank, weil Olschas Weißbrotscheibe im Toaster verbrannt war. Wenn er im Ernstfall genauso schnell reagierte, dann gute Nacht, Marie!

Olscha konnte sich noch immer nicht darüber beruhigen, daß sie nicht Mannhardts Vorschlag gefolgt und allesamt mit Kind und Kegel für ein paar Tage oder Wochen möglichst weit weggefahren waren.

«Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ossianowski in Garmisch auch ‘ne Bombe versteckt hat.»

«Aber wenn er sich wirklich ‘n Killer gemietet hat, der kommt auch nach Garmisch.»

Doch das war nicht der eigentliche Grund, warum sie in Berlin geblieben waren, auch nicht Kuhrings Argument, man dürfe sich von Owi nicht einschüchtern und zum Narren machen lassen. Wir gehen morgen früh an unsere Arbeit und tun so, als wäre nichts geschehen. Morgen früh um halb acht sitzen wir alle in der Mansfelder Straße und arbeiten. Das stand sicher heute in der Morgenzeitung, schön markig.

In Wahrheit entsprang ihr Mut der Angst, eine Menge zu verlieren, wenn sie die Flucht ergriffen. Kuhring hatte Feinde in der EUROMAG und fürchtete – wohl nicht zu Unrecht –, daß man Owis Racheakte als willkommenen Anlaß benutzen könnte, seine ebenso überflüssige wie gefährliche Sondergruppe kurzerhand aufzulösen. Sicher, noch deckte sein Generaldirektor ihn, aber wie lange noch? – Auch Zumpe hatte vermutlich nicht das geringste Interesse daran, Berlin zu verlassen, denn das hätte den Anfang vom Ende seiner Ehe bedeuten können. Und Brockmüller selber? Er konnte doch Annelie in ihrem Zustand nicht allein lassen…

Olscha quatschte was von seiner Zeit in Hiltrup, wo man ihm auf irgendeiner Schule das Schießen und ähnliches beigebracht hatte. Annelie hatte nichts anderes im Kopf als die Frage, ob wohl die dicke maisgelbe Wolle vom Versandhaus heute kommen würde oder nicht, damit sie die Decke für Anna-Lenas Wagen noch häkeln konnte.

«… nach drei Jahren Streife hab ich mich bei der Kripo gemeldet und bin auch gleich genommen worden – alle Tests glänzend bestanden…»

«… es ist mein erstes Kind, und ich bin schon bald zehn Jahre älter als Ihre Frau, Herr Olscha, da ist es gefährlicher…»

«… Mannhardt meint, wenn ich mich weiter so entwickle, dann bin ich bald im gehobenen Dienst. Da gibt es nämlich Aufstiegslehrgänge, und ich…»

«… ich will ihr auch noch was häkeln, ein paar Jäckchen hab ich ja schon, aber die schicken mir die Wolle nicht…»

Wenn die doch bloß alle beide die Schnauze hielten!

Brockmüller hatte das Gefühl, in einem Restaurant als ungebetener Gast bei einem fremden Ehepaar am Tisch zu sitzen. Mal hörte er hin, was die beiden sagten, wenn auch nur mit halbem Ohr, mal war er mit seinen Gedanken ganz woanders.

Heute wirst du sterben.

Da war’s wieder. Wie von einem Endlosband, einer Schlaufe, die ohne Unterlaß um beide Spulen lief. Und es gab nichts, was diese Stimme löschen konnte, weder der Schlaf noch der eigene Wille, noch Librium…

«Dann wollen wir mal, was?» Olscha erhob sich.

Brockmüller folgte ihm wie in Trance. Er küßte Annelie, ohne es Sekunden später zu wissen, er setzte sich in ihren 500er Fiat, ohne sich anschließend daran zu erinnern, wie er dort eigentlich hineingekommen war.

«Der Wagen ist die ganze Nacht über in der Garage bewacht worden», sagte Olscha. «Sie brauchen nichts zu befürchten. Ich fahr mit dem Opel da immer ein paar Meter hinter Ihnen her. Bis dann!»

Brockmüller fuhr los, und er kam sich vor wie ein bewegliches Ziel, das an einer Strippe an den wartenden Schützen vorbeigezogen wird. Der Killer… Gab’s so was überhaupt? Wie findet man eigentlich einen, der so was macht?

Mensch, sie hatten doch alle schon ‘ne Macke!

Er fuhr die breite Königsstraße hinunter; Olscha blieb hinter ihm. Alles in Brockmüller war angespannt, alles in ihm wartete auf einen Knall, der das Ende war. Das Warten auf den Urknall, dachte er, aber Ironie lag ihm heute offenbar nicht. Doch nichts geschah.

Natürlich geschah nichts.

Im vorigen Jahr zu dieser Zeit hatte er auf Ibiza am Strand gelegen, nichts geahnt von dem, was jetzt, 365 Tage später, hier in Berlin los war. Wenn man doch bloß alles wieder zurückdrehen könnte! Fast hätte er gebetet: HERR, laß mich wieder an der Cala San Clemente in der Sonne liegen.

Was wird in einer Stunde sein?

Was wird morgen sein?

Ob er noch einmal drüben im Wannsee baden konnte?

Du bist ja verrückt!

Allerdings.

Zum erstenmal, seit er sie morgens mitnahm, freute er sich, als nun am Bahnhof Wannsee die Lux in seinen Wagen stieg.

«Mensch, ist das ein kleines Ding», schimpfte sie, «richtiges Schlaglochsuchgerät!»

«Der Rolls-Royce wird erst morgen geliefert.»

«Läßt sich denn an Ihrem anderen Wagen noch was machen?»

«Mal sehen.»

Damit waren sie schon beim Thema.

«Mir hat Mannhardt eine Beamtin von der weiblichen Kriminalpolizei geschickt», sagte die Lux. «Aus moralischen Gründen wohl. Eine Frau Specht. Wir haben die halbe Nacht Scrabble gespielt.» Sie hatte dicke Ringe unter den Augen und sah auch sonst ziemlich mitgenommen aus.

Sie kamen, was wohl unvermeidlich war, auf Owi zu sprechen.

«Wie kann man nur auf solche Ideen kommen!» sagte die Lux.

«Man kann schon…» brummte Brockmüller.

«Also, wenn Sie meine Meinung wissen wollen…» Sie holte tief Luft, und der aufgestaute Haß brach aus ihr heraus: «Den hätten schon die Nazis umbringen sollen, dann hätten sie wenigstens ein gutes Werk getan.»

Brockmüller war allergisch gegen faschistische Sprüche, wußte jedoch aus Erfahrung, daß es keinen Sinn hatte, der Lux derlei abgewöhnen zu wollen: Diese ganzen Anarchisten sollte man ins Meer werfen… Jedes Kind muß erst mal Gehorsam lernen… Frauen haben nichts in der Politik zu suchen…

Er zwang sich mühsam, ruhig zu bleiben. In dieser Situation durften sie sich nicht auch noch untereinander zerstreiten.

So sagte er nur vorsichtig: «So darf man’s nicht sehen – jeder Mensch hat das gleiche Recht zu leben, und Owi ist nur so geworden, weil die Menschen, weil wir ihn dazu gemacht haben.»

«Sie sind auch so ‘n linker Spinner, was!? Sie nehmen den Kerl auch noch in Schutz! Ich würd ja lachen, wenn Sie der erste sind, den’s erwischt.»

Brockmüller reagierte bewußt gelassen. «Aber, Fräulein Lux! Wir sitzen doch alle im selben Boot.»

«Na ja…» Sie beruhigte sich nur langsam.

Als sie einen Teil der Avus schon hinter sich hatten und gerade die Ausfahrt Hüttenweg passierten, begann es in Strömen zu regnen. Das war nun gar nicht schön, weil Brockmüller mit dem kleinen Wagen noch immer nicht so recht klar kam. Man mußte viel schalten, und das Getriebe war nicht synchronisiert. Fortwährend überholten ihn schnellere Wagen und schleuderten ihren Dreck gegen seine Windschutzscheibe. Da die Scheibenwischer uralte Blätter hatten, sah er nicht mehr viel. Verdammte Scheiße! Viel lieber hätte er in der S-Bahn gesessen, die ein paar Meter rechts von ihm Richtung Westkreuz fuhr. Aber das Tempo drosseln wollte er auch nicht – wenn da wirklich irgendwo ein Killer lauerte… Ein bewegliches Ziel ist um so leichter zu treffen, je langsamer es sich bewegt.

Quatsch. Es gibt keinen Killer.

Dann kam alles ganz anders.

Ein weinroter Peugeot war neben ihm auf der Überholspur und machte plötzlich einen Satz nach rechts.

Der Killer!

Brockmüller riß den kleinen Wagen zur Seite, um dem anderen nicht in die Flanke zu fahren. Dabei verlor er – war es nun der Schreck oder Regen, waren es seine zerrütteten Nerven oder war es der ungewohnte Wagen – die Gewalt über das Fahrzeug.

Er registrierte nur noch, wie die weiße Leitplanke herangeflogen kam.