ZEHNTES KAPITEL
Erst nach einer Stunde erreichten Igor und Marko den Lagerbereich. Plötzlich weitete sich die Straße zu einem riesigen Platz. Eine Welt lag vor ihnen, in der es alles gab, nur keine Hoffnung.
Nicht, daß Sadowjew eine falsche Länge der verbotenen Straße angegeben hatte … zwanzig Minuten stimmte. Aber Igor hatte seinen Marsch mehrmals unterbrochen. Am Wegrand lagen Dinge, mit denen man normalerweise nicht eine Straße einfaßt. Eine große Blutlache, ein abgesplitterter Gewehrkolben, eine Holzplatte mit einer klebrigen Flüssigkeit darauf, die Marko sachverständig als Gehirnmasse bezeichnete, ein geflochtener Schuh, die Innensohle voller Eiter.
»Eine besondere Straße«, sagte Marko und warf den Schuh weit weg in den Wald. »Doktor, sie werden am Ende des Weges vergessen müssen, daß Sie ein Mensch sind.«
»Oder sie warten dort auf einen Menschen!«
Marko sah Igor scheel an, zuckte mit den Schultern, schlurfte weiter. Schwer wird es sein, ihn zu beschützen, dachte er. Er ist ein Mensch von übermorgen, und den hat niemand gern.
Das Lager war so angelegt wie alle Besserungs-Arbeitslager, so heißen sie in der Amtssprache. Ein über drei Meter hoher Holzzaun umgab das gesamte Areal. In ihm waren große hölzerne Tore eingelassen, überragt von ebenfalls hölzernen Wachtürmen. Zwischen dem Zaun und dem eigentlichen Lager breitete sich die verbotene Zone aus, ein Geländestreifen, mit Stacheldraht umzogen. Wer sich in dieser Zone befand, durfte von den Wachen ohne Anruf erschossen werden. Scheinwerfer auf den Wachtürmen tasteten in der Nacht diesen Todesstreifen ab. Neben dem Haupttor standen das Wachhaus, ein Holzbau, mit Stacheldraht umgeben, ein Hundezwinger mit großen, doggenähnlichen, gelbfelligen und grünäugigen Bluthunden, und ein dicker Wasserturm. Im Innern des Lagers, rund um den großen Appellplatz und durch »Straßen« voneinander getrennt, lagen die Baracken der Häftlinge, die Wäscherei, die Küche, das Magazin, die Bäckerei, die Werkstatt, die »politische Baracke«, eine Art Versammlungssaal zur Schulung und Umerziehung, ein Badehaus – und als einziges aus gelben Ziegeln gebaut mit einem roten Schindeldach – das Krankenhaus und der Strafbunker. Man nannte ihn vornehm den ›Isolierzellen-Block‹ … eine Hölle innerhalb der Hölle. Ganz im Hintergrund des Lagers, getrennt von allen anderen Baulichkeiten, noch einmal besonders mit einem dichten Stacheldrahtzaun umgeben, standen die Quarantäne-Baracken. Hier wurden alle Neueinlieferungen einundzwanzig Tage lang festgehalten, gebadet, untersucht, entlaust, beobachtet auf ansteckende Krankheiten oder andere Gebrechen. In einundzwanzig Tagen zeigt jeder Körper, was er zu verbergen hat.
Igor entdeckte schon von weitem, daß in der Wachbaracke ihr Kommen signalisiert war. Wächter in erdbraunen Uniformen und schief sitzenden Käppis auf den kurzgeschorenen Haaren liefen ein paar Meter vor dem Stacheldrahtzaun hin und her und hoben wie auf ein Kommando die Maschinenpistolen an die Brust.
»Stoj!« schrien sie, als Igor und Marko ruhig weitergingen. »Stoj! Oder wir schießen!«
»Bleiben wir stehen«, sagte Marko und stellte das Gepäck auf den staubigen Boden. »Es ist nicht gut, sie zu reizen.«
Sie blieben stehen, und die Soldaten liefen ihnen entgegen. In einem Kreis umringten sie Igor und Marko und starrten sie finster an. Der Posten mit der lautesten Stimme betrachtete zuerst Marko und schüttelte dann den Kopf.
»Können Sie nicht lesen?« schrie er Igor an. »Oder liefern Sie zu Demonstrationszwecken eine Riesenwanze ab?«
Marko zog die Schultern hoch. »Ich werde mir das Bürschchen merken«, sagte er leise. »Wenn er jemals in das Krankenhaus kommt, werde ich ihm eine Spritze geben, und wenn's mich hundert Rubel Bestechung kostet.«
»Ich bin Dr. Pjetkin«, sagte Igor laut. »Abkommandiert als neuer Arzt.«
Der Korporal war unbeeindruckt. Er schob nur seine breite Hand vor.
»Papiere? Marschbefehl? Einweisung?«
Igor reichte die Schriftstücke hinüber. Erst, als der Korporal sie studiert hatte, wurde er freundlicher. Er faltete sie zusammen, steckte sie in seine Uniformtasche und warf die Maschinenpistole an dem Lederriemen über die Schulter.
»Kommen Sie mit, Genosse«, sagte er in normalem Ton. »Ich werde Sie anmelden bei der Lagerleitung.«
Igor und Marko wurden in die Wachbaracke geführt, in ein leeres Zimmer ohne Fenster. Eine Glühbirne hing traurig von der Decke und erhellte spärlich den Raum.
»Warten Sie hier«, sagte der Korporal, verließ das Zimmer und schloß es ab.
»Sie trauen uns nicht«, sagte Marko und setzte sich auf Igors großen Kleidersack. »Ein bißchen idiotisch, meine ich. Wer kommt schon freiwillig hierher?«
Sie warteten über eine halbe Stunde, rauchten dabei eine Zigarette und schraken zusammen, als ganz plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Ein Offizier des KGB trat ein und musterte Igor unverhohlen. In den Händen hielt er die Papiere aus Chabarowsk.
»Wir haben keine Ahnung, daß Sie kommen, Igor Antonowitsch«, sagte der Offizier. »Eine Schweinerei ist das. Eine Schlamperei! Seit einem Jahr fordern wir nun einen Arzt an, um die Genossin Dussowa zu entlasten … und jetzt kommt endlich einer, und niemand weiß etwas davon. Schlafen die Genossen in der Stadt?«
»Überlastet sind sie«, sagte Igor. Er dachte an den Beamten der Gesundheitsabteilung und an dessen Beschreibung der Dussowa. »Ich wette mit Ihnen, daß in einer Woche meine Zuweisung vorliegt. Genügt Ihnen nicht der Marschbefehl?«
»Natürlich, Genosse Pjetkin. Glücklich sind wir, Sie endlich zu haben! Stellen Sie sich vor … dreitausend Lagerinsassen, ohne die Wachmannschaften, davon eintausend Kriminelle und zweitausend 58er. Und nur ein Arzt! Man kann über die Halunken denken wie man will … ärztlich versorgt muß der größte Lump werden. Das ist Humanität.«
»Wer sind die 58er?« fragte Igor ratlos.
»Die Politischen, mein Lieber. Verurteilt nach Paragraph 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches. Die Meckerer und Unzufriedenen, Konterrevolutionäre und Volksschädlinge, Spione und Saboteure, Terroristen und Konspiranten … der ganze Abschaum also.« Der KGB-Offizier zog das Kinn an und betrachtete Marko mit einem deutlichen Anflug von Ekel. »Himmel, wer ist das?«
Marko schnaufte durch die breite Nase, was wie ein Raubtierzischen klang. »Meine Papiere«, sagte er und reichte seine Ausweise hin. »Ich bin Fachmann für Leichen …«
»Was ist er?« Der Offizier riß Marko die Papiere aus der Hand.
»Er ist mein Begleiter. Mein Gehilfe, wenn Sie so wollen, Genosse. Die Gesundheitsbehörde in Chabarowsk hat die Zuteilung des Genossen Godunow für meine Arbeit genehmigt. Er soll als Krankengehilfe arbeiten.«
»Ein Anatomiediener!« Der Offizier warf die Papiere Marko vor die krummen Spinnenbeine. »Sie haben vielleicht Humor da oben. Er wird mehr Leichen herumschleppen, als ihm lieb ist.«
»Ist die Sterblichkeit hier so groß?« fragte Igor interessiert.
»Die Sterblichkeit ist normal … nur, Sie kennen die Dussowa noch nicht.«
Der gleiche Satz wie in Chabarowsk. Igor schüttelte den Kopf. »Ich freue mich, sie gleich zu sehen.«
»Dann sind Sie der einzige, der sich freut. Kommen Sie mit.« Er ging zur Tür, und Marko hob das Gepäck auf. Aber der Offizier winkte ab.
»Lassen Sie das liegen! Sie sind jetzt Mitglied der Lagerverwaltung. Ein Heer von Trägern steht Ihnen zur Verfügung. Wache! Zwei Mann zum Gepäck.«
Über den langen Flur klapperten Schritte. Füße in Holzsandalen. Dann erschienen zwei Gestalten in der Tür und warteten auf dem Gang. Sie trugen Hosen aus Baumwolle, grau, farblos, vielfach geflickt, und ein bräunliches Hemd. Der Kopf war kahlgeschoren, klein wie bei einem Kind, zusammengeschrumpft. In tiefen dunklen Höhlen lagen die matten Augen. Es waren zwei alte Männer, soweit man das Alter hier noch bestimmen konnte. Einer von ihnen sah Igor mit einem stummen Flehen an … seine Lippen waren blau und zitterten.
»Gepäck zum Krankenhaus!« brüllte der Korporal, der von der Seite auftauchte. »Und schnell, ihr Affen! Dawai, dawai, ihr Eierköpfe!«
Die Häftlinge stürzten sich wie hungrige Wölfe auf das Gepäck, rissen es an sich und verließen im Laufschritt das Zimmer. Das Keuchen ihrer Lungen war laut wie ein Auspuff.
»Der eine Mann ist krank«, sagte Igor. »Ein Herzleiden. Ich werde ihn morgen untersuchen. Warum arbeitet er noch?«
»Fragen Sie die Dussowa.« Der MWD-Offizier lachte rauh und ging voraus. »Mein lieber Pjetkin, Sie kommen in kein Sanatorium …«
*
An der Lagerleitung verließ der Offizier Igor und Marko. Er zeigte auf den Steinbau und sagte: »Dort ist es. Wir sehen uns nachher beim Essen. Viel Glück, Genossen.«
Langsam gingen sie über den gefegten Platz zum Krankenhaus. In den Lagerstraßen arbeiteten Sträflinge, die Innendienst hatten. Sie kehrten die Wege, strichen das Holzwerk mit grüner Farbe, flickten die Baracken. Aus der Küchenbaracke stieg steil fettiger Rauch. Es roch nach Sauerkohl. Im Todesstreifen arbeitete ebenfalls ein Trupp … er harkte den feinen Sand zwischen Stacheldraht und Holzzaun zu einer glatten Fläche. So konnte man am nächsten Morgen sehen, ob jemand versucht hatte, den Streifen zu überwinden.
Aus der Tür des Krankenhauses traten jetzt die beiden Gepäckträger. Der Mann mit den blauen Lippen zog sofort seine Mütze und blieb demütig vor Pjetkin stehen.
»Kann man mit Ihnen reden, Genosse?« sagte er leise, als Igor an ihm vorbeiging. »Bitte, nur ein paar Minuten. Haben Sie ein Herz … Sie sehen so aus, als hätten Sie eins. Bitte …«
»Wer sind Sie?« fragte Igor. Er blieb stehen. Der andere Häftling lief schnell weiter, mit eingezogenem Kopf, die Zentnerlast der Furcht im Nacken.
»Stepan Iwanowitsch Duschowskij. Professor der Physik in Charkow. Werden Sie mich anhören?«
»Ja, natürlich. Morgen früh. Kommen Sie ins Krankenhaus.«
»Dort ist die Dussowa …«
»Und ich bin auch dort, Professor. Genügt Ihnen das?«
»Es ist schwer, noch an etwas zu glauben.«
»Warum sind Sie hier im BA?«
»Ich habe Berechnungen vorgelegt. Ich habe gesagt, daß wir in den nächsten zehn Jahren die Amerikaner in der Atomforschung nicht einholen können. Es war die Wahrheit …«
»Morgen früh nach dem Appell. Ich nehme an, es werden hier Appelle gemacht?«
»Ja, natürlich.« Duschowskij strich mit der Handfläche über die blauen, trockenen Lippen. »Aber sie werden mich zum Außenkommando einteilen. Heute ist ein Glückstag … ich habe Innendienst.«
»Sie melden sich krank.«
»Der Obmann wird mich auslachen und in den Hintern treten. Waren Sie schon einmal in einem Lager?«
»Nein. Ich sehe so etwas zum ersten Mal.«
»Dann legen Sie einen Panzer um Herz und Hirn, sonst sitzen Sie eines Tages neben mir auf der Pritsche in Baracke 19. Denken Sie an meine Worte, junger Freund. Wie alt sind Sie?«
»Noch keine sechsundzwanzig.«
»Wie jung. Wie herrlich jung! Und dann in der Hölle!« Duschowskij setzte seine schmutzige Mütze wieder auf. »Ich will es versuchen, Doktor. Morgen früh. Wenn mich der Obmann nicht zusammentritt. Sie müssen wissen … jede Baracke hat ihren Obmann, ein Oberteufelchen unter lauter Teufeln. Nur Kriminelle. Sie bilden die Oberschicht im Lager … wir Politischen sind Abfall, Kloakeninhalt. Sie werden es noch sehen … wohin Sie kommen, in der Küche, im Magazin, in der Bäckerei, in den Werkstätten, in der internen Lagerselbstverwaltung, im Krankenhaus, überall nur Kriminelle, Diebe, Räuber, Homosexuelle, Notzüchter, Fälscher, Zuhälter, sogar Mörder und Totschläger. Mein Obmann ist ein Straßenräuber gewesen. – Bis morgen, junger Freund. Ich will's versuchen …«
In Gedanken ging Igor weiter. So ist das hier, dachte er. Brauchen sie einen Arzt für die Beschleunigung des Todes? Einer, der selektiert, statt zu heilen? Der Baracken durchkämmt und Kranke zu Arbeitsfähigen stempelt?! Und dafür habt ihr einen Pjetkin ausgesucht? Welch ein Fehlgriff, Genossen …
Sie betraten das Krankenhaus und prallten gleich in der Eingangsdiele auf einen Häftling, der einen anderen vor sich hertrieb und ihm eine mit Kot beschmutzte Unterhose um den Kopf schlug. Der Geschlagene wimmerte und rannte im Kreis herum.
Igor hielt den Mann mit der Unterhose fest und schleuderte ihn gegen die Wand. Der Häftling machte große Augen und wollte sich abstoßen, aber Marko war schon bei ihm und stieß ihm seine Faust blitzschnell in den Magen. »Sei ganz friedlich, Brüderchen«, sagte er danach. »Willst du, daß meine Faust hinten wieder rauskommt?«
»Er hat die Hose vollgeschissen!« keuchte der Häftling. »Das dritte Mal. Ein Schwein ist er, eine stinkende Sau!«
»Brechdurchfall habe ich!« schrie der Geschlagene. Er fiel auf die Knie und weinte plötzlich. »Was kann ich dafür? Warum bestraft man mich? Ich will es doch nicht, aber es kommt eben …«
»Leg dich ins Bett«, sagte Igor und hob den Weinenden vom Boden. »Wo liegst du?«
»Zimmer vier. Aber sie lassen mich ja nicht liegen. Sie jagen mich immer wieder hinaus. Weil ich stinke! Kann ich denn dafür? Kann ich es ändern?«
»Gehen wir.« Igor packte den einen Häftling am Kragen und sah erst jetzt, daß er eine weiße Leinenjacke trug, zwar voller Flecken, aber doch weiß und ein deutlicher Unterschied zu den anderen Sträflingskleidern.
»Ich bin der neue Arzt«, sagte er zu dem Mann, der ihn aus böse funkelnden Augen anstarrte. »Pjetkin heiße ich! Vergißt du's auch nicht? P-j-e-t-k-i-n …« und bei jedem Buchstaben gab er ihm eine kräftige Ohrfeige, daß der Kopf hin und her pendelte wie auf einer Spirale. Dann packte er ihn wieder am Kragen und schüttelte ihn. »Dr. Dussowa?« schrie Igor. »Wo ist sie?«
»Zimmer eins links, Dr. Pjetkin«, stammelte der Sträfling. Er wehrte sich nicht, als Igor ihn vor sich herschob und als ersten in Zimmer 1 stieß. Mit rotem, geschwollenem Gesicht taumelte der Häftling gegen einen Schrank und blieb dort mit hängendem Kopf stehen. Noch bevor Igor eintreten konnte, hörte er eine Stimme, die Stimme der Dussowa. Eine helle, schneidende Frauenstimme, ein Ton wie aus angeschlagenem Glas.
»Russlan! Bist du verrückt? Wie siehst du denn aus? Was ist draußen los?«
»Ich bin gekommen, Genossin –«, sagte Igor laut. Er stieß die Tür weit auf und trat ein. Marko folgte ihm, seiner Wirkung auf Frauen bewußt. Sie wird gleich stumm sein, frohlockte er, stumm wie ein Maulwurf. Aber er irrte sich. Hinter dem Tisch, der mit Papieren übersät war, saß ein Weib von erschreckender animalischer Schönheit. Ein Wald pechschwarzer Haare umgab einen runden Kopf, in dem die Backenknochen weit vorstachen und die tatarischen Augen glühten. Als sie aufsprang, war sie mittelgroß, kräftig gebaut, mit vollen Brüsten über einer schlanken Taille. Sie trug eine dunkelblaue Bluse, zu eng für ihre Brust, und einen gelben Rock, der die Hüften umspannte wie eine Umarmung. An den Beinen glänzten schwarze, weiche Stiefel, die gefürchteten Stiefel der Dussowa, die geputzt wurden wie ein Juwel und deren kleinste Ritze sie nach Dreck kontrollierte, jeden Morgen, ehe sie sie anzog. Fand sie irgendwo einen Spritzer Schmutz, rief sie Russlan herbei und ließ den Häftling, der die Stiefel geputzt hatte, auspeitschen. Ihre Hände, erstaunlich lang und schmal, waren weiß wie ihre ganze Haut, jenes porzellane Weiß, das man nur in Asien findet. Eine Haut, durchsichtig wie eine chinesische Tasse.
»Dr. Pjetkin …«, sagte die Dussowa. Mit Verblüffung hörte Igor, wie ihre schneidende Stimme dunkler wurde, tönender, voller.
»Wenigstens Sie kennen meinen Namen!« sagte er. »Ich bin soeben eingetroffen und soll meine Stelle neben Ihnen antreten.«
»Die Lagerleitung rief an, deshalb kenne ich Ihren Namen.« Sie schielte zu dem Krankenpfleger Russlan, der noch immer keuchend am Schrank lehnte. Dann sah sie Marko. In ihre Augen sprang ein Funke. »Und neben Ihnen ist ein falscher Ausdruck, lieber Kollege. Unter mir … Ich bin Kapitänarzt. Welchen Rang haben Sie?«
»Gar keinen, Genossin. Ich bin Arzt … das reicht vom Bettler bis zum Minister.«
»Sehr schön.« Die Dussowa lächelte verhalten. Ihr etwas breiter, schmallippiger Mund verzog sich. Weiße Zahnreihen lagen bloß. Das Gebiß einer Katze. »Ein Romantiker im Straflager. Etwas Neues, Kollege. Die propagierte weiche Welle? Worauf man nicht alles verfällt, wenn die Politik langweilig wird.« Sie warf den Kopf zur Seite und sah Russlan an. »Was haben Sie mit dem Genossen Kalakan gemacht?«
»Siebenmal geohrfeigt und an die Wand geworfen. Er mißhandelte in meiner Gegenwart einen Patienten. Ich war so romantisch, mich daran zu erinnern, daß ich Arzt bin.«
»Hinaus!« schrie die Dussowa, machte zwei Schritte vorwärts und trat dem Krankenpfleger Russlan mit der Stiefelspitze gegen das Schienbein. Der Mißhandelte knirschte auf, drehte sich um und schwankte aus dem Zimmer.
»Er ist mein bester Mann«, sagte die Dussowa, als sich die Tür geschlossen hatte. »Ein Totschläger. Ein unberechenbarer Mensch. Aber er arbeitet wie ein Kuli. Ob er ein Herz hat, weiß ich nicht … aber er assistiert mir bei Operationen wie eine Maschine. So etwas brauche ich.«
»Jetzt werde ich assistieren. Ich bin Chirurg.«
»Welch ein Glück!« Die Dussowa klatschte in die Hände. Ihr tatarisches, teuflisch schönes Gesicht glänzte wie mit Speck gerieben. »Ich habe es nie gelernt.«
»Und haben trotzdem …« Igor versagten die Worte.
»Was sollte ich machen? Daneben stehen und sagen: Ich kann es nicht? Trauen Sie mir das zu? Ich habe das Skalpell genommen und geschnitten. Es haben sogar einige überlebt … ich bewundere ihre Konstitution.« Sie sah um Igor herum und betrachtete Marko, der schweigend neben dem Schrank stand. »Und wer ist das?«
»Unser neuer Krankenpfleger.«
»Wollen Sie nur noch Schockkranke auf den Stationen haben?«
»Marko Borissowitsch Godunow ist der beste Anatomiediener der Welt.«
»Welch ein Witz! Welch ein köstlicher Witz!« Die Dussowa lachte. Wirklich, sie konnte lachen, sie bog sich in den Hüften, und ihre Brüste schwollen in der Bluse. Es war ein gurrendes, viel zu tiefes Lachen, das nicht zu ihrer Stimme paßte. Welch ein Weib, dachte Igor erschreckt. Welche höllische Schönheit. Wieviel unverbrauchte Glut. Liegt hier das Rätsel ihrer sagenhaften Grausamkeit? Zerstört sie sich selbst? Ist sie ein Vulkan, den man zugeschüttet hat und sich nun wundert, warum überall die Erde bebt?
»Ein Chirurg bringt seinen Leichendiener mit!« rief sie und stützte sich lachend auf die Tischplatte. »Und das in einem Straflager! O Pjetkin, Pjetkin, ich habe Sie verkannt … Sie sind kein Romantiker, Sie sind ein Narr, ein liebenswerter Narr, ein heiliger Idiot! Marko, du Kröte, voran … wir zeigen dem Herrn seine neue Heimat …«
Sie ging voraus, lautlos wie eine anschleichende Raubkatze. Der Rock wippte um ihre Kniekehlen, und die Hüften schwangen bei jedem Schritt zur Seite.
Am Ende des Flures der Krankenhausverwaltung stieß sie ein Zimmer auf und ließ Igor an sich vorbei eintreten. Er streifte ungewollt ihre Brust und fand sie hart wie aus Stein. Ein Geruch von Rosenöl stieg ihm in die Nase, süß und schwer wie ein ganzes blühendes Feld.
Das Zimmer war wie alle Zimmer in diesem Haus … viermal vier Meter groß, getünchte Wände, eine nackte Lampe an der Decke. Es war leer und deshalb doppelt trostlos. Der Boden, gehobelte Dielen, war sauber, gescheuert von schwitzenden, hungernden, keuchenden Häftlingen.
»Bis zum Abend ist es eingerichtet«, sagte die Dussowa. »Ich werde sofort anordnen, es wohnlich zu machen. Haben Sie Wünsche, Kollege?«
»Wo schläft Marko?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Dann lassen Sie zwei Betten ins Zimmer stellen.«
»Unmöglich. Sie sind Arzt, er ist Pfleger. Auch in einem Arbeitslager herrscht eine Hierarchie. Sie wohnen allein … Marko wird ein Bett auf einer der Stationen finden. Es gibt da eine Kammer, in der die Geschirre stehen. Dort paßt noch ein Bett hinein. Oder leiden Ihre Nerven darunter, Godunow?«
Marko grinste sie an und faltete die Hände. »Genossin, ich habe mein Mittagsschläfchen immer neben den Leichen gehalten. Wie werde ich mich stoßen an Bettpfannen? Ein froher Mensch findet überall Schlaf.«
Die Dussowa starrte den Zwerg an, als spräche er eine andere Sprache. In ihren schwarzen Augen breitete sich Erstaunen aus. Dann wandte sie sich ab und verließ das Zimmer. Igor und Marko folgten ihr.
»Sie können sich den Reisestaub abwaschen«, sagte sie und blieb vor einer Tür stehen. Eintritt verboten, stand auf dem Holz, mit roter Schrift. »Ich habe mir eine Dusche einbauen lassen … Sie dürfen sie benutzen. Handtuch und Seife finden Sie auf einem Tisch neben der Brause.«
»Und wohin ist mein Gepäck gekommen?«
»Zunächst in mein Schlafzimmer. Eine Tür von der Dusche führt hinein.« Sie drehte sich um und lächelte Igor an. Die Tatarenaugen glitzerten. »Niemand wird Sie stören, Pjetkin … ich mache jetzt Visite.«