5

Am späten Nachmittag erhielt die Bauspitze Besuch. Sechs Jeeps kamen von hinten, und schon von weitem erkannte Gebbhardt im ersten Wagen die bullige Gestalt von Luis Jesus Areras. Neben ihm hockte ein Mann, der in dieser Urwaldwelt wie ein fremdes Wesen wirkte. Er trug einen eleganten weißen Tropenanzug und einen Panamahut. Ein flottes schwarzes Bärtchen schmückte die Oberlippe.

Die Wagen hielten beim Lazarett, die Männer sprangen heraus und formierten sich wie zu einem Vorbeimarsch. Vor den Campzelten standen die Leute der Freischicht herum und blickten feindselig auf den Besuch.

»Wo ist Hauptmann Bandeira?« fragte Areras, nachdem er Gebbhardt kurz begrüßt hatte. Der elegante Mann lächelte ihn höflich an. »Ich habe einen Bericht erhalten. Zwei Morde im Lager! Und Ihre Meldung, Senhor Carlos … wegen des umgekippten Bootes. Was ist denn hier los?«

»Hauptmann Bandeira ist drüben am anderen Ufer«, sagte Gebbhardt. Er hatte ein unangenehmes Gefühl im Magen, wenn er den lächelnden Mann mit dem Bärtchen ansah. »Die Leute sind unruhig.«

»Deshalb habe ich Ihnen Senhor Abraham Piraporte mitgebracht.« Areras zeigte auf Gebbhardt. »Das ist Senhor Carlos.«

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Senhor.« Piraporte streckte Gebbhardt die Hand hin. Es war eine gepflegte, manikürte Hand, doch der Händedruck war wie eine Stahlklammer. »Wir werden uns bestimmt gut vertragen.«

»Sicherlich. Warum auch nicht?« erwiderte Gebbhardt.

»Nehmen Sie Senhor Piraporte bei sich auf?« fragte Areras. »Er wird Sie unterstützen. Es gibt Dinge, die nur Brasilianer erledigen können. Sie werden sich ganz dem Bau widmen können, Senhor Carlos. Die internen Probleme löst unser Freund Abraham.«

Am Abend, nach dem Essen, trafen sich Gebbhardt und Norina in der Bretterbude, in der Gebbhardt die Stundenzettel abzeichnete, die ihm die Vorarbeiter brachten. Ehe sie kam, dachte er darüber nach, wie ihre Liebe nun weitergehen sollte. Abraham Piraporte hatte in der engen Baubude ein zweites Feldbett aufgeschlagen. Gebbhardt war nicht mehr allein.

»Ich denke gerade an dich«, sagte Gebbhardt, als Norina kam. Sie setzte sich auf die Tischkante und küßte ihn auf die Augen. Diesmal trug sie einen weißen Arztkittel. Dr. Santaluz hatte mit einer Reihenuntersuchung begonnen. Für die meisten Arbeiter war es das erstemal in ihrem Leben, daß sich ein Arzt dafür interessierte, wie es in ihren Körpern aussah.

»Ich habe einen Schlafgenossen bekommen«, fuhr er fort.

»Ich weiß.« Norina strich ihm mit sanften Fingern übers Gesicht. »Abraham Piraporte. Er ist Hauptmann des Geheimdienstes.«

Sie sagte es so leicht daher, aber ihre Worte ließen Gebbhardt erschrecken. Bandeira hatte recht behalten: Jetzt mußte er sich entscheiden.

Piraporte erwartete Gebbhardt nicht wie einen Schlafgenossen, sondern wie ein seltenes Tier. Er hockte auf der Kante seines Feldbettes, rauchte eine süßlich riechende Zigarette, hatte die Beine übereinandergeschlagen und sah so elegant aus in seinem weißen Tropenanzug, als wäre er soeben in einer Wochenschau aufgetreten. In einem Sumpfloch mitten im Urwald, das bereit war, zweitausend Arbeitssklaven zu verschlingen, schien er fehl am Platze.

Aber Piraporte war anderer Ansicht. Für ihn war dieses Camp der zweitausend verlorenen Seelen genau das Richtige. Er verzog den Mund zu einem Lächeln, bei dem sich das schmale Bärtchen auf der Oberlippe verschob.

»Eine schöne Frau, diese Norina Samasina, nicht wahr?« sagte er betont langsam, damit Gebbhardt auch jedes portugiesische Wort verstand.

»Gewiß«, sagte Gebbhardt steif.

Er setzte sich auf den rohgezimmerten Stuhl hinter seinen Schreibtisch und bereitete sich auf eine unangenehme Nacht vor. Es hätte eine Nacht mit Norina werden sollen, die zweite heiße, alle dunklen Gedanken verdrängende Nacht des Rausches. Er wußte, daß jede weitere Umarmung ihn immer untrennbarer an sie ketten würde, bis ihr Leben voll und ganz sein Leben war. Schon jetzt spürte er, wenn er an sie dachte, daß sie in ihm lebte und sein Tun beherrschte.

Piraporte war ihm vom ersten Blick an unsympathisch. Jetzt, da er wußte, daß er zum brasilianischen Geheimdienst gehörte, verstärkte sich die Abneigung gegen ihn noch.

»Sie ist eine sehr schöne Frau.« Gebbhardt wühlte in dem Papierhaufen, der den Tisch bedeckte. Planzeichnungen, Detailskizzen, Berichte, Meldungen, Berechnungen … auch der Bau einer Urwaldstraße ist gepflastert mit Papier. »Was führt Sie zu uns, Senhor Piraporte?«

»Die Neugier.«

»Hier gibt es nichts Sensationelles zu sehen außer Riesenbäumen, urzeitlichen Farnen, Sümpfen, verseuchten Flußläufen, Mückenschwärmen, Ameisenheeren – Lianendickicht, Dreck, und dazu noch zweitausend moderne Sklaven und Tote am Wegrand.«

»Genau das will ich sehen. Ihre Sklaven … und über die letzten Toten möchte ich mich mit Ihnen unterhalten.«

»Es steht alles in den Berichten, Senhor.«

»Die Amtssprache ist eine verstaubte Sprache.« Piraporte beugte sich vor und hielt ihm ein goldenes Etui mit Zigaretten hin. Gebbhardt schüttelte den Kopf. »Das ist der Bericht von Areras«, fuhr Piraporte fort. »Darin steht, daß es ein Unglücksfall war. Und da haben wir den Bericht von Hauptmann Bandeira. Er behauptet, es habe sich um einen Mordversuch gehandelt. Und da sind die Latrinenparolen der Arbeiter selbst, die von einer politischen Strafaktion sprechen. Was ist die Wahrheit?«

»Ich nehme an, Sie sind hier, um das herauszufinden.«

»Allerdings. Und ich möchte, daß Sie mir dabei helfen.«

»Soweit es mir möglich ist, gern.« Gebbhardt stützte sich auf die Stuhllehne. Er dachte an Norina. Sie lag jetzt sicher im Ärztezelt neben dem fahrbaren Lazarett und starrte zur Decke. Ob sie die gleiche Sehnsucht nach ihm empfand, wie er nach ihr? Ob auch sie diesen geschniegelten Piraporte verfluchte, der vielleicht wochenlang diesen Raum blockierte, den einzigen Fleck in diesem riesigen Wald, wo man, allein und sicher, für ein paar Stunden die mörderische Welt vergessen konnte?

»Wie lange wollen Sie bleiben?« fragte Gebbhardt.

»So lange, bis mein Auftrag erfüllt ist«, erwiderte Piraporte ruhig.

»Und wie lautet Ihr Auftrag?«

»Für Ruhe unter den Arbeitern zu sorgen, Aufwiegler festzustellen und Revolutionstendenzen zu bekämpfen. Mit anderen Worten, für Ordnung im Staate zu sorgen.«

»Sie vertreten also die Staatsautorität?«

»Was haben Sie sonst erwartet? Halten Sie mich etwa für einen sozialen Spinner wie diesen Santaluz?«

»Dr. Santaluz ist seit Monaten der einzige Mann, der sich um die Gesundheit der Leute und um Hygiene kümmert. Bisher haben sie gelebt wie die Schweine und gearbeitet wie die Ochsen.«

»Sie haben nie etwas anderes getan«, erklärte Piraporte. »Vergessen Sie nicht, Senhor Carlos, daß diese Arbeiter nicht die Kloake, sondern den abgeschöpften Schaum der Kloake darstellen. Dreckiger geht's nicht mehr.«

»Aber es sind doch Menschen!«

»Im biologischen Sinne schon. Biologisch betrachtet ist auch ein Scheißhaufen eine Ansammlung von Lebewesen. Sehen Sie sich mal so etwas unterm Mikroskop an. Da wimmelt es nur so von Lebewesen.«

»Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Gebbhardt unfreundlich. »Die Arbeiter sind unzufrieden, sie stellen endlich Forderungen, und zwar berechtigte Forderungen. Sie sind unterbezahlt, rechtlos, ausgelaugt von den Stunden, da sie den Urwald roden und gegen diese ungeheure Grüne Hölle ankämpfen. Die Cruzeiros, die sie verdienen, holt man ihnen in der Kantine und in den Läden durch überteuerte Waren wieder aus der Tasche, und sie haben keine andere Wahl, als dort zu kaufen, denn der nächste Laden mit vernünftigen Preisen ist in Ceres. Selbst die Huren im Hauptlager-Bordell haben hundert Prozent aufgeschlagen.«

»Sie konnten Vergleiche ziehen?« sagte Piraporte spöttisch.

»Es haben sich Hunderte von Arbeitern bei mir beschwert.« Gebbhardt holte aus der Schublade seine eigenen Zigaretten und steckte sich demonstrativ eine an. Ich brauche deine süßen Stengel nicht, hieß das. Ich brauche überhaupt nichts von dir. Ich gehöre zu diesen zweitausend Entrechteten. Ich bin wie sie Abschaum der Kloake. »Und was man den armen Schweinen hier aus der Tasche zieht«, fuhr er fort, »fließt in eine einzige Hand. Die Kantine, die Läden, die Huren … alles gehört einem einzigen Mann: Senhor Bolo! Ihn kostet die Straße einen Bruchteil des Geldes, das er dafür vom Staat bekommt, denn der Lohn fließt ja zu ihm zurück.«

»Ein genialer Geschäftsmann. Sie sollten ihn loben und nicht beschimpfen, Senhor Carlos.« Piraporte legte sich aufs Bett und verschränkte die Arme unterm Nacken. »Erfolg erzeugt Feindschaft, das war schon immer so. Aber ich sehe mit Erschrecken, daß man Sie bereits mit dem Bazillus des rebellischen Sozialismus geimpft hat. Das Werk der schönen Norina? Politischer Unterricht in horizontaler Lage?«

»Wenn Sie bei mir wohnen wollen, Piraporte, dann sollten Sie solche Bemerkungen unterlassen«, sagte Gebbhardt heftig. »Man hat mich gebeten, Sie aufzunehmen, aber man hat es mir nicht befohlen.«

»Betrachten Sie es als Naturereignis.« Piraporte drückte seine Zigarette am Absatz seines Schuhes aus, indem er das Bein hochstreckte. »Bei Ihnen ist anscheinend ein Umschlagplatz aller heimlichen Gedanken. Ich sage das ganz offen, entgegen aller Gepflogenheiten des Geheimdienstes. Sie wissen doch, wer ich bin?«

»Ja«, erwiderte Gebbhardt knapp.

»Ich will auch gar nicht mit gezinkten Karten spielen. Es ist immer gut, wenn jeder weiß, daß ihn das Auge des Staates scharf anblickt. Das braucht der Mensch. Spürbare Autorität ist der Motor aller großen Leistungen. Ihr Land hat es vorexerziert.«

»O Himmel! Sagen Sie bloß, das Hitlerregime sei Ihr Vorbild. Dieser Mordklub! Die Vergewaltigung der Individualität! Dieser Schrecken, der nie mehr aus unserer Geschichte auszulöschen ist.«

»Sie sehen das völlig falsch, Senhor Carlos.« Piraporte streckte sich auf dem Bett gemütlich aus. »Es gibt beim Menschen Charaktermerkmale, die ihn kaum noch vom Tier trennen. Nur Intelligenz und Erziehung hindern ihn daran, daß dieses Tier in ihm alles andere überdeckt.« Piraporte machte mit beiden Händen eine weitausholende Bewegung. »Seien Sie ehrlich: Wo finden Sie unter Ihren zweitausend Kreaturen hier im Urwald die dazu notwendige Intelligenz und Erziehung?«

»Ich lehne es ab, mit Ihnen zu diskutieren«, sagte Gebbhardt scharf. Er sprang auf und ging zur Tür. »Ich möchte Sie nicht am Einschlafen hindern.«

»Grüßen Sie Norina«, rief ihm Piraporte nach.

Gebbhardt blieb an der offenen Tür stehen. Die Laute des nächtlichen Urwaldes und das Rattern der Motorsägen, der Lastwagen und Raupenfahrzeuge drangen in die Hütte.

»Ich gehe nicht zu ihr. Ich gehe zur Nachtschicht, zu den Kolonnen am Flußufer.«

»Man wird Sie überall fragen: Was ist dieser Piraporte für ein Mann? Lügen Sie nicht.«

»Warum sollte ich?«

»Und sagen Sie den Leuten: Rebellion ist sinnlos. In Ceres wartet Militär. Ein ganzes Bataillon Fallschirmjäger. Eine Elitetruppe. Die Arbeiter haben keine Chance. Sie sollen an die Straße denken und an sonst nichts.«

»Das sagen Sie ihnen besser selbst, Piraporte. Ich bin kein Bote der Knechtschaft.«

»Als ob Santaluz spräche!« Piraporte lachte. Selbst dieses Lachen war gepflegt und elegant. Wie sein Anzug.

Wütend verließ Gebbhardt seine Bauhütte und knallte die Tür hinter sich zu.

Im Arztzelt, das durch einen Vorhang geteilt war – die eine Seite für Dr. Santaluz, die andere für Norina –, saß Hauptmann Bandeira an einem Klapptisch und trank Bier. Es war im batteriebetriebenen Eisschrank, in dem man die gegen tropische Hitze anfälligen Ampullen mit den Antibiotika aufbewahrte, gut gekühlt worden. Santaluz hatte die ersten Filmstreifen vor sich liegen und zog sie durch einen von unten beleuchteten Vergrößerungsapparat.

Norina lag hinter dem Vorhang auf ihrem Bett, so wie Gebbhardt es sich vorgestellt hatte. Sie blickte hinauf zur Zeltdecke und dachte an ihre neue, alle Vernunft verbrennende Liebe. Santaluz hatte sie eine komplette Idiotin genannt. »Eine Braut der Revolution wie du schläft mit ihrem Gewehr, aber nicht mit einem humanistischen Deutschen!« hatte er gesagt. »Wenn es ernst wird, denkst du mit dem Unterleib. Das ist eine im voraus verlorene Schlacht.«

»Die erste Reihendurchleuchtung«, sagte Santaluz jetzt. »Einhundertneununddreißig Mann. Davon haben siebzig Tuberkulose. Sie dürften gar nicht arbeiten, sondern müßten sofort in ein Sanatorium.«

»Sagen Sie das mal Areras oder gar Senhor Bolo.« Bandeira lachte bitter. »Sanatorium! Für diese Typen. Neunzig Prozent haben noch nie in einem weißbezogenen Bett gelegen. Sie würden jede Pflegerin sofort ins Bett reißen und vergewaltigen.«

»Aber sie haben Tbc … und sie werden daran verrecken«, erklärte Santaluz. »Sie werden den Rio Araguaia nie erreichen.«

»Es gibt genug Ersatzleute.«

»Für wen reden Sie eigentlich, Hauptmann? Für die Regierung oder für unsere gerechte Sache?«

»Was wird aus Piraporte?« rief Norina hinter dem Vorhang hervor. Die beiden Männer fuhren zusammen. Sie hatten geglaubt, Norina schlafe schon längst. Bandeira grinste breit.

»Ich glaube Ihnen gern, daß er Sie stört, Norina. Er blockiert die Liebeslaube. Aber deswegen kann ich ihn nicht umbringen, so gern ich Ihnen auch den Gefallen tun würde.«

»Er kommt wegen der Liquidation der beiden Mörder«, sagte Santaluz.

»Weswegen sonst?«

»Was haben Sie damit zu tun, Hauptmann?«

Bandeira trank genießerisch sein kühles Bier. »Ich bin Polizist.«

»Eben.« Santaluz knipste das Licht in seinem Filmbetrachter aus. Nun herrschte Halbdunkel im Zelt. Die Batterielampe gab nur gelbes, sanftes Licht. »Ich bin diesen Leuten nie begegnet, aber ich habe genug von ihnen gesehen … von ihren Spuren, meine ich. Auch einige ihrer Opfer habe ich untersucht und obduziert. Sie wissen, was ich meine, Bandeira?«

»Diese alten Geschichten!« Bandeira winkte ab.

»Es gibt bei der Polizei zwei Gruppen, die sich zum Richter und Henker aller ernannt haben, die durch die breiten Lücken des Gesetzes schlüpfen können oder durch Verbindungen immer wieder ihre Weste weiß halten. Die eine Gruppe nennt sich ›Todesschwadron‹, die andere heißt, etwas poetischer, ›Hand der Gerechtigkeit‹. Ziel beider Gruppen ist das gleiche: Tötung aller frei herumlaufenden Verbrecher, die das normale Gesetz nicht erwischen kann.« Santaluz zog im Sitzen seinen weißen Arztkittel aus und warf ihn auf sein Bett. »Die Genickschüsse hier im Camp sind typische Visitenkarten einer dieser Organisationen. Jeder redet heimlich davon, die ganze Arbeiterschaft ist in innerer Alarmbereitschaft. Und man guckt Sie scheel an, Hauptmann Bandeira.«

»Schielen ist eine medizinische Sache und fällt in Ihre Kompetenz, doutôr Bandeira schob das Glas weg. Das Bier schmeckte plötzlich bitter.

»Mit Zynismus ist niemandem geholfen.«

»Erwarten Sie, daß ich ein Geständnis ablege?«

»Nein. Ich will nur wissen, woran ich bei Ihnen bin.«

»Ich bin Ihr Freund, doutôr. Ich bin Sympathisant Ihrer sozialen Gerechtigkeit. Und ich könnte diesem Senhor Bolo ins Gesicht spucken.«

»Nur spucken? Nicht zwischen die Augen schießen?«

»Sie halten mich wohl für den heimlichen Henker der Nation, was?« Bandeira sprang auf. »Doktor, wir leben hier im Urwald. Wir fressen uns durch eine Hölle aus Bäumen und Lianen, Sümpfen und fauligen Flüssen. Im ganzen arbeiten an dem Straßenprojekt viertausendsiebenhundert Menschen, davon sind viertausenddreihundert rechtloser als ein Floh, der mich in den Hintern beißt. Das ist unser Problem … nicht die sagenhafte ›Todesschwadron‹! Und das ist auch Ihr Problem, deswegen sind Sie ja an die vorderste Front gekommen mit Ihrem Lazarett. Wir arbeiten Hand in Hand.«

»Wann gibt es die nächsten Hinrichtungen?« fragte Santaluz kühl.

Der Vorhang schwang zur Seite und Norina erschien. Sie trug über einem Schlafanzug im Short-Stil einen kurzen Bademantel aus hellrotem Frottee. Sie sah hinreißend aus mit ihrem offenen schwarzen Haar. Ihre schlanken Beine waren bis zur Hälfte der Oberschenkel sichtbar. Bandeira starrte sie an.

»Vielleicht morgen«, sagte er rauh. »Ich werde Senhor Gebbhardt umbringen, weil ihm soviel Schönheit in die Arme gelegt wird.«

»Sie wissen doch wohl«, sagte Norina unbeeindruckt, »daß Piraporte vor allem Ihretwegen gekommen ist, Hauptmann.«

»Er ist Polizist, ich bin Polizist. Der einzige Unterschied ist unsere Kleidung. Uniform und Zivil.«

»Sonst nichts?« fragte Santaluz fast spöttisch.

»Kaum.«

»In dem Wort ›kaum‹ kann eine komplette andere Welt verborgen liegen.«

»Und das Wort ›kann‹ läßt alle Möglichkeiten offen.« Bandeira stand auf. »Ich gehe schlafen. Vielleicht mache ich noch einen Umweg zu Piraporte. Was soll ich Senhor Gebbhardt von Ihnen bestellen, Norina? Bloß keinen Kuß. Ich küsse Männer so ungern.«

»Nichts.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Ziehen Sie Carlos nicht hinein, Bandeira«, sagte sie dann leise. Ihre Stimme klang wärmer als sonst, und ein Unterton von Besorgnis schwang darin mit. »Er versucht, vieles zu verstehen, aber Brasiliens Probleme sind nicht seine Probleme. Ich möchte nicht, daß er in Gefahr gerät … bitte!«

»In der schwebt er jede Stunde.« Bandeira ging zum Zelteingang und schob das dichte Moskitonetz einen Spalt auf. »Ich mag ihn auch, Norina. Aber niemand kann ihn retten, wenn hier der Vulkan ausbricht. Auch Sie nicht. Niemand. Vulkane nehmen keine Rücksicht auf Rosen.«

Am grünlichen, mit Piranhas verseuchten Fluß war Paulo Alegre zu finden. Er saß auf seinem Raupenschlepper. Er hatte gerade eine neue Ladung Bretter zur Notbrücke gefahren und abgeladen. Ein zerrissenes Lederkissen unter sich, hockte er auf dem harten Sitz und rauchte. Er machte jetzt die zweite Schicht. Zuvor hatte er zwei Stunden gelegen. Geschlafen hatte er nicht, nur die müden Knochen etwas ausgeruht. Eine unmenschliche Anstrengung … nur ein Riese wie Alegre hielt so etwas im Urwald aus. Er tippte grüßend an die Stirn, als Gebbhardt neben ihm auftauchte.

»Du bist wohl verrückt geworden«, sagte Gebbhardt. »Willst du wirklich zwanzig Stunden arbeiten?«

»Und Sie, Senhor Carlos? Warum schlafen Sie nicht?«

»Das hat besondere Gründe.«

»Ich habe auch besondere Gründe. Es ist eine merkwürdige Stimmung unter den Männern, seit Piraporte im Camp ist. Ich muß bei ihnen bleiben, sonst diskutieren sie mehr als sie arbeiten.«

»Was sagen die Männer?« fragte Gebbhardt.

»Piraporte sei ein Spitzel der Regierung.«

»So ähnlich ist es auch. Er ist vom Geheimdienst.«

»Also stimmt es.«

»Was?«

»Felipe und José sind von der ›Todesschwadron‹ getötet worden.«

»Wer ist denn das nun wieder?«

»Das werde ich Ihnen erklären, Senhor Carlos. Nach der Schicht. Es sieht böse aus vorn an der Spitze. Jeder mißtraut jetzt jedem. Der beste Freund kann ein Verräter sein. Für ein paar Cruzeiros verkauft man seine eigene Mutter.« Paulo Alegre kletterte von seinem Sitz. Über die Notbrücke rollten die Lastwagen mit dem Material. Zwei Raupenschlepper fuhren vorsichtig über die schwankenden Bretter, und die Pontons sanken tief in den teuflischen Fluß. Wo die starken Scheinwerfer den Wald, die Ufer und die Schneise erleuchteten, schwirrten dicke Wolken von Mücken und fast handtellergroße, weißliche und bunte Motten umher. Am anderen Ufer lärmten die Motorsägen. Die Baumriesen stürzten in den verfilzten Wald und die Entlaubungsmaschinen ratterten.

Mit dem Schweiß, den diese verdammte Straße forderte, konnte man ein Meer füllen.

»Ich werde vier Tage und vier Nächte arbeiten, Senhor Carlos«, sagte Alegre ruhig. »Kann ich dann zwei Tage Urlaub haben?«

»Natürlich. Aber wo willst du hin?«

»Zum Zentral-Camp. Ich will Alja in der Kantine besuchen.«

»Du willst Areras an den Kragen, nicht wahr?«

»Nicht unbedingt, Senhor. Ich will meine Braut nur sehen. Ist das so ungewöhnlich für einen Bräutigam?«

»Du hast schon einmal einen Mann wegen einer Frau umgebracht, Paulo.« Gebbhardt lehnte sich an den hohen Raupenschlepper. Von den Ketten strömte ihm der Geruch des Urwaldbodens entgegen, ein fauliger Geruch – Verwesung, überall Verwesung, und doch immer wieder neues Leben. Herrliches Leben, wie die farbenstrotzenden Orchideenblüten, wachsend auf den Leichen der anderen Pflanzen. »Schick Alja nach Ceres zurück, das ist vernünftiger.«

»Wir müssen Geld verdienen, Senhor. Wir wollen ein Stück Land kaufen, zum Bebauen, damit wir als freie Menschen leben können.«

»Ich weiß. Aber wenn du Areras etwas antust, wirst du nie wieder ein freier Mensch sein, Paulo.«

»Ich schwöre Ihnen, Senhor, daß ich diesen Hurenbock nicht anfasse. Glauben Sie mir?« Alegre blickte zum Fluß hinüber. Auf einem Lastwagen, der von der Spitze zurückkam, hockten drei Männer mit blutigen, verschmierten Köpfen. Man hatte ihnen Fetzen um die Schädel gebunden. Auf Wundinfektion konnte man hier keine Rücksicht nehmen.

»Der dritte Unfall in dieser Nacht«, sagte Alegre. »Die Kerle sind heute so dämlich wie die Schafe vorm Schlachten. – Was wollen Sie mit Abraham Piraporte machen?«

»Jeder fragt mich danach. Was soll ich denn tun? Er schläft bei mir. Paulo, verlange nicht, daß ich ihm eine Giftschlange unter die Decke schmuggle. Wir müssen irgendwie mit ihm auskommen.«

»Sie vielleicht – wir nicht.«

Er sagte es ganz ruhig, aber Gebbhardt hörte die Drohung heraus, die in diesen Worten lag.

»Ihr könnt gar nichts tun«, sagte er eindringlich. »In Ceres wartet ein Bataillon Fallschirmjäger auf den Befehl, euch zusammenzuschlagen.«

»Ein Bataillon? Puh!« Alegre lächelte breit und gefährlich. »Wir sind zweitausend Männer, die nichts mehr zu verlieren haben.«

»Jeder hat etwas zu verlieren. Du zum Beispiel Alja.«

»Sie wird für alles Verständnis haben, Senhor Carlos. Was wollen die Soldaten? Die Straße weiterbauen? Nein, dazu braucht man uns. Und die Straße ist das Wichtigste. Soldaten nützen gar nichts. Wir haben keine Angst.«

Er blickte Gebbhardt eine Weile stumm an. In diesem Blick lag das ganze Elend der Rechtlosen, der Ausgebeuteten. Dann wandte er sich ab, kletterte wieder auf seinen harten Sitz, schob das zerschlissene Kissen unters Gesäß und fuhr weiter – zurück zum Materiallager, um neue Bretter zu holen.

Zwanzig Stunden schuften. Zwanzig Stunden in der Hölle des Urwaldes. Am Tag in glühender, feuchter Hitze, in der Nacht in fauliger Moderluft, zerstochen von Mückenwolken … und das vier Tage und vier Nächte lang, nur, um Alja zu sehen. Das kleine zarte Indiomädchen, dem Areras in die Hinterbacken kniff, die spitzen Brüste befingerte und brüllend vor Lachen verkündete, er kriege sie schon ins Bett, so sicher wie er ein Ding in der Hose trage.

Gebbhardt ging langsam hinunter zum Fluß und blieb an der Brückenauffahrt stehen. Die Kolonnenführer grüßten ihn, die Arbeiter grinsten ihn an. Senhor alemão, ein wirklicher Freund – aber was konnte er gegen Areras und den großen Hermano Bolo in Brasilia tun? Er war ein armes Schwein wie sie, er bekam seine Cruzeiros aus der gleichen Tasche wie sie, und wenn er die Schnauze aufmachte, war er wie sie erledigt.

»Gott grüß dich, Senhor Carlos. Guck nur hin … der Bau geht weiter, wir beißen uns Meter um Meter durch den Wald. Brauchst dir keine Sorgen um den Akkord zu machen, auf uns kannst du dich verlassen. Aber einen Giftegel hast du jetzt in deiner Hütte … paß auf, daß er dich nicht sticht und dir das Blut aussaugt …«

Plötzlich stand Hauptmann Bandeira neben ihm. Er roch nach Bier, und Gebbhardt bekam plötzlich heftigen Durst.

»Wo gibt es eine Flasche?« fragte er und schluckte.

»Bei Dr. Santaluz. Dosenbier. Deutsches Bier aus Bremen. Verrückt, was? Im Urwald, wo noch nie ein Mensch gewesen ist, trinkt man deutsches Bier. Das nennt man Zivilisation. Wenn Sie eines wollen, der doutôr hat noch einen Kasten voll. Und Norina wird sich freuen, wenn Sie kommen. Sie ist verdammt unruhig, so allein in ihrem einsamen Bett.«

»Was wissen Sie von der ›Todesschwadron‹?« fragte Gebbhardt unvermittelt. Aber er brachte Bandeira damit nicht in Verlegenheit.

»Himmel, jetzt fangen Sie auch noch damit an. Im Lazarett singt man dieses Lied, und natürlich hier vorn auch. Die ›Todesschwadron‹, das ist ein verrückter Verein gerechtigkeitsfanatischer Polizisten, die auf eigene Faust frei herumlaufende Verbrecher liquidieren. Eine Art Selbstjustiz, wo der Staat versagt.«

»Sie hat im Camp zugeschlagen«, sagte Gebbhardt hart.

»Blödsinn.« Bandeira lachte laut. »Wer soll das sein? Die einzigen Polizisten, die hier herumspringen, sind meine paar Leute, Carlos. Halten Sie mich für einen heimlichen Henker?«

Gebbhardt vermied es, den Hauptmann anzusehen. Er erinnerte sich an sein letztes Gespräch mit ihm, an seinen nationalistischen Stolz und die Anklagen, die Bandeira gegen den Staat hervorgebracht hatte.

»Sie sehen nicht so aus«, sagte er ausweichend.

»Ich wußte gar nicht, daß Sie das Zeug zum Diplomaten haben.« Bandeira grinste spöttisch. »Ich habe Norina übrigens nicht gesagt, daß Sie sie mit nach Deutschland nehmen wollen. Ich hielt das für zu blöd.«

»Warten wir es ab.«

»Ein gutes Wort. Ich wiederhole meinen Rat: Hängen Sie Ihren Vertrag mit Bolo an die Latrine und nehmen Sie das nächste Flugzeug nach Deutschland.«

»Ich liebe Norina«, sagte Gebbhardt schlicht.

»Und sie liebt Sie, das ist der Wahnsinn.« Er stockte und zog die Schultern hoch. »Der zivile Kollege kommt. Er kann auch nicht schlafen. Ein eleganter Mann, nicht wahr? Man sieht ihn lieber beim Opernball in Rio als an einem Urwaldfluß.«

Piraporte kam langsam heran, die Hände in den Taschen. So gepflegt seine Schuhe auch waren, er nahm keine Rücksicht darauf. Rücksichtslos ging er durch den Schmutz der Schneise, durch die sumpfigen Pfützen und den von den Raupenketten aufgewühlten schwammigen Boden.

»Wir unterhalten uns ganz friedlich, Abraham«, sagte Bandeira hämisch als Piraporte sie erreicht hatte. »Wir haben eben unsere Erfahrungen über Bier ausgetauscht. Santaluz hat einen Kühlschrank. Gehen wir hinüber zum Lazarett.«

»Gern, mein lieber Dorias.« Piraporte grinste gefährlich. »Heute scheinen alle ohne Schlaf auszukommen.«

»Wir haben Vollmond«, bemerkte Bandeira leichthin. »Er macht mich immer romantisch.«

»Außerdem gibt er ein gutes Schießlicht.«

»Bei Genickschüssen braucht man nicht groß zu zielen.« Bandeira verzog die Lippen. »Das wissen Sie doch, Abraham.«

»Sie haben die Mörder nicht gefunden?«

»Welche denn? Die vom Fluß oder die im Farn?«

»Die im Farn natürlich.« Piraporte lächelte noch immer. »Fast unmöglich, was?«

»Vor allem, wenn man mit einer italienischen Beretta geschossen hat.«

»Ach, hat man das?«

»Alle Liquidationen der letzten sechs Monate wurden mit dieser Waffe ausgeführt. Im Labor ruft man es schon weitem, wenn ein neuer Toter eingeliefert wird.« Piraporte tippte auf Bandeiras Pistolentasche. »Was haben Sie denn für'n Ding da drin?«

»Eine italienische Pistole.« Bandeira lächelte unverbindlich zurück.

Und plötzlich war die Nacht zwischen ihnen eiskalt.

Es dauerte eine Weile, bis das Gespräch wieder in Gang kam. Und als das geschah, quälte es sich mühsam dahin. Die Zeit war noch nicht reif, um die Masken abzureißen.

Bandeira klopfte an seine Pistolentasche. »Wollen Sie am Lauf riechen, Abraham?« fragte er leichthin.

»Wozu, Dorias?«

»Pulverrückstände …«

»Wenn Sie geschossen hätten, würden Sie die Waffe schon längst gesäubert haben.«

»Danke. Sie halten mich für einen reinlichen Menschen.« Bandeiras Spott mußte Piraporte mitten ins Herz treffen, aber man sah es ihm nicht an. Nur die schwarzen Augen bekamen einen schärferen Glanz.

»Gehen wir Santaluz ein Bier wegtrinken«, sagte Piraporte plötzlich.

»Gut. Ich liebe deutsches Bier!«

»Und Sie, Senhor Carlos?«

»Ich weiß nicht.« Gebbhardt blickte über den Fluß. Die Fällerkolonnen fraßen sich in den Urwald. Riesige Bäume knickten um wie Grashalme. Das Getöse der stürzenden Stämme war wie ein Aufschrei des bisher unberührten Waldes.

»Ihre Arbeiter kommen auch ohne Sie aus.« Piraporte winkte lässig ab. »Die Richtung stimmt, Sie haben alles vermessen – was wollen Sie noch da vorn? Sie sollten sich mehr auf Ihre Vorarbeiter verlassen.«

»Wissen Sie, daß gerade diese Vorarbeiter manchmal mit Peitschen gegen die Arbeiter vorgehen?« fragte Gebbhardt plötzlich. »Daß es da vorne, obwohl sie alle gemeinsam durch diese Hölle wandern und den gleichen Schweiß vergießen, den gleichen Fraß hinunterschlingen und die gleichen Flüche ausstoßen – daß es trotzdem verschiedene Gesellschaftsschichten gibt? Die Neger, die Indios, die normalen Weißen, die kriminellen Weißen, die Aristokratie der Vorarbeiter, Ihre Zuträger – lauter verschiedene Kasten. Am meisten gequält werden die Indios, und am stärksten sind die kriminellen Weißen.«

»Das wird immer so sein«, erwidere Piraporte ungerührt. »Der Mensch ist kein Schmuckstück der Natur.«

»Ich habe vier Vorarbeiter einsperren lassen, weil sie Indios gepeitscht haben.«

»Ich weiß. Ich kenne die Meldungen nach Ceres und Brasilia.«

»Und was geschieht? Man holt sie nach Ceres und setzt sie in höheren Posten ein. Man befördert sie! Nun sitzen sie in den Materiallagern, beim Nachschub, in den Werkstätten … grinsende Verbrecher, die uns am Schnürchen halten wie Marionetten.« Gebbhardt blieb stehen. »Darum sollten Sie sich mal kümmern, Senhor Piraporte.«

»Ich bin für die politische Ruhe da.« Er zeigte auf Bandeira, der mit finsterem Blick in den schwarzen Wald starrte. »Hier ist die Polizei. Was tut sie dagegen?«

»Genug. Aber vergessen Sie nicht, daß ich erst vor drei Tagen aus Rio gekommen bin.«

»Und schon zwei Liquidationen durch Genickschuß«, warf Piraporte gehässig ein.

»Wenn wir jetzt kein Bier trinken gehen, schlagen wir uns bald gegenseitig die Schädel ein«, sagte Bandeira trocken. »Abraham, Sie werden nie in der Lage sein, mir diese Toten unters Hemd zu schieben. Ich habe nichts damit zu tun.«

Piraporte deutete auf das schwach erleuchtete große Lazarettzelt. »Sie sind noch auf. Jaja, der dumme Vollmond. Keiner kann schlafen.« Er schielte zu Gebbhardt, der mit zusammengepreßten Lippen neben ihm herging. »Senhor Carlos, soll ich im Lazarett schlafen und ihre Hütte räumen? Ich habe ein Herz für Verliebte.«

»Machen Sie, was Sie wollen«, erwiderte Gebbhardt grob.

Er lief voraus, schlug den Zelteingang und dann das schützende Moskitonetz zurück, das über Norinas Lager aufgespannt war.