DER EINBRUCH

Im Hotel in Kano erwartete uns eine Nachricht von Victors Vater.

„Es wird etwas Dringendes sein“, meinte Victor und rief seinen Vater an. „Ich muß sofort nach Warri“, berichtete er, als er zurückkam.

William rief seinen Kronprinzen zur Arbeit, zu den Ölförderanlagen ins Nigerdelta. Ein 1000 Kilometer langer Flug, der sich quer durch das ganze Land zieht. Welch ein Gegensatz - von der kahlen Wüste in den tropisch grünen Regenwald. Es war für mich die erste direkte Begegnung mit der Quelle von Victors unglaublichem Reichtum -

und mit dessen Schattenseite. Die Familien der Ölarbeiter lebten in furchtbarer Armut, verdreckte Dörfer ohne Hoffnung. Die Ölleitungen wurden von den Menschen angebohrt, um sich gratis mit dem kostbaren Öl zu versorgen. Doch irgendwas war dabei schiefgegangen, es war zu einer Explosion gekommen, die etwa zehn Menschen das Leben gekostet hatte.

Ein Taxi hatte uns in ein trauriges Dorf mit endlosen Wellblechsiedlungen mitten im undurchdringlichen Grün des Regenwaldes gebracht. Polizeiabsperrungen hinderten uns daran, an den Unglücksort zu gelangen. Wir fuhren zu einem heruntergekommenen weißen Gebäude, dem örtlichen Polizeiposten, vor dem ein mit allerlei Chromzierat aufgemotzter BMW stand, den zwei Wächter im Auge behielten.

„Oh, Onkel Sunny ist da“, sagte Victor. Der Mann mit dem Leoparden-Stock!

Die Förderung des Öls war von der Regierung zwar an ausländische Konzerne vergeben worden, aber die Chiefs, denen das Land gehört hatte, waren die Ansprechpartner des Volkes und deren Repräsentanten, wenn es Probleme gab. Der Unfall hatte die dramatische Unterversorgung mit Ärzten und Krankenhäusern deutlich gemacht. Eine bessere Infrastruktur hätte wohl manches Leben retten können. Victor erkannte im Gespräch mit Sunny diesen Punkt natürlich schnell. Sunny stützte seinen massigen Leib vornübergebeugt auf seinen schwarzen Stock, dessen Leopardenknauf uns anfunkelte. Trotz der drückenden Schwüle trug er über der linken Hand einen hellen Lederhandschuh. Der etwa fünfzig Jahre alte Mann war wieder ganz in Weiß gekleidet, aber seinen Kopf zierte diesmal eine hohe runde Kappe aus Leopardenfell.

Während Victor sich von Polizisten und einigen Vertretern der Dorfbewohner die Lage schildern ließ, konnte ich den Blick nicht von Sunny wenden. Er wirkte vollkommen ruhig, aber seine leicht hervorquellenden Augen waren die ganze Zeit in Bewegung. Und obwohl er kein Wort sprach, schien er derjenige zu sein, dem alle Anwesenden ihre Probleme schilderten. Sogar Victor wandte sich immer wieder an den schweigenden Onkel, wenn er sprach.

Um die aufgeregten Dorfbewohner zu beruhigen, schlug Victor den Bau eines Krankenhauses vor. Er wollte die Geräte sofort nach seiner Rückkehr von Lagos aus in London ordern. Bis ein richtiges Krankenhaus fertig wäre, wollte er Zelte aufstellen lassen. Die Leute aus dem Dorf waren begeistert. Soweit ich verstand, schlug jemand sogar einen Standort für die Interimsklinik vor. Es sah so aus, als ob alle bereits mit diesem minimalen Vorschlag zufrieden waren und damit das Elend des Ortes erträglicher wurde.

Unvermittelt erhob sich Sunny, und alle Anwesenden schwiegen sofort. „Ich denke, es ist alles gesagt“, meinte er in Pidgin-Englisch und marschierte würdevoll zum Ausgang der schlichten Wache. Ich interpretierte das so, daß Victors Vorschlag von Sunny angenommen war. Wir zögerten ein paar Sekunden und folgten ihm zu seinem BMW, dessen Schlag aufgerissen wurde. Jetzt verstand ich, warum Sunny einen Handschuh trug: Einer der Wächter reichte ihm einen etwa krähengroßen Vogel, der eine Kappe auf dem Kopf trug und bei der Übergabe kurz mit den Flügeln schlug - ein Falke. Vollkommen selbstverständlich setzte er sich auf den Handschuh und drehte seinen Kopf mit kurzen, ruckartigen Bewegungen, bevor er wie eine leblose Statue erstarrte. Wegen der flirrenden Sonne auf dem staubigen Platz trug Sunny eine breite Sonnenbrille unter seinem Leopardenkäppi. Mit dem Stock in der einen Hand, der wie das Zepter eines Königs wirkte, und dem durch die Kappe blinden Falken auf der anderen verströmte der kleine runde Mann eine abschreckend intensive Autorität, die uns Distanz halten ließ.

„Du sprichst mit dem Herzen, Victor“, nuschelte Sunny. Ich konnte ihn kaum verstehen. „Du solltest die Aufgabe, die dein Vater für dich vorgesehen hat, aber nicht mit dem Herzen ausführen.“

Trotz seiner Leibesfülle und den ganzen Accessoires seiner Autorität glitt Sunny elegant in den Wagen, der mit einer langen Staubfahne über den Platz davonpreschte. Ich sah Victor an, der wie erstarrt dastand und sich nicht rührte. Sein Gesicht wirkte wie versteinert. „Was hat er damit gemeint?“ fragte ich und griff vorsichtig nach der eiskalten Hand meines Prinzen.

„Es wird kein Krankenhaus geben. Das hat er damit gemeint“, erwiderte Victor.

Keine Aussprache, kein Austausch von Meinungen. Ein verklausuliertes Dekret und sonst nur Schweigen.

„Aber er hat doch eine Verantwortung für die Leute, und alle waren begeistert“, sagte ich fassungslos. Victor schwieg und stieg ins wartende Taxi, das uns nach Warri zurückbrachte. Für den Weiterflug nach Lagos war es inzwischen zu spät. Wir verbrachten eine Nacht in einem modernen Hotel, in dem die Klimaanlage nicht funktionierte und die Mücken nervten. Zerstochen und ziemlich ernüchtert, flogen wir am nächsten Morgen nach Lagos.

Victor hatte nur die Rolle des Kronprinzen zu spielen. Sunny genoß Autorität und Ansehen. Gegen beides durfte Victor nicht ankämpfen, wenn er nicht wollte, daß man ihm mangelnden Respekt vorwarf. Die Achtung vor dem Alter ist die Grundlage für das Funktionieren dieser Gesellschaft. Sunny benutzte seine ihm aufgrund seines Alters zukommende Stellung, und damit lag die Macht, Dinge zu verändern, in seinen Händen. Er wußte, wie diese Macht

richtig eingesetzt wurde: Man gab nicht das klitzekleinste Stückchen davon an einen Jüngeren ab.

Ich hatte einen bitteren Vorgeschmack auf das vermeintlich süße Leben eines nigerianischen Prinzen bekommen, der im Prinzip nur eines machen konnte, wenn er selbst Einfluß ausüben wollte: warten, bis seine Zeit gekommen ist. Doch Victor war nicht der Typ dazu. Er sah die Fehler der Älteren, das Unrecht, das ihr System hervorbrachte. Er wußte, wie und was zu ändern war, und hatte deshalb nicht die Geduld zu warten. Dieser innere Konflikt drohte ihn zu zerreißen. Auch, wenn sein kühles, beherrschtes Auftreten das verbarg.

Für den Montag der folgenden Woche hatte Victor einen Flug nach Argentinien gebucht. Gemeinsam mit seinem einzigen nigerianischen Freund, den ich je kennenlernte, wollte er dort sündhaft teure Polo-Ponys kaufen: Der Lagos Polo-Club sollte zum imageträchtigen winning team hochgepusht werden. Ich fand das seltsam, angesichts der Armut der Massen. Die heranwachsende Elite, zu der Victor gehörte, sah das anders: Durch die sportlichen Leistungen ihrer Mannschaft verschafften sie sich selbst Ansehen und konnten somit in der festgefügten Struktur der Gesellschaft nach oben kommen. Ich brachte Victor gemeinsam mit Femi zum Murtala Mohammed Airport. Es ging mir nicht besonders gut. Trotz der Hitze fror ich.

„Ich beanspruche dich zuviel. Ruh' dich aus“, sagte Victor zum Abschied.

„Ich komme schon zurecht. Paß auf dich auf.“

„Ende der Woche bin ich zurück“, versprach er.