4 SCHRIFT

4.1 Wann lernt der letzte

Schüler schreiben?


Über Generationen hinweg haben Schüler gelernt, wie man mit Zahlen rechnet (oft noch mit Sonderregeln für »Einservorteil«, »Multiplizieren oder Dividieren mit 25«), haben gelernt – zumindest in den Mittelschulen –, wie man eine »Quadratwurzel« zieht, eine »Logarithmentabelle« verwendet usw. Fast alles davon ist heute aus dem Schulunterricht verschwunden, weil man all dies mit einem Taschenrechner besser und schneller kann.

Mindestens genauso lange hat man das Schreiben, das Rechtschreiben und das Lesen unterrichtet. Ich behaupte, viel davon – nämlich das Schreiben und das Rechtschreiben – wird genauso innerhalb der nächsten 20 bis 30 Jahre weitgehend aus dem Schulunterricht verschwinden. Ich behaupte ferner, das Lesen wird weiter unterrichtet werden, ja vermutlich sogar komplizierter werden! Wenn Sie mich jetzt noch nicht für verrückt halten, dann lesen Sie weiter …

Um meine These erklären zu können, muss ich ein bisschen ausholen. Ursprünglich wurden Schreiben und Lesen verwendet, um wichtige Informationen (zum Beispiel Gesetze, Vorschriften, Verträge) festzuhalten. Dabei ergab sich ein unbeabsichtigter Nebeneffekt, der für uns heute von größter Bedeutung ist. Um Informationen in irgendeiner Sprache zwischen Personen auszutauschen, kann man entweder sprechen/zuhören oder schreiben/lesen. Der erwähnte Nebeneffekt besteht darin, dass Lesen sehr viel (zwei- bis dreimal) schneller als Zuhören ist, allerdings ist Schreiben sehr viel (zwei- bis dreimal) langsamer als Reden! Darum lesen wir Bücher (und hören sie uns selten von CDs an), darum ist durch den Prozess des Lesens die Informationsweitergabe rascher, also effizienter, geworden. Darum wird das Lesen, das eine schnellere Informationsaufnahme gestattet als das Zuhören, auch in Zukunft (zumindes länger) bestehen bleiben.

Anders ist es beim Schreiben. Da man viel schneller spricht als schreibt, ist der Prozess des Schreibens ein Engpass, der in absehbarer Zukunft durch die Verwendung von Computern beseitigt werden wird.

Schon heute gibt es ja Textverarbeitungsprogramme für alle Computersysteme, die Rechtschreibung und Silbentrennung kontrollieren, bei Wortwiederholungen Synonyme vorschlagen usw. Und man sieht die ersten Systeme, in die man Text nicht eintippt, sondern hineinspricht, wobei zurzeit der verwendbare Wortschatz noch »klein« (maximal einige tausend Worte) ist, das Programm sich an die Stimme des Sprechers »anpassen« muss und Spezialworte nach wie vor getippt (oder buchstabiert) werden müssen.

In weniger als 20 Jahren werden tragbare Computer mit gut lesbarem Schirm verfügbar sein, die wie heute eine Tastatur (eine einfachere, vermutlich virtuelle, siehe Beitrag 11.1: »Der PC in zehn  Jahren«), aber auch ein Mikrofon zur akustischen Eingabe (und natürlich einen Lautsprecher zur akustischen Ausgabe) haben werden. Der »Anpassungsprozess« des Textverarbeitungsprogramms an den Sprecher wird so ablaufen, dass der Computer verschiedenste Worte nacheinander am Schirm zeigt, die der Benutzer sprechen muss. Dies geschieht so lange, bis der Computer sich an den Sprecher »gewöhnt« hat. Ab diesem Zeitpunkt reagiert der Computer auf gesprochene Eingabe wie auf getippte (d. h., alles, was man sagt, erscheint sofort am Bildschirm und kann nachträglich beliebig – durch Tastatureingabe oder gesprochene Befehle – modifiziert werden). Es kann schon vorkommen, dass der Computer ein Wort nicht versteht und dann sagt: »Bitte Wort wiederholen, buchstabieren oder eintippen …« Aber wenn Sie das nächste Mal dasselbe Wort verwenden, wird es der Computer inzwischen vorgemerkt haben und richtig erkennen.

Da derselbe Computer als Super-Taschenrechner, als Datenbankrechner, als Netzwerkterminal, als programmierbarer Rechner usw. einsetzbar ist, in der Größe etwa einem dickeren Taschenbuch entspricht und wenig kosten wird, hat ihn jeder und trägt ihn jeder jederzeit, so wie heute fast jeder eine Armbanduhr, Schuhe und eine Unterhose trägt. (Siehe dazu  Beitrag 11.1: »Der PC in zehn Jahren«.)

Mit der weiten Verbreitung solcher Geräte entfällt jeder Grund, das Schreiben zu lernen, wird es sinnlos und unmöglich, Kinder zum Erlernen des Schreibens zu motivieren. Wozu auch? Alles, was man schreiben will, diktiert man in das Mikrofon und erhält das Endergebnis – das man während des Entstehens ständig am Schirm vor sich sieht – auf Wunsch sauber und ohne Rechtschreibfehler ausgedruckt.

Das beschriebene Diktieren ist ganz anders und viel leichter als das Diktieren in ein Tonbandgerät (weil man bei Letzterem das Entstehende weder ständig vor sich sieht noch leicht ändern kann); ferner, die Tatsache, dass die Mehrzahl der Menschen nicht mehr wird schreiben können (und wenn, dann nur in Blockbuchstaben, wie sie in Büchern oder Zeitungen verwendet werden), bedeutet nicht, dass die Menschen nicht mehr werden lesen können. Lesen ist weiterhin notwendig, wird auch weiterhin unterrichtet werden. Aber genau so, wie jeder von uns zum Beispiel eine Kuh als solche erkennt, aber nur wenige von uns eine Kuh gut zeichnen können, werden alle Menschen Buchstaben und Zeichen wie zum Beispiel A oder R zwar jederzeit richtig erkennen, werden sie aber nur langsam und unsicher schreiben (»abzeichnen«) können. Nicht nur werden das zukünftige Menschen kaum je geübt haben, viele werden Schreiberwerkzeuge wie Bleistift oder Kugelschreiber noch nie in der Hand gehabt haben; sie werden als interessante Ausstellungsstücke gleich neben dem Federkiel ihren Platz in vielen Museen haben.

Jeder, der entsetzt ist von der Vision, dass die Menschheit eines Tages nicht mehr das Schreiben beherrschen wird, soll bedenken, dass das Schreiben eine junge Kunst ist … Was sind schon 5.000 Jahre im Vergleich zur Dauer der Menschheitsgeschichte! Die weite Verbreitung des Schreibens ist überdies noch viel jünger, sie gibt es in Europa erst seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht seit ca. 200 Jahren. Keine Panik also, das Ende der Zeit, in der jedermann schreiben konnte, ist nur das Ende eines 200- bis 300-jährigen Intermezzos, in dessen Verlauf von relativ natürlichen Schreibgeräten (wie Kreide oder Federkiel und Tinte aus Galläpfeln) auf so hoch technisierte Produkte wie Bleistift und Kugelschreiber und nun als nächster Schritt eben auf Computer mit Spracheingabe übergegangen wird.

Schreiben (langsamer als Reden) und Lesen (schneller als Zuhören) in einer bestimmten Schrift stellt einen gewissen Kompromiss dar. Macht man die Schrift noch komplizierter, wird dadurch das Schreiben noch langsamer, das Lesen aber noch schneller. Je mehr das Schreiben an Bedeutung verliert, umso mehr werden komplexe Bildsymbole lange Worte ersetzen. Die Schrift wird durch zusätzliche Symbole erweitert, die das Lesen zwar komplizierter machen, aber auch noch schneller (und internationaler). Wer an Verkehrszeichen denkt oder an Hinweise auf »Tankstelle«, »Restaurant«, »Flughafen«, »Telefonzelle mit Wertkarte«, »WC für Behinderte« usw., die nicht durch Worte, sondern durch Symbole ausgedrückt werden, erkennt deutlich, dass wir uns schon auf dem Wege befinden, unser Buchstabenalphabet durch viele Hunderte Bildsymbole zu erweitern, im Sinne einer noch schnelleren Kommunikation. Wie weit das vielleicht einmal gehen wird beschreibt der Beitrag 11.4: »MIRACLE«.



4.2 Das fehlende Organ


Wir haben Ohren, um zu hören: rein passive Sinnesorgane zum Empfangen von Geräuschen. Und wir haben den Mund als aktives Gegenstück. Mit ihm können wir konkrete Geräusche (Sprache) oder abstrakte Geräusche (Musik) herstellen. Die Ohren gelten allgemein als das zweitwichtigste Sinnesorgan.

Unser wohl wichtigstes Sinnesorgan sind die Augen: rein passive (rezeptive) Einrichtungen zum Empfangen von bildlichen Eindrücken; das aktive Gegenstück zu den Augen jedoch fehlt uns. Wir haben kein Organ, mit dem wir konkrete oder abstrakte Bilder bzw. bewegte Bilder erzeugen können!

Mancher mag vorschnell argumentieren, dass wir doch in der Lage sind, visuelle Signale herzustellen. Wir können gestikulieren, wir können Grimassen schneiden, unsere »Körpersprache« bringt oft bewusst oder unbewusst unsere Gefühle oder Reaktionen zum Ausdruck usw. Tatsächlich aber handelt es sich dabei um »sekundäre« visuelle Informationen, ähnlich wie wir auch ohne Mund sekundäre akustische Signale aussenden können, indem wir in die Hände klatschen, mit den Füßen auf den Boden stampfen oder mit der Hand auf den Tisch hauen.

Es verbleibt die unbestreitbare Tatsache, dass die Menschheit mit dem furchtbaren Handicap leben muss, dass es ihr unmöglich ist, für das mächtigste unserer Sinnesorgane einigermaßen direkt Informationen bewusst anzubieten. Die Meistermaler der Vergangenheit haben verzweifelt versucht, diese Lücke zu schließen, indem sie Kunstwerke aller Art schufen; und technologische Entwicklungen wie Fotografie oder Film- und Videokunst erlauben es heute zumindest, gewisse (auch bewegte) bildliche Situationen zu produzieren und zu archivieren. Der durchschlagende Erfolgszug des Fernsehens ist nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen, dass damit erstmals der Heißhunger unseres besten Sinnesorgans einigermaßen gestillt werden kann … im Allgemeinen zweifellos mit recht fragwürdigen Angeboten.

In einem gewissen Sinne ist das fehlende Organ der biologische, bilderzeugende Apparat, der Bildschirm, der sich auf Wunsch auf unserer Stirne öffnet und dort von uns erdachte, konkrete oder abstrakte Bilder anzeigt, in einem gewissen Sinne also ist das Fehlen dieses Organs fast wie ein Fluch, mit dem die Menschheit leben muss. Da sammeln wir im Laufe des Lebens umfangreiches Wissen oder durchleben Gefühle, Situationen und Erfahrungen und wollen dies alles unseren Mitmenschen, unseren Kindern, unseren Schülern mitteilen. Und haben größte Probleme damit, weil wir unsere Gefühle und Gedanken, die häufig nicht sprachlich, sondern bildlich vorliegen, kodieren müssen für den schmalen Kommunikationskanal Sprache. Und der Empfänger dieser akustischen Information muss in mühsamer Dekodierung versuchen die Bilder wieder zur rekonstruieren. Kein Zweifel, dass Mängel in diesem Kodierungs- und Dekodierungsprozess für viele zwischenmenschliche Missverständnisse verantwortlich sind!

Wie viel einfacher wäre es doch, Fakten und Ansichten zu kommunizieren, wenn wir in der Lage wären, diese in für andere unmittelbar rezipierbare visuelle und akustische Form umzusetzen!

Man beachte, dass das Herstellen von Filmen – obwohl dabei bewusst eine Kombination von visueller und akustischer Information geschaffen wird – keine echte Lösung darstellt. Erstens ist der Prozess zeitlich und finanziell so aufwendig, dass er höchstens für breite Streuung von Information, nicht aber für interaktive Kommunikation in Frage kommt; zweitens bildet er nur Vorgänge ab, die vorher in der realen Welt (oder jedenfalls der Welt der Filmstudios) geschaffen wurden; und drittens tendiert er dazu, Informationen viel zu konkret zu verpacken, wodurch die menschliche Phantasie zu sehr eingeengt wird.

Dies ist auch der Grund, warum uns zum Beispiel Buchverfilmungen häufig so wenig befriedigen. Wo im Buch eine Person, eine Gegend, eine Situation grob beschrieben wird, wird im Film ein konkreter Mensch, eine tatsächliche Landschaft, eine spezielle Situation gezeigt: unsere Phantasie wird eingeengt, das Abstraktionsniveau ist zu niedrig. Das Bild der Hauptfigur, das wir uns auf Grund des Buches gemacht hatten, wird zum Beispiel zerstört durch das Auftreten eines bestimmten Schauspielers.

Eine »abstrakte« Verfilmung eines Buches müsste solche Probleme vermeiden – etwa indem, wie im klassischen griechischen oder japanischen Theater, Schauspieler mit Masken auftreten, um eine Frau oder einen Mann darzustellen, ohne durch Details abzulenken. Und analog müsste in einem abstrakten Film auch in allen anderen Belangen so stark mit Symbolen gearbeitet werden, dass eine zu starke Konkretisierung verhindert wird.

Abgesehen von einigen ganz rudimentären Ansätzen (zum Beispiel mit Zeichentrickfilmen) ist unsere Erfahrung mit der Herstellung bewegter abstrakter Bilder sehr gering. Und dies, obwohl für den visuellen Kommunikationsprozess solche abstrakte bewegte Bilder – da nahe an vielen Denkvorgängen – besonders wichtig wären.

Damit ergibt sich eine insgesamt deprimierende Situation. Wir haben kein Sinnesorgan für die willkürliche und unmittelbare Produktion von (bewegten) konkreten oder abstrakten Bildern, ja verstehen nicht einmal ansatzmäßig, wie bewegte abstrakte Bilder für eine leistungsfähige Bildkommunikation aussehen müssten. Viele Menschen haben noch nicht einmal gelernt, abstrakte Bilder (Kunstwerke) zu verstehen (und lehnen sie daher als »Unsinn« ab …).

Unsere zwischenmenschlichen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten sind somit aufs Ärgste eingeengt; eine unerfreuliche Perspektive! Und doch gibt es Licht am Horizont, wie der nächste Beitrag beschreibt.



4.3 Die Krücke für das fehlende Organ


Wir haben keinen biologischen Mechanismus, der es uns gestattet, auf Wunsch Bilder (färbige, bewegte, konkrete oder abstrakte) spontan und unmittelbar so zu produzieren, dass sie von anderen Menschen gesehen und verstanden werden.

Das Fehlen dieses Organs behindert die Informationsweitergabe von Mensch zu Mensch dramatisch. Es ist aber nicht einzusehen, dass sich die Menschheit für immer mit dem Fehlen dieses Organs abfinden muss. Da es uns gelungen ist, das Fehlen von Flügeln durch Flugzeuge, das Fehlen von biologischen Grabvorrichtungen durch Bagger und Tunnelbohrmaschinen und das Fehlen von Kiemen durch SCUBA-Geräte und Unterseeboote weitgehend zu kompensieren (um nur einige Beispiele zu nennen), warum soll es uns nicht auch gelingen, das fehlende Organ allmählich durch technische Krücken zu ersetzen?

Mehr noch, ich behaupte, diese Krücken entstehen bereits: als Präsentationsgrafik-, Multimedia- und Unterrichtssysteme auf modernen Computern mit modernen Programmpaketen.

Der Aufwand, gute Präsentationsgrafik (inklusive Bewegungsvorgänge) für zum Beispiel Vorträge zu erstellen, ist aber noch immer so groß, dass man solche Grafiken zwar zunehmend als Vortragsunterstützung verwenden kann, jedoch noch nicht für die zwischenmenschliche Kommunikation in »Echtzeit«.

Es ist aber nicht undenkbar, dass wir eines Tages so mächtige Computer mit umfangreichen Bildarchiven und Hilfsmitteln zur Verfügung haben werden, dass viele »gedankliche Bilder« schnell genug erstellt werden können, um sie selbst während einer Diskussion und zur Unterstützung dieser einsetzen zu können: Vortragende verwenden seit Jahrzehnten schon Tafeln oder Flipcharts, auf denen sie oft mit ein paar Strichen etwas skizzieren und damit Ideen schneller und besser zum Ausdruck bringen als durch noch so längliche sprachliche Erklärungen. Es liegt auf der Hand, dass die immer besser werdenden Werkzeuge auf grafischen Computerarbeitsstationen, unterstützt von riesigen Multimedia Bibliotheken (deren digital gespeichertes Material in Sekundenschnelle für die vorliegende Situation modifiziert werden kann), uns sehr viel bessere Hilfsmittel für Erläuterungen und Diskussionen anbieten werden, als uns dies heutige Techniken gestatten. Computertechnologie wird uns eine allmählich besser werdende Krücke für das fehlende Organ liefern, wird die zwischenmenschliche Kommunikation und Information (also vor allem auch jede Art von Unterricht) dramatisch verbessern. Die dadurch entstehende neue Art der Informationsweitergabe und Informationsarchivierung wird offenbar das klassische Verfahren für den Wissenstransport – die Schrift – tief beeinflussen.



4.4 Das Ende der Schrift?


Schon vorher habe ich argumentiert, dass in nicht allzu ferner Zukunft das Schreiben (mit einem Schreibgerät oder auf einer Tastatur) zugunsten sprachlicher Eingabe von Text deshalb aussterben wird, weil der Mensch schneller redet, als er schreiben kann. Ich habe gleichzeitig argumentiert, dass das Lesen (weil schneller als Zuhören!) sehr viel bessere »Überlebenschancen« hat. Tatsächlich ist die Situation aber dramatischer. Ich behaupte, dass auch die Bedeutung des Lesens rapide abnehmen wird. Überspitzt formuliert betrachte ich die Schrift als ein rasch veralterndes Phänomen, das zwar eine Zeit lang gute Dienste geleistet hat, aber nun im Begriff steht, durch bessere Informations- und Kommunikationsmedien ersetzt zu werden.

Die Prognose, dass die Schrift zum Aussterben (bzw. zur Bedeutungslosigkeit) verurteilt ist, stößt stets auf sofortige und heftige emotionelle Reaktionen. Dies liegt in erster Linie daran, dass wir instinktiv an die »Gleichung« »Schrift = Kultur = hoch stehende Zivilisation« glauben.

Diese Gleichung ist falsch. Die Menschheit gibt es seit über einer Million Jahren und Hochkulturen seit mindestens zehntausend. Die Schrift ist aber nicht nur sehr viel jünger, sondern wurde über Jahrtausende hinweg nur von einer sehr kleinen Bevölkerungsminderheit beherrscht und verwendet. Noch vor dreitausend Jahren argumentierte Sokrates vehement gegen die Schrift, weil sie den interaktiven Dialog zwischen Menschen durch eine unpersönliche Wissensweitergabe ersetzt, die nicht mehr hinterfragt werden kann. Plato versuchte, durch schriftliche Aufzeichnungen von »sokratischen Dialogen«, welche die Pros und Kontras zu einem Thema widerspiegeln sollten, der Kritik Sokrates’ Rechnung zu tragen, war aber selbst vom verderblichen Einfluss der Schrift überzeugt: »Wer die Schrift beherrscht, in dessen Seele wird Vergessen einziehen, weil er verlernt, sein Gedächtnis zu benutzen.« Bis zur weiten Verbreitung der Schrift haben sich Menschen immer alles Notwendige gemerkt und war ihr entsprechend trainiertes Hirn dazu auch problemlos in der Lage; heute müssen wir uns schon sechsziffrige Telefonnummern sofort notieren, wenn wir sie nicht vergessen wollen!

Bis zur Erfindung des Buchdrucks (Gutenberg, um zirka 1450) war die Kunst des Lesens und Schreibens schon deshalb eine Rarität, weil die Haushalte, auch wenn es hoch herging, nur ein Buch besaßen: die Bibel. Eine weite Verbreitung des Lesens und Schreibens gibt es natürlich überhaupt erst seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht (Preußen 1717, Österreich 1770). Die weite Verbreitung der Schrift ist also ein ganz junges Phänomen!

Die Schrift ist demnach nicht ein notwendiger und wichtiger Begleiter des durchschnittlichen Menschen; sie ist auch nicht eine »natürliche Ergänzung« der Sprache. Sie war vielmehr eine Krücke – die einzige Krücke, die die Menschheit besaß –, um Ideen irgendwie festzuhalten. Dieses Festhalten war für Verträge, Gesetze, Religion, Wissen, Kunst usw. von größter Bedeutung. Mangels Alternativen musste man sprachliche (und bildliche) Ideen in Schrift kodieren und mit verschiedensten mehr oder minder mühsamen Schreibtechnologien aufzeichnen: mit Tinte auf Papyrus, mit Bleistift auf Papier, mit Tastatur auf Diskette und Bildschirm.

Seit ganz kurzer Zeit beginnen uns bessere Möglichkeiten für die Archivierung und Weitergabe von Gedanken zur Verfügung zu stehen: Für sprachliche Informationen kommt eine direkte Digitalisierung in Frage, für bildliche Informationen Krücken für das fehlende Bild erzeugende Organ in der Gestalt von computerunterstützten Bewegtbildszenen. Allmählich geraten wir auf diese Weise immer mehr in die Lage, Ideen so festzuhalten, wie dies am natürlichsten ist: Bildfetzen aus unserem Hirn genau als solche, sprachliche Informationen (wo sie nicht durch bildliche ersetzt werden) als direkt aufgezeichnete Sprache. Sobald wir entsprechende Computerwerkzeuge verfügbar haben, die das einfache Erstellen solcher »multimedialer Dokumente« gestatten, und sobald wir das Arbeiten mit diesen gelernt haben, bleibt für die Verwendung der Schrift nur mehr wenig Motivation!

Natürlich wird das Lesen von Schrift noch generationenlang gelehrt werden, um den Zugriff auf vorhandenes Kulturgut zu ermöglichen; natürlich wird das Erlernen der geschickten Verwendung der erwähnten Computerwerkzeuge ein schwieriger Prozess sein, ähnlich wie heute in den Schulen jahrelang gelehrt wird, wie man sich schriftlich gut ausdrückt, und viele haben es nach zwölf Jahren Schule noch immer nicht gelernt.

Die Behauptung, dass die Schrift durch eine Kombination von Bild- und Toninformation verdrängt wird, lässt sich zahlenmäßig untermauern. In Nordamerika verwenden nur noch rund 50 % aller Menschen Schrift aktiv, d. h. schreiben und lesen regelmäßig. Der Rest deckt seine Informationsbedürfnisse durch Telefon, Radio, Fernsehen, Film und Video. Der Brief zu Weihnachten an die Oma wird ersetzt durch ein Telefongespräch oder ein Videoband.

Tatsächlich sind obige Zahlen trügerisch. Analysiert man die Daten genauer, so kann man ableiten, dass von den Nordamerikanern, die beruflich nicht schreiben oder lesen müssen, nur noch 20 % (ein Fünftel!) das Schreiben und Lesen aktiv betreiben. Die Bedeutung des Lesens und Schreibens für die Mehrzahl der Bevölkerung ist also schon heute minimal, noch bevor die Werkzeuge für die Verwendung digitalisierter Sprache und der Computergrafik für bildliche Informationen zur Verfügung stehen!

PS: Die Beiträge 4.2, 4.3 und 4.4 basieren auf der Arbeit »Computer Visualization, a Missing Organ, and Cyber-Equivalency« von H. Maurer und P. Carlson, die 1992 in der amerikanischen Zeitschrift »Collegiate Microcomputer« erschienen ist und von der eine Kurzform mit dem Titel »Computervisualisierung – die Krücke für ein fehlendes Organ« in der deutschen Zeitschrift technologie + management 1/92 abgedruckt wurde. Mehr dazu siehe Beitrag 11.4: »MIRACLE«.



4.5 Wichtig ist nur die Quelle!


Am 12. Juni 1983 las Franz Baldwin im WC des Bahnhofs, mit Kuli an die Wand geschmiert: »Franz Baldwin ist ein Verbrecher.« Er ärgerte sich darüber, aber wie ernst soll man Graffiti schon nehmen?

Zwei Monate später fand Franz Baldwin eine gedruckte Seite auf seinem Schreibtisch, worauf stand: »Franz Baldwin hinterzieht Steuergelder!« Er wurde blass: Wer hatte diese schwere Verleumdung in gedruckter Form in die Welt gesetzt? Er musste unbedingt den Urheber ausfindig machen und zur Rede stellen.

Am 12. Juni 1993 erhielt Fritz Kustkar eine gedruckte Seite in der internen Post seiner Firma mit folgendem Text: »Fritz Kustkar war schon wieder untreu!« Er lächelte: Welcher der Bürokollegen hatte sich da einen Scherz erlaubt und mit dem Laserdrucker ein offiziell aussehendes Dokument gedruckt?

Zwei Monate später lag im Postfach von Fritz Kustkar ein Bild von seiner Freundin, in inniger Umarmung mit einem anderen Mann. Heiß stiegen Zorn und Eifersucht in ihm auf! Wie konnte seine Freundin das nur tun?

Am 12. Juni 2003 sah Herbert Mattser am schwarzen Brett das Bild seiner nackten Frau mit einem Bürokollegen. Er lachte innerlich: Wer hatte sich die Mühe gemacht, eine Fantasie mit dem Computer in ein realistisches Bild umzusetzen?

Zwei Monate später spielten Bekannte im Verlauf eines »Herrenabends« ein Videoband vor, in dem seine Frau in sehr anzüglichen Szenen auftrat. Herbert Mattser war zornig und drohte den Urhebern mit strafrechtlicher Verfolgung (»Verletzung der Intimsphäre durch elektronische Manipulation«, Paragraf 314 B 6). Er berichtete halb ärgerlich, halb lachend seiner hübschen Frau von dem Vorfall und dass die Manipulation von Videos immer wildere Formen annähme.

Herbert Mattser tat das Richtige. Ihm war bewusst, was noch zu wenig bewusst ist: dass alle Medien (Gedrucktes, Fotografiertes, Gefilmtes) durch den Einsatz von Computern beliebig verfälschbar wurden. Wenn wir heute einen elegant gedruckten Flugzettel in die Hand gesteckt bekommen, verstehen wir bereits: Der Wahrheitsgehalt der Information auf diesem Zettel mag eigentlich null sein (wenn wir nicht wissen, von wem der Zettel stammt), gleichgültig, wie schön er gedruckt ist. Sehen wir aber ein Foto, auf dem Bush Putin die Hand schüttelt, erscheint uns das noch als »Beweis« für etwas, das tatsächlich stattgefunden hat, obwohl in Wirklichkeit seit Jahren solche Fotos beliebig fälschbar sind. Und bei Videos zeichnet sich derselbe Prozess ab.

Mit anderen Worten: Was immer wir sehen (Gedrucktes in Text und Bild, Bewegtes auf Film oder Video), muss als das eingestuft werden, was es ist, potenziell ohne Wahrheitsgehalt und beliebig manipulierbar.

Ist dies furchtbar, ein Umbruch in unserer Gesellschaft, eine Katastrophe, weil man an gar nichts mehr glauben kann? Überhaupt nicht! Wer glaubt heute denn noch an alles, was in einer billigen Boulevardzeitung steht? (Wer’s tut, ist selber schuld!) Wer glaubt denn alles, was er in den auch besseren Tageszeitungen oder Wochenmagazinen findet? (Wer’s tut, ist sehr leichtgläubig!) Der vermutliche Wahrheitsgehalt einer beliebigen Veröffentlichung hängt nicht davon ab, was man liest oder sieht, sondern davon, wo er herkommt, von der Quelle. So glaube ich eben der »Kronenzeitung« (Pardon!) ein bisschen weniger als der »Presse« oder dem »Standard«, verlass mich übrigens auf die »Zürcher« oder die »Frankfurter Allgemeine« ein bisschen mehr und noch mehr auf die neueste Ausgabe des »Meyer« oder des »Brockhaus«. Und eine Bildreportage von »National Geographic« nehme ich ernster als einen Lichtbildervortrag des mir unbekannten Marcus Fürstner in Bad Schallerbach!

Wir müssen alle rasch umdenken lernen: Information in jeder Form, ob visuell oder akustisch, ist nur so weit verlässlich, als wir die Quelle kennen und uns auf diese verlassen können. Dieses Faktum gilt für textliche Informationen schon lange und gilt eben in der Zukunft auch für alle anderen Arten von Informationen. Durch »multimediale Softwarepakete« wird jede Art der Information beliebig verfälschbar, beruht die Authentizität einer Information nur mehr auf der Verlässlichkeit der Quelle, nicht auf dem Inhalt oder der Form der Information!



4.6 Unterschriften sind fälschbar


Verträge und Abkommen werden meist mit Unterschriften besiegelt. Die manuelle Fälschung von Unterschriften ist nicht leicht und erfordert viel Geschick. Wenn eine Person vor mehreren Zeugen ein Dokument unterschreibt, dann hat sich diese Person damit deutlich festgelegt.

Ganz anders ist es aber, wenn Dokumente zur Unterschrift übersandt und dann »unterschrieben« zurückgesandt werden. Dass manche Minister in manchen Ländern Stempel haben, damit ihre Sekretariate Dokumente »unterschreiben« können, ist wohlbekannt. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass ich (und jeder Informatiker) jederzeit in der Lage bin, einen beliebigen Brief so zu fälschen, dass er ganz authentisch aussieht. Nehmen wir an, ich möchte einen Brief von Minister X an irgendeinen anderen Professor fälschen. Nichts leichter als dies: Ich nehme einen Brief von Minister X an mich. Mit einem Scanner übernehme ich den Briefkopf in den Computer. Nachdem der nur schwarz-weiß ist und das verwendete Papier nicht einmal Wasserzeichen hat, ist das ganz einfach …

Und ich kann zur Reproduktion auch wieder ganz normales Papier verwenden. Den Text schreibe ich mit dem Computer, wie ich will. Die Unterschrift des Ministers digitalisiere ich auch. Damit sie echt aussieht, drucke ich den Brief selbst schwarz, die Unterschrift aber mit dem Tintenstrahldrucker in blauer Farbe, und zwar vielleicht sogar so, dass man den Druck der Füllfeder zu erkennen glaubt.

Wie weit können wir uns also auf gedruckte, unterschriebene Dokumente verlassen? Eben überhaupt nicht mehr, obwohl wir so tun, als könnten wir!

Dies mag wie eine sehr unangenehme Situation klingen. Sie ist es aber nicht, wenn man nur Computer richtig einsetzt. Dokumente sollten in Zukunft nicht durch normale Unterschriften, sondern durch so genannte »elektronische Unterschriften« unfälschbar gemacht werden. Solche elektronische Unterschriften beruhen auf einer verblüffenden Idee der Amerikaner Diffie und Hellmann, die so genannte »Public Key Cryptosystems« vorschlugen und die zeigten, wie man durch deren Verwendung Dokumente so speichern bzw. senden kann, dass:

(a) nur Befugte das Dokument lesen …, aber trotzdem (!) nicht ändern können;

(b) der Urheber des Dokuments einwandfrei nachweisbar ist.

Diese »öffentlichen Schlüsselsysteme« werden wohl in Zukunft auch bei der Übertragung von Nachrichten immer mehr an Bedeutung gewinnen. Mit ihrer Hilfe (Stichwort e-Card und e-Government) werden uns vielleicht bald viele Behördenwege ,notarielle Beglaubigungen etc. erspart bleiben!