KAPITEL 15
Ins Blaue

Max war zwar schon auf dem Meer unterwegs
gewesen, aber noch niemals alleine. Als die Stunden vergingen und
alle Anzeichen des Landes in einem grauen, undurchdringlichen Nebel
verschwanden, wurden ihm langsam die Schrecken des Meeres und seine
Größe bewusst. Der Wind blies kalt und stetig und der gespenstisch
weiße Himmel unterschied sich nicht allzu sehr von dem grauen,
unendlichen Ozean.
Er dachte an seinen Vater und konzentrierte sich
auf die schreckliche Endgültigkeit des Todes in diesem eisigen
Gewässer. In dieser kalten, nassen Meereslandschaft konnte man
nichts anderes tun, als zu grübeln. Eigentlich hätte er froh sein
müssen, dass es nicht stürmte, dass kein heftiger Nordostwind
kreischend aus schwarzen Wolken gefahren kam, wie es in den
Erzählungen der Fischer und in den Märchenbüchern stand. Doch
selbst das Geschrei der Möwen war verklungen und die Dünung war so
gleichmäßig, dass der scharfe Bug der Ormenheid durch das Wasser
glitt wie durch frische Sahne.
In der gespenstischen Stille wanderten Max’
Gedanken zu David Menlo.
David war schon immer seltsam gewesen, aber früher
war es auf eine fröhliche, exzentrische Art und Weise gewesen – die
Marotten eines zerstreuten Genies. Doch in letzter Zeit war etwas
Düsteres über ihn gekommen. Max dachte über Davids zwanghafte
Geheimniskrämerei nach, seine Angriffe auf die Schiffe des Feindes
und seine gefährlichen Experimente. Schon einzeln betrachtet, waren
dies alarmierende Anzeichen, doch zusammengenommen mussten sie noch
etwas weit Schlimmeres bezeichnen.
Max runzelte die Stirn.
In der Geschichte gab es viele Berichte von klugen
Männern und Frauen, die sich zu tief auf obskure Angelegenheiten
eingelassen hatten und für ihre Unverschämtheit mit Wahnsinn
geschlagen wurden. Kein Sterblicher durfte sich gegen den Olymp
stellen oder zu tief in den Abgrund schauen …
Bei Einbruch der Nacht verbannte Max diese
Gedanken. Unter seinen Decken war ihm warm genug, doch die absolute
Stille des Meeres beunruhigte ihn und es nutzte nichts, das ungute
Gefühl noch durch trübe Gedanken zu verstärken. Weit in der Ferne –
viele Meilen über das Meer hinweg – konnte er ein schwaches Blinken
sehen, ein flüchtiges Flackern vor dem dunklen Himmel. Es war
zweifellos die Buglaterne einer Schebecke oder eines besonders
abenteuerlustigen Fischers, und das Wissen, nicht allein in dieser
ungeheuren, immer dunkler werdenden Unendlichkeit zu sein,
beruhigte Max.
Doch er wollte nicht riskieren, selbst ein Licht
anzuzünden, und erst nach vielen Stunden ließen ihn seine
überreizten Nerven auf dem offenen, ungeschützten Deck der
Ormenheid Ruhe finden.
Im Laufe der Tage verfiel Max in eine Art Routine.
Bei Sonnenaufgang wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser und
machte dann in der flachen Vertiefung, die als Laderaum diente, ein
kleines Feuer. Dort nahm er die Dorsche von der Angel, die es in
diesen Gewässern zuhauf gab, und kochte sie.
Es gab reichlich zu essen, aber das Eis erwies sich
als ein Problem. Wenn die Temperatur fiel, legte es sich wie ein
Tuch auf die Dollbords und die Takelage der Ormenheid und machte
sie erheblich langsamer. Max verbrachte viele Nachmittage damit, es
geduldig abzuklopfen, während sein Atem in einer Rauchwolke
aufstieg und das Schiff mit Rudern und Segeln Blys
entgegentrieb.
Er nahm an, dass sie sich Prusias’ Reich auf
direktem Weg nähern würden, doch je weiter er segelte, desto
unsicherer wurde er. Es gab heftige Strömungen, die die Ormenheid
immer weiter nach Süden drängten. Doch jedes Mal, wenn Max
versuchte, den Kurs des Schiffes zu ändern, blieben die Ruder
stehen und die Taue und Takelage hingen schlaff herunter. Nachdem
das zwei Mal geschehen war, nahm er an, dass das Schiff sein
Handwerk wesentlich besser verstand als er selbst, und hörte auf,
sich einzumischen.
Nachdem er das Segeln und Navigieren der Ormenheid
überlassen hatte, verbrachte Max seine Tage unter seinen Decken und
suchte den Horizont nach Schiffen oder Eisbergen ab. Nachts war es
fast genauso, doch manchmal war der Himmel so unglaublich klar und
die Sterne waren so unglaublich hell, dass er stundenlang liegen
und zu ihnen aufschauen konnte, während er dem Lied der Wale in der
Tiefe lauschte.
Nach einer Woche änderte sich das Wetter. Die
glatte Dünung der letzten Tage verwandelte sich in steile Wellen,
die gegen die Planken der Ormenheid klatschten und eisige
Gischt über die Dollbords schickten, sodass die Kleidungsstücke,
die Max zum Trocknen aufgehängt hatte, klatschnass wurden. Nach
einer Stunde gab Max den Versuch auf, seine Wäsche trocknen zu
wollen, und begann, sie vorsichtig einzusammeln, damit ihm der
Sturm nicht eine seiner geliebten Unterhosen oder warmen Socken
aufs Meer fegte.
Als er die kalten, nassen Klumpen in seiner Tasche
verstaute, bemerkte er eine Bewegung am Bug. Ein fetter, plumper
Seevogel hatte sich dort niedergelassen und drehte den Kopf, als
wolle er sich entscheiden, mit welchem seiner kalten runden Augen
er Max ansehen wollte.
Ein weiterer Vogel landete und quakte seinen
Nachbarn grob an.
Dann noch einer.
Max sah zum Segel hinauf und erblickte Dutzende der
grauweißen Vögel, die sich auf der Rah niedergelassen hatten,
während andere in Zweier- und Dreiergrüppchen aufs Deck
niedersanken, bis das Schiff völlig von ihnen besetzt war. Anfangs
fand Max das komisch, doch bald stellte er fest, dass die
struppigen Vögel sein Schiff völlig verdreckten, auf das Deck
kleckerten, seinen Dorsch fraßen und sich in einer Wolke aus Federn
und Schnäbeln ausbreiteten. Er nahm den Stock und bemühte sich, sie
zu vertreiben, aber sie flatterten immer nur auf, sahen ihn
beleidigt an und ließen sich gleich wieder nieder.
Nach zehn anstrengenden Minuten raffte sich Max
noch einmal zu einem letzten Versuch auf. Er wirbelte den Stock
über dem Kopf, sprang und schrie und fluchte und bettelte. Zu
seiner Überraschung gehorchten die Vögel und flogen in einer großen
kreischenden Wolke davon. Ziemlich erleichtert genoss Max einen
Augenblick lang seinen Sieg und überlegte, wie er am besten ein
magisches Schiff von Vogeldreck reinigen sollte.
Der Augenblick währte nicht lange.
Der Wind heulte auf und der Luftdruck sank ganz
plötzlich und spürbar. Der Himmel war auf einmal voller Vögel –
Möwen und Kormorane, Albatrosse und Alke, die im hellgrauen Licht
des Nachmittags flüchteten. Ihrer Flugrichtung entgegensehend,
vergaß Max plötzlich alle Gedanken daran, das Schiff zu schrubben,
seine Leinen einzuholen oder seine Vorräte zu prüfen.
Er dachte nur noch ans Überleben.
Der Horizont vor ihm bestand aus zerrissenem,
ungeheurem Schwarz. Ein Schatten hatte sich über das Meer gelegt,
als ob der Himmel selbst unter dem Gewicht des aufziehenden Sturms
nachgeben würde.
Noch nie war sich Max so klein und hilflos
vorgekommen. Er hatte keine Zeit, das herannahende Monster
anzustarren. Er rannte herum, sicherte seine Habseligkeiten und
holte das Segel ein, um es vor dem gierigen Wind zu retten, der
drohte, es vom Mast zu reißen. Dann zog er die Ruder ein, knotete
sie zu Bündeln zusammen und laschte sie an die Eisenringe, die in
die kräftigen Eichenbalken der Dollbords eingelassen waren.
Jetzt musste er nur noch sich selbst sichern.
Sein Atem kam stoßweise, während er sich ein Tau
fest ums Handgelenk band und mit einem Trollknoten an einem
weiteren Eisenring befestigte. Hinter dem Dollbord fand er nur
dürftigen Schutz, doch er versuchte, sich zu beruhigen. Nun konnte
er nur noch abwarten.
Langsam hob sich der Bug und die Ormenheid erklomm
die erste riesige Welle. Es war ein glatter, langsamer Aufstieg,
dennoch schrecklich aufregend, als sich das Tau um seine Hand
spannte und er erst auf seine Stiefel, dann aufs Heck und
schließlich auf das bleigraue Meer blickte. Das Holz des immer
höher steigenden Schiffes ächzte. Als es
schließlich den Gipfel der Welle erreicht hatte, begann es seine
rasende Talfahrt in einer Gischtwolke aus eiskaltem
Seewasser.
Peitschender Regen und Graupelschnee und das Tosen
eines unvorstellbaren Sturms stießen die Ormenheid herum wie einen
Kreisel. Welle auf Welle donnerte gegen das Schiff wie ozeanische
Sensen von erschreckender Größe. Ob aus purem Glück oder aufgrund
der Magie, über die das Schiff verfügte, gelang es der Ormenheid
meist, den schlimmsten Wellen und der heftigsten Wut des Sturms
auszuweichen. Sie glitt durch Wellentäler, richtete sich auf und
bot den Wellen stets die schmale Seite dar, sodass sie nie einen
entscheidenden Treffer landen konnten.
Noch nie hatte sich Max dem Tod so nahe gefühlt. Er
konnte nicht atmen – eiskalter Regen und Sturzbäche aus schäumendem
Seewasser drohten, ihn zu ersticken, wenn er keuchend nach Luft
rang. Wieder und wieder wurde sein Körper vom Deck hochgerissen und
gegen den Rumpf oder die Eisenringe im Dollbord geschleudert, nur
von dem Tau gehalten.
Der Lärm war ohrenbetäubend – ein heulendes
Kreischen von Wind und Wellen, das plötzlich von einem Knall wie
aus einem Gewehr übertönt wurde. Max sah gerade noch, dass sich
eines der Ruder gelöst hatte und in mehrere große Stücke zerbrach.
Einige Teile rutschten harmlos über Bord, aber eines kam auf ihn
zugeschossen, prallte einmal vom Deck ab und traf ihn mit der Wucht
eines Güterzuges. Es gab einen gleißenden Blitz, ein dumpfes
Klingeln in seinen Ohren und dann versank alles in einem warmen,
dichten Nebel.
Möwen. Er verfluchte ihr schrilles Kreischen und
nahm vage das Flattern ihrer Flügel durch die Augenlider wahr. Sein
Schädel fühlte sich an, als sei er in einen Schraubstock
geklemmt. Schon die leiseste Bewegung seines Kopfes ließ einen
dumpf hämmernden Schmerz explodieren. Die Sonne schien ihm ins
Gesicht – eine weit wärmere Sonne, als man sie im Nordatlantik
erwarten würde. Stöhnend machte Max ein Auge auf und wartete, bis
er klar sah.
Er lag auf dem Deck der Ormenheid, immer
noch festgebunden. Blut klebte in seinen Haaren und hatte eine
Pfütze unter seiner Wange gebildet, die fast darin am warmen Deck
festklebte.
Zähneknirschend zog er sich hoch und stand auf. Als
er sich am Dollbord festhielt, war er schweißüberströmt. Trotz des
ruhigen Meeres musste er sich sofort übergeben und hielt sich einen
Augenblick lang an der Reling fest und fragte sich, was eigentlich
passiert war.
Taumelnd sah sich Max auf dem Schiff um und stellte
erstaunt fest, wie wenig die Ormenheid beschädigt war. Seine
Taschen waren noch festgebunden, fast alle Ruder waren intakt und
das Segel schien ebenfalls noch ganz zu sein. Eines nach dem
anderen schob er die Ruder wieder an Ort und Stelle, hisste das
Segel am kräftigen Mast und murmelte »Leita Blys,
Ormenheid«. Dann sank er auf die Knie und suchte nach
Wasser.
In seinen Wassersäcken war nicht mehr viel. Doch
sein Körper glühte von einem heftigen Fieber, sodass er den Rest
gierig hinunterstürzte. Dann richtete er sich mühsam am Mast auf
und sah sich um.
Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war es
Nachmittag. Und der warme Wind sagte ihm, dass sie auf einer
schnellen Strömung Hunderte von Meilen weiter nach Süden in wärmere
Gefilde geraten sein mussten. Land war nicht in Sicht, nur eine
weiche Landschaft aus Wellen, die man, hätten sie nicht so
geglänzt, für Dünen hätte halten können.
Um sich die Zeit zu vertreiben, begann er, seine
täglichen Beobachtungen in seinem Zeichenblock zu skizzieren. Der
Sturm hatte den Block aufgeweicht, sodass die Blätter gewellt und
die früheren Zeichnungen verschmiert waren, aber Max trocknete ihn
in der Sonne und presste die Blätter wieder einigermaßen glatt und
verzeichnete dann das Wetter, den Weg des Schiffes und die Tiere,
die er beobachten konnte.
Und es gab viele Tiere: Schildkröten, Wale,
Tausende von Seevögeln sowie Fische in allen Formen, Größen und
Arten. Er segelte durch große Flächen voller Seetang und über
faszinierende Gebiete mit leuchtendem Plankton. Es gab Regen und
gelegentlich auch ein heftiges Gewitter, aber nichts in der Art des
schrecklichen Nordoststurms, den er überstanden hatte. Das Wetter
war warm genug, dass Max die schweren Felle und Decken
beiseitelegen konnte und seine Abende nachdenklich im Schein des
Hexenfeuers verbrachte, das er zum Kochen und auch wegen der
Gemütlichkeit herbeirief.
Abgesehen vom Sturm war Max von der Normalität von
Meer und Himmel überrascht, vom Zustand der Welt jenseits der
Grenzen von Rowan überhaupt. Er hatte immer angenommen, dass
Astaroth die Welt mithilfe des Buches Thoth von Grund auf neu
gestalten würde. Er war auf eine ewige Mitternacht gefasst gewesen,
auf Tod und Verderben, die Hölle auf Erden … aber nicht auf eine
ruhige See und Schäfchenwolken am Himmel.
Astaroths Einfluss hätte minimal sein können, wäre
da nicht etwas gewesen, was Max ein paar Tage später sah. Es war
später Nachmittag, und es wurde schnell dunkel, als er es plötzlich
an Steuerbord platschen hörte. Max stand vom Feuer auf, sah über
den Schiffsrand und bemerkte einen Seehund, der plötzlich aus dem
Wasser sprang.
Er hatte bereits Dutzende von Seehunden auf seiner
Reise gesehen, aber dieses Exemplar war besonders dick und fett und
sein Fell war rot und glänzend wie eine Tomate. Er lehnte sich über
die Reling und sah einen roten Streifen am Schiff vorbeiziehen. Es
tauchte ein weiteres Mal an die Oberfläche, sodass Max es genau
sehen konnte.
Das war kein Seehund.
Das Wesen hatte den runden, länglichen Körper eines
Seehunds und flossenähnliche Gliedmaßen, aber sein Gesicht war
entschieden das einer Kröte mit großen gelben Augen und einem
schmalen, traurigen Mund. Es tauchte sanft wieder unter und
schlängelte durch das Wasser wie eine überdimensionale Kaulquappe.
Max schaute ihm nach und hörte plötzlich merkwürdige, kichernde
Rufe wie von einem Seetaucher.
Etwa eine Viertelmeile voraus sah Max eine Reihe
schwarzer Felsen aus dem Wasser ragen. Durch das Fernglas konnte er
erkennen, dass sich auf diesen Felsen Hunderte, vielleicht sogar
Tausende dieser merkwürdigen roten Kreaturen räkelten und ihre
seltsamen Schreie ausstießen oder ins schäumende Meer glitten. Bei
genauerem Hinsehen stellte er fest, dass das Exemplar neben der
Ormenheid keineswegs repräsentativ war. Denn keine zwei Kreaturen
auf den Felsen glichen einander, wenn man einmal von dem plumpen,
sackartigen Körper, der leuchtend roten Farbe und dem hyänenartigen
Gelächter absah, das aus ihren pulsierenden Kehlen stieg. Manche
Gesichter ähnelten Kröten, doch andere eher Vögeln oder Kühen,
während manche sogar eine verstörende Ähnlichkeit mit menschlichen
Gesichtern aufwiesen. Und die Besonderheiten beschränkten sich
nicht nur auf die Gesichter. Einige der Wesen hatten zwei Flossen,
andere vier, während wieder andere rudimentäre Gliedmaßen besaßen,
die am ehesten
denen von Krebsen ähnelten und aus ihren Bäuchen und Rücken
hervorsprossen. Noch nie im Leben hatte Max so hässliche,
chaotische Lebewesen gesehen.
Während die Ormenheid weitersegelte, beobachtete
Max das merkwürdige rote Wesen, das seinem Schiff folgte. Trotz des
grotesken Aussehens waren seine Bewegungen effizient und elegant,
und die kräftigen Flossen, die es an Land zur tollpatschigen
Hilflosigkeit verdammten, waren im Wasser ein gleitendes Wunder.
Max grinste, als er den roten Torpedo abtauchen, vorauseilen und
wieder größer werden sah, wenn er erneut an die Oberfläche
kam.
Diesmal jedoch kam noch etwas mit nach oben. Eine
dunkle Form, die die aufsteigende rote Kreatur winzig erscheinen
ließ, bis sie nur noch ein Punkt vor einem größer werdenden
Schatten zu sein schien.
Max wich von der Reling zurück, als das rote Wesen
aus dem Wasser sprang, verfolgt von einem Hai, der so lang war wie
das halbe Schiff. Holzsplitter flogen, als der Hai mehrere Ruder
zerschmetterte und aus dem Wasser schnellte, sodass Max seinen
massigen Körper und das tote schwarze Auge sehen konnte, das in das
seine starrte. Einen einzigen schrecklichen Augenblick lang
fürchtete er, der Hai könne durch seinen Schwung über das Dollbord
an Deck springen, aber das Monster fiel wieder ins Wasser, die
Kiefer fest um seine Beute geschlossen. Der Bug der Ormenheid
erzitterte, als er mit dem Schwanz dagegenschlug und das Wasser rot
aufschäumte.
Max rappelte sich hoch, griff nach der Harpune und
rannte ans Heck, falls das Monstrum sich entschloss, das Schiff zu
verfolgen. Aber der Hai blieb am Ort seines Angriffs und seine
Rückenflosse zog gemächliche Kreise unter dem heftigen Gezeter von
gierigen Seevögeln.
Im Laufe der nächsten Tage wurde der Wind zunehmend
wärmer. Er war erst seit drei Wochen auf See, doch es kam ihm wie
eine Ewigkeit vor. Mittlerweile hatte er es aufgegeben, die
Position der Ormenheid auf einem so großen Meer bestimmen zu
wollen. Er verließ sich auf die Magie des Schiffes, auf die
unsichtbaren Kräfte, die die Ruder betätigten, die Taue
ausrichteten und das Steuer nach Blys lenkten. Obwohl ihn die
merkwürdigen Seehundwesen dazu gebracht hatten, sich alles, was er
fing, genauestens anzusehen, gab es doch relativ viel Nahrung, und
er hatte festgestellt, dass ein mit einer einfachen Beschwörung zum
Leuchten gebrachter Angelhaken auf viele Fische in der Dämmerung
geradezu unwiderstehlich wirkte.
Und endlich: Land! Es tauchte eines Nachmittags
als schmaler schwarzer Streifen auf, der die graue Eintönigkeit des
glatten Horizonts durchbrach. Max sprang auf und lehnte sich weit
über den Bug aus Angst, es könne sich um ein Trugbild handeln oder
um eine lockende optische Täuschung.
Aber es war keine Fata Morgana. Ein paar Stunden
später fuhr die Ormenheid durch einen schattigen Wasserweg zwischen
zwei Klippen aus dunklem Fels. Max blickte hinauf, in der Hoffnung
auf ein Lebenszeichen, doch es gab nichts außer Steinen und den
ineinander verschlungenen Bäumen, die sich daran klammerten.
Erst Tage später steuerte die Ormenheid plötzlich
nach Backbord zu einem kleinen Strand, der ausreichend geschützt
hinter den Klippen und der Brandung lag, sodass sie sicher landen
konnte. Diagonal zu den Wellen hob und senkte sich das Schiff und
kam dem dunklen Sand immer näher, bis sein flacher Rumpf
schließlich auf Grund lief.
Ein paar Minuten lang blieb Max im Boot sitzen und
sah,
wie die ersten Sterne am dunkelblauen Himmel aufgingen. Es war ein
kühler Abend und die Wellen schlugen melodisch an den Strand und
glitten mit leisem Rauschen über den Sand. An der Küste entlang
konnte er an den flachen Klippen und den dunklen Wäldern keine Spur
von menschlicher Besiedelung entdecken. Er war in Blys angekommen
und fand es so still und friedlich vor wie ein Gedicht.
Nach den Monaten auf See war es angenehm und
seltsam zugleich, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Die
Erde schaukelte nicht und kein plötzlicher Ruck brachte einen aus
dem Gleichgewicht, wenn man nicht aufpasste. Er nahm seinen
Rucksack, ging seine Ausrüstung noch einmal durch und hängte sich
das Schwert auf den Rücken. Dann sah er die arg mitgenommene
Ormenheid entschuldigend an, sprach das Wort, das sie so klein wie
ein Matchbox-Auto machte, und nahm sie vom nassen Sand hoch, um sie
sicher in der Tasche zu verstauen. Grimmig über sein nasses,
zerlumptes Aussehen lächelnd, nahm er seinen Wanderstab und machte
sich auf den Weg vom Strand zu dem Felsvorsprung, der an der Küste
aufragte. Es war eine schöne Nacht zum Wandern und Max’ Müdigkeit
verging schnell. Er kam sich genauso fremd und wild vor wie alles,
auf das er möglicherweise treffen würde.
Tagelang wanderte er dahin, ohne eine
Menschenseele zu sehen. Das Land war gerade erst aus dem
Winterschlaf erwacht und hatte den Schnee abgeschüttelt, unter dem
nackte Hügel und kahle Bäume zum Vorschein kamen. Doch Grau und
Braun waren nicht die einzigen Farben, denn gelegentlich ging Max
über große Teppiche aus kniehohen blauen Blumen, die sich wie ein
Van-Gogh-Gemälde über die Landschaft legten. Wenn es dunkel wurde,
hörte er oftmals die tiefen, lockenden Rufe von Tieren und
erinnerte sich an
Bobs Mahnung, sich kleine, geschützte Plätze zum Schlafen zu
suchen.
Erst nach einer Woche sah er eine Wicca.
Auf den ersten Blick hielt Max sie für einen Vogel,
doch dann wurde die Gestalt größer, bis er die flatternden Schöße
eines Mantels erkannte und die Gestalt einer Frau, die auf einem
Stock aus Eibenholz über ihm schwebte. Es hatte keinen Sinn, sich
zu verstecken, da er im Morgenlicht auf einem Felsgrat entlangging.
Außerdem wollte Max gerne mit jemandem sprechen.
Und die Wicca hatte ihn auch gesehen, denn sie
änderte ihre Richtung und kam im Bogen zu ihm zurückgeflogen, dicht
über dem Hügel, und schwebte dann etwa einen Steinwurf entfernt
über dem Boden. Mit einem kleinen Lachen hob sie einen dünnen
Zeigefinger und sprach ihn auf Italienisch an:
»Wen haben wir denn hier?«, kicherte sie mit einem
bösartigen Glanz in den Augen. »Vielleicht einen Flüchtling?«
»Ich bin kein Flüchtling«, erklärte Max
bestimmt.
Die Wicca stieg ab und sah ihn misstrauisch an.
»Wer bist du dann?«, krächzte sie. »Du sprichst nicht wie ein
Eingeborener.«
»Ein Reisender.«
Sie lachte und spuckte auf den kalten Boden. »Hier
kommen keine Reisenden her«, stellte sie fest. »Du bist in Blys.
Ich dachte, du wärst ein Sklave von diesem verfluchten Ort, aber du
… du bist etwas anderes, glaube ich. Zeig mir dein Zeichen«,
verlangte sie grimmig und wies auf seine Hand.
Max wunderte sich, dass sie das wusste, und zeigte
ihr die Tätowierung des Roten Dienstes auf seinem Handgelenk, das
sie volle zehn Sekunden lang anstarrte.
»Bei allen Göttern«, flüsterte sie dann und wich
zurück. »Bist du es wirklich?«
Max runzelte die Stirn und zog den Ärmel herunter.
»Was hast du denn erwartet, Wicca?«, fragte er und ignorierte ihre
Frage.
»Das Zeichen von Prusias und dem hiesigen Brayma«,
antwortete sie. »Du befindest dich in Dämonenland – alle Menschen
müssen solch ein Zeichen tragen. Vergib mir, gesegnetes Kind, aber
an deinem Zeichen wird dich jeder erkennen.«
»Was ist ein Brayma?«, wollte Max wissen.
»Die hiesige Lordschaft«, erwiderte sie und sah die
Hügel entlang, als erwartete sie jeden Augenblick seine oder ihre
Ankunft. »Oh, ohne ihre Erlaubnis darfst du nicht offen reisen,
junger Hund! Sie werden dich jagen!«
»Lass mich mal dein Zeichen sehen«, forderte
Max sie auf und betrachtete ihre dunklen Hände, die mit winzigen
hieroglyphischen Tätowierungen überzogen waren.
»Die Wiccas tragen keine Dämonenzeichen!«,
erwiderte sie und schob die Ärmel bis zum Ellbogen hoch. »Unsere
Heimat liegt in Aamons Reich und er brandmarkt uns nicht.«
»Schön für euch«, fand Max. »Wenn eure Heimat in
Aamons Königreich liegt, was machst du dann hier?«
»Ich bin eine Wettermacherin«, erklärte die Wicca.
»Und ich bin angeworben worden für ein Schiff aus Blys, das nach
Zenuvia segeln will. Sie erwarten mich.«
»Nicht so schnell«, verlangte Max und griff nach
ihrem Stock, den sie gerade besteigen wollte. Sie zog eine Grimasse
und zeigte kleine spitz zugefeilte Zähne. »Wo liegt das Land von
Lord Vyndra?«
»Das weiß ich nicht«, heulte sie und zog schwach an
ihrem Stab. »Ich glaube, weiter im Norden, aber das kann ich nicht
beschwören. Bitte, lass mich gehen … man wird uns hier zusammen
sehen!«
»Du hast gesagt, dass Menschen in der Nähe sind«,
sagte Max und hielt sie weiter fest. »Du hast geglaubt, ich sei
eine Art Sklave. Wo sind sie? Wer hält sie fest?«
»Da willst du bestimmt nicht hin«, warnte die
Wicca. »Nein, nein, fast überall anders hin …«
»Warum?«, wollte Max wissen. »Was stimmt denn da
nicht?«
»Kann ich nicht sagen«, zischte sie und ihre Zähne
klapperten nahezu vor namenloser Angst. »Aamon würde mich bei
lebendigem Leibe rösten! Er weiß immer, wenn jemand geredet hat!
Die Geschichten … die Geschichten!«
»Wir schließen einen Handel ab«, erklärte Max
seelenruhig. »Ich lasse dich gehen, damit du für dieses
Dämonenschiff den richtigen Wind machen kannst. Und dafür erzählst
du mir von diesem Ort, wo Menschen leben, und dann kannst du
vergessen, dass du mich je gesehen hast.«
»Ich kann nicht!«, keuchte sie. »Es ist zu deinem
eigenen Besten! Geh weit, weit fort von diesem Ort!«
Doch Max blieb unerbittlich, und schließlich
erzählte ihm die Wicca, dass er Richtung Nordosten weitergehen
müsse, bis er an die Überreste einer Straße gelangte, eine antike
römische Straße, die das Verblassen überstanden hatte. Dort in der
Nähe wohnten Menschen, beharrte sie, und Max würde sie finden, wenn
er der Straße folgte und sich von den Kobolden fernhielt, die dort
ihr Unwesen trieben. Als Max sie fragte, ob es die Kobolde seien,
die die Menschen bedrohten, schüttelte die verängstigte Wicca nur
den Kopf und bestand darauf, dass sie ihren Teil des Handels
eingehalten habe, und machte sich eiligst auf den Weg nach
Westen.
Max setzte seinen Rucksack wieder auf und ging vom
Grat hinunter. Vor ihm lag ein dichter Birkenwald, den er auf
seiner Suche nach der angeblichen Straße durchqueren musste, und
Max beschloss, sich zu tarnen.
Nach einigen Stunden fand er sie, wenn auch halb
von Unkraut überwuchert. Doch es war unzweifelhaft eine alte Straße
aus schmutzigen Steinen, die sich durch die Hügel zog. Max ging
über das abgetretene Pflaster und blieb gelegentlich stehen, um
einen zerfallenen Meilenstein zu betrachten, der in der Zeit der
Cäsaren errichtet worden war.
Doch nicht nur die Straße hatte den Krieg und das
Verblassen überlebt. Gelegentlich sah Max Häuser, verlassene Ruinen
mit eingestürzten Dächern. In einem davon hatte er die Reste eines
längst verlassenen Koboldlagers entdeckt – verstreute Knochen und
hässliche Zeichnungen an den Wänden. Aber es gab keine Hinweise auf
Menschen.
Als die Schatten länger wurden und das Tageslicht
schwand, begann Max zu verzweifeln. Den Warnungen der Wicca zum
Trotz wollte er die Menschen bald finden. Ein warmes Feuer und ein
Gespräch, ein richtiges Gespräch, kamen ihm schöner vor als jeder
Schatz auf der Welt.
Die Mondsichel stand schon hoch am Himmel, als Max
endlich ein willkommenes Geräusch hörte. Es war das
unmissverständliche Schließen einer Tür und kam hinter einer Anhöhe
kaum fünfzig Meter neben der Straße her. Max lief darauf zu,
erklomm den Hügel und schlang geradezu den Geruch von Holzfeuer und
gebratenem Gemüse in sich hinein. Vor ihm lag ein großer Bauernhof,
die glatten Mauern und das strohgedeckte Dach vom Mond beleuchtet.
Aus einem Kamin stieg weißer Rauch auf, bis er vom leichten Wind
erfasst wurde, der ihn an Max’ Nase vorbeitrug. Durch die kleinen,
mit Fensterläden versehenen Fenster schien goldenes Licht, das ihn
in seiner Begierde nach Gesellschaft fast den Abhang
hinunterschlittern ließ.
Doch die Wicca hatte ihn gewarnt, dass bei den
Menschen
etwas nicht stimmte, daher blieb er stehen, um sich umzusehen. Auf
der großen Lichtung war ein Pferch mit Schafen und Ziegen, ein
schwarzer Fleck, der wohl der Gemüsegarten war, und mehrere dunkle
Lagerhäuser. Hinter dem Gemüsegarten befand sich ein alter
steinerner Brunnen, dessen zerklüfteter ovaler Rand im Mondlicht
glänzte. Etwas Kleines lief über den Hof, unsicher und langsam. Max
nahm das Kurzschwert in die Hand, kroch still wie ein Fuchs den
Hügel hinunter und schlich sich von hinten an die Gestalt
heran.
Es war ein kleines Mädchen.
Sie mochte nicht älter als sechs Jahre sein, trug
eine Wolljacke und einen Rock, der für ihre kurzen Beine zu lang
war. In der Hand hielt sie ein Bündel Holz und ihr Atem stieg als
Dampfwolke in die kühle Luft, als sie zum Haus zurückging.
Schnell steckte Max den Gladius ein, ging in die
Knie, um auf ihre Höhe zu kommen und sagte leise: »Hallo!«
Das Kind ließ das Holz fallen und erstarrte.
»Psst«, beruhigte sie Max und trat vor sie, damit
sie ihn sehen konnte. »Ich bin ein Freund.«
»Bist du das M-Monster?«, flüsterte sie.
»Nein«, antwortete Max. »Ich bin kein Monster, ich
bin ein Freund.«
»Freund?«, fragte das Mädchen zweifelnd.
Max nickte und las das Feuerholz vom Boden auf.
»Ich heiße Max«, erklärte er. »Und du?«
»Mina«, hauchte das kleine Mädchen.
»Wohnst du hier, Mina?«, fragte Max sanft.
Ehe sie antworten konnte, öffnete sich die Tür des
Bauernhofes und im Licht der Tür erschien ein großer Mann. Er
sprach schnell und seine Stimme klang vorwurfsvoll.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich beeilen,
Mina!«
Max rief ihm aus dem Dunkeln eine Entschuldigung zu
und dass es seine Schuld sei. Beim Klang seiner Stimme fuhr der
Mann zusammen und starrte auf die Lichtung. Max beschwor eine blaue
Lichtkugel, die ihn und die völlig erstarrte Mina in weiches Licht
hüllte.
»Dämon!«, schrie der Mann und knallte die Tür zu,
was ein vielstimmiges Geschrei aus jungen Kehlen und das hektische
Kläffen eines Hundes auslöste.
Max nahm Mina an der Hand und ging zum Haus, wo
abrupt die Lichter gelöscht worden waren. Mit einem Knirschen wurde
etwas Schweres davorgeschoben. Von drinnen erklang Flüstern –
wütende Aufforderungen, leise zu sein, und das scharfe Klirren von
zerbrochenem Geschirr.
Da er befürchtete, dass er auf sein Klopfen hin mit
einer Mistgabel bedroht werden würde, schlug er nur einmal schnell
an die Tür und sprang dann zurück und sagte leise und
beruhigend:
»Es tut mir leid. Ich wollte niemanden
erschrecken.«
Er bekam keine Antwort, konnte aber den Mann direkt
hinter der Tür schwer atmen hören. Mina hielt immer noch Max’ Hand,
doch sie wirkte leblos und hielt seine Finger, als hätte sie sich
bereits in ein schreckliches Schicksal ergeben.
»Ich verstehe«, sagte Max. »Es ist dunkel und Sie
haben Angst. Ich lasse Mina hier. Wir können uns morgen früh
unterhalten.«
Er tätschelte Mina die Wange und ließ sie mit dem
Feuerholz an der Tür stehen, während er selbst sich zu einem
Strohhaufen vor dem Tierpferch zurückzog. Auf der anderen Seite des
Zauns blinzelte ihn eine Ziege träge an und schlief dann wieder
ein. Max rollte seinen Schlafsack auf dem Strohbett aus und hörte
Mina flehentlich mit dem Mann, wahrscheinlich ihrem Vater, reden,
der immer noch nicht die Tür geöffnet hatte.
Max bemühte sich, ihre Worte zu verstehen. Nein,
er hat mir nichts getan. Er ist noch da. Irgendetwas von
Schlafengehen und Minas Ungeduld wegen der zunehmenden Kälte.
Daraufhin öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, ein Arm schoss
heraus, packte Mina am Kragen und zog sie nach drinnen. Mit einem
heftigen Knall wurde die schwere Tür wieder geschlossen.
Die letzten Lichter im Haus gingen aus, und es lag
dunkel im hellen Mondschein, der die Hügel und die Berge in der
Ferne sanft schimmern ließ. Trotz der unfreundlichen Begrüßung
freute sich Max. In diesem Haus waren Menschen! Sie hatten
natürlich Angst, aber die würde im Tageslicht vergehen, sodass man
ihn herzlicher willkommen heißen würde. Er verkroch sich tiefer in
Heu und Decken, atmete die kalte Nachtluft und versuchte, etwas zu
schlafen.
Das Krähen eines Hahns kündigte den Tag an. Max
ging davon aus, dass es ein Hahn war, denn kein Huhn hätte sich zu
solch infernalischem Lärm herabgelassen. Hinter ihm gackerte es
zufrieden, ein Lamm stieß ein langes Mähhh! aus, und als er
die Augen öffnete, sah er einen kleinen Jungen, der noch im
Nachthemd dem Geflügel auf dem Hof Korn zuwarf. Neben ihm molken
zwei Mädchen eine Ziege, die gelangweilt an einer Handvoll Zweigen
kaute. Max stützte sich auf den Ellbogen und hätte sich fast in
eine lange Lanze gelehnt, die zitternd vor seine Nase gehalten
wurde.
»Wer bist du?«, fragte eine raue Stimme. »Was
machst du hier?«
An der Lanzenspitze vorbei erblickte Max einen
großen Mann von fast sechzig Jahren mit einem so rostigen Speer,
dass er wahrscheinlich eher zerbrechen als irgendeinen Schaden
anrichten würde. Dem Mann fehlten mehrere
Zähne, und er blinzelte Max an, als könne er nicht mehr gut
sehen.
Max hielt die Hände hoch und sagte langsam: »Mein
Name ist Max. Ich komme in Frieden.«
»Du bist kein Dämon?«, fragte der Mann, dem die
Schweißtropfen über die Stirn liefen.
»Nein«, beharrte Max und stand vorsichtig
auf.
Während sie sich unterhielten, fuhren die Kinder
mit ihrer Arbeit fort, sie beobachteten die merkwürdige Befragung
jedoch mit neugierigen Seitenblicken. Bei Max’ schlechtem
Italienisch war es eine ziemlich holperige Unterhaltung, aber bald
wurde einiges klarer. Zum einen war der Mann nicht der Vater der
Kinder, er sorgte lediglich für sie. Max nahm an, dass der Hof eine
Art Waisenheim oder eine Kommune sein musste. Als er nach den
Eltern der Kinder fragte, zupfte sich der Mann lediglich an seinem
grauen Schnurrbart.
»Tot«, murmelte er und fixierte Max mit kleinen,
harten Augen. Er kratzte sich die spärlichen grauen Haare und gab
Max zu verstehen, dass er nicht eingeladen war, zu bleiben. Es gäbe
so schon zu viele Mäuler zu füttern. Er lachte grimmig bei diesen
Worten und breitete die Hände aus, als wolle er sagen: Wir sind
beide Männer. Wir verstehen einander, nicht wahr?
Auf der rechten Handfläche des Mannes sah Max drei
Brandzeichen. Das größte, gleich unterhalb der Finger, war
Astaroths Siegel. Darunter, in der Mitte, befand sich das von
Prusias und wiederum darunter schließlich noch ein kleinerer Kreis.
Die Zeichnung darin konnte Max nicht erkennen. Er wies darauf, doch
der Mann runzelte die Stirn und zog abrupt die Hände zurück.
Schnell das Thema wechselnd, bat Max um
Essen.
Der Mann betrachtete das Schwert in der Scheide und
sah Max misstrauisch in die Augen. Er schien mehrere Möglichkeiten
abzuwägen. Schließlich grinste er, eine unglaubwürdige Grimasse, an
der seine Augen keinen Anteil hatten. Natürlich, sagte er. Drinnen
gab es Essen. Sie würden ihm gerne etwas zu essen geben, aber bei
Einbruch der Nacht müsste er gehen. Schwere Zeiten. Schwere Zeiten.
Der junge Mann verstand doch? Natürlich verstand er.
Auf dem Weg zum Haus fiel Max auf, dass keines der
Kinder sprach. Einige von ihnen waren noch Kleinkinder, der älteste
Junge fast ein Teenager. Einem sagte er Hallo – einem etwa
neunjährigen Mädchen -, doch sie schürzte nur die Lippen und nickte
unter dem strengen Blick ihres Vormunds. Irgendetwas stimmte hier
ganz und gar nicht und Max beobachtete den Mann mit wachsendem
Misstrauen.
Max’ erster Eindruck des Hauses war der von
unvorstellbarem Schmutz. Trotz der hohen Decke war es trübe und
duster in dem großen Raum und die Wände waren schwarz und fettig
von einem verstopften Kamin. Der Gestank war unerträglich, ein
übler Geruch nach menschlichen Exkrementen. Max würgte und sah sich
um, ob er den Mann beleidigt hatte, doch der warf lediglich den
rostigen Speer in eine Ecke, wo ein gefleckter Köter an einem alten
Schuh von einem großen Stapel knabberte.
»Ist er weg, Pietro?«, erklang die Stimme einer
Frau. »Wir haben gewählt.«
»Sei still!«, befahl der Mann streng. »Wir haben
einen ehrenwerten Gast.«
Dabei lachte er, dann schlug er Max auf die
Schulter und führte ihn um eine Ecke, wo zwei Frauen an einem
großen Tisch neben einem steinernen Herd saßen. Eine schien etwa so
alt zu sein wie der Mann, eine kräftige, wettergegerbte Frau mit
einem harten Gesicht. Ihr Ausdruck blieb stoisch, als sie Max
ansah. Sie begrüßte ihn nicht einmal mit
einem Anflug eines Lächelns oder gar einem Kopfnicken. Ihre Hände
waren auf dem Tisch gefaltet und daneben lag ein Stück Rosenquarz,
das im fahlen Licht, das durch einen Fensterspalt an der Nordwand
fiel, leuchtete.
»Ist das die Wahl?«, fragte Pietro
schwerfällig.
Die ältere Frau drehte sich zu der Jüngeren um, die
nur nickte und weiter das Baby an ihrer Brust säugte. Es entstand
eine angespannte Stille. Dann seufzte Pietro und führte Max an dem
Tisch vorbei zu einem kleinen Fass mit öligem, gärendem Alkohol. Er
roch giftig. Er tauchte einen kleinen hölzernen Kelch hinein und
leerte ihn erst, bevor er ihn Max anbot, der höflich ablehnte und
sich stattdessen an die jüngere Frau wandte.
»Wie heißt sie denn?«, fragte er und lächelte das
Baby an. Schwermütige blaue Augen sahen starr zu ihm auf. Die
Mutter konnte kaum älter als zwanzig Jahre sein. Ihr eingefallenes
Gesicht sah ihn mit leerem, feindseligem Blick an.
»Nimm dein Essen und geh«, sagte sie.
»Der Mond, Pietro …«, zischte die ältere Frau und
sah an Max vorbei zu dem Mann, der immer noch trank.
»Meinst du, ich weiß das nicht?«, rief Pietro und
warf den Kelch in das Fass. Die Frauen erstarrten. Wein schwappte
über den Rand des Fasses und lief an den Seiten hinunter auf den
strohbedeckten Boden. Grunzend warf Pietro der älteren Frau einen
Lappen zu und bedeutete ihr, die Schweinerei aufzuwischen. Sie
machte sich sogleich daran, doch es geschah mit derselben matten
Resignation, mit der Mina Max’ Hand gehalten hatte.
»Das ist nicht notwendig«, sagte Max scharf.
Der Mann sah ihn wütend an und sein Gesicht bebte
vor ohnmächtigem Zorn. Pietro hatte breite Schultern, vielleicht
war er einst ein Mann von Bedeutung gewesen, aber die Zeiten waren
lange vorbei. In seinen blutunterlaufenen
Augen konnte Max seine Gedanken so deutlich lesen, als hätte er
sie laut ausgesprochen: Hier ist ein hochgewachsener, gut
bewaffneter Jugendlicher, den man umschmeicheln, nicht besiegen
muss. Pietro schluckte seinen Zorn hinunter und begab sich in eine
Speisekammer, die zu einem ekelhaften Räucherhaus umgewandelt
worden war, in dem schmale Streifen Fleisch von der Decke hingen.
Grunzend nahm er ein Stück getrocknetes Lammfleisch und schob es
Max zu.
»Später«, sagte Max und wechselte ins Englische.
»Ich will mit den Kindern sprechen.«
»Hä?«, machte der Mann und tat so, als würde er
nicht verstehen.
Max gab jeden Anschein von Höflichkeit auf. Er
baute sich vor Pietro auf, stieß ihm einen Finger in den weichen
Bauch und wiederholte seine Forderung. Der Mann schloss die Augen
und zitterte in Erwartung eines Schlages, der jedoch nicht
kam.
Als er in Max’ finsteres Gesicht sah, stieß er kurz
und abgehackt hervor: »Nicht ich bin hier das Monster!«
Pietro rannen jetzt die Schweißtropfen über die
Stirn in die blinzelnden Augen. Wieder sah Max zu dem hängenden
Fleisch hin und dem verrosteten Hackmesser, das auf einem groben
Hackklotz lag. In der dunklen Ecke neben einem zerbrochenen Stuhl
sah er noch einen kleinen Schuh liegen. An der Tür hatten viele
Schuhe gelegen, viel zu viele für das Dutzend Waisen, das er
gesehen hatte.
Max starrte Pietros runden Bauch an und die
mahlenden Zähne, mit denen er auf seinen rotgefleckten Lippen
kaute, und es kamen ihm auf einmal ganz schreckliche
Gedanken.
»Was macht ihr hier, Pietro?«, fragte er
leise.
Trotzig fluchte Pietro und spuckte Max vor die
Füße. Der packte ihn am Handgelenk und schleifte ihn grob durch das
Haus, vorbei an den verdutzten Frauen und zur Tür hinaus. Er schob
ihn über den Hof und stieß ihn in den Heuhaufen. Die Kinder hielten
abrupt mit ihrer Arbeit inne und starrten Pietro an, der keuchend
in der Morgensonne lag.
»Tut euch dieser Mann etwas?«, fragte Max in die
Runde.
Die Kinder antworteten nicht, sondern wandten ihre
Aufmerksamkeit den beiden Frauen zu, die ihm gefolgt waren und ihn
von der Tür aus beobachteten. Die jüngere Frau presste ihr Baby an
die Brust und schrie Max an, er solle gehen und sie in Ruhe lassen.
Sie rief, er solle gehen und sich ihretwegen sein Grab in den
Hügeln schaufeln, aber er solle sofort gehen – konnte er denn nicht
sehen, dass er Pietro wehtat?
Es war Unsinn und Max wollte nichts davon hören.
Von solch grausigen Dingen hatte er im Krieg gehört, aber selbst
hatte er es nie gesehen.
Als er Mina bei den Kindern sah, rief er sie
leise.
»Mina«, sagte er und sprach erst weiter, als sie
ihn ansah. »Tut dieser Mann dir oder den anderen Kindern etwas? Du
kannst es mir sagen, Mina.«
»Nein«, flüsterte sie und sah wieder den alten Mann
an, der daraufhin das Gesicht in den Händen barg und zu schluchzen
anfing.
»Was ist dann hier los?«, wollte Max verwundert
wissen. »Was ist los mit euch Leuten?«
Statt ihm zu antworten, halfen ein paar der älteren
Kinder Pietro auf die Beine und brachten den schluchzenden Mann ins
Haus. Die anderen machten mit ihrer Arbeit weiter und ließen Max
stehen, der sich irritiert umsah. Egal, was Mina gesagt hatte, Max
wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Wicca hatte diesen Ort
gefürchtet und das ungewöhnliche Schweigen und die stille
Resignation der Kinder wiesen auf ein schreckliches, betäubendes
Trauma hin.
Max stürmte zurück ins Haus, scheuchte den Hund weg
und zählte die Schuhe. Es waren siebenundsechzig, aber es waren nur
vierzehn Kinder draußen. Pietro war am Tisch zusammengesunken, wo
ihn die ältere Frau zu trösten versuchte. Die jüngere hielt ihr
Baby im Arm und warf Brot, getrocknete Oliven und ein Stück
Pökelfleisch in einen alten Mehlsack, den sie Max vor die Füße
schmiss.
»Wer bist du, dass du über uns urteilst?«, fragte
sie mit tränenersticktem Zorn. »Du bist nur ein Bettler – nur ein
dreckiger Bettler!«
»Wem gehören die?«, wollte Max wissen und deutete
auf die Schuhe.
»Anderen Kindern«, antwortete sie und sah weg.
»Anderen Kindern, die krank geworden und gestorben sind.«
»Wo sind ihre Gräber?«, fragte Max und zeigte auf
den Hof. »Ich will sie sehen.«
»Wer bist du, dass du die Toten störst?«, zischte
sie ihn an. »Fahr zur Hölle!«
»Ich glaube, da bin ich schon«, murmelte Max und
drängte sich an ihr vorbei, um den Rest des Hauses zu
untersuchen.
Das Erdgeschoss war groß, fast fünfzehn Meter lang
und mit einer hohen Balkendecke, die sich bis zu einem Balkon
senkte, der teilweise über das große Zimmer ragte. Unter dem
widerlichen Schmutz und Dreck, der die Wände überzog, konnte er die
Reste von Fresken erkennen. Vor langer Zeit musste das ein reicher
Hof gewesen sein, doch Alter und versäumte Reparaturen hatten ihn
furchtbar verkommen lassen. Überall sah man Rattenlöcher, und als
er sich durch den unerträglichen Gestank in das obere Stockwerk
kämpfte, zeugte nur ein Gegenstand davon, dass hier Menschen und
nicht Tiere lebten – an einem fleckigen Kissen lehnte ordentlich
eine Fetzenpuppe.
Doch in keinem Raum gab es Knochen oder andere
Hinweise auf Kannibalismus. Er hatte ein Beinhaus erwartet, aber er
fand nur Bettstätten und zerbrochene Möbel. Und das traf auch auf
Keller und Lagerhäuser zu.
Doch Max konnte das unangenehme Gefühl nicht
abschütteln. Die Kinder waren zu ruhig, zu mechanisch in ihren
Bewegungen, wenn sie ihre Arbeit verrichteten. Die drei Erwachsenen
hatten Max’ Durchsuchung mit resigniertem Schmollen geduldet. Sie
saßen am Tisch und unterhielten sich leise miteinander, während die
junge Frau versuchte, ihr Baby zu beruhigen und Pietro in düsterem
Brüten mit dem Rosenquarzstück auf den Tisch klopfte.
Am Nachmittag hatte Max das gesamte Haus und die
Umgebung gründlich durchsucht. Trotz der niedrigen Temperaturen
schwitzte er von der Anstrengung, weil er an Wände gehämmert und in
dunkle Winkel gekrochen war und Dreckhaufen durchsucht hatte, die
ihn mehr als einmal dazu veranlasst hatten, sich in einer Ecke zu
übergeben. Man sollte das Haus für unbewohnbar erklären, aber es
war kein Haus des Schreckens, stellte er fest.
Angesichts seines eigenen verdreckten Zustands kam
er zu dem Schluss, dass er sich waschen musste, und betrachtete den
alten Brunnen hinter dem Gemüsegarten mit einer gewissen
Verzweiflung. Zu seinem Kummer gab es weder Eimer noch Kette, nur
einen Haufen großer Steine um ein schwarzes, etwa einen Meter
breites Loch. Mit einem Windstoß schlug ihm ein schwacher fauliger
Geruch aus der Tiefe entgegen, sodass er zurückfuhr. Als er sich
umdrehte, sah er Mina hinter sich stehen.
Mit ihrem nichtssagenden Gesichtsausdruck teilte
sie ihm mit, dass der Brunnen ausgetrocknet sei, aber dass die
anderen ihm frisches Wasser holen würden. Sie nahm seine Hand und
führte ihn zum Haus zurück, wo Pietro mit Max’ Lebensmittelsack
in der Tür stand. Unmissverständlich machte er ihm klar, dass er
gerne baden durfte, gerne das Essen nehmen durfte und dann gerne
verschwinden durfte. Die Worte stieß er jedoch undeutlich und wirr
hervor und er schwankte. Er war völlig betrunken und seine Augen
waren vom Alkohol und vom Weinen blutunterlaufen. Schwach winkte er
Mina zu, drückte sie an sich und wiederholte seine Aufforderung,
dass Max vor Einbruch der Nacht gehen müsse.
Neben dem Haus stand ein Trog mit Wasser, das die
Kinder aus einem nahen See geholt hatten, den Max durch eine Lücke
zwischen den Pappeln an der alten Straße glitzern sehen
konnte.
»Ignis«, murmelte er, spreizte die Finger und
erhitzte den letzten Wassereimer. Er mischte das warme Wasser mit
dem kalten und tat sein Möglichstes, sich den Schmutz und Dreck von
seiner grausigen Suche abzuwaschen. Dann brachte er das restliche
Wasser zum Kochen und rasierte sich mit dem alten Rasierer seines
Vaters. Es gelang nicht perfekt, aber anschließend fühlte er sich
frisch und wesentlich sauberer, als ihm die kühle Brise Gesicht und
Haut trocknete. Seine schmutzigen Sachen band er zusammen, um sie
später zu waschen, und zog für den bevorstehenden Marsch frische
an.
Die Sonne war bereits hinter dem Horizont versunken
und der Mond ging auf, als Max seine Sachen packte. Die Familie –
oder das, was wie eine Familie aussah – stand auf der Schwelle des
Hauses, als er sich verabschiedete. Die Kinder starrten
stumpfsinnig vor sich hin, während Max sich dafür entschuldigte,
falls er jemanden beleidigt hatte. Er hatte es nicht böse gemeint.
Pietro grunzte nur ungläubig. Die Frauen sagten nichts, sondern
starrten ihn mit verhaltenem, brodelndem Hass an, den er äußerst
beunruhigend fand. Als Max fragte, ob es noch andere Menschen in
der Nähe gab, wurde Pietro böse und wies auf den dunklen Himmel,
an dem der helle Mond von schweren Sturmwolken umrahmt wurde.
»Es ist spät und die Kinder sind hungrig«, rief er
und jedes Wort wurde von sprühenden Speicheltropfen begleitet. »Geh
und lass uns in Ruhe! Wir haben nichts mehr, was wir dir geben
können!«
»Vielen Dank für das Essen«, sagte Max und
verbeugte sich.
Damit nahm er seinen Rucksack und machte sich auf
den Weg. Er hielt sich an den Straßenrand, während der Mond über
der sanften Hügellandschaft weiter aufstieg. Noch war es eine
märchenhaft schöne Nacht, einer der magischen Abende, an denen die
Wolken eine weiche Fülle besaßen und ihre sanften Konturen im
Mondlicht zu leuchten schienen.
Doch es kam Wind auf, ein bitterkalter Sturm, der
über die Landschaft fegte und den Geruch von Regen aus den weit
entfernten Bergen mit sich brachte. Die Wolken drängten sich über
das leuchtende Antlitz des Mondes und ließen das Land im Dunkeln
versinken. Max war noch keine zwanzig Minuten gelaufen, als ein
kalter Regen einsetzte.
Was als Nieselregen begann, wuchs sich bald zu
einem heftigen Guss aus. Max eilte unter die Zweige eines
immergrünen Baumes, schlang die Arme um den Körper, um sich zu
wärmen, und überlegte, was er tun sollte. Sicher konnte er hier
sein Lager aufschlagen, aber es würde ein fürchterlicher Abend
werden. Wenn er es in so einer Nacht gemütlich haben wollte,
brauchte er ein größeres Feuer, und das Gerede der Wicca von
Kobolden ließ ihn zögern, hier in der Wildnis Aufmerksamkeit auf
sich zu lenken. Er sah die Straße entlang und fragte sich, ob er
umdrehen sollte. Er war noch nicht weit gegangen und könnte zum Hof
zurückgehen,
um in einem der leeren Lagerhäuser Schutz zu suchen. Das war zwar
nicht luxuriös, aber sie hatten wenigstens ein Dach, und bei Regen
zählte das schon eine ganze Menge. Pietro und die anderen würden es
nicht einmal merken.
Auf seinem Weg zurück hielt sich Max unter dem
Blätterdach, das ihn jedoch nur ungenügend vor dem Unwetter
schützte, das sich zu einem regelrechten Sturm auswuchs. Über ihm
grollte der Donner und der Wind heulte, doch kein Blitz zuckte über
den Himmel, um Max den Weg zu leuchten. Daher beschwor er eine
blassblaue Lichtkugel und verließ sich auf sie, als er über Gräben
sprang und eine Abkürzung über die glitschigen Wiesen und die
kalten schwarzen Felder suchte. Als der Mond einmal kurz durch die
Wolkenfetzen am Himmel schaute, erkannte er vor sich auf dem Hügel
den Bauernhof.
Er löschte das Licht und eilte weiter, vorsichtig
darauf bedacht, nicht die Bewohner zu stören, die ihm den
Unterschlupf womöglich verwehren würden. Also machte er einen
weiten Bogen um das Haus und schlüpfte fast lautlos in den
nächstgelegenen Schuppen. Er grinste in der Dunkelheit. Vier starke
Wände und ein Dach, um den Elementen zu trotzen. Es war zwar nur
ein kleiner Sieg, aber dennoch ein Sieg. Er warf die Tasche von der
Schulter und machte ein Feuer, wobei er darauf achtete, dass der
Rauch zum offenen Land hin abzog.
Dann lehnte er sich an die alte Mauer und lauschte
dem tosenden Wind, während der Regen aufs Dach trommelte. Doch als
er die Augen schloss, hörte er noch andere Geräusche. Schreie
übertönten den prasselnden Regen – die schrecklichen, blökenden
Schreie der Tiere in ihrem Pferch. Etwas hatte sie in Panik
versetzt. Als Max aus der Tür blickte, sah er die ungleiche Herde
von einem Ende des
Pferchs zum anderen rasen. Er suchte nach den Anzeichen eines
Raubtiers, eines Wolfes oder Schakals, der eine solche Reaktion
hervorrufen würde. Doch in der Dunkelheit und bei dem Regen konnte
er nichts erkennen.
Er steckte den Kopf aus dem Schuppen und sah zum
Haus hinüber, um zu sehen, ob Pietro oder eines der älteren Kinder
den Lärm gehört hatte und nachsehen kam. Doch alle Türen und
Fenster waren vor dem Sturm verschlossen, sodass nicht einmal ein
winziger Lichtstrahl hinausfiel. Die Lämmer blökten lauter – ein
hohes, panisches Kreischen. Max richtete sich auf, um den Hof
besser überblicken zu können.
Alle Tiere hatten sich an das südliche Ende des
Pferchs geflüchtet, bis auf eines, das in der Mitte geblieben war.
Von einem Raubtier war immer noch nichts zu sehen, aber irgendetwas
hatte die Tiere auf jeden Fall so erschreckt, dass sie panisch
versuchten, aus dem Pferch zu entkommen. Max steckte die Harpune an
seinen Wanderstab und ging in den Sturm hinaus.
Er lief über die Lichtung auf den Hof zu und sah
sich nach den glänzenden Augen eines Raubtiers um. Dann sprang er
über den Zaun und versuchte, die Tiere zu beruhigen, aber sie
schrien und blökten weiter, als ob sie lebendig gefressen würden.
Aufgebracht ging Max in die Mitte des Pferchs zu dem Lamm, das von
den anderen getrennt im nassen, kalten Schlamm lag.
Als er näher kam, erkannte er, dass es sich bei der
weißen Gestalt um ein Kind handelte, ein kleines Mädchen, das sich
in Embryo-Stellung zusammengerollt hatte. Als er zu ihr eilte, sah
Max, dass es Mina war.
Sie blickte starr geradeaus und lutschte am Daumen,
während sie tief und langsam Luft holte. Max hatte keine Ahnung,
warum sie hier in der Eiseskälte lag, aber wenn er
nicht gleich etwas unternahm, würde sie an Unterkühlung sterben.
Max riss sich den Mantel herunter, wickelte sie hinein und hob sie
auf. Sie gab keinen Laut von sich – kein gemurmelter Protest oder
ein Dank -, sie hielt sich nur an ihm fest, ein vertrauensvolles
Bündel eiskalten Fleisches.
»Alles wird wieder gut«, flüsterte ihr Max ins Ohr,
während die Tiere weiterschrien. »Ich bringe dich ins Warme
…«
Mina begann zu zittern und packte ihn mit
plötzlicher Heftigkeit. Max drückte sie an sich und wandte sich in
die Richtung, in die sie gesehen hatte.
Zehn Meter entfernt stand der alte steinerne
Brunnen.
Irgendetwas kroch heraus.