VIERTES KAPITEL
»Wo ist Wassi jetzt?« erkundigte ich mich.
»Na, im Heim. Ich habe selbstverständlich verdeckt recherchiert.« Unger klang etwas beleidigt.
»Gut gemacht«, lobte ich. »Also, die meisten dachten, es sind nie mehr als ein oder zwei Millionen, und Wassi könnte es gedreht haben.«
»Was wird er mit achtzehneinhalb Millionen machen?« überlegte Rodenstock.
»Den Verstand verlieren«, meinte Unger lächelnd.
»Sein Verstand wird mit achtzehn Millionen besser zurechtkommen als unserer«, sagte ich. »Unger, Sie fahren zu einer Tankstelle und holen die Sonntagszeitungen. Dann sehen wir fern. Wir müssen herausfinden, was die Kolleginnen und Kollegen von diesem Fall wissen.«
»Ich heiße Herbert«, erwiderte Unger. »Bettina, kommst du mit?«
»Vielleicht könnte uns Bettina lieber was zu essen machen?« widersprach ich.
»Kein Problem«, meinte Bettina brav.
»Ich lege mich etwas hin«, murmelte Rodenstock.
Wir trieben wie Inseln durch die heiße Luft des frühen Abends. Die Sonntagszeitungen hatten groß mit dem Geldraub aufgemacht und baten die Bevölkerung um Mitarbeit. Die ganze Welt schien im dunkeln zu tappen. Im Fernsehen das gleiche Bild. Ein Kommentator der ARD sprach davon, daß man sich daran zu gewöhnen habe, wie in Italien oder den USA mit der Mafia und mafiosen Strukturen zu leben. Er listete auf, wem ein solcher Geldraub zuzutrauen wäre: Anhänger der kurdischen Freiheitsbewegung könnten ebenso die Täter sein wie Ableger der Mafia. Das Verbrechen zeige die Handschrift hochspezialisierter Gangs aus den Staaten des Kaukasus, die der IRA und die arabischer Terroristen. Auch die Rote-Armee-Fraktion könnte eine neue Gangsterabteilung gebildet haben, es sei jedoch auch denkbar, daß Rechtsextreme auf diese Weise versucht hätten, sich Kapital zu verschaffen. Der Kommentator wirkte sehr kühl, sehr gekonnt und sehr eindrucksvoll.
Lustlos aßen wir und redeten kaum. Dann tauchte Rodenstock wieder auf und hockte sich an den Gartentisch. »Ich habe diese sogenannten Theorien bedacht. Organisiertes Verbrechen hin, organisiertes Verbrechen her: Die Planung war vor allem deshalb perfekt, weil niemand die Räuber behinderte. Glauben Sie im Ernst, daß bei diesem strahlenden Sommerwetter mehr als fünfzehn Minuten lang kein Tourist diese Straße befährt?«
»O ja, zuweilen vergehen Stunden, in denen dort niemand auftaucht. Was machen wir mit Wassi? Einfach hingehen und ihn fragen?«
Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Würde ich nicht befürworten. Ich bin eher dafür, ihn langsam einzukreisen, also festzustellen, welcher seiner Genossen wirklich ohne Alibi ist. Und erst wenn sie alle keines haben, kommt Wassi wirklich in Frage.«
»Aber wie sollen Rußlanddeutsche das drehen? Wie, um Himmels willen, können die einen ganzen Geldtransporter verschwinden lassen?«
Er lachte leise. »Auf genau die gleiche Art und Weise, in der westeuropäische Gangster so etwas drehen würden. Oder glauben Sie etwa, Kasachstan sei in Sachen Verbrechertum eine nachholbedürftige Gegend?«
»Ich würde gern wissen, was Wassi wirklich angestellt hat – daheim in Kasachstan.«
»Das kann ich herausfinden«, erwiderte Rodenstock nicht sonderlich interessiert. »Ich rufe morgen jemanden an, der es mir sagen kann. Was ist mit diesem Wolfgang Schuhmacher, diesem Bankleiter?«
»Er gilt als arrogant, wenn man über Konten verfügt, die nicht ständig anwachsen. Ich habe nichts mit ihm zu tun und möchte auch nicht in die Lage geraten. Er empfindet sein Management auf eine dubiose Weise als gottgewollt. Das tun viele hier und ersaufen in Mittelmäßigkeit«, erkärte ich.
»Nein, nein, ich meine persönlich. Wie ist er persönlich?«
»Das weiß ich nicht, ich kenne ihn nicht.«
»Ist er Mitglied einer Partei?«
»Glaube ich nicht. Viel zu ängstlich. Er ist eher einer von denen, die nach einer Wahlniederlage behaupten: Ich wußte doch gleich, was los ist. Nein, kein Politkopf, eher einer, der sich niemals festlegen wird, solange es nicht um Zinsen geht. Er würde bestenfalls den Prinzen Karneval machen, wenn ihn die Gemeinde subventioniert, aber auch nur dann.«
»Also bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten, bis ein Hinweis von außen kommt«, sinnierte er. Als die Sonne ihre stechende Glut verlor, kamen die Anrufe der Tageszeitungen und Presseagenturen. Ich gab Auskunft, so gut ich es vermochte, aber im Grunde konnte ich nicht einmal einen Nebensatz von Bedeutung ablassen. Dann erinnerte ich mich, daß der BKA-Mann Marker kommen wollte, und ich fragte Unger, ob er möglicherweise dagewesen sei, als ich mit Rodenstock im Ahrtal war. Unger wußte von nichts.
»Die werden unermüdlich tagen«, meinte Rodenstock, »und er wird erst kommen, wenn er begreift, daß sie am grünen Tisch nicht weiterkommen.«
Marker kam um neun Uhr. Angriffslustig wie ein Bulle schoß er um die Hausecke und fragte quer durch den Garten: »Habt ihr ein Bier für einen Bundeskriminalisten?«
»Na sicher«, begrüßte ich ihn und stellte ihm meine Gäste vor. »Was ist los, was haben Sie herausgefunden?«
»Nichts! Absolut nichts. Wir haben die Computerauswertung. Nichts deutet auf eine Gruppe hin, die irgendwo in der Welt bereits auf diese Weise gearbeitet hat.«
»Was ist mit den Wachleuten?« hakte ich nach.
Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben sicherheitshalber alle Übungen durchgespielt, weiches Verhör, hartes Verhör. Wir haben die so weichgeklopft, daß sie freiwillig zugaben, mit dreizehn Jahren mal onaniert zu haben. Nichts, absolut nichts. Da existiert nicht einmal eine Querlinie zu einer geldgeilen Kioskbesitzerin in Dortmund, nicht mal eine Bekanntschaft mit einer ehrgeizigen Nutte in Wanne-Eickel, einfach nichts. Ausgehend von der Vorgehensweise, traut der Computer den Deal allenfalls Terroristen aus dem Nahen Osten zu. Aber was sollen die ausgerechnet hier?«
»Na, na«, beschwichtigte ihn Rodenstock, »das ist doch einfach, werter Kollege. Die Gruppe arbeitet hier, weil man hier Samstag für Samstag die Millionen durch die Wälder fährt und sich naiv darauf verläßt, daß nichts passieren wird. Baumeister hat mich überzeugt, daß in dieser Gegend alle, die abends ihre Bierchen in der Kneipe trinken oder mit der Nachbarin tratschen, von den Geldtransporten wissen mußten. Jeder weiß davon, also warum sollte es niemand erfahren, der möglicherweise so ein Ding plant?«
»Das ist richtig«, sagte Marker wütend. »Aber derart spurlos können nur Profis arbeiten, die das Ding tausendfach geübt haben. Wir haben mal im Computer simuliert, in welcher Zeit die das durchgezogen haben. Vom Heranfahren des Geldtransporters bis hin zum Anbinden der beiden Fahrer an die Bäume und dem Wegfahren des Transporters hatten sie nach unseren Berechnungen maximal elf bis sechzehn Minuten. Wenn man davon ausgeht, daß sie ein kaputtes Motorrad auf eine Plane legten, Ketchup als Blutersatz verspritzt haben und das alles samt den achtzehneinhalb Millionen spurlos verschwinden ließen, dann kann ich inoffiziell nur sagen: Hochachtung! Die Truppe würde ich gern kennenlernen.«
»Das heißt: Die Mikrospurensuche hat nichts ergeben?«
»Doch, doch, etwas schon. Es war das amerikanische Heinz-Ketchup, die Plane war graugrün und bestand aus einem sehr harten Gewebe aus Polyester. Das kaputte Motorrad war eindeutig eine Suzuki, denn die Träger ließen die Vorderradgabel über den Asphalt kratzen. Dabei lösten sich Lackspuren. Es ist ein Lack, den in dieser spezifischen Zusammensetzung nur Suzuki verwendet. Aber da das kaputte Motorrad ebenfalls verschwunden ist, nutzt das nicht viel.«
»Sind Sie auf Wassi gestoßen?« fragte Rodenstock hinterhältig.
»Wassi? Wer, bitte, ist das?«
Rodenstock erklärte es kurz und knapp.
»Ein vorbestrafter Rußlanddeutscher aus Kasachstan? Das erscheint mir abenteuerlich«, meinte Marker. »Aber, vielen Dank, ich werde dranbleiben.«
Eine Weile hörte man nur die Natur ihr Lied singen. Dann stöhnte Marker: »Man könnte glatt auf die Idee kommen, daß es eine kleine, hochfeine, elitäre Truppe war, deren Mitglieder im normalen Leben Manager sind und jeden Morgen joggen, deren Firma aufgrund der Rezession plötzlich ins Abseits gleitet und nicht mehr zur retten ist. Das Finanzamt betrügen, bringt auch nichts mehr. Also schult man sich privat um: auf einen einzigen Coup!«
»Heh, das ist wirklich eine Idee, das haut mich um«, war Unger begeistert, »das wäre eine Möglichkeit.« Er stand auf und lief ein paar Schritte. »Na sicher, das ist es! Hochmotivierte junge Manager, körperlich total fit, aber in einer Branche, die hart betroffen ist. Sie fragen sich: Wie können wir den Crash aufhalten? Und sie antworten ganz logisch: Wir klauen genug Geld, um durch jede Durststrecke zu kommen. Heh, das ist irre, das finde ich gut!«
»Dann behalten Sie es für sich«, sagte ich.
»Wieso denn?« fragte er schroff. »Das ist doch mal eine Idee. Ich beobachte einen haushohen Bundeskriminalbeamten beim Lösen einer kniffligen Frage, schildere, was er denkt, mache auf menschlich ...«
»Herr Unger«, unterbrach ihn Rodenstock matt, »ich habe Baumeisters Art zu recherchieren schätzen gelernt. Er läßt jedem seinen Rückzugsraum, und falls er etwas zitieren möchte, fragt er vorher. Das gilt auch für Marker, oder?«
»Und wie das gilt«, bestätigte ich.
»Schon gut«, beschwichtigte Marker, »Unger meint es schon nicht so, er wird fair sein.«
Irgendwo schrillte mein Telefon, und Unger schrak auf: »Ich habe das Ding ins Gras gelegt.«
Alle suchten danach, Bettina fand es schließlich und gab es mir. Jemand verlangte außer Atem: »Herrn Kriminaloberrat Marker, bitte. Dalli.«
Marker nahm den Hörer, hörte zu, verzog das Gesicht und seufzte: »Nicht das auch noch!« Er drückte auf die Austaste und fragte: »Können Sie mich fahren? Ich habe mich hier absetzen lassen. Ich muß in die Schöne Aussicht sechzehn. Dieser Bankmensch Wolfgang Schuhmacher ist tot.«
»Der Hinweis von außen«, sagte Rodenstock leicht amüsiert.
»Ich fahre Sie«, bot ich mich an. »Unger, Sie fahren nach Hillesheim und gehen in die Schöne Aussicht. Das ist eine Straße oben am Südhang. Sie werden herausfinden, wer dort gesehen worden ist. Rodenstock, kommen Sie mit uns?«
»Aber keine Einmischung«, verlangte Marker scharf.
»Großes Indianerehrenwort«, versicherte Rodenstock.
Wir kletterten in den Jeep.
»Haben Ihre Leute gesagt, wie er umgebracht worden ist?«
»Nein. Nur, daß man ihn in seinem Garten gefunden hat.«
Vor Schuhmachers Haus standen zwei Streifenwagen mit laufendem Blaulicht. Dazu eine Menge anderer Autos mit Leuten, die neugierig auf eine Szene starrten, die nichts hergab.
»Wo?« fragte Marker knapp einen der Uniformierten.
»Hinterm Haus im Garten«, sagte der Mann.
Wir gingen um das Haus herum. Der Garten war eine ansteigende, einhundert Meter tiefe Fläche, die oben an einem Waldrand endete. Rechts von uns lag eine Terrasse.
Jemand rief hastig: »Der Doktor muß der Frau eine Spritze geben. Sie hat ihn gefunden, sie flippt aus!«
Ein bizarres Bild bot sich uns: Wolfgang Schuhmacher hatte an dem langen Zaun vor dem Waldrand Obstbäume setzen wollen. Er hatte, in exaktem Abstand von sechs Metern, sehr tiefe Löcher gegraben. Vier Bäume standen schon. Es waren drei Meter hohe Stämme mit üppigem Wuchs. Im vierten Loch lag er selbst in einem schäbigen grauen Trainingsanzug, mit dem Kopf nach unten, die Beine ragten seltsam obszön über den Grubenrand hinaus.
Ein uniformierter Polizist stand am Rand des Lochs und bewegte keinen Muskel in seinem Gesicht. Neben ihm zappelte ein alter, verhutzelter kleiner Mann, der dauernd stammelte: »Ich bin nur der Nachbar, ich bin nur der Nachbar.«
Der Mörder hatte Wolfgang Schuhmacher einen eisernen Pflanzstock mit aller Gewalt in den Mund gerammt.
Marker starrte den Toten an und fragte dann ganz kühl: »Wo sind die Spurenleute?«
Der Uniformierte antwortete nicht.
Marker brüllte: »Ich habe Sie was gefragt, Mann!«
Seltsam unbeteiligt murmelte der Polizist: »Die Spurenleute müssen längst unterwegs sein, der Fotograf auch.«
»Lieber Himmel«, hauchte Rodenstock neben mir.
Marker sank irgendwie am Rande des Loches ins Gras. Nach einer Weile seufzte er: »Ich habe meine Zigaretten vergessen!«
»Hier, Chef.« Der Uniformierte hielt ihm eine Schachtel hin.
»Von wem kam die Nachricht?« fragte Rodenstock.
»Über eins, eins, null«, antwortete der Polizist tonlos. »Seine Frau. Sie schrie: Er ist tot, er ist tot! Dann hängte sie ein, und Sekunden später rief sie erneut an, wieder eins, eins, null. Sie kreischte: Mein Mann ist tot, helft mir. Dann war sie in der Lage, ihren Namen zu sagen und die Adresse.«
»Wer war im Haus?« erkundigte sich nun Marker.
»Nur er hier und die Frau.«
»Kann die Frau aussagen?«
»Nein. Der Arzt hat Valium gespritzt, jede Menge.«
»Das ist verrückt«, stöhnte Marker. Dann streckte er vorsichtig beide Beine aus, als befinde er sich am Rande eines Sumpfes. Er machte einen Schritt in die Grube und fragte: »Hat jemand eine Lupe da?«
Niemand hatte eine Lupe, und der Uniformierte sagte hastig: »Ich gehe mal suchen.«
Es war, als sei alles, was lebte, mit Eis überzogen.
Der Polizist kam zurück und gab Marker eine große, langstielige Lupe. »Vom Schreibtisch des Toten«, erklärte er.
Marker machte einen weiteren Schritt und prüfte, ob er fest stand. Dann bückte er sich tief über den Toten. Groteskerweise sah es so aus, als wolle er ihn küssen. »Wie lang ist so ein Pflanzeisen?«
»Nach der Größe des Griffes zu urteilen, sechzehn bis zwanzig Zentimeter«, schätzte Rodenstock.
»Das ist doch fast unmöglich«, hauchte Marker matt.
»Also Zungenbeinbruch?« fragte Rodenstock.
»Mit Sicherheit«, nickte Marker. »Soweit ich erkennen kann, ist weder ein Zahn gesplittert, noch sind die Lippen verletzt.«
»Rechts von seinem Körper sind wellenförmige Aufwerfungen in der Erde«, murmelte Rodenstock beiläufig.
Marker kam hoch, sah Rodenstock an. »Was bedeutet das?«
»Ich weiß nicht recht. Vielleicht hat er gebuddelt und dann ein Pauschen gemacht. Vielleicht ist er eingeschlafen? Jemand kommt und treibt ihm den Pflanzstock herein. Er wird schockartig wach und wirft sich herum.«
»Fotografieren Sie das mal, Herr Baumeister?« bat Marker. »Und bitte eine Nahaufnahme von der Mundpartie mit dem Werkzeug.«
»Daß nur er und seine Frau in diesem Haus waren, besagt gar nichts«, meinte Rodenstock. Er sah sich um. »Hier kann vom Wald her jeder hinkommen, ohne gesehen zu werden.«
Ich fotografierte, was Marker haben wollte, und alles, was ich brauchen würde. Dann wurde mir schlecht, und ich bewegte mich schnell ein paar Schritte zum Zaun hin.
Ich sah, wie Unger neugierig durch das Unterholz kam. Ich fragte ihn: »Haben Sie etwas gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Aber an das Haus heranzukommen, ist eine einfache Sache. Ungefähr hundert Meter hinter mir ist eine Joggingstrecke mit Übungsplätzen. Da befindet sich auch ein Parkplatz. Darauf stehen acht Fahrzeuge und ...«
»Fotografieren Sie jedes Fahrzeug.«
»Habe ich schon. Kann ich den mal ansehen?«
»Nur zu. Aber dann zurück. Und fragen Sie bitte jeden, den Sie treffen, ob er hier was gesehen hat, was auch immer.«
Er kletterte wendig über den Zaun und besah sich den Toten. Er wurde blaß und dann bleich. Nachdem er ein paarmal tief durchgeatmet hatte, kletterte er zurück in den Wald und sagte: »Irgendwie ist das klar. Er hat mit jemandem zusammengearbeitet. Dann ist Krach ausgebrochen, und sie haben ihn umgelegt. Denken Sie auch so?«
»Ich weiß in dem ganzen Fall überhaupt nicht, was ich denken soll«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.
Unger verschwand hinter einer Gruppe Erlen.
Hinter uns zog ein Krankenwagen neben das Haus. Zwei Männer in weißen Anzügen stiegen aus. Der Uniformierte erklärte: »Sie bringen die Frau ins Krankenhaus. Schock.«
»Ja, ja«, seufzte Marker nicht sonderlich aufmerksam. »Aber, Moment, eine Frage muß sie mir noch beantworten. Ist sie bei Bewußtsein?«
»Ich denke schon«, gab der Uniformierte zurück.
Marker marschierte auf das Haus zu, Rodenstock hinter ihm, ich hinter Rodenstock.
Die Frau lag auf einer Bahre zwischen den beiden Männern vom Roten Kreuz. Sie hatte ein hübsches Gesicht, dunkles Haar und war vielleicht fünfunddreißig Jahre alt.
»Es tut mir leid für Sie«, sagte Marker sanft. »Ich habe nur eine Frage: War irgend jemand zu Besuch? War irgend jemand im Garten?«
Ihre Lippen zuckten, als müsse sie ausprobieren, ob sie sprechen kann. Dann antwortete sie seltsam klar: »Ein Mann, ein fremder Mann.«
»Wie alt ungefähr?«
»Dreißig, vierzig, ich weiß nicht. Nie gesehen.« Es strengte sie an.
»Was trug er?«
»Trainingsanzug. Dunkelblau, Kapuze, Sonnenbrille.«
»Hatte er die Kapuze über dem Kopf?«
Sie nickte, dann schwamm ihr Blick weg.
»Fahndung«, befahl Marker schnell in Richtung des Uniformierten. »Schicken Sie ein Fahndung raus. Und ich will, verdammt noch mal, alles über diesen Toten wissen. In zwei Stunden. Ich will wissen, ob er geblümte Unterhosen trug und in der Öffentlichkeit rülpste. Alles, einfach alles.«
»Alles klar, Chef«, bestätigte der Angesprochene.
Marker wandte sich an mich. »Wieviel Kolleginnen und Kollegen sind in Hillesheim? Wir sollten heute noch eine Pressekonferenz machen!«
»Sie sind noch alle da, in irgendwelchen Hotels. Ich arrangiere das. Jetzt ist es neun. Sagen wir um zehn?«
»Danke. Und wieder in dieser trostlosen Bank, bitte.«
»Sagen Sie mal, werter Kollege«, Rodenstock sah auf die Steinplatten des Gartenweges. »Fällt Ihnen bei dem Toten nicht etwas auf?«
Marker nickte. »Da fällt mir etwas auf, das mir Angst macht. Aber sagen Sie mir zuerst, was Ihnen auffällt.«
»Omerta«, sagte Rodenstock.
»Richtig«, knurrte Marker.
»Könnt ihr das mal für den zweiten kriminalistischen Bildungsweg erklären?« bat ich.
»Oh, natürlich«, meinte Rodenstock. »Omerta bedeutet in der Sprache der Mafiosi das Schweigen. Wenn jemand gegen das Schweigen verstößt, wird er getötet. Normalerweise schneidet man ihm zum Zeichen, daß er geredet hat, den Schwanz und die Eier ab und stopft sie ihm in den Mund. Schuhmacher hat den Pflanzstock im Mund. Ein perfekter Ersatz sozusagen.«
»Also mafiose Strukturen, also organisierte Kriminalität«, stöhnte Marker. »Gnade uns Gott, das Ding wird schwer zu knacken sein. Ich dachte heute nacht daran, daß wir nicht einmal ausschließen können, daß irgendwelche Gruppen aus Ex-Jugoslawien, Moslems, Serben oder Kroaten, sich auf diese Weise Kapital für Waffen beschaffen. Genug, um Hunderttausende abzuschlachten. Nichts ist undenkbar ... Ich versuche jetzt im Haus Fotos des Toten aufzutreiben. Gibt es hier einen Fachmann, der die vervielfältigen kann?«
»Gibt es«, antwortete ich. »Ich sage ihm auch Bescheid.«
Rodenstock und ich setzten uns in den Wagen und fuhren in den Teller.
Ich bat Andrea, sie möge alle Hotels anrufen und alle Pressemenschen für zehn Uhr in die Bank laden.
Sie seufzte und lächelte: »Das ist so, als hätte ich gar nichts zu tun.«
»Sei umarmt«, bedankte ich mich. »Aber das viele Geld und der Tote jetzt sind auch ein kleines Geschäft für dich.«
»Leider«, sagte sie, und sie meinte es so.
Als nächstes überredete ich den Besitzer der Drogerie Rosenkranz, sich darauf vorzubereiten, sechzig Abzüge von einem Foto zu machen. Schließlich trieb ich Unger auf, der sich in der Tasse herumtrieb, und verdonnerte ihn dazu, schweigend an der Pressekonferenz teilzunehmen. Muffig sagte er, er werde meinem Befehl folgen.
Dann fuhren wir heim. Es war immer noch sehr warm, und Rodenstock war mit seinen Gedanken wieder bei seinen eigenen Problemen: »Wahrscheinlich haben Sie recht, wahrscheinlich sollte ich meiner Tochter den nackten Arsch versohlen. Aber eigentlich bin ich gegen Gewalt.«
»Dann vergessen Sie das fünf Minuten lang«, riet ich weise.
Bettina war in der Küche und begrüßte uns munter: »Meine Mutter sagte immer: Wenn du keine Zeit zum Essen hast, mach Spaghetti. Das stopft.«
»Eine sehr kluge Mutter«, lobte Rodenstock.
»Wirklich ein Mord?« fragte sie.
»Wirklich«, bestätigte ich.
»Und hängt das mit dem geklauten Geld zusammen?«
»Ziemlich sicher. Machst du die Spaghetti al dente?«
»Aber ja«, beteuerte sie. »Baumeister, ich wollte noch sagen, daß mir das hier alles sehr guttut.«
»Das ist fein, genieß es. Und noch etwas: Sag nicht mehr, du gingst mir auf die Nerven. Es tut mir leid, daß ich so wenig Zeit habe, aber im Moment scheint das hier ein Nest für Beladene zu sein.«
»Unger ist auch sehr nett«, bemerkte sie.
Rodenstock hockte auf der Treppe. »Was machen wir denn, wenn wir entdecken, daß Wassi bei diesem Schuhmacher ein Konto hatte?«
»Was sollen wir dann machen? Wir haben hier in der ganzen Gegend praktisch nur zwei Bankhäuser, die logischerweise dieses unverschämte Monopol ausnutzen. Wenn Wassi bei denen sein Konto hat, besagt das nichts, absolut nichts.«
»Auch wahr«, gab er zu.
»Im übrigen ist Wassi nicht der Typ, irgend jemandem einen eisernen Pflanzstock in den Mund zu rammen.«
»Na«, sagte er milde, »das ist aber verdammt schnell geurteilt.«
»Auch wahr«, gab ich zu. »Wie wäre es, sollen wir uns nicht krankschreiben lassen, bis uns jemand die Lösung des Falles auf den Tisch legt?«
Er lachte, antwortete nicht und ging hinauf in sein Zimmer. Aus einem nicht begreiflichen Grund war Rodenstock furchtbar gut gelaunt und trällerte laut und falsch: »Schenkt man sich Rooohsen in Tiroohhl...«
Krümel rieb sich an meinen Beinen, ich hatte sie arg vernachlässigt. Ich summte so etwas wie: »Ich liebe dich am meisten«, und sie war zufrieden. Für des Leibes Wohl bekam sie ein Häppchen Seelachs, wie moderne Katzen es lieben.
Unger kam und berichtete, die Pressekonferenz sei stinklangweilig gewesen, und am Ende liefe es darauf hinaus, daß sie immer noch nichts wüßten und die Presse händeringend bäten, so groß wie möglich aufzumachen und die Leser zu fragen, ob sie vielleicht eine Ahnung hätten, wohin das verschwundene Geld geschafft worden sei und was dieser tote Schuhmacher mit all dem zu tun hätte.
Danach marschierte der Nachwuchsjournalist in die Küche und umarmte mit geradezu entwaffnender Zärtlichkeit Bettina, die beim Spaghettirühren war und vor lauter Glück feuerrot anlief.
Jeder bekam einen Teller voll in die Hand gedrückt, und wir trotteten im Gänsemarsch in den Garten. Es war eine tiefblaue, wunderbar warme Nacht, und die Grillen machten ziemlich viel Lärm.
Marker bog zum zweiten Mal an diesem Tag um die Ecke und hockte sich an den weißen Metalltisch. Bettina fragte hastig: »Spaghetti?« Als er nickte, lief sie ins Haus.
»Lieber Gott«, stöhnte er. »Das muß man sich mal reintun.
Achtzehn Millionen futsch, und nach anderthalb Tagen nicht der Schimmer einer Spur plus einem Ermordeten.«
»Was ist mit Wassi?« nervte Unger wieder. Er ließ nicht locker.
»Wassi war im Wald«, informierte ihn Marker. »Das ist ihm abzunehmen, weil er dauernd im Wald ist. Und mit seinen Kumpanen aus Neuenahr und aus den anderen Heimen war er nicht zusammen. Die haben ein brauchbares Alibi. Das wäre auch zu schön gewesen.«
»Sagt Wassi auch, wo im Wald er war?« schaltete sich Rodenstock ein.
»Ganz genau«, nickte Marker. »Ich bin mit ihm die Strecke abgefahren. Er sagt, er ist im Wald zu Hause und mag Häuser nicht, egal wie sie aussehen. Da ist nichts zu machen. Er ist ein hinterlistiger, verschlagener Waldschrat – aber ich denke, er hat die Millionen nicht. Kennen Sie die Angelgeschichte? Nein? Also, die geht so: Es gibt hier in der Gegend Teiche mit Forellen. Eines Tages haben die Deutschrussen in Kerpen die entdeckt. Ein paar von ihnen kauften beziehungsweise bastelten sich eine Angel. Dann gingen sie munter fischen. Es war ihnen nicht klarzumachen, daß es in diesem Land so etwas wie Fischrechte gibt. Bei ihnen in Kasachstan war das einfach: Wenn sie von einem Teich oder Fluß wußten, in dem Forellen schwammen, dann durften sie die fischen, niemand hat sie deswegen belästigt. Was sagt uns das? Andere Länder, andere Sitten, aber die achtzehn-einhalb Millionen haben die nicht.«
Bettina stellte einen Teller Spaghetti vor Marker hin, und er bedankte sich und begann zu essen. »Mittlerweile treibt die Geschichte vollkommen bescheuerte Blüten«, erzählte er kauend. »Eine Boulevardzeitung hat für sage und schreibe zweitausend Mark in bar eine Wahrsagerin in Hillesheim aufgetrieben. Eine sehr freundliche alte Dame, die fest davon überzeugt ist, daß sie wahrsagen kann. Die hat der Redakteurin erklärt, sie wisse genau, wo sich das Geld befindet: nämlich nach wie vor in den Geldsäcken in einem Kellerraum, der sehr feucht ist. Auch die Täter konnte sie beschreiben: Es seien sehr kluge Männer, ungefähr dreißig Jahre alt, sechs an der Zahl und allesamt Ausländer. Wir brauchen also bloß einen feuchten Keller mit sechs Ausländern drin aufzutreiben.«
»Hm«, machte Rodenstock behaglich. »Wenn Wassi ausfällt, bleibt nur noch das Prinzip Hoffnung. Es sei denn, der ermordete Banker hat irgendwelche Spuren hinterlassen.«
Marker hielt inne. »Der Mann ist irgendwie gläsern. Kein Punkt in seinem Leben ist ungeklärt. Ein vollkommen glatter Lebenslauf ohne erkennbare Schwierigkeiten und Brüche, ständig steigendes persönliches Einkommen. Es ist so, als wäre er als Sechzehnjähriger morgens in die Bank gekommen und hätte verkündet: Was auch immer passiert, in fünfzehn Jahren bin ich euer Chef! Verlobungszeit, Heirat, dann Hausbau, keine Kinder, aber ständige Bewegungen im Aktienan- und – verkauf. Mitglied in einigen Vereinen, keine Spur persönlicher Schwächen. Keine Krankheiten, keine Verbindungen zu irgendwelchen dubiosen Zeitgenossen. Nichts, einfach gar nichts. Leumund erstklassig, obwohl allerdings kein Mensch ihn leiden konnte und er keine wirklichen Freunde besaß. Die Frau ist als junges Mädchen sehr beliebt gewesen. Nach der Heirat hat sie sich systematisch aus jeder Freundschaft zurückgezogen, als habe ihr Mann sie gezwungen, Freundinnen und Freunde aufzugeben. Sie haben in diesem Haus gelebt wie auf einer Insel, so, als gehe sie das Leben draußen nichts an und als seien sie sich vollkommen genug ...«
»Glauben Sie, er hat an dem Ding gedreht?« fragte ich.
Marker nickte: »Ja, das glaube ich. Das Ding ist so perfekt. So konnte es nur an dieser Stelle durchgezogen werden. Und lohnen mußte es sich, und vor allem mußten unbedingt Kenntnisse über die beiden Wachleute im Transporter zur Verfügung stehen. Das heißt, jemand, der dieses Ding so schnell drehen wollte, mußte sich todsicher darauf verlassen können, daß keiner der Transportbegleiter zur Waffe griff.«
»Aber wenn man ihn umgelegt hat, muß irgend etwas schiefgelaufen sein«, murmelte Unger.
»Nicht unbedingt«, widersprach Rodenstock. »Wir schreiben hier doch kein Fernsehspiel, das ist das Leben und nicht Derrick.« Er lächelte. »Nehmen wir an, dieser Tote hat eine Gruppe oder einen Komplizen mit Wissen versorgt. Nehmen wir weiter an, es ist alles gut gelaufen, der Geldraub ging ganz glatt. Dann gab es eine Schwachstelle: diesen zweifellos sehr provinziell und eng denkenden Banker. Für jeden Profimuß so ein Mann ein Alptraum sein, weil jeder Profiweiß, daß der absolut keinen Druck aushält und bei jeder Verdächtigung sofort umfallen wird. Also kommt jedem Profi, der rücksichtslos genug ist, sofort die Idee: Sobald das Ding gelaufen ist, muß dieser Mann ausgeschaltet werden!«
»Das ist es«, sagte Marker tonlos. »Das ist verdammt einleuchtend.«
»Hatte Schuhmacher wirklich keine Schwachstelle? Frauen zum Beispiel?« fragte Unger.
Der BKA-Mann schüttelte den Kopf. »Undenkbar, er war praktizierender Katholik.«
»Was sagen seine Kolleginnen und Kollegen?« ließ Unger nicht locker.
»Nichts. Sie sind zurückhaltend. Gemocht hat ihn keiner, das ist unübersehbar. Und alle sind der Meinung, daß sie nicht beurteilen können, ob er sich von achtzehneinhalb Millionen in bar überzeugen ließe. Das besagt, daß sie ihm einen solchen Coup zumindest von der Moral eines Raffke her durchaus zutrauen.«
»Und die Spuren am Tatort?« horchte Unger Marker weiter aus.
»Keine. Der Täter trug Handschuhe. Velourleder.«
»Was machen wohl inzwischen die Räuber?« fragte Rodenstock.
»Schulden bezahlen«, mutmaßte ich.
Marker verließ uns gegen Mitternacht. Gerade, als Unger wortreich einen raffinierten Bankraub in Nizza schilderte, schrillte das Telefon. Es war mein Bürgermeister.
»Hör zu«, sagte er mit Grabesstimme, »du mußt noch mal helfen. Die Witwe Bolte rennt wieder nackt draußen rum und singt Kirchenlieder. Ich hab eine Konferenz, Kättchen ist nicht aufzutreiben.«
»Ich bin schon unterwegs«, beruhigte ich ihn. Widerspruch hätte nichts bewirkt, die Dorfgemeinschaft ist eisern: Baumeister darf auf der Kirmes Bier zapfen und irre Tanten zähmen.
Ich war froh, meinem eigenen Haus zu entkommen, und marschierte durch das nächtliche Dorf. Es war sehr still. In einem Zimmer des Hauses der Witwe Bolte brannte Licht, die Hoflampe schien mattgelb. Niemand war zu sehen.
Ich ging auf den Hof und blieb dann stehen, weil sie mir entgegenkam. Sie hatte irgend etwas um ihre unförmige dicke Figur gehängt, etwas, das merkwürdig glänzte. Dann erkannte ich grellrote Rosen darauf. Es war ein Wachstuch, das Tuch von ihrem Küchentisch. Sie hatte es vorne vor den Brüsten mit einer Wäscheklammer zusammengesteckt. Links und rechts trug sie je eine brennende weiße Haushaltskerze in der Hand, und sie war barfuß. Sie sah mich, nickte, weil sie mich erkannte, und lächelte freundlich.
Hell und selbstverständlich rief sie mir zu: »Guten Abend, Herr Baumeister. Kommen Sie, lassen Sie uns beten.« Dann ging sie einfach weiter. Nach vier Schritten erreichte sie die schmale Straße vor dem Haus, drehte sich um und sagte: »Nun seien Sie doch nicht schüchtern, Herr Baumeister. Die Heilige Jungfrau wird Sie segnen, wenn Sie mit mir beten.«
»Moment mal«, stotterte ich und folgte ihr.
Sie drehte sich wieder um, ihre Bewegungen waren sehr weich und sehr anmutig. Inbrünstig und leise, aber mit klarer Stimme sang sie: »Meerstern, ich dich grüße ...«
»Heh«, sagte ich. »Du erkältest dich!«
Sie hielt inne und schüttelte leicht den Kopf. Tadelnd murmelte sie: »Es ist eine heiße Sommernacht, Herr Baumeister. Wie soll ich mich erkälten? Kommen Sie, lassen Sie uns die Jungfrau feiern und ehren. Sehen Sie, sie wartet schon.« Sie ging weiter, querte die Straße, die stracks auf die zweihundert Meter entfernte Scheune von Christian Daun zuführt.
Dann sah ich es.
Die Scheune wurde von einem blauen Licht umflossen, das an den Kanten des Daches und der Steinmauern zu wabern schien. Zuweilen waren gelbe und rote Blitze in diesem Licht.
»Kommen Sie«, wiederholte sie fröhlich, »die Jungfrau erwartet uns!«
Jetzt erlosch das Licht um die Scheune.
»Das geht so nicht«, schimpfte ich energisch. »Du bist nackt, du holst dir den Tod. Das dulde ich nicht.«
Plötzlich waberte das blaue Licht erneut, die Blitze zuckten.
»Ich bin ein ungehöriges Mädchen«, meinte sie. »Nicht wahr?«
»Na ja, in der Kirche ziehst du dich auch anders an.« Ich nahm ihren Arm, drehte sie sanft herum und bestimmte: »Erst einmal ziehst du dich vernünftig an, dann gehen wir beten.«
Wir gingen zurück, und sie summte ein Lied vor sich hin und wehrte sich nicht. Ich brachte sie in die Küche, sah ihre Medikamente und fragte: »Hast du die Pillen genommen?«
»Oje«, sie kicherte, »habe ich vergessen.«
Ich nahm aus der Tavor-Schachtel zwei Tabletten, legte sie vor sie auf den Küchentisch und gab ihr ein halbes Glas Wasser. »Das nimmst du jetzt und läßt mich dabei zusehen. Dann können wir gehen.« Sie lächelte wieder, antwortete nicht und schluckte brav die Tabletten. »Manchmal bin ich ein ungehöriges Mädchen«, gab sie verschämt zu. Plötzlich vergaß sie, wer ich war, und sie murmelte: »Papa, erzählst du mir eine Geschichte?«
»Erst ab ins Bett«, sagte ich freundlich.
Sie fummelte sich das Wachstuch von den Schultern, ließ es einfach zu Boden fallen und ging hinaus in den Flur, dann in das Schlafzimmer. Ich reichte ihr das Nachthemd, und sie zog es über. Sie beharrte: »Du erzählst immer so schöne Geschichten, Papa.« Dabei legte sie sich hin und zog die Decke hoch an ihr Gesicht. Sie begann am Daumen zu lutschen und war wie ein braver, vollkommen zufriedener Säugling. Ehe ich irgend etwas sagen konnte, schlief sie ein und atmete ruhig und gelassen.
Ich löschte das Licht im Haus, zog die Tür hinter mir zu und starrte auf Christian Dauns große Scheune. Das blaue, wabernde Licht war wieder da. Ich begann zu laufen.
Die Scheune war ein großer viereckiger Klotz auf einem Sockel aus Gasbetonsteinen. Sie war dreißig Meter lang und sicherlich fünfundzwanzig Meter breit. Sie hatte ein leicht geneigtes Flachdach aus wellblechartigem Eternit, durchsetzt mit lichtdurchlässigen Streifen, um die Scheune innen zu beleuchten. Die Scheune, das wußte ich, war voller Heuballen. Der junge Bauer Christian Daun hatte sich darauf spezialisiert, möglichst viel Weiden zu pachten, das Heu zu lagern und besonders an Holländer und Belgier zu verkaufen, die es für ihre riesigen Viehbestände dringend brauchten.
Hinter der Scheune stand das alte Bauernhaus der Dauns. Christians Vater hatte den Hof vor fünfzehn Jahren samt seiner Frau verlassen, um außerhalb des Dorfes neu zu siedeln. Der Sohn hatte sich überraschend entschlossen, den alten Hof allein zu bewirtschaften. Er war ein rotgesichtiger witziger Typ mit Stoppelhaarschnitt, ein Kerl wie ein Kleiderschrank.
Ich keuchte um die Scheune herum und sah ihn auf der anderen Seite mit einem Schweißgerät stehen. Er arbeitete sehr konzentriert, schweißte rundgebogene schwere Eisenhaken an einen großen Heuwender. »Lieber Himmel, ich dachte, es brennt hier. Wieso machst du das nachts?«
Er sah hoch, stellte den Brenner ab, schob die Brille auf die Stirn, grinste und erklärte: »In sechs Tagen kommt ein Holländer. Der will sechzig Tonnen. Ich muß morgen früh, halt, heute früh um vier anfangen, sonst schaffe ich das nicht.«
»Witwe Bolte hält dich für die Jungfrau Maria und den Erzengel Michael«, sagte ich.
Er nahm eine Flasche Bier vom Boden hoch und trank einen Schluck: »Damit kann ich leben«, entgegnete er trocken.
»Sie wollte dich mit brennenden Kerzen besuchen. Nackt.«
Er lachte: »Witwe Bolte? Nackt? Na ja, sie ist verrückt, aber irgendwie ist sie doch eine gute Type!«
»Ist sie«, bestätigte ich. »Willst du nicht wenigstens für zwei, drei Stunden schlafen gehen?«
»Mir geht es doch gut«, erwiderte er bescheiden. In dieser Sekunde war er wie das Salz der Erde. »Du kannst beten, daß das Wetter sich hält«, murmelte er und zündete den Brenner erneut an.
»Mach ich. Aber meine Direktleitung in den Himmel ist vor langer Zeit zusammengebrochen.«
Er grinste.
Ich ging zurück auf den Feldweg und starrte auf den Wallfahrtsort, den die Witwe Bolte an der Scheunenecke eingerichtet hatte. Da stand auf einem großen Haufen Feldsteine eine scheußlich bemalte Madonna aus Gips. Und Hunderte ausgebrannter Teelichter.