ELFTES KAPITEL

»Das reicht«, bestimmte Rodenstock liebenswürdig. Er stand auf und ging hinaus.

Martin, auf den Trümmern seines Tisches, bewegte sich nicht, blieb einfach liegen.

»Mach es gut«, sagte ich und folgte Rodenstock.

Der stand draußen und telefonierte. Offensichtlich sprach er mit Kischkewitz, denn ich hörte noch: »Du solltest ihn dir vorknöpfen.« Dann sagte er zu mir: »Lass uns fahren.«

Wir gingen den Weg um das Haus zurück. Auf der Bank davor hockte nun der Alte und sah uns finster an, sprach kein Wort und paffte aus einer billigen Pfeife.

»Detlev Fiedler also«, sagte ich.

Rodenstock schwieg, während er den Wagen aus dem Dorf lenkte. Dann stoppte er am Straßenrand.

»Ja, Detlev Fiedler. Aber wir haben nichts gegen ihn in der Hand. Plötzlich ist der ganze Fall sehr logisch, nicht wahr? Aber kein Staatsanwalt wird ihn bei dieser Beweislage festnehmen lassen, kein Richter einen Haftbefehl ausstellen. Wer glaubt diesem kaputten Menschen namens Martin? Jeder Strafverteidiger haut Fiedler in zehn Minuten raus. Selbst wenn er zugibt, dass er bei der Hütte war und den Spanner machte, ist das kein Grund, ihn wegen Mordes anzuklagen. Dass er irgendwann bei der Hütte war, versetzt uns nicht in die Lage zu beweisen, dass er am Tattag am Waldrand gewesen ist oder zumindest dort, wo auch Natalie war. Es ist eine beschissene Situation, Baumeister! Wir können jetzt viele Dinge klären und erklären, aber beweisen können wir gar nichts.«

»Noch eine Menge Arbeit.«

»Ja.« Rodenstock startete wieder und fuhr los. »Und wir müssen uns so vorsichtig heranpirschen, dass er nichts merkt. Das wird schwer sein, sehr schwer. Sag mal, Baumeister, hast du mit so etwas gerechnet?«

»Ich habe mittlerweile erwartet, dass wir in dem Recherchestau stecken bleiben und den Killer überhaupt nicht finden. Zu viele Verdächtige. Was sagt denn Kischkewitz?«

»Er kommt heute Nacht noch rüber nach Brück. Er hat panische Angst, dass etwas durchsickert. Wenn nämlich etwas durchsickert, muss er zu früh und ohne zwingende Beweise losschlagen und Fiedler festnehmen.«

»Glaubst du, dass so ein Mann wie Detlev Fiedler noch einmal zuschlagen wird? Nehmen wir an, Fiedler bekommt etwas mit. Nach der Logik der Sache müsste er erneut töten, und zwar den Martin aus Mannebach. Eventuell sogar auch noch Tina Colin. Denn wenn wir die erst einmal auf die Spur setzen, wird passieren, was immer passiert: Sie erinnert sich plötzlich in die richtige Richtung ... Du kennst das.«

»Ich weiß nicht, ob solche Täter zur eigenen Absicherung ein zweites Mal töten.« Rodenstock schnaufte. »Eigentlich müssten wir erleichtert sein, aber ich bin nur verkrampft und angespannt.«

Als wir bei mir zu Hause ankamen, ging es auf Mitternacht zu, die Frauen saßen im Wohnzimmer und schauten irgendetwas im Fernsehen an; einer der neudeutschen Jungmänner, die sich Komiker nennen, zählte seine Gesichtsmuskeln durch.

»Seid ihr verprügelt worden?«, wollte Emma wissen.

»Nein«, sagte Rodenstock. »Wir haben nur erfahren, wer Natalie getötet hat. Jedenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit.«

»Und wer, bitte?«, fragte sie weiter.

»Der Oberstudienrat Detlev Fiedler.«

Vera drückte auf den Aus-Knopf, Emma richtete sich aus ihrer halb liegenden Position auf. Sie sagten beide nichts und ihre Augen wurden trüb und leer.

Schließlich murmelte Vera: »Scheißbeweislage!«

»Richtig«, nickte ich. »Kann ich trotzdem etwas zu essen haben?«

»Ich haue dir ein paar Eier in die Pfanne«, murmelte Vera. »Obwohl – kannst du das nicht selbst machen?«

»Doch, doch«, antwortete ich eilig, unternahm aber nichts, denn Rodenstock erzählte von unserem Erlebnis und ich wollte nicht versäumen, die Sache durch seine Brille zu sehen.

Er schloss: »Es gibt Aussagen, dass Natalie erwähnt hat, sie fühle sich verfolgt. Wir wissen, dass Fiedler mit ihr schlafen wollte, dass sie ihn aber nicht an sich heranließ. Im Gegenteil, sie sagte ihm, sie sei für ihn nicht zu kaufen. Wir wissen weiter, dass Fiedler in mindestens einem Fall als Spanner auftrat. Dafür gibt es einen Zeugen. Gut, der Zeuge ist wackelig, aber immerhin. Das ist alles, was wir haben.«

»Wir müssen mit Blick auf Fiedler den Tattag rekonstruieren«, murmelte Emma. »Das erinnert mich an einen Fall in Amsterdam. Kindestötung mit anschließender Vergewaltigung. Der Onkel des Kindes rannte verzweifelt zur Polizei und meldete den Vorfall. Wir brauchten drei Wochen, um zu begreifen, dass dieser Onkel es selbst war. Machst du dir Vorwürfe, mein Lieber, dass du nicht eher darauf gekommen bist?«

»Nein«, erwiderte Rodenstock freundlich und gelassen. »Bei so vielen möglichen Verdächtigen ... Und dann war da noch die Episode mit meiner Lebensgefährtin. Kennst du meine Lebensgefährtin?« Er grinste.

Die Nacht hatte Einzug gehalten. Cisco lag in einer Ecke des Wohnzimmers und schlief. Meine Kater dösten auf einer alten Decke in der Küche. In drei Stunden etwa würde ihre innere Uhr sie wecken, sie würden sich strecken, die Muskeln durchspielen, dann durch die Katzenklappe im Keller verschwinden und die Jagd beginnen.

Ich holte mir einen Joghurt aus dem Eisschrank und mummelte lustlos vor mich hin.

Wenn Detlev Fiedler der Mörder war, warum hatte er mir dann in entscheidenden Punkten weitergeholfen? Hatte er, unbewusst vielleicht, gewollt, dass wir ihn als Täter entlarvten? Wie lange schon war Natalie seine unerreichbare Göttin, sein Engel? Was und wie viel wusste seine Frau? Wirkte sie deshalb so neurotisch, weil sie etwas ahnte?

Als Kischkewitz mit einem schweren BMW auf den Hof rollte, war es kurz vor zwei Uhr. Er sah ausgesprochen krank aus. Seine Gesichtshaut hatte einen Stich ins Graue, die Tränensäcke unter seinen Augen hatten beachtliche Ausmaße und eine dunkelbraune Färbung.

»Erzählt mal, ich bin gespannt«, sagte er und ließ sich in einen Sessel fallen.

»Du bist dran«, wandte sich Rodenstock an mich.

Ich berichtete also und Kischkewitz verzog keine Miene. Am Ende sagte er: »Das ist auf jeden Fall der erste brauchbare Hinweis auf einen durchaus glaubhaften Täter. Wir müssen seinen Tagesablauf am Tag der Tat und an dem Tag danach rekonstruieren. Wir müssen seine gesamte Geschichte, seine Lebensgeschichte protokollieren. Wir müssen herausfinden, wie lange die Geschichte mit Natalie lief, und wir müssen herausfinden, was der Stein des Anstoßes für die Tat war. Weshalb hat er sie getötet? Emma, du siehst so aus, als könntest du einen Vorschlag haben.«

»Habe ich auch.« Sie zündete sich einen Zigarillo an. »Wir müssen business as usual spielen. Weiterhin mit Hochdruck bei den Kaufleuten recherchieren und weiterhin so tun, als seien wir ratlos. Gleichzeitig müssen wir in Fiedlers Umfeld nach Beweismöglichkeiten suchen. Ich schlage vor, dass die Mordkommission sich dumm stellt, dass diese kleine private Kommission sich noch dümmer stellt und dass wir nach Absprache mal hier und mal da ein paar Stiche ins Wespennest ablassen.« Sie sah Kischkewitz an. »Vielleicht solltest du erwägen, nur den inneren Kern der Kommission zu informieren. Wenn dreißig, vierzig Leute wissen, auf wen wir es abgesehen haben, kann es passieren, dass Fiedler gewarnt wird. Und er ist kein Dummer. Ich glaube nicht einmal, dass er flüchten würde, ich glaube vielmehr, dass er Zugeständnisse macht, aber vehement abstreiten wird, Natalie getötet zu haben. Und dann sitzen wir fest, restlos fest, auf ewig.«

»Das sehe ich auch so«, nickte Rodenstock. »Wir müssen zunächst öffentlich einfache Dinge tun.«

Geschlagene zwei Stunden gingen wir Punkt für Punkt durch und blieben doch immer auf dem gleichen Ergebnis sitzen: Wir waren eine Gruppe, die mit Nagelstiefeln auf rohen Eiern gehen musste, ohne ein einziges davon zu zerbrechen.

Plötzlich sagte Vera in glucksender Heiterkeit: »Ach, guckt mal, Leute.«

Kischkewitz saß in seinem Sessel und schlief tief und fest.

Wir ließen ihn dort und verzogen uns. Möglicherweise würde er mit einem steifen Genick aufwachen, aber er hatte zumindest eine Mütze voll Schlaf nehmen können.

Wir wachten am hohen Mittag auf, Kischkewitz hatte längst das Weite gesucht, Emma Königsberger Klopse gemacht. Das nannte sie »mein Erinnerungsessen« und es war wohl eine sehr schmerzhafte Erinnerung, über die sie bisher kein Wort verloren hatte. Nicht einmal Rodenstock wusste, an was sie dabei dachte.

»Ich würde gern nach Mainz fahren und mir Sachen holen«, bemerkte Vera.

»Nimm meinen Wagen«, bot ich an. »Kein Problem.«

»Nimm mich bitte mit. Ich muss ohnehin etwas einkaufen. Und außerdem brauche ich eine Verschnaufpause.« Emma aß nichts, Emma trank pausenlos Kaffee und starrte Löcher in die Luft.

Sie fuhren gleich nach dem Essen.

»Was machen wir?« Rodenstock hockte vor einem Kognak.

»Ich fahre nach Daun rein, mit Leuten schwätzen, mich harmlos stellen. Ich habe das Gefühl, dass Natalie in den fehlenden Stunden an ihrem letzten Tag dort gewesen sein könnte.«

Nachdem ich mir ein Foto von Natalie aus einer der letzten Ausgaben des Trierischen Volksfreundes herausgeschnitten hatte, machte ich mich auf den Weg.

Du wohnst im Einzugsbereich einer kleinen Stadt und bildest dir ein, alles über diese Stadt zu wissen. Wer was zu sagen hat, wer politisch eine Rolle spielt, wer die einflussreichsten Kaufleute sind, wer die Parkuhren aufstellt. Und dann musst du feststellen, dass du im Grunde gar nichts weißt. Du stößt auf Leute, die du bisher nicht wahrgenommen hast, von denen du nicht einmal wusstest, dass es sie gibt. Mich erwartete eine ganze Serie dieser Erfahrungen.

Ich klapperte nacheinander alle Kneipen und Restaurants ab, trank Unmengen Cola und stellte fest, dass Natalie und Sven in jeder dieser Kneipen und Restaurants gewesen waren, dass die Leute hinter den Theken aber im Grunde nichts über die beiden wussten, schon gar nichts über ihren letzten Tag. Sie versicherten: »Eigentlich hatten wir mit denen gar nichts zu tun. Sie waren hier, aber nur selten. Ist ja ein tragischer Fall, ist das.«

Sven und Natalie waren ihr Leben lang hier zur Schule gegangen, wo hatten sie ihr Eis gegessen, wo ihre Fritten gekauft? Hatten sie keine Stammkneipe gehabt?

Einen ersten brauchbaren Hinweis bekam ich in der Marien-Apotheke, als ich mir Schmerztabletten kaufte, weil ich keine mehr im Hause hatte.

Die freundliche Apothekerin erzählte: »Die? Diese beiden, die leider tot sind? In der italienischen Eisdiele da vorne sind die oft gewesen. Aber eigentlich ist das nicht so, dass die Pennäler hier häufig in den Kneipen rumhängen. Die sehen eher zu, dass sie mittags nach der Schule so schnell wie möglich nach Hause kommen.«

»Hm«, murmelte ich. »Wenn jemand in Daun jemanden treffen will und beide möchten nicht, dass das Treffen öffentlich wird, wo verabreden sie sich?«

»Auf einem Parkplatz im Wald«, sagte die Apothekerin lächelnd. »Nein, nein, ich weiß schon, was Sie meinen. Also, ich würde mich auf der Dauner Burg verabreden. Da gehen nämlich die Dauner nicht hin, die haben da Berührungsängste.«

»Ach ja?«, sagte ich unschuldig und verließ den Arzneimittelladen wieder.

Die Apothekerin hatte Recht: Die Dauner Burg war im engen Bezirk als ausgesprochen vornehm und teuer deklariert. Die Dauner fuhren lieber ein paar hundert Kilometer, wenn sie mal gut essen wollten, statt vor der Haustür zu tafeln.

Also hinauf auf die Burg durch die enge Gasse an den uralten Mauern vorbei, die die Grafen von Daun einstmals hochgezogen hatten, um im Laufe der Jahrhunderte in Bedeutungslosigkeit zu versinken.

An der Tür begrüßte mich eine dicke, schwarze Katze und gab nicht eher Ruhe, bis ich sie gestreichelt hatte. Dann krähten zwei Aras in ihrem Käfig ein Begrüßungslied. Sonst war die Empfangshalle leer. Ich hockte mich an den kleinen Tisch gleich gegenüber dem uralten Tresen aus kostbarem Holz und wartete. Ich stopfte mir eine Pfeife und lächelte einer Putzmamsell zu, die schwitzend einen Wagen an mir vorbeischob. Endlich kam ein junger Mann beschwingt herangesegelt, grüßte freundlich und fragte: »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich wäre glücklich, wenn Sie mir einen Kaffee besorgen könnten und vielleicht eine Davidoff«, antwortete ich.

»Aber sicher doch«, sagte er und verschwand wieder.

Als er zurückkehrte, trug er ein Tablett vor sich her mit meinem Kaffee und den Humidor mit den Zigarren. Ich wählte eine aus und der junge Mann hielt mir ein Streichholz dran.

Als die Dame des Hauses erschien, fühlte ich mich sauwohl und hatte entschieden, dass derartige Recherchen wirklich Spaß machten.

»Was kann ich für Sie tun, Herr Baumeister?« Sie setzte sich.

»Das muss ich erst noch herausfinden.«

Sie antwortete mit ihrem trockenen moselanischen Humor: »Das ist Ihr gutes Recht.«

»Sie kennen diese junge Frau?«, fragte ich und legte ihr den Zeitungsausschnitt vor.

»Ja sicher. Wer kennt die nicht?«

»Ich versuche den Tag vor ihrem Tod zu rekonstruieren. War sie hier?«

»Ja, sie war hier. Sie war hier und saß hier, wo wir jetzt sitzen. Und sie trank einen Kaffee und rauchte Zigaretten. Das Einzige, woran ich mich nicht mit Sicherheit erinnere, ist, um wie viel Uhr das war. Wir haben nämlich überlegt, ob wir das nicht der Mordkommission melden sollen. Das muss vor zwölf Uhr gewesen sein, auf jeden Fall vor dem Mittagessen.«

»Was tat Natalie hier? Ich meine, saß sie nur rum? Oder las sie in der Zeitung. Oder traf sie jemanden?«

»Sie traf jemanden. Das ist ja wohl kein Geheimnis. Diesen Studienrat, oder Oberstudienrat, diesen Fiedler, der dauernd als Sachverständiger auftritt.«

»Wie lange waren die beiden hier?«

»Ich schätze mal, eine halbe bis Dreiviertelstunde. Die haben fröhlich miteinander geplaudert.«

»Haben Sie etwas von dem Gespräch mitbekommen?«

»Na ja, ich habe mitgekriegt, dass er ihr einen Scheck ausstellen wollte und dass sie sagte: ›So nicht! ‹ Dann ging er kurz weg, kam zurück und gab ihr ein Kuvert. Ich habe nebenan in der Buchhaltung gesessen und Rechnungen geschrieben. Irgendwann sind sie dann gegangen.«

Ich konnte es nicht fassen. Ich war gerade zwei Stunden unterwegs und hatte einen wichtigen Stein im Puzzle gefunden!

Ich bezahlte und mühte mich gleichzeitig ab, gelassen zu bleiben. Artig sagte ich: »Danke schön. Ich will mal weitergehen.«

Draußen vor der Burg rief ich Rodenstock an. »Ich habe ihn. Er hat das Auto gekauft. Aber wir brauchen jetzt eine Bankauskunft. Und die kriegen wir nicht.«

»Wir nicht, aber die Mordkommission«, entgegnete Rodenstock trocken. »Trotzdem müssen wir den Rest von Fiedlers Tag rekonstruieren. Und ich habe keine Ahnung, wie wir das bewerkstelligen sollen, ohne ihn selbst zu fragen.«

»Seine Frau«, schlug ich nicht sonderlich überzeugt vor.

»Völlig unmöglich«, knurrte er. »Dann können wir genauso gut ihn selbst befragen. Das wäre der Tod aller Nachforschungen.«

»Warum hat Fiedler Natalie ausgerechnet an diesem Tag, zu diesem Zeitpunkt umgebracht?«, überlegte ich.

»Das ist doch einfach«, erklärte er. »Sie war seine Sehnsucht, sie war die Frau, die seine Seele besetzt hielt. Sie wollte für immer nach Amerika verschwinden. Und damit konnte er nicht leben.«

»Du bist ziemlich klug.«

»Einblindes Huhn ...«, murmelte Rodenstock.

»Was mag er mit dem Brillanten aus ihrem Bauchnabel gemacht haben?«, fragte ich.

»Möglicherweise hat er ihn einfach weggeschmissen. Der Brillant stammte von Sven und Sven war ein Konkurrent. Vielleicht trägt er ihn auch mit sich herum, hat ihn in der Geldbörse. Wie auch immer, es gehört ziemlich viel Wut dazu, aus einem menschlichen Körper so etwas herauszureißen. Kommst du jetzt heim? Ich mach dir auch Rührei mit Bratkartoffeln.«

»Oja, Papi.«

Auf der Heimfahrt geriet ich in einen kleinen Stau vor Dreis. Der größte Bauer der Gegend trieb seine Rinder über die Straße zu einer anderen Weide.

Gab es einen Trick, mit dessen Hilfe Fiedler zu überrumpeln war? Gab es eine Falle? Konnten wir, zum Beispiel, jemanden als so gefährlich für ihn hinstellen, dass er angreifen und sich verraten würde?

Ich rief Matthias in Wittlich an, weil ich wissen wollte, wie Fiedler einzuschätzen war.

Matthias war nicht da, aber seine Frau Gerlinde, von gleicher Profession, sagte gut gelaunt: »Na, wie ist es so? Matthias treibt sich auf Hiddensee herum, er spannt mal aus.«

»Das sei ihm von Herzen gegönnt. Ich habe ein Problem. Du hast doch sicher auch die Sache mit den beiden toten Jugendlichen verfolgt. Nun gibt es Hinweise, dass ein Oberstudienrat der Täter ist. Die Frau, die er tötete, war wohl seine Obsession und stürzte ihn in eine Art Lebenskrise. Was geschieht, wenn ein solcher Täter plötzlich begreift, dass ein Zeuge ihm gefährlich werden kann.«

»Du willst wissen, ob er diesen Zeugen angreifen und vielleicht sogar ebenfalls töten wird?«

»Genau das.«

»Rezepte der Beurteilung gibt es nicht. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, dass ihr zunächst entscheiden müsst, ob dieser Mann zu einem Mord fähig ist. Das bedeutet: Hat er in einer extremen Notlage gehandelt und bleibt die Tötung für ihn der absolute Sonderfall? Oder ist er jemand, der bei Gefahr immer wieder zu Gewalt greifen würde? Ist er in irgendeiner Weise vorbestraft?«

»Soweit wir wissen, nicht.«

»Das Umfeld ist bürgerlich, nehme ich an.«

»Ja, gutbürgerlich, der Mann ist Beamter.«

»War er in einer Stimmung der Verzweiflung?«

»Das kann ich nicht beurteilen, aber sehr wahrscheinlich war es so.«

»Das heißt, er ist zwischen großer Liebe und äußerstem Hass hin- und hergeworfen worden?«

»So stellen wir uns das vor.«

»Hat er Familie?«

»Ja, Frau und zwei Töchter.«

»Kennst du die Frau? Wie ist sie?«

»Eine schmale, nervöse Figur, sicherlich gebildet, auf die eine oder andere Weise die klassische Hausfrau, die im Grunde alles sein möchte, nur eben nicht Hausfrau.«

»Hast du den Eindruck, dass sie etwas weiß oder ahnt?«

»Das kann ich nicht beantworten.«

»Ist der Mann ein beliebter Lehrer?«

»Nach unseren Erkenntnissen, ja.«

»Würdest du sagen, er hat diese junge Frau getötet, um sich von irgendeinem Zwang zu befreien?«

»Ja.«

»Dann müssen wir davon ausgehen, dass die Tat persönlichkeitsfremd ist. Das heißt, er war in einer Extremsituation und hat bei der jungen Frau mit Tötung reagiert. Das ist aber nicht seine normale Reaktion, in der Regel löst er Krisen anders. Das heißt: Eigentlich ist er nicht gewalttätig, eigentlich ist ihm Gewalt fremd.«

»Und was bedeutet das?«

»Um auf deine Frage vom Anfang zurückzukommen: Es ist relativ unwahrscheinlich, dass er für irgendeinen Zeugen gefährlich werden könnte. Die junge Frau war der absolute Sonderfall. Du kannst möglicherweise sogar davon ausgehen, dass er gefasst werden will, dass er direkt oder indirekt sagt: Ich muss bestraft werden.«

»Er hat uns bei der Aufklärung geholfen, er hat in vielen wichtigen Fragen, die Jugendliche und Schüler betrafen, Hinweise und Antworten gegeben.«

»Das passt«, sagte Gerlinde. »Aber immer daran denken: Es ist kein Urteil, auf das du dich verlassen kannst, es ist nur ein Richtungshinweis.«

Ich bedankte mich, die Rinder hatten inzwischen die Straße passiert, die Karawane konnte weiterziehen.

Rodenstock stand mit einer blumigen Schürze behängt vor dem Herd und briet Kartoffeln. »Die Frauen kommen spät zurück. Sie haben eben Bescheid gesagt, sie wollten noch ins Kino gehen.«

Ich berichtete, was Gerlinde mir erzählt hatte.

»Ich habe mir so etwas gedacht«, nickte Rodenstock. »Das deckt sich mit meiner Erfahrung. Fiedler kann Natalie getötet haben und es war eine einmalige Tat, nicht wiederholbar. Allerdings: Immer, wenn man sich auf so eine Einschätzung verlässt, geht es schief, und ein Mörder schlägt doch noch mal zu. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Fälle, in denen Straftäter, die in der Psychiatrie sitzen, für ungefährlich erklärt werden. Die entlassen werden, sich umdrehen und das nächste Verbrechen begehen. Wir sollten lieber vorsichtig sein. Der menschliche Faktor ist immer unberechenbar.«

Wir aßen in aller Gemütsruhe und rauchten genüsslich. Da meldete sich Rodenstocks Handy und er hörte wortlos zu. Schließlich nickte er und berichtete: »Bronski hat sich Adrian Schminck geholt.«

»Wann?«

»Kischkewitz sagt, vor etwa einer Stunde. Kischkewitz hat keine Leute mehr, er kriegt so schnell keine Verstärkung. Deshalb bittet er uns herumzuschauen, ob wir Bronski finden können.«

»Was machen wir?«

»Wir fahren los und suchen den Truck. Wir haben gar keine Wahl. Du lieber Himmel, Bronski, zwei Flaschen Wodka und Adrian Schminck!«

Zwei Minuten später saß ich am Steuer des Volvo und wir fuhren los.

»Erst einmal zu Schminck. Wenn er jetzt eine Stunde unterwegs ist, kann der Truck längst auf der A 1 nach Köln oder der A48 nach Trier oder Koblenz oder auf der A61 zwischen Koblenz und Brühl sein. Wir können keine Stecknadel im Heuhaufen suchen.«

»Als du neulich nachts bei Bronski warst, wo stand er?«, wollte Rodenstock wissen.

»Hinter Bongard auf der Strecke nach Nohn.«

»Vielleicht fahren wir besser dorthin?«

Ich fuhr also bis Boxberg, dann scharf links in Richtung Bongard.

»Bronski ist raffiniert«, sagte ich. »Er kann in jeden Wald- und Feldweg eingebogen sein, legt dreihundert Meter zurück, ist hinter der nächsten Kurve außer Sichtweite und wir finden ihn nicht in zwei Jahren.«

»Du machst mir richtig Mut. Ich stelle mir gerade vor, dass Bronski Gewalt nicht scheut.«

Ich antwortete nicht, sondern fuhr etwas schneller. Dabei fragte ich mich, wohin sich Bronski wenden würde, wo er sich relativ sicher fühlen konnte. Ich überlegte, wie Bronski dachte: einfach und effektiv. Es gab einen Punkt, an dem man nicht nach ihm suchen würde, weil es ein belasteter Ort war: Tina Colins altes Forsthaus.

Die Reifen quietschten, als ich scharf nach rechts abbog. »Wir versuchen es«, sagte ich.

Rodenstock begriff sofort, wohin ich wollte. Er murmelte: »Fahr zu, das könnte richtig sein.«

Und es war richtig. Wir bogen in den Seitenweg, der zum Forsthaus führte, und ich musste auf die Bremse treten, weil der Truck vor der Brandruine stand, groß und unübersehbar.

»Bronski hat überhaupt keine Berührungsängste«, stellte Rodenstock fest. »Er ist ein richtiger Sauhund und als Täter wäre er gnadenlos gefährlich.«

Wir gingen ganz langsam auf den Truck zu und anders als beim ersten Mal war es still. Diesmal sang niemand, niemand grillte, die Stille war bedrohlich.

Ich klopfte gegen die große, zweiflügelige Rückwand des Trucks. Ich schrie: »Heh, Bronski. Lass dich mal sehen, Baumeister ist hier.«

Erst nach unendlich langen Sekunden wurde die rechte Türhälfte geöffnet. Aber nur einen Spalt. Ein Mann streckte seinen Kopf hindurch und sagte: »Bronski hat keine Zeit.«

»Doch!«, sagte Rodenstock scharf. »Hat er!« Er fasste einfach die Tür und riss sie dem Mann aus der Hand.

Die Sonne kam schon aus West und stand uns im Gesicht. Der Laderaum des Trucks war zunächst nichts als ein gähnendes, riesiges Loch. Langsam begannen sich Konturen aus dem Bild herauszuschälen.

Es waren sechs Männer, in der Mitte Bronski, der auf einer Kiste saß. Vor ihm, nur Zentimeter entfernt, hockte Adrian Schminck auf einem blauen Plastikeimer. Er trug nichts außer weißen Boxershorts und hielt seinen Kopf nach vorn geneigt, als sei er nicht fähig, ihn zu heben.

»Das ist Scheiße, Bronski!«, sagte ich. Ich hatte Schwierigkeiten, Luft zu bekommen.

Bronski sah mich an. Er war wütend, sein kantiges Gesicht war schweißüberströmt. »Er hat sie getötet!«, schrie er.

»Hat er nicht!«, schrie Rodenstock neben mir zurück.

Erst jetzt bemerkte ich die großen, roten Flecken auf dem Oberkörper von Adrian Schminck. Es waren Blutflecken. Schminck hob den Kopf. Er hielt die Augen geschlossen, er musste sie geschlossen halten. Bronski hatte sie zugeschlagen.

»Sie war bei ihm. Bevor sie starb!«, sagte Bronski. Er schrie jetzt nicht mehr.

»Das stimmt«, erwiderte ich. »Aber anschließend fuhr sie nach Maria Laach zu Becker. Schminck hat sie nicht getötet.«

»Ha!«, sagte Bronski voll Verachtung.

»Schminck«, rief Rodenstock. »Können Sie mich hören, können Sie mich verstehen?«

Schminck nickte und nuschelte etwas.

»Stehen Sie auf!«, befahl Rodenstock. »Und kommen Sie her.«

»Das geht nicht«, erklärte Schminck undeutlich. »Festgebunden.«

»Binde ihn los, Bronski«, sagte Rodenstock ganz ruhig.

Es war totenstill, die Männer um Bronski schienen nicht einmal zu atmen. Rechts von Bronski lehnte ein Mann an der Wand des Laderaumes. Er wirkte gelassen und den Gesichtszügen nach konnte er der Bruder von Bronski sein. Er war der Einzige, der sich bewegte. Es war eine langsame, schleichende Bewegung, er hob den linken Arm. Er trug ein weißes T-Shirt über einer blauen Jeans und im Gürtel dieser Jeans steckte eine Waffe, eine schwarz schimmernde, schwere Waffe, ich vermutete eine Glock neun Millimeter, das Paradestück amerikanischer Filmhelden, die schwere Zimmerflak, der Killer.

»Nicht doch!«, sagte Rodenstock erstickt neben mir. Er hatte plötzlich eine Waffe in der Hand.

Ich begriff sofort, dass es Emmas Colt war. Ich wollte erstaunt fragen: »Wieso hast du die mitgenommen?«, aber ich brachte kein Wort heraus. Und als Rodenstock schoss, als der Bruder von Bronski unter dem Aufschlag zuckte und dann fiel, sagte ich irrsinnigerweise: »Premiere!«

Der Boden des Laderaums war mit Stahlblechen belegt. Die Waffe des Polen schepperte, als sie aufschlug. Sie rutschte zwischen die Beine Bronskis, der erstaunt den Kopf zur Seite drehte, als habe er damit nicht gerechnet, damit nicht.

»Nicht bewegen!«, schrie Rodenstock. »Keiner bewegt sich.«

Der Bruder Bronskis atmete schwer, er lag auf der linken Seite, das Gesicht zur Wand des Laderaums.

»Hilf ihm, Bronski«, sagte Rodenstock ruhiger. »Wir brauchen einen Arzt. Scheiße, und das in meinem Alter!«

Ich fischte mein Handy aus der Weste und wählte die 110. Ich sagte, was zu sagen war, und achtete dabei auf das, was die Männer im Laderaum vor mir taten. Sie bewegten sich immer noch nicht.

»Bronski, komm raus«, sagte Rodenstock.

Bronski drehte langsam den Kopf, um nach seinem Bruder zu sehen.

Rodenstock schoss in die Decke des Laderaums. Er wiederholte: »Bronski, komm da raus! Alle kommen raus, alle!«

Bronski bewegte sich nun etwas schneller. Er kam hoch, wandte sich zur Seite und kniete dann neben seinem Bruder nieder.

»Raus!«, schrie Rodenstock.

Die Männer kamen auf uns zu.

»So ist es gut«, sagte Rodenstock. »Kommt her!«

Die vier sprangen von der Ladefläche.

Bronski sagte irgendetwas zu seinem Bruder, es klang zärtlich.

Jetzt lieferte Rodenstock ein Kabinettstückchen ab, an das ich mich noch als Großvater erinnern werde. Er musterte die vier Männer, drückte einem den Colt in die Hand und sagte trocken: »Halt mal eben!« Dann stellte er seinen rechten Fuß in einen Tritt und bestieg den Laderaum. Ich werde das vollkommen verblüffte Gesicht des jungen Polen nie vergessen, der ungläubig auf den Colt starrte, den er jetzt in der Hand hielt.

»So ist das Leben«, sagte ich heiter und stieg ebenfalls hinauf.

Schminck hockte zusammengesunken auf dem Eimer, der Kopf fiel fast auf seine Knie, er atmete laut und mühsam. Sie hatten seine Arme mit einer einfachen, festen Paketkordel auf die Oberschenkel gebunden. Die Kordel schnitt tief in sein Fleisch, und als ich daran herumnestelte, zuckte Schminck vor Schmerzen zusammen.

»Entschuldigung, mein Freund«, sagte ich. Ich nahm mein Taschenmesser und durchschnitt die Kordel. »Jetzt aufstehen, aber langsam.«

Er beugte sich vor, wollte aufstehen, doch es funktionierte nicht, er fiel nach vorn und ich fing ihn ab.

»Ganz langsam. Oder wollen Sie sich erst mal hinlegen?«

Er schüttelte den Kopf. Dann stand er auf, es waren die Bewegungen eines alten Mannes. Sein Körper pendelte hin und her. Ich musste ihn festhalten. Schließlich machte er die ersten Schritte und offensichtlich tat ihm alles weh. Sein Gesicht war vollkommen zerschlagen, ich bezweifelte, dass er etwas sehen konnte.

»Kommt her und helft!«, schrie ich die Männer an.

Zwei kletterten herauf auf die Ladefläche und fassten Schminck rechts und links unter den Achseln. Sie bugsierten ihn an den Rand der Fläche, die zwei anderen hoben ihn vorsichtig hinunter.

»Legt ihn erst einmal hin«, sagte ich. »Auf den Rücken.«

Bronskis Bruder war im linken Oberschenkel getroffen worden, die Wunde blutete heftig. Sein Gesicht war grau und offensichtlich hatte er starke Schmerzen.

»Hol mal den Verbandskasten«, sagte Rodenstock. »Los!«

Bronski nickte und verschwand.

»Wieso schleppst du diesen blöden Colt mit dir rum?«, fragte ich.

Rodenstock presste die Lippen aufeinander. »Tu ich ja gar nicht. Ich hatte das Ding nur in der Tasche, weil Emma es aus ihrer Handtasche gekramt hat, bevor sie mit Vera nach Mainz fuhr. Ich habe es dann vergessen.«

»Ach du lieber mein Vater«, hauchte ich. »Jetzt brauchen wir nur noch einen Gaul, auf dem du in den Sonnenuntergang reiten kannst, du mein ewiges Vorbild.«

Rodenstock grinste schief.

Bronski kam zurück und versuchte zittrig, den Kasten zu öffnen. Es gelang ihm nicht und ich machte es für ihn.

»Zieh ihm mal die Jeans aus«, sagte Rodenstock. »Oder warte, ich mache das. Rückt zur Seite, macht Platz.«

Bronski kam aus der Hocke hoch, auch ich stand auf. »Du brauchst frische Luft«, sagte ich.

»Scheiße!«, fluchte der Pole und sprang vom LKW hinunter.

Ich folgte ihm und sagte: »Hör zu, Schminck war es nicht. Du musst einsehen, dass Schminck es nicht war. Und das hier ist nicht der Wilde Westen.«

Er antwortete nicht, ging einfach weiter.

»Du kannst hier nicht den Rächer der Enterbten spielen. Du bist auf dem direkten Weg in den Knast. Das weißt du Arschloch genau.«

Er lief immer noch vor mir her, umrundete die Ruine, erreichte die Rückfront. Da stand ein angekokelter, einstmals sicherlich feudaler Sessel mit einem weinroten Brokatbezug. Bronski setzte sich darauf, zog ein Päckchen Tabak aus der Brusttasche seines blau karierten Hemdes und drehte sich mit zitternden Fingern eine Zigarette.

»Was mache ich? In den Knast geht nicht.«

»Das hängt von Schminck ab. Er wird dich wegen schwerer Körperverletzung anzeigen, wegen Entführung, wegen Erpressung, wegen was weiß ich. Warum machst du so etwas Verrücktes? Wieso glaubst du, er hat Natalie umgebracht?«

»Sie war bei ihm. Vor ihrem Tod.«

»Ja, aber anschließend war sie in Maria Laach bei Becker. Und Becker hat sie auch nicht getötet, er war gar nicht zu Hause. Warum hast du mich nicht angerufen?«

»War ich wütend.«

»Du erinnerst mich an den Boxer, der dem Ringrichter den Unterkiefer zerschmettert und dabei schreit: Tut mir Leid, war kein anderer da!«

Bronski grinste matt. »Na gut, geht alles den Bach runter ... Habe ich keine Chance, oder?«

»Ich weiß nicht. Du musst dich bei Schminck entschuldigen. Das ist wichtig. Er ist ganz passabel für einen reichen Mann.«

»Er hat ihr das Ticket nach Hollywood gekauft. Stimmt das?«

»Ja. Es ging ihm so wie dir: Er mochte sie sehr.«

»Ha«, sagte er. Dann starrte er das Gras zwischen seinen Schuhen an, machte eine heftige Bewegung mit dem rechten Arm und schlug dabei die Glut seiner Zigarette ab. »Kann ich nicht in den Knast. Ich muss nach Hause.«

»Wieso musst du nach Hause?«, fragte ich aufgebracht. »Du musst erst einmal hier diese Geschichte in Ordnung bringen.«

»Geht nicht«, sagte er dumpf. »Geht überhaupt nicht.«

»Bronski, komm wieder auf den Teppich.«

»Habe ich dich belogen«, murmelte er. »Bronski transportiert alles. Drogen, Waffen, Autos, Antiquitäten, alles illegal. Ich transportiere für Hans Becker, für Andre Kleimann, für Dr. Grimm, für Herbert Giessen. Ist immer ein Teil legal, ist immer ein Teil illegal. Transportiere ich jeden Scheiß, egal, was kommt. Transportiere ich auch Gift nach Polen, schmeiße ich in Wald. Ist billiger, weißt du. Habe ich vorigen Monat Münzen transportiert, alte russische Münzen. Für zweieinhalb Millionen Dollar. Habe ich geklebt auf Sonnenblende. Für Hans Becker. Sage ich: ›Du lebst hier, du wirst der Abt genannt, du bist kriminelle« Er schnaufte heftig. »Sagt Becker: ›Alles zum Lobe des Herrn. ‹ – Na, ist das Wildwest? Becker schläft mit Natalie und zahlt. Frage ich: ›Fickst du zum Lobe des Herrn?‹ Wird er sauer, sagt er: Das geht dich nichts an, Pollack!‹« Er warf den Rest der Zigarette ins Gras. »Kleimann in Euskirchen hat meinen Truck finanziert. Der sagt: ›Ich finanziere dir den Truck. Du fährst das, was ich gefahren haben will.‹ – Ist das Wildwest? Das ist Wildwest, Baumeister! Und Herbert Giessen, Im- und Export in Bad Münstereifel, sagt: ›Kommt ein Bote nach Warschau, gibt dir ein Pfund rosa Diamanten aus Moskau, du höhlst Kürbis aus und kaufst eine ganze Ladung Kürbis. Wir schmeißen Kürbisse in Abfall und haben die Steinchen. ‹ Sage ich: ›Wenn ich erwischt werde, bin ich tot.‹ Sagt er: ›Na und?‹ – Ist das Wildwest? Und Grimm, die Sau. Sagt er: ›Wenn du wieder nach Polen kommst, bring mir eine Frau mit, ein schönes Schwein. ‹ Ich sage: ›Geht nicht. ‹ Er sagt: ›Du wirst das schon hinkriegen, Bronski.‹ Und ich kriege es hin. Und später sagt die Frau: ›Er war zweiundvierzig Stunden am Tag ein Perverser. ‹«

»Sie haben dich also ausgenutzt«, murmelte ich.

»Ja. Aber ich habe es so gewollt. Ich brauche das Geld. Ich habe vier Kinder, zwei haben Krebs, Blutkrebs. In Polen gibt es nicht diese guten Medikamente. Ich kaufe Medikamente. Schwarz für viel, viel Geld.«

Zuweilen wirken Geständnisse so trivial, dass es schwierig ist, sie jemandem zu verkaufen. Bronski war da reingerutscht. Die Herren hatten gewusst, was mit seinen Kindern war, und sie hatten es ausgenutzt, die frommen, christlichen Kaufleute.

»Was war mit Sven?«, fragte Bronski überraschend nach einigen Sekunden. »Selbstmord?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht werden wir es nie wissen.«

»Weißt du, wer der Mörder ist?«

Ich überlegte, ehe ich antwortete: »Du wirst es rechtzeitig erfahren.«

Jetzt kam das Tatütata der Ambulanz näher, begleitet von dem helleren Hörn der Polizei. Wir gingen zurück zu den anderen. Schminck und der Bruder von Bronski lagen dicht nebeneinander auf einer Decke. Der Pole rauchte eine Selbstgedrehte.

»Tut mir Leid«, sagte Bronski zu Schminck. »Habe ich Fehler gemacht.«

Schminck antwortete nicht.

»Er meint das ernst«, sagte ich.

Schminck lächelte ein wenig, es wirkte wie eine kleine Hoffnung.